BTI 2012 | Regionalbericht Postsowjetisches Eurasien
BTI 2012 | Regionalbericht Postsowjetisches Eurasien
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<strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> | <strong>Regionalbericht</strong><br />
<strong>Postsowjetisches</strong> <strong>Eurasien</strong><br />
Von Bernd Kuzmits *<br />
Überblick zu den Entwicklungs- und Transformationsprozessen in Armenien, Aserbaidschan,<br />
Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, der Republik Moldau, der Mongolei, Russland, Tadschikistan,<br />
Turkmenistan, der Ukraine, Usbekistan und Weißrussland<br />
Dieser <strong>Regionalbericht</strong> analysiert die Ergebnisse des Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung (<strong>BTI</strong>)<br />
<strong>2012</strong>. Weitere Informationen finden Sie unter www.bti-project.de<br />
Zitiervorschlag: Bernd Kuzmits, <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> – <strong>Regionalbericht</strong> <strong>Postsowjetisches</strong> <strong>Eurasien</strong>, Gütersloh:<br />
Bertelsmann Stiftung <strong>2012</strong>.<br />
* Dr. Bernd Kuzmits ist freier Berater und <strong>BTI</strong>-Regionalkoordinator <strong>Postsowjetisches</strong> <strong>Eurasien</strong>.
<strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> | <strong>Regionalbericht</strong> <strong>Postsowjetisches</strong> <strong>Eurasien</strong> 2<br />
In der Bilanz des politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsstandes der eurasischen Region für<br />
den Untersuchungszeitraum des <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> verfestigt sich ein Trend: kaum Bewegung auf allenfalls<br />
mäßigem Niveau. Im Demokratie-Ranking schneidet nur die Region Naher Osten und Nordafrika<br />
noch schlechter ab, im Marktwirtschafts-Ranking stehen lediglich West- und Zentralafrika sowie<br />
das östliche und südliche Afrika noch schlechter da. Nach wie vor bleibt das postsowjetische<br />
<strong>Eurasien</strong> die einzige Region im <strong>BTI</strong>, in der man kein Land in seinem Transformationsstand als<br />
fortgeschritten bezeichnen kann.<br />
Auch zwischen den einzelnen Ländern haben sich kaum größere Veränderungen ergeben: Im <strong>BTI</strong><br />
<strong>2012</strong> stehen erneut Turkmenistan, Tadschikistan und Usbekistan am Ende der regionalen Skala –<br />
sowohl in Bezug auf den politischen als auch auf den wirtschaftlichen Entwicklungsstand.<br />
Usbekistan rutscht dabei insgesamt weiter ab, diesmal vor allem wegen einer schlechteren<br />
Bewertung seiner Marktwirtschaft. In Kirgisistan schlug das Pendel im Beobachtungszeitraum<br />
wieder in Richtung Demokratisierung aus, jedoch befindet sich das Land noch mitten im Übergang<br />
vom autoritären Regime des gestürzten Präsidenten Bakijew zu einem parlamentarischen<br />
Regierungssystem.<br />
Belastet wird dieser Übergang von interethnischen Spannungen und einem sich verschärfenden<br />
Konflikt zwischen dem Norden und dem Süden des Landes. Es ist daher damit zu rechnen, dass die<br />
Entwicklung Kirgisistans auch in Zukunft noch einigen Schwankungen unterliegen wird.<br />
Ernüchternd ist die Entwicklung der ehemaligen Hoffnungsträger der Region: Die Ukraine,<br />
Georgien und Armenien setzten ihre Abwärtstrends insgesamt fort. Stand die Ukraine 2006 noch<br />
auf Platz 37 im Demokratie-Ranking und sogar auf Platz 27 im Marktwirtschafts-Ranking, wird es<br />
mittlerweile in beiden <strong>BTI</strong>-Dimensionen um exakt einen Wertungspunkt schlechter eingestuft (nur<br />
noch 6,10 bzw. 5,82 Punkte, in beiden Ranglisten Platz 60 unter 128 <strong>BTI</strong>-Ländern). Das Land<br />
verliert damit erstmals in den letzten Jahren seine regionale Spitzenstellung im Demokratiebereich<br />
und findet sich diesbezüglich nun hinter der Republik Moldau, der Mongolei und Georgien wieder.<br />
Georgien hat sich zuletzt zwar wieder leicht verbessert, hatte aber in den Jahren zuvor deutlich an<br />
Demokratiequalität eingebüßt. Schließlich Armenien, im Demokratie-Ranking von 2008 noch<br />
regionaler Dritter: Damals noch als defekte Demokratie eingestuft, warfen die<br />
Präsidentschaftswahlen 2008, das anschließende gewaltsame Vorgehen gegen Demonstranten und<br />
der kurzzeitige Ausnahmezustand das Land auf den Stand einer gemäßigten Autokratie zurück. Das<br />
politische Klima hat sich im Beobachtungszeitraum zwar entspannt, der Lackmustest steht mit den<br />
Wahlen <strong>2012</strong> und 2013 aber erst noch bevor.<br />
Das Transformationsmanagement innerhalb der Region bewertet der <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> im Schnitt leicht<br />
höher als der <strong>BTI</strong> 2010. Diese Verbesserungen konzentrieren sich auf die Steuerungsfähigkeit und<br />
die internationale Zusammenarbeit. Nach wie vor bleibt die Korruptionsbekämpfung die Frage, für<br />
die die Staaten der Region die niedrigsten Werte erhalten: Elf von 13 Ländern erreichen hier<br />
höchstens vier von zehn möglichen Punkten.
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In drei Ländern verschlechterte sich das Transformationsmanagement spürbar: am deutlichsten in<br />
Georgien, aber auch in Weißrussland und der Ukraine. Hingegen finden sich fünf Staaten der<br />
Region unter den 15 <strong>BTI</strong>-Ländern mit den deutlichsten Verbesserungen beim Transformationsmanagement.<br />
Diese Entwicklungen sollten jedoch nicht als Vorboten einer neuen Transformationsdynamik<br />
missverstanden werden. Zum einen erfolgen viele Verbesserungen von einem geringen<br />
Niveau aus und beschränken sich auf die Steuerungsfähigkeit und die internationale<br />
Zusammenarbeit. Zum anderen sind die Verbesserungen meist in Staaten zu verzeichnen, deren<br />
gegenwärtige Regime zumindest eines der beiden normativen Ziele des <strong>BTI</strong> – sozialstaatlich<br />
flankierte Marktwirtschaft und rechtsstaatliche Demokratie – nicht verfolgen. Dies gilt für<br />
Russland und Tadschikistan. Bei anderen Verbesserungen sind Zweifel an deren Stabilität<br />
angebracht, so in Kirgisistan und der Republik Moldau, wo die Gräben zwischen den politischen<br />
Lagern tief sind und lange Zeit kein Präsident gewählt werden konnte.<br />
Politische Transformation<br />
Auch im Untersuchungszeitraum des <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> war wenig Demokratisierungsdynamik in der<br />
Region zu beobachten. Das postsowjetische <strong>Eurasien</strong> bleibt die einzige <strong>BTI</strong>-Region, in der alle<br />
Demokratien in ihrer Funktionsfähigkeit eingeschränkt sind, wenn auch in unterschiedlichem<br />
Ausmaß. Dabei wäre eine wesentliche Vorbedingung für funktionierende Demokratien in den<br />
meisten Ländern gegeben: eine hinreichende Staatlichkeit. In diesem Kriterium zeigt die Region im<br />
Schnitt die besten Ergebnisse im Vergleich aller 49 Einzelwerte des <strong>BTI</strong>, nur hier erreichen<br />
einzelne Länder Höchstwerte von 10 Punkten. Auch im interregionalen Vergleich ist nur in den<br />
Regionen Ostmittel- und Südosteuropa sowie Lateinamerika und Karibik die Staatlichkeit im<br />
Schnitt stabiler, säkularer und stärker legitimiert.<br />
In der Einzelbetrachtung bedeutet dies: Das staatliche Gewaltmonopol ist mit den Ausnahmen<br />
Kirgisistan und Georgien zumeist über das gesamte Territorium etabliert. Es besteht weitgehend<br />
Klarheit und Einigkeit über die staatliche Identität – auch hier mit Ausnahme Georgiens. Religiöse<br />
Dogmen haben keinen oder geringen Einfluss auf rechtliche und politische Institutionen. Lediglich<br />
das Maß, in dem die Staaten grundlegende Verwaltungsstrukturen etabliert haben, fällt gegenüber<br />
den anderen Einzelwerten leicht ab und hat sich im Schnitt spürbar verschlechtert – von 7,00<br />
Punkten im <strong>BTI</strong> 2010 auf nunmehr 6,62. Für fünf Staaten (Armenien, Kirgisistan, Mongolei,<br />
Russland und Weißrussland) setzen die Gutachter hierfür die Bewertung um einen Punkt niedriger<br />
an, während die Werte der restlichen acht Staaten gleichbleiben.<br />
Mit diesem engen Fokus auf „Staatlichkeit“ betrachtet, scheint die Region also nahezu ein Hort an<br />
Stabilität und Kontinuität zu sein. Die relativ hohen Bewertungen erscheinen jedoch in einem<br />
anderen Licht, betrachtet man den genauen Charakter der staatlichen Verfasstheit und deren<br />
Bedeutung für eine potenzielle Demokratisierungsdynamik. Zum einen ist Staatlichkeit oft eng mit
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dem Funktionieren autoritärer Systeme verknüpft. Für die in erster Linie auf Machterhalt<br />
ausgerichteten Autokratien ist die Doktrin von Sicherheit und Stabilität, die in den vergangenen<br />
Jahren zunehmend repressiv verfolgt wurde, nicht nur legitimitätsstiftend, sondern auch<br />
überlebensnotwendig. Zudem könnte jede Form von politischer Öffnung zumindest in den Ländern<br />
Zentralasiens auch den Einfluss religiöser Dogmen erstarken lassen, der postsowjetische<br />
Säkularismus als Staatsdoktrin könnte so an Bedeutung verlieren. Das muss keinesfalls bedeuten,<br />
dass fundamentalistische Bewegungen die Macht ergreifen – ein Szenario, das aber die Autokraten<br />
der Region zur Legitimation nutzen, was außerhalb der Region weithin akzeptiert wird. Wie fragil<br />
die vermeintliche Stabilität autokratischer Regime vor dem Hintergrund wachsender sozialer und<br />
ökonomischer Probleme sein kann, hat sich jüngst in Nordafrika gezeigt.<br />
Umgekehrt ist eine politische Transformation in den meisten Staaten ohne eine zumindest<br />
vorübergehende staatliche Erschütterung unwahrscheinlich. Das bedeutet: Demokratisierungstendenzen<br />
gehen höchstwahrscheinlich einher mit dem Entstehen eines Machtvakuums, wofür im<br />
Untersuchungszeitraum Kirgisistan ein gutes Beispiel abgibt. Im Zuge der Auseinandersetzungen<br />
nach dem Sturz des Präsidenten Bakijew scheint das Land zerrissener denn je, auch wenn eine neue<br />
Demokratisierungsbewegung das Land erfasst hat. Daher sinken vorübergehend die Werte für<br />
Staatlichkeit bei gleichzeitig besserer Bewertung der demokratischen Qualität von Wahlen und der<br />
Gewährung von Freiheitsrechten. Georgien schließlich bekommt weiterhin die schlechtesten<br />
Bewertungen für Staatlichkeit – liegt jedoch immer noch bei den demokratischen Schlüsselkriterien<br />
Rechtsstaatlichkeit und politische Partizipation im regionalen Spitzenfeld. Auch wenn eine<br />
vorübergehende Schwächung der Kernstaatlichkeit bei politischen Umwälzungen nicht<br />
verwunderlich ist, so rückt eine Konsolidierung demokratischer Errungenschaften in weite Ferne.<br />
Die Entwicklungen bleiben volatil, solange dieses Machtvakuum über einen längeren Zeitraum<br />
fortbesteht.<br />
Im regionalen Schnitt verharren Rechtsstaatlichkeit und politische Partizipation auf ähnlich<br />
niedrigen Werten wie 2010 (4,15 bzw. 4,44 Punkte). Auch wenn man die Staaten der Region<br />
einzeln betrachtet, können keine wesentlichen Veränderungen festgestellt werden. Neben der<br />
Stabilität und Verwurzelung von Parteiensystemen und der Leistungsfähigkeit demokratischer<br />
Institutionen ist die Ahndung von Amtsmissbrauch im regionalen Schnitt am schwächsten<br />
ausgeprägt. Bei letztgenanntem Einzelwert ist die Standardabweichung am geringsten, d. h. die<br />
Staaten der Region liegen am dichtesten beieinander. Sechs Punkte sind der Höchstwert, den zwei<br />
Länder der Region für das Vorgehen gegen Korruption, Nepotismus, Begünstigung oder<br />
Unterschlagung erreichen. Es sind dies Georgien und die Republik Moldau, die damit ihren Wert<br />
vom <strong>BTI</strong> 2010 halten konnten.<br />
Nennenswert ist die leichte Verbesserung in der Leistungsfähigkeit demokratischer Institutionen<br />
und im Respekt politischer Akteure gegenüber demokratischen Spielregeln. Mit einem Schnitt von<br />
3,84 (<strong>BTI</strong> 2010: 3,58) bleibt dies jedoch das am schlechtesten bewertete Demokratiekriterium. Dies<br />
erklärt sich vor allem dadurch, dass hier die Leistungsfähigkeit und Akzeptanz demokratischer<br />
Institutionen gemessen wird und die Autokratien schlechter abschneiden. Folgerichtig ist die<br />
regionale Verbesserung auch fast ausschließlich den Entwicklungen in Kirgisistan geschuldet, wo
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nach freien und fairen Parlamentswahlen und einem Verfassungsreferendum mit Wechsel des<br />
Regierungssystems die politischen Eliten wieder stärker die demokratischen Regeln respektieren.<br />
Neben den Bewertungen zu Freiheitsrechten, Gewaltenteilung und Bürgerrechten ist nicht zuletzt<br />
die Durchführung freier und fairer Wahlen maßgeblich für die Zuordnung der Staaten zu<br />
Autokratien oder Demokratien. Russland rechnet der <strong>BTI</strong> nur deshalb nicht zu den sieben<br />
autoritären Staaten der Region, weil er die dortigen Wahlen trotz erheblicher Einschränkungen<br />
gerade noch als im Prinzip frei und fair einstuft. Diese Bewertung galt auch für die Regionalwahlen<br />
2010 – eine Einschätzung, die die Gutachter aber mit erheblichen Einschränkungen versehen,<br />
insbesondere bezüglich der Registrierung von Oppositionskandidaten und deren Zugang zu den<br />
Medien.<br />
In der Region fanden im Beobachtungszeitraum weitere Wahlen statt, die zum Teil erheblich<br />
nachwirkten. Im April 2009 fanden in der Republik Moldau Parlamentswahlen statt, in deren Folge<br />
die Opposition diverse Formen des Betrugs und der Behinderung durch die erneut siegreiche<br />
kommunistische Partei monierte. Der Vorwurf des Wahlbetrugs deckt sich mit den Einschätzungen<br />
internationaler Wahlbeobachter. Auf wochenlange, zum Teil gewaltsame Proteste folgten im Juni<br />
2009 Neuwahlen, die als deutlich demokratischer eingeschätzt wurden. Im Ergebnis verhinderte ein<br />
Patt zwischen der neuen Koalitionsregierung und der in die Opposition verwiesenen<br />
Kommunistischen Partei die Neuwahl eines Präsidenten durch das Parlament. Nach gescheiterter<br />
Volksbefragung über die Direktwahl eines Präsidenten kam es im November 2010 zu abermaligen<br />
Parlamentswahlen. Die Organisation dieses freien und vergleichsweise fairen Urnengangs fand<br />
international Anerkennung. Die kommunistische Opposition genoss bessere Möglichkeiten zur<br />
medialen Darstellung, als sie selbst 2009 ihren Gegnern gewährt hatte. Die regierende Allianz für<br />
Europäische Integration konnte ihre Mehrheit zwar ausbauen, die jedoch immer noch nicht zur<br />
Wahl eines neuen Präsidenten ausreicht. Weiterhin führt der Parlamentspräsident dieses Amt<br />
kommissarisch.<br />
Zum Ende des Untersuchungszeitraums, im Dezember 2010, sollte die Bevölkerung von<br />
Weißrussland ihren Präsidenten wählen. Auch diese Wahlen mündeten in Protesten der Opposition<br />
wegen Wahlbetrugs. Das brutale Eingreifen der Sicherheitskräfte und die Verhaftung und<br />
Verurteilung zahlreicher Oppositioneller, unter ihnen einige Gegenkandidaten von Präsident<br />
Lukaschenko, ließ die kleinen Anzeichen von Liberalisierung im Vorfeld der Wahl als bloße<br />
Fassade erscheinen.<br />
In Kirgisistan war die zeitliche Abfolge umgekehrt: Es kam erst zu Protesten, die in massive<br />
Unruhen mündeten, und dann zu Wahlen. Nach dem Sturz des Präsidenten Kurmanbek Bakijew im<br />
April 2010 rief die Übergangsregierung im Juni zu einem Referendum über eine schnell<br />
ausgearbeitete Verfassung auf, deren wesentlicher Bestandteil die Ablösung des präsidialen durch<br />
ein parlamentarisches Regierungssystem war. Die Atmosphäre war wegen massiver, zum Teil<br />
ethnisch motivierter Gewaltausbrüche sehr angespannt, vor allem im südlichen Landesteil in den<br />
Städten Osch und Dschalalabad. Etwa 450 Menschen starben bei gewaltsamen<br />
Auseinandersetzungen zwischen Kirgisen und Usbeken, die in organisierte Übergriffe auf die
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usbekische Bevölkerung mündeten; geschätzte 400 000 Menschen – überwiegend Usbeken –<br />
flohen. Es gelang jedoch danach, sowohl das Referendum als auch die Parlamentswahlen im<br />
Oktober 2010 in einem weitgehend friedlichen Umfeld abzuhalten. Zuvor gab es nicht wenige<br />
Stimmen, die aus Furcht vor erneuten Gewaltausbrüchen für eine Verschiebung plädierten. Ohne<br />
gravierende Einschränkungen lobte der OSZE-Beobachtungsbericht jedoch die Organisation der<br />
Parlamentswahlen, deren pluralistischen Charakter und die Möglichkeiten für einen aktiven<br />
Wahlkampf, den alle Parteien frei und mit fairem Medienzugang führen konnten.<br />
Auch in der Mongolei fanden Parlamentswahlen statt (November 2009), bei denen zumindest<br />
Abstriche in der Bewertung der demokratischen Qualität gemacht werden müssen. Wenngleich<br />
auch diese Wahlen überwiegend frei und fair waren, gab es doch einige Berichte über<br />
Stimmenkäufe und andere Betrugsfälle. Schließlich ließen die Präsidenten Alijew (Aserbaidschan)<br />
und Rahmon (Tadschikistan) ein Parlament wählen, wobei die Wahlen im Wesentlichen die<br />
Funktion hatten, eine demokratische Fassade aufrechtzuerhalten.<br />
Die Ukraine erlebte zu Beginn des Jahres 2010 etwas für diese <strong>BTI</strong>-Region Außergewöhnliches:<br />
einen friedlichen Machtwechsel durch Wahlen. Viktor Janukowitsch setzte sich in freien und fairen<br />
Präsidentschaftswahlen gegen Julia Timoschenko durch, die Ikone der orangefarbenen Revolution.<br />
Doch zu den darauffolgenden Regionalwahlen im Oktober 2010 spielte Janukowitsch mit seiner<br />
Partei der Regionen schon auf dem Instrumentarium administrativer Wahlsteuerung.<br />
Wahlkommissionen wurden überwiegend mit Parteigängern besetzt, erfolgreiche Bürgermeister<br />
zum Beitritt in die Partei gedrängt. Der Opposition blieb in manchen größeren Städten aus strittigen<br />
Gründen die Teilnahme verwehrt. Im Ergebnis gewann die Partei der Regionen in den großen<br />
Städten und in den meisten Landesteilen. Im vormals politisch orangefarbenen Westen der Ukraine<br />
gewann die ultranationalistische Partei Allrussische Vereinigung Swoboda (Freiheit) viele<br />
Stimmen und zog in die Stadtparlamente von Lwiw und Ternopil ein.<br />
Tab. 1: Entwicklungsstand der politischen Transformation<br />
Damit ist mit der Ukraine auch schon der regionale Absteiger im Demokratie-Status genannt.<br />
Tabelle 1 macht dies – anders als die Herabstufung Weißrusslands – nicht unmittelbar deutlich, da
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der <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> die Ukraine weiterhin unter den „defekten Demokratien“ listet. Im <strong>BTI</strong> 2010 war das<br />
Land für diese Untersuchungsdimension aber noch an der regionalen Spitze. In der Bewertung des<br />
Demokratie-Status ist das Land jetzt um 0,9 Punkte abgestürzt.<br />
Nach seinem Wahlsieg ging der neue ukrainische Präsident Janukowitsch rasch dazu über, seine<br />
Regierungsgewalt auf Kosten demokratischer und pluralistischer Prinzipien zu konsolidieren. Die<br />
Regierungskunst besteht für Janukowitsch momentan darin, eine Balance zwischen den Lagern<br />
zweier einflussreicher Oligarchen, Rinat Achmetov und Dmitro Firtasch, zu halten. Zwar sind<br />
gegenseitige Blockaden verfeindeter Lager im Parlament nun Vergangenheit. Das qua abermaliger<br />
Verfassungsänderung nun wieder stark auf den Präsidenten zugeschnittene Regierungssystem<br />
hebelt jedoch einige Regeln der Gewaltenteilung aus. Die Verurteilung von Timoschenko und<br />
Mitgliedern ihrer Regierung wegen Amtsmissbrauchs und Unterschlagung von Staatsgeldern war<br />
zweifelsohne von politischen Interessen getrieben.<br />
Auch ist die Einschränkung von Freiheits- und Bürgerrechten seit Janukowitschs Machtübernahme<br />
spürbar. Der Druck auf Nichtregierungsorganisationen, insbesondere Menschenrechtsgruppen,<br />
nimmt seither zu. Landesweite und vor allem elektronische Medien stehen mehrheitlich unter der<br />
Kontrolle von Parteigängern des Präsidenten, spätestens seitdem im Sommer 2010 zwei<br />
Fernsehkanälen die Lizenz entzogen wurde.<br />
Am anderen Ende der Trend-Skala steht der Aufsteiger Kirgisistan. Beinahe im Zweijahres-<br />
Rhythmus des <strong>BTI</strong> pendelte das zentralasiatische Land zwischen Autoritarisierungs- und<br />
Demokratisierungstendenzen. Momentan bewegt sich Kirgisistan wieder stärker in Richtung<br />
Demokratie. Die neue Qualität dieser Transition besteht im Wechsel des Regierungssystems zu<br />
einem für das regionale Umfeld ungewöhnlichen Parlamentarismus. Das zugrundeliegende<br />
Verfassungsreferendum und die folgenden Parlamentswahlen galten als so frei und fair wie bisher<br />
kein Urnengang in Zentralasien, wobei die Messlatte für diesen Vergleich zugegebenermaßen nicht<br />
sehr hoch liegt. Die <strong>BTI</strong>-Länderexperten für Kirgisistan würdigen auch die starke Einbeziehung der<br />
Zivilgesellschaft in den Verfassungsgebungsprozess. Die schlechteren Werte insbesondere für<br />
Einzelfragen der Staatlichkeit (staatliches Gewaltmonopol, staatliche Identität, grundlegende<br />
Verwaltungsstrukturen) zeigen, dass sich einerseits das neue parlamentarische System noch<br />
etablieren muss und andererseits die neue Demokratisierungstendenz keineswegs stabil ist.<br />
Drei weitere Länder fallen bei der Betrachtung der Aufsteiger und Absteiger auf. Die Hauptgründe<br />
für die kategoriale Neubewertung von Weißrussland wurden beim Exkurs über die Wahlen in der<br />
Region schon genannt. Die kategoriale Verbesserung Aserbaidschans hingegen ist nicht signifikant,<br />
da die Bewertung auf der Schwelle zwischen den Autokratie-Kategorien liegt. Eine leichte<br />
Konsolidierung des staatlichen Gewaltmonopols im Untersuchungszeitraum hebt Aserbaidschan im<br />
Vergleich zum <strong>BTI</strong> 2010 über den Schwellenwert (4 Punkte) zwischen einer „harten“ zu einer<br />
„gemäßigten“ Autokratie.<br />
Eher erklärungsbedürftig ist hingegen der Aufstieg der Republik Moldau an die regionale Spitze im<br />
Demokratie-Status. Zu verdanken ist dies einer jeweils leichten Verbesserung bei fast allen
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Einzelfragen. Eine neue Generation jüngerer und kompetenter Politiker und Verwaltungsfachleute<br />
lenkt nun die Geschicke des Landes. Die neue pro-europäische Regierungskoalition unter Vlad<br />
Filat führte klug und besonnen einige bereits von der kommunistischen Vorgängerregierung<br />
begonnene Reformen weiter. Die Republik Moldau punktet vor allem mit einer verbesserten<br />
Gewährung von Freiheitsrechten. Allerdings war der Beobachtungszeitraum auch geprägt von einer<br />
politischen Patt-Situation: Aus dem Verfassungsdilemma der blockierten Präsidentenkür fanden die<br />
politischen Eliten auch nach drei Parlamentswahlen, mehreren gescheiterten Präsidentenwahlen im<br />
Parlament und einem fehlgeschlagenen Verfassungsreferendum keinen Ausweg. Immerhin suchte<br />
in diesem Prozess kein maßgeblicher Akteur undemokratische Lösungen.<br />
Wirtschaftliche Transformation<br />
Nach wie vor kann nach den Kriterien des <strong>BTI</strong> kein Land der Region als „entwickelte“ oder<br />
zumindest „funktionsfähige“ Marktwirtschaft bezeichnet werden (siehe Tab. 2). Daran wird sich<br />
mittelfristig auch nicht viel ändern, zumal die regionalen Top-Performer bei der wirtschaftlichen<br />
Transformation, Kasachstan und Russland, weit vom Schwellenwert zu einer „entwickelten<br />
Marktwirtschaft“ entfernt sind. Der Großteil der Länder bewegt sich auf einem Stand einer<br />
Marktwirtschaft mit Funktionsdefiziten, wobei die Republik Moldau neu in diese Kategorie<br />
aufstieg, was mithin die einzigen Kategorienwechsel darstellt.<br />
Tab. 2: Entwicklungsstand der wirtschaftlichen Transformation<br />
Der regionale Durchschnittswert für den Entwicklungsstand der Marktwirtschaft hat sich im<br />
Vergleich zum <strong>BTI</strong> 2010, der bereits erste Auswirkungen der globalen Finanzkrise auf die
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Wirtschaften der Region erfasst hatte, weiter leicht verschlechtert, und zwar um 0,14 Punkte. Im<br />
Vergleich zum <strong>BTI</strong> 2008 fällt der regionale Durchschnitt deutlicher – um 0,32 Punkte. Dabei<br />
brechen die Bewertungen bei zwei Kriterien deutlich ein: Für Währungs- und Preisstabilität sowie<br />
– deutlicher noch – für wirtschaftliche Leistungsstärke liegt der regionale Schnitt im <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> um<br />
mindestens einen Punkt niedriger als im <strong>BTI</strong> 2008. Die durchschnittliche Bewertung der Region für<br />
das Kriterium „Währungs- und Preisstabilität“, das auch die Finanz- und Schuldenpolitik, einen<br />
Schlüsselindikator für die Auswirkungen der globalen Finanzkrise, umfasst, sank von 7,23 Punkte<br />
im <strong>BTI</strong> 2008 auf jetzt 6,23 Punkte, die wirtschaftliche Leistungsstärke im gleichen Zeitraum sogar<br />
von 6,92 auf 5,69 Punkte. Die Bewertungen aller anderen Kriterien blieben im Vierjahresvergleich<br />
stabil.<br />
Dass die globale Finanzkrise sich in der Region nicht zu einer stärkeren Wirtschaftskrise<br />
ausweitete, liegt vor allem an drei Faktoren. Erstens sind die Bankensysteme der betroffenen<br />
Länder zwar keinesfalls stabil und ausdifferenziert, aber in den meisten Fällen zu wenig in den<br />
globalen Kreislauf integriert, als dass die Krise hier direkte Auswirkungen hätte zeitigen können.<br />
Zweitens nutzte das wirtschaftliche Ankerland Russland die in Boomzeiten angesparten Mittel der<br />
Staatsfonds, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Krise abzufedern. Dies wirkte sich<br />
nach einem kurzen Schock mildernd auch auf jene Länder aus, die durch enge wirtschaftliche<br />
Verflechtung oder Arbeitsmigration vom wirtschaftlichen Wohl und Wehe in Russland abhängig<br />
sind. Letztlich kam den Öl- und Gasförderländern Aserbaidschan, Kasachstan, Russland und<br />
Turkmenistan die rasche Erholung der Weltmarktpreise zugute. Ähnlich begünstigt ist auch die<br />
Mongolei durch ihre Kupfer- und Goldvorräte. Im Oktober 2009 schloss die mongolische<br />
Regierung mit den US-amerikanischen Ivanhoe Mines und der australischen Rio-Tinto-Gruppe das<br />
umfangreichste Investitionsabkommen der Landesgeschichte zum Abbau der beiden Metalle in<br />
Oyu Tolgoi nahe der chinesischen Grenze.<br />
Auf den ersten Blick überrascht das noch relativ stabile Niveau von Weißrussland (–0,18 Punkte),<br />
wenngleich das Land neben Turkmenistan, Tadschikistan und Usbekistan zu den vier Staaten der<br />
Region zählt, deren Marktwirtschaften im <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> als „schlecht funktionierend“ eingestuft<br />
werden. Die massiven Zahlungsprobleme und die gravierenden Preissteigerungen, die im Frühjahr<br />
2011 auftraten, zeichnen sich aber bereits in der niedrigen Bewertung der Preis- und<br />
Makrostabilität im <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> ab. Neben Usbekistan bekommt Weißrussland hier die schlechtesten<br />
Bewertungen der Region. Noch schlechter schneidet Weißrussland hinsichtlich des Schutzes von<br />
Eigentumsrechten und des Stellenwertes von privatem Unternehmertum ab. Da sich die Lage<br />
allerdings erst nach dem Ende des Beobachtungszeitraums krisenhaft zuspitzte, werden sich<br />
Verschlechterungen im sozioökonomischen Niveau und in der wirtschaftlichen Leistungsstärke<br />
vermutlich zeitverzögert niederschlagen.<br />
Am deutlichsten verschlechterte sich ausgerechnet Armenien – einst das marktwirtschaftlich<br />
fortschrittlichste Land der Region. Die Bewertung des wirtschaftlichen Entwicklungsstands sank<br />
von 6,82 Punkten (<strong>BTI</strong> 2008) über 6,50 (<strong>BTI</strong> 2010) auf nunmehr 5,93 Punkte. Damit verlor<br />
Armenien bei dieser Untersuchungsdimension die regionale Führungsposition, bleibt aber immer<br />
noch unter den besten Drei. Auch im Falle Armeniens waren deutliche Verschlechterungen bei der
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Makrostabilität und Leistungsstärke der Volkswirtschaft ausschlaggebend. 2009 brach das<br />
armenische Bruttoinlandsprodukt um dramatische 14,2 Prozent ein. Im Folgejahr erholte sich die<br />
Wirtschaft nur leicht. Die armenische Regierung bekam Milliardenkredite vom Internationalen<br />
Währungsfonds (IWF) unter anderem zur Stützung kleinerer und mittelständischer Unternehmen.<br />
Später gewährte auch Russland größere Kredite. Durch die Kredite schwoll aber die armenische<br />
Staatsverschuldungsquote von 13 Prozent des BIP (2008) auf nahezu 50 Prozent (2010) an.<br />
Auch wenn der Trend der Wirtschaftsleistung für 2011 weiter nach oben zeigt, haben die<br />
Auswirkungen der globalen Finanzkrise strukturelle Schwächen der armenischen Wirtschaft<br />
offengelegt. Zum einen ist die Abhängigkeit von russischen Direktinvestitionen und von<br />
Transferleistungen durch armenische Arbeitsmigranten in Russland zu nennen. Beide Geldflüsse<br />
ebbten im Zuge der russischen Wirtschaftskrise ab und schwellen in jüngerer Zeit wieder an. Sie<br />
sind jedoch keine verlässlichen Antriebskräfte der armenischen Wirtschaft. Der armenische<br />
Kapitalmarkt versorgt kleine und mittlere Unternehmen unzureichend mit zuverlässig verfügbaren<br />
Krediten. Zudem sind die Effizienz der Steuerverwaltung und mithin das Steueraufkommen<br />
dürftig. Letztlich müssten die öffentlichen Haushalte stark konsolidiert werden, um den<br />
armenischen Dram zu stützen. Dennoch kam es zu einer neunprozentigen Ausgabensteigerung im<br />
Staatshaushalt 2010, dessen größter Sachposten Militärausgaben sind.<br />
Abhängigkeiten von Transferleistungen durch Arbeitsmigration nach Russland und Kasachstan<br />
zeigen sich deutlich auch in der verringerten Wirtschaftsleistung von Usbekistan und Kirgisistan.<br />
Doch dies ist nicht der alleinige Grund, weshalb Usbekistan im regionalen Vergleich auf den<br />
letzten Platz bei der wirtschaftlichen Entwicklung zurückgefallen ist. Schließlich tragen<br />
Arbeitsmigranten aus Tadschikistan, dem bisherigen Schlusslicht, mit ihren Rücküberweisungen<br />
mindestens ebenso stark zum Bruttoinlandsprodukt ihres Landes bei. Die strukturelle Armut hat<br />
sich in Usbekistan nicht zuletzt deshalb zusätzlich verschärft, weil ohnehin rudimentäre staatliche<br />
Wohlfahrtsleistungen für Rentner und Behinderte noch weiter gekürzt wurden. Dabei ergriff die<br />
Regierung Maßnahmen, die auf Kosten der Bedürftigen ein drängendes Problem lösen sollen: Zur<br />
Verringerung der Geldmenge erfolgen Rentenleistungen zum Teil über Gutscheine, die aber<br />
vielerorts nicht akzeptiert werden und somit wertlos sind. Armut und Korruption führten auch zu<br />
einer rücksichtsloseren Ausbeutung natürlicher Ressourcen, etwa durch illegale Abholzung.<br />
Ambitionierte Regierungsprogramme stehen im Gegensatz zum gestiegenen Druck, dem sich<br />
Umweltschützer auf lokaler Ebene ausgesetzt sehen.<br />
Auch der Abstieg der Ukraine im marktwirtschaftlichen Entwicklungsstand steht im<br />
Zusammenhang mit der globalen Finanzkrise, wenngleich die Gründe andere sind als in Armenien.<br />
Die ukrainische Wirtschaft ist international stark integriert. Kurz nach dem Beitritt des Landes zur<br />
Welthandelsorganisation WTO trafen die wirtschaftlichen Auswirkungen der Finanzkrise deshalb<br />
auch die Ukraine. Zum Schutz der Handels- und Zahlungsbilanz wurden kurzfristige Importzölle<br />
wieder eingeführt.<br />
Die Finanzkrise deckte aber vor allem die Schwächen des ukrainischen Bankensystems auf: Vor<br />
der Krise machten ukrainische Banken lukrative Geschäfte im fremdwährungsnotierten
<strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> | <strong>Regionalbericht</strong> <strong>Postsowjetisches</strong> <strong>Eurasien</strong> 11<br />
Kredithandel. Als Anleger und Sparer massenhaft Geld abzogen, machte sich der Mangel an<br />
Eigenkapital bei den Banken bemerkbar. Die starke Abwertung der Hryna erzeugte weiteren<br />
Druck. Ein Zusammenbruch des Systems stand kurz bevor, konnte aber durch Stützungskredite der<br />
Zentralbank vermieden werden, die einige Banken auch unter ihre direkte Kontrolle stellte. Vier<br />
Banken wurden faktisch verstaatlicht. Insgesamt schlossen die Banken ein Viertel ihrer Filialen<br />
und entließen 16.000 Mitarbeiter. Über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg hat sich das<br />
Kreditwesen noch nicht erholt.<br />
Was geschehen kann, wenn eine mangelnde Diversifizierung in die Sackgasse führt, zeigt das<br />
Beispiel Georgien. Das Handelsbilanzdefizit verfestigt sich strukturell, weil es bislang noch nicht<br />
gelang, Exportalternativen zum weggebrochenen russischen Markt aufzubauen. Zudem bekommt<br />
die Regierung die Inflationsentwicklung nicht unter Kontrolle. Somit bleibt Georgien anfällig für<br />
externe Schocks. Wenngleich die vor 2008 unternommenen prozess- und ordnungspolitischen<br />
Reformen dazu beitrugen, dass der Augustkrieg 2008 mit Russland das Land nicht völlig<br />
destabilisierte, waren milliardenschwere internationale Hilfen essenziell. Nach Auslaufen dieser<br />
Leistungen Mitte 2011 werden allerdings bald einige Kreditrückzahlungen anstehen. Angesichts<br />
der ohnedies hohen Staatsverschuldung scheint die makro-ökonomische Stabilität Georgiens weiter<br />
gefährdet. Ferner schlug die nachlassende Dynamik der Korruptionsbekämpfung im<br />
Beobachtungszeitraum auf den Bildungssektor durch. In dieser Hinsicht erwies sich die Gewährung<br />
größerer finanzieller Autonomie für Sekundarschulen als wenig geglückt, zumal die eigens dafür<br />
geschaffenen Aufsichtsgremien ihren Aufgaben unzureichend nachkommen. Die Unsitte erkaufter<br />
Examen hat sich in Sekundarschulen und Universitäten wieder ausgebreitet.<br />
Mit der Republik Moldau und Tadschikistan gibt es aber auch zwei Länder, deren<br />
marktwirtschaftlicher Entwicklungsstand sich im Beobachtungszeitraum des <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> verbessert<br />
hat. Tadschikistan steht nicht mehr am Ende der regionalen Skala, obwohl es gemessen am Pro-<br />
Kopf-Einkommen der Bevölkerung das ärmste Land im postsowjetischen Raum bleibt. Das in<br />
einem schwierigen Umfeld gelegene Tadschikistan konnte nicht zuletzt dank massiver<br />
internationaler Unterstützung die Folgen des Bürgerkriegs von 1992 bis 1997 überwinden. Die<br />
Wirtschaft wuchs seit 2000 im Schnitt um jährlich 8,6 Prozent. Die Regierung hat ihren von<br />
internationalen Finanzinstituten angeleiteten Konsolidierungskurs auch während der<br />
Wirtschaftskrise, die in Tadschikistan eine Transferleistungskrise war, gehalten. Allerdings hat das<br />
Wirtschaftswachstum keine Breitenwirkung, sondern konzentriert sich in den Händen einer<br />
kleinen, gut vernetzten politischen Elite, die keine Ambitionen zu demokratischen und<br />
marktwirtschaftlichen Reformen zeigt.<br />
Zudem setzte die Regierung mit Blick auf ein gesamtgesellschaftliches Wachstum zuweilen auf<br />
kontraproduktive Methoden. Die Volksbeteiligungskampagne für das Rogun-Stauwerk, das<br />
Tadschikistan in Eigenregie bauen möchte, führte laut Weltbank in 2010 zu einem<br />
Konsumrückgang. Viele Tadschiken hatten in Stolz und Glauben an das nationale Projekt<br />
Staudamm-Anteile erworben, dabei aber ihre finanziellen Möglichkeiten überschätzt. Die<br />
internationalen Finanzinstitutionen drängten die Regierung daher, diese Finanzierungsform<br />
aufzugeben. Für die wirtschaftliche Entwicklung und die Finanzierung von Infrastrukturprojekten
<strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> | <strong>Regionalbericht</strong> <strong>Postsowjetisches</strong> <strong>Eurasien</strong> 12<br />
setzt Tadschikistan neben multilateralen Gebern wie der Weltbank und der Asiatischen<br />
Entwicklungsbank immer mehr auch auf China und Iran. Obwohl sich die Bedingungen für<br />
unternehmerisches Handeln etwas verbessert haben, belastet die allgegenwärtige Korruption<br />
jegliche Form privater Initiative.<br />
Wie bei der politischen Transformation verbesserte sich die Republik Moldau im<br />
Beobachtungszeitraum bei mehreren Einzelfragen der wirtschaftlichen Transformation nur leicht,<br />
was sich aber immer noch zur stärksten Verbesserung innerhalb der Region summiert<br />
(durchschnittlich +0,50 Punkte für diese Untersuchungsdimension). Ob die begonnenen Reformen<br />
auch erfolgreich implementiert werden und greifen, muss sich erst noch zeigen. Beispiele hierfür<br />
sind Maßnahmen im Wettbewerbsrecht, der Bankenkontrolle und zum Schutz von<br />
Eigentumsrechten – vor allem im Kampf gegen Produktpiraterie.<br />
Obwohl das Versiegen von Rücküberweisungen und Investitionen auch die Wirtschaft der<br />
Republik Moldau stark traf, konnten andere makro-ökonomische Parameter stabilisiert werden. Die<br />
Inflationsrate ging zurück, und über den Einsatz von Nationalbankreserven konnte einerseits die<br />
Währung relativ stabil gehalten werden, ohne andererseits die Wirtschaft völlig abzuwürgen. Auch<br />
arbeitete die neue Regierung bei der Überwindung der Krise konstruktiv mit internationalen<br />
Finanzorganisationen zusammen und setzte einigermaßen erfolgreich ein unpopuläres<br />
Sparprogramm um. Weitere Fortschritte machte die Republik Moldau, wenngleich auf niedrigem<br />
Niveau, durch eine leicht gestiegene Chancengleichheit und eine gewisse Verbesserung des<br />
Umweltbewusstseins.<br />
Transformationsmanagement<br />
Eine Besonderheit des <strong>BTI</strong> ist der Schwierigkeitsgrad, der die Kontextbedingungen für<br />
Transformationsmanagement mit den tatsächlichen Steuerungsleistungen verrechnet. Bleiben<br />
außergewöhnliche Ereignisse aus, sollte sich dieser Schwierigkeitsgrad nicht wesentlich oder gar<br />
nicht verändern. In der Tat fallen auch nur zwei deutliche Verschiebungen auf: In beiden Fällen<br />
handelt es sich um Abweichungen um zwei Punkte im Vergleich zum <strong>BTI</strong> 2010; und zwar in<br />
beiden Fällen in der Beurteilung der Konfliktintensität. Während diese in Georgien nach dem<br />
kurzen Krieg mit Russland im August 2008 abgenommen hat, ist sie in Kirgisistan aufgrund<br />
verschärfter politischer Spannungen und insbesondere infolge der gewaltsamen interethnischen<br />
Auseinandersetzungen vom Juni 2010 gestiegen. Unverändert weist Tadschikistan auch im <strong>BTI</strong><br />
<strong>2012</strong> im regionalen Vergleich den höchsten Schwierigkeitsgrad für Transformationsmanagement<br />
auf. Im Vergleich mit anderen Weltregionen sind es vor allem fehlende zivilgesellschaftliche<br />
Traditionen, die das Transformationsmanagement im postsowjetischen <strong>Eurasien</strong> erschweren.<br />
Insgesamt hat sich das Transformationsmanagement im regionalen Durchschnitt leicht verbessert<br />
(+0,11 Punkte im Vergleich zum <strong>BTI</strong> 2010). Bei den meisten Kriterien blieben die Werte nahezu
<strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> | <strong>Regionalbericht</strong> <strong>Postsowjetisches</strong> <strong>Eurasien</strong> 13<br />
unverändert. Erwähnenswert sind lediglich die Verbesserungen in den Bereichen<br />
„Steuerungsfähigkeit“ und „internationale Zusammenarbeit“. Der letztgenannte Bereich ist nach<br />
wie vor das mit Abstand am besten bewertete Managementkriterium in dieser Region (im<br />
Mittelwert 5,67 Punkte). Die Korruptionsbekämpfung bleibt mit durchschnittlich 3,46 Punkten der<br />
für die Region schlechteste Einzelwert überhaupt. Auch die Standardabweichung ist hier mit 0,953<br />
am geringsten, d. h. alle Länder sind in ihrer Korruptionsbekämpfung ungefähr gleich schlecht.<br />
Als einziges Land fällt die Mongolei noch in die Managementkategorie „gut“, auch wenn der <strong>BTI</strong><br />
<strong>2012</strong> die Steuerungsfähigkeit der mongolischen Regierung und die immer noch sehr gute<br />
internationale Zusammenarbeit etwas abwertet. Die Gutachter bemängeln, dass die politischen<br />
Eliten aus kurzfristigen Interessenskalkülen zuweilen langfristige Programme wie etwa die<br />
Armutsbekämpfung aus dem Blick verlieren. Dies beeinträchtigt auch den effektiven Einsatz<br />
externer Unterstützung.<br />
Tab. 3: Qualität des Transformationsmanagements<br />
Vor zwei Jahren noch stand Georgien in derselben Kategorie wie die Mongolei. Der <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> stuft<br />
das georgische Transformationsmanagement nun nur noch als „mäßig“ ein. Kritisiert wird eine<br />
weitere Verschlechterung der strategischen Prioritätensetzung und der Ressourcennutzung. Nach<br />
strategischen Fehleinschätzungen im Vorfeld des Krieges mit Russland im August 2008 sind es<br />
nun unnütze Prestigeprojekte und ein die gesamte politische Klasse umfassender Strategiemangel,<br />
den die Gutachter kritisieren. Zudem lässt die Konsequenz in der Korruptionsbekämpfung nach.<br />
Steuer- und Polizeiinspekteure wenden wieder Praktiken aus der Zeit vor der Rosenrevolution an,<br />
indem sie Ladenbesitzer und Händler zu informellen Sonderzahlungen anhalten.<br />
Ein weiterer kategorialer Absteiger ist Weißrussland. Ein erkennbares Transformationsmanagement<br />
ist nicht vorhanden. Von ohnehin schon niedrigem Niveau stuft der <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> das<br />
Land bei fast allen Einzelwerten weiter ab. Das brutale Vorgehen gegen die Opposition nach den<br />
Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 entlarvte zuvor sichtbare Zeichen der Liberalisierung,<br />
wie etwa einen freieren Wahlkampf, als Nebelkerzen des Autokraten Lukaschenko. Zudem kann
<strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> | <strong>Regionalbericht</strong> <strong>Postsowjetisches</strong> <strong>Eurasien</strong> 14<br />
das Regime seine hoch subventionierte und von Russland abhängige Wirtschaftsidee des<br />
sogenannten „Marktsozialismus“ nicht mehr halten. Aktuell steht das Land vor dem Bankrott.<br />
Gegen eine neue Protestwelle ging das Regime mit bekannter Härte vor.<br />
Noch über der kategorialen Schwelle von „mäßig“ zu „schwach“ bleibt die Ukraine, deren<br />
Transformationsmanagement sich nach dem Weißrusslands am deutlichsten verschlechtert hat.<br />
Dabei fällt vor allem ins Gewicht, dass das Handeln der politischen Akteure − und hier vor allem<br />
der Umgang des neuen Präsidenten Janukowitsch mit der Vorgängerregierung − Konfliktlinien<br />
nicht nur zwischen den politischen Lagern und sondern auch zwischen den Landesteilen vertieft.<br />
Doch die Region weist im Untersuchungszeitraum auch zwei kategoriale Verbesserungen auf:<br />
Kirgisistans Transformationsmanagement gilt nun als „mäßig“. Der <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> bewertet hier vor<br />
allem die intensive Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Ausarbeitung der neuen Verfassung,<br />
die im Oktober 2010 per Referendum angenommen wurde, als positiv. Der Einfluss<br />
antidemokratischer Akteure ist zurückgegangen, auch wenn der Bürgermeister von Osch, Melis<br />
Myrzakmatov, einen einflussreichen Opponenten der neuen Regierung darstellt. Alle weiteren,<br />
durchgehend geringen Verbesserungen sind als vorläufig zu betrachten, da die Stabilität der<br />
politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Kirgisistans und der Zusammenhalt<br />
zwischen dem nördlichen und dem südlichen Landesteil infrage stehen. Vor seiner nächsten<br />
Prüfung steht das neue Regierungssystem bei den Präsidentschaftswahlen Ende 2011.<br />
Das Land mit den schwierigsten Bedingungen, Tadschikistan, zeigt nun immerhin Ansätze von<br />
Transformationsmanagement. Mit massiver Unterstützung internationaler Geber beherzigt die<br />
Regierung einige Reformprogramme zumindest teilweise und im Rahmen der bescheidenen<br />
Implementierungskapazitäten. Gegenüber früheren Untersuchungsperioden ist dies ein Erfolg.<br />
Verwiesen sei hier abermals darauf, dass Tadschikistan während des Bürgerkriegs (1992 bis 1997)<br />
und danach als gescheiterter Staat galt. Allerdings unterdrückt die Regierung nicht nur eine<br />
Aufarbeitung dieser Zeit, sondern ging in den vergangenen Jahren auch entschieden gegen<br />
Gruppierungen in „Verliererregionen“ des Bürgerkrieges vor. Dies mag kurzfristig eine gewisse<br />
Steuerungsfähigkeit in diesen Regionen herstellen, verhärtet aber ablehnende Einstellungen in der<br />
lokalen Bevölkerung.<br />
Es gibt noch weitere positive Tendenzen in der Region. Bei der Betrachtung des Transformationsmanagements<br />
fällt auf, dass fünf Länder der Region bei dieser Untersuchungsdimension zu den<br />
fünfzehn deutlichsten Aufsteigern aller 128 <strong>BTI</strong>-Länder gehören. Neben der Republik Moldau,<br />
Kirgisistan und Russland sind dies Tadschikistan und Armenien.<br />
Der beste Aufsteiger ist dabei die Republik Moldau. Mit einer Verbesserung um fast einen ganzen<br />
Punkt – von 4,49 Punkten im <strong>BTI</strong> 2010 auf jetzt 5,39 Punkte – steigt das Land im Management-<br />
Ranking von Platz 79 auf Platz 52. In fast allen Kategorien bewertet der <strong>BTI</strong> die<br />
Managementleistung um mindestens einen Wertungspunkt höher als 2010. In puncto Steuerungsfähigkeit<br />
und Ressourceneffizienz schneidet die gegenwärtige Koalition besser ab als zu<br />
Regierungsantritt weithin erwartet, schien sie doch nach Einschätzung vieler Beobachter ein eher
<strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> | <strong>Regionalbericht</strong> <strong>Postsowjetisches</strong> <strong>Eurasien</strong> 15<br />
disparater Zusammenschluss von Parteien zu sein, die lediglich die Opposition zur<br />
kommunistischen Regierung vereinte.<br />
Noch besser bewertet der <strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> bei der Republik Moldau das Kriterium Konsensbildung, das<br />
die Einzelfragen Zielkonsens, Konfliktmanagement und Einbeziehung der Zivilgesellschaft<br />
umfasst und dessen Bewertung sogar um 1,6 Punkte steigt. Damit wird gewürdigt, dass eine<br />
lagerübergreifende Übereinstimmung über die wesentlichen Entwicklungsziele besteht,<br />
insbesondere die Orientierung hin zur Europäischen Union mitsamt den damit einhergehenden<br />
Reformen. Das Konfliktmanagement war insofern erfolgreich, als dass die Regierungskoalition –<br />
anders als in der Ukraine – nicht der Versuchung und dem politischen Druck nachgab, über eine<br />
konfrontative Linie gegenüber der Vorgängerregierung politische Gräben aufzureißen, sondern<br />
vielmehr bereits begonnene marktwirtschaftliche Reformen fortführte. Die neue Regierung setzte<br />
einen Meilenstein der politischen Kultur mit der stärkeren Einbeziehung der Zivilgesellschaft in<br />
den politischen Prozess, die in dieser Form in der Republik Moldau bisher unbekannt war.<br />
Kirgisistan hat sich im Vergleich zum <strong>BTI</strong> 2010 um 0,68 Punkte verbessert. Spürbar verbessert<br />
(jeweils um 0,55 Punkte) haben sich auch Russland und Tadschikistan. Die Verbesserungen dieser<br />
beiden Länder starteten freilich von bescheidenem Niveau. In Russland imponierte der effiziente<br />
Einsatz der Staatsfonds, um die Wirtschaft durch die Krise zu steuern. Innerhalb der politischen<br />
Elite gibt es keinen nennenswerten Dissens über die strategische Priorisierung der Ziele. Im<br />
politischen Bereich bewegt sich das Regime allerdings nicht in Richtung einer rechtsstaatlichen<br />
Demokratie.<br />
Bleibt Armenien: Auf den ersten Blick mag sein Aufstieg im Widerspruch zur deutlichen<br />
Verschlechterung des Landes bei der wirtschaftlichen Transformation stehen. Dieser Widerspruch<br />
löst sich jedoch auf, wenn man die Managementwerte des <strong>BTI</strong> 2008 und <strong>BTI</strong> 2010 als<br />
Vergleichswerte zugrunde legt. Man kann argumentieren, dass sich die damalige starke<br />
Verschlechterung im Management wegen einer konfrontativ ausgetragenen politischen<br />
Pattsituation zeitverzögert im verschlechterten Status niederschlägt. Unter dem Eindruck der<br />
Wirtschaftskrise ist aber nun auch der politische Stil kooperativer geworden.<br />
Ausblick<br />
Insgesamt zeigt die Region in den einzelnen Teildimensionen des <strong>BTI</strong> kaum Bewegung. Trotz<br />
einzelner Verbesserungen kann von einer Transformationsdynamik generell nicht die Rede sein.<br />
Dennoch: Es gärt in einigen Staaten der Region. Im Zuge der arabischen Rebellionen ist die<br />
Nervosität unter den Regierenden der Autokratien und stark defekten Demokratien gestiegen – und<br />
das ist die Mehrzahl der Regime in der Region. Wirtschaftliche Notlagen, ein Arbeitsmarkt, der der<br />
wachsenden Bevölkerung keine Perspektiven bietet, Preissteigerungen für Lebensmittel,
<strong>BTI</strong> <strong>2012</strong> | <strong>Regionalbericht</strong> <strong>Postsowjetisches</strong> <strong>Eurasien</strong> 16<br />
bürokratische Gängelung für Kleinunternehmer – dieses sozioökonomische Ferment ist auch in der<br />
eurasischen Region weit verbreitet.<br />
Arme und ressourcenschwache Länder ohne eigenen Zugang zum Meer wie Tadschikistan,<br />
Kirgisistan oder die Republik Moldau bleiben anfällig und werden kaum Vorkehrungen gegen<br />
abrupte wirtschaftliche Verschlechterungen treffen können. Daher verfügen die<br />
Entscheidungsträger dieser Länder über wenig Handlungsspielraum. Wie nachhaltig<br />
Verbesserungen des Transformationsmanagements sind und wie diese wirken, bestimmt ihre<br />
politischen Steuerungsspielräume nur bedingt. Zudem – und dies gilt vor allem für Zentralasien –<br />
sind Demokratisierungsmaßnahmen nur möglich, wenn sie vom autokratisch regierten,<br />
einflussreichen und stabilitätsorientierten Umfeld geduldet werden. Der maßgebliche<br />
Einflussfaktor neben China ist natürlich Russland. Hier wie dort sind kaum Änderungen zu<br />
erwarten, weder in der eigenen Entwicklungsrichtung noch in den Interessen bezüglich anderer<br />
Länder, auch wenn in Russland <strong>2012</strong> Präsidentschaftswahlen anstehen. Der Kreml setzt<br />
Leitplanken auch für Weißrussland, wo sich Präsident Lukaschenko durch die enorme<br />
Verschuldung des Landes und das gewaltsame Zerschlagen der Wahlproteste vollständig in die<br />
Abhängigkeit von Russland manövriert hat.<br />
Auch in Armenien, Georgien und in der Ukraine sind die Abhängigkeiten groß und die<br />
Handlungsspielräume gering. Während in Armenien die verfeindeten politischen Lager auf die<br />
nächsten, möglicherweise sehr konfrontativen Wahlen zusteuern, strebt Präsident Saakaschwili<br />
mangels wirtschaftlicher Kapazitäten eine stärkere Rolle Georgiens als Transitland für<br />
Gaslieferungen an – eine unsichere Basis für größere Selbständigkeit. Außerdem hat Saakaschwili<br />
durch sein teilweise brachiales und selbstherrliches Vorgehen Kredit bei westlichen Unterstützern<br />
verspielt. In der Ukraine konzentriert sich die Regierung unter Präsident Janukowitsch auf den<br />
Aufbau ihrer Machtposition und den politischen Gegner. Zu strukturellen Reformen zum Stopp des<br />
„brain drain“ könnten Konditionalitäten des Internationalen Währungsfonds beitragen – falls sich<br />
die Regierung darauf einlässt.<br />
Nicht zuletzt für die handlungsfähigeren Regierenden der ressourcenreichen Autokratien<br />
Aserbaidschan, Kasachstan und Turkmenistan stellt sich die existenzielle Frage, ob und inwiefern<br />
sie den Reformdruck verringern wollen und können, indem sie wirtschaftliche und politische<br />
Freiheiten zulassen sowie ernsthaft und wirksam gegen Korruption vorgehen. Vor diesem<br />
Hintergrund können die Vorgänge um die Wiederwahl des kasachischen Präsidenten Nasarbajew<br />
im April 2011 als Ausdruck einer temporären Unsicherheit über die richtige Strategie gedeutet<br />
werden. Lange schien Nasarbajew eine Wahl umgehen und sich stattdessen per Referendum bis auf<br />
Weiteres zum Präsidenten akklamieren lassen zu wollen. Dann entschied er sich für eine<br />
Vorverlegung des Wahltermins, was die Chancen echter Wahlalternativen schmälerte. Von den<br />
letztlich drei offiziellen Gegenkandidaten traten zwei offenkundig nur pro forma an. Die Höhe des<br />
Sieges und der Wahlbeteiligung in den von der OSZE kritisch bewerteten Wahlen reklamierte<br />
Nasarbajew als Ausdruck der Einheit des kasachischen Volkes. Einheimische Kommentatoren<br />
feierten diese Suggestion von Demokratie. Die Frage, wer dem 71-jährigen Nasarbajew folgen<br />
wird, wurde vertagt – eine Frage mit Signalwirkung für die Region.
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Am stärksten brodelt es jedoch in dem Land, das in Status- und Management-Index das<br />
Schlusslicht der Region bildet: Usbekistan, dessen Präsident Islam Karimow wie sein kasachischer<br />
Kollege seit 1991 regiert. Die Wahrscheinlichkeit eines gewaltsamen politischen Umbruchs und<br />
anhaltender Instabilität ist hier besonders hoch. In Usbekistan gären die oben genannten Prozesse –<br />
Perspektivlosigkeit, Preissteigerungen, politische und religiöse Unterdrückung, Gängelung durch<br />
korruptes und inkompetentes Staatspersonal. Eine Vielzahl gut ausgebildeter, junger Menschen mit<br />
Erfahrungen im Ausland drängt nach Entwicklungsmöglichkeiten und wurde schon nachhaltig<br />
frustriert. Die Staatsideologie, die das Land als Hort der Stabilität in einem chaotischen Umfeld<br />
begreift, verfängt immer weniger. Stärker noch als in Kasachstan stellt sich die Frage der<br />
Präsidentennachfolge. Spätestens hier könnte sich erneut Widerstand formieren. Und dieses Mal<br />
könnte er auf die gesamte Region ausstrahlen.