Die verändernde Kraft des Evangeliums - Worshipworld.de
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schaft bei gleichzeitiger Wahrung <strong>de</strong>r jüdischen I<strong>de</strong>ntität und Eigenart.<br />
In <strong>de</strong>r heutigen Diskussion ist tikkun olam zu einem allgemeinen<br />
und verbreiteten Sammelbegriff für eine jüdische Spiritualität <strong>de</strong>r<br />
Weltverantwortung und Gesellschaftsethik gewor<strong>de</strong>n. Dabei wird<br />
<strong>de</strong>r Begriff auf immer neue Fel<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r ethischen und gesellschaftlichen<br />
Diskussion ausgeweitet. So for<strong>de</strong>rte etwa Abraham Jehoshua<br />
Heschel (1907-1972), neben Soloveitchik ein weiterer großer jüdischer<br />
Philosoph und politischer Aktivist <strong><strong>de</strong>s</strong> 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts, die<br />
traditionellen jüdischen Koschergesetze nicht nur auf <strong>de</strong>n privaten<br />
Bereich <strong>de</strong>r Speisevorschriften, son<strong>de</strong>rn eben auch auf die internationalen<br />
Finanzmärkte anzuwen<strong>de</strong>n:<br />
Ich bin sehr dankbar dafür, dass in offiziellen Institutionen und<br />
Hotels die Kaschrut-Gesetze eingehalten wer<strong>de</strong>n. Aber was mich<br />
schmerzt, ist die Frage: Warum stehen nur die Metzgereien unter<br />
religiöser Aufsicht? Warum bestehen wir nicht darauf, dass auch<br />
Banken, Fabriken und Immobilienmakler einen koscher-Stempel<br />
erhalten und entsprechend <strong>de</strong>n religiösen Gesetzen betrieben wer<strong>de</strong>n?<br />
Wenn man in einem Ei einen Tropfen Blut fin<strong>de</strong>t, dann wäre<br />
es für uns unvorstellbar, es noch zu essen. Aber oft ist mehr als ein<br />
Tropfen Blut in einem Dollar o<strong>de</strong>r einem Lire, aber wir versäumen<br />
es am laufen<strong>de</strong>n Band, diese Leute an die Überlieferungen<br />
unserer Lehrer zu erinnern. (Kaplan 2007:361)<br />
In einem Leitartikel <strong>de</strong>r Jerusalem Post vom März 2010 ent<strong>de</strong>ckt <strong>de</strong>r<br />
Unternehmensberater und Autor David Sarna sogar im mo<strong>de</strong>rnen<br />
Konzept <strong><strong>de</strong>s</strong> conscious capitalism, das durch <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>nsnobelpreisträger<br />
Mohammed Yunus weltweite Bekanntheit erlangte, eine zeitgemäße<br />
Ausdrucksform überlieferter jüdischer Grundwerte:<br />
Conscious Capitalism gehört heute zu <strong>de</strong>n heiß diskutierten I<strong>de</strong>en<br />
im Wirtschaftsleben. Sein hebräisches Äquivalent, tikkun olam,<br />
ist allerdings schon vor langer Zeit entstan<strong>de</strong>n: tikkun olam be<strong>de</strong>utet,<br />
Verantwortung zu übernehmen für das materielle, moralische<br />
und geistliche Wohlergehen <strong>de</strong>r weiteren Gesellschaft. Daran<br />
wird <strong>de</strong>utlich, dass das Gebot zu einem „bewussten Kapitalismus“,<br />
etwa für Mechanismen wie Mikrokredite, Arbeitsplatzbeschaffung,<br />
Ausbildungsför<strong>de</strong>rung und Hilfe zur Gründung von<br />
Kleinunternehmen bereits seit über zwei Jahrtausen<strong>de</strong>n im jüdischen<br />
Recht vorgesehen, kodifiziert und auch praktiziert wor<strong>de</strong>n<br />
ist. Der Begriff tikkun olam bezeichnet dabei Rechtsnormen, die<br />
zwar nicht durch biblische Gebote vorgeschrieben sind, aber <strong>de</strong>nnoch<br />
durch die Rabbinen beschlossen wur<strong>de</strong>n, weil sie für das<br />
Gelingen <strong><strong>de</strong>s</strong> öffentlichen Lebens notwendig waren, o<strong>de</strong>r, wie sie<br />
es in ihrem eigenen Idiom ausdrückten, „um die Welt zu einem<br />
besseren Ort zu machen“. (Sarna 2010)<br />
Christliche Missverständnisse und Engführungen<br />
Ein Blick auf jüdische Ansätze zur Gesellschaftsverän<strong>de</strong>rung hat gezeigt,<br />
dass <strong>de</strong>r Auftrag zu einer bewussten Mitgestaltung und Umgestaltung<br />
<strong>de</strong>r Gesellschaft durch die Normen <strong>de</strong>r Königsherrschaft<br />
Gottes seit alters her zu <strong>de</strong>n Grundi<strong>de</strong>en jüdischer Spiritualität und<br />
Ethik gehört. Um so erstaunlicher ist es jedoch, dass in manchen<br />
Kreisen <strong>de</strong>r christlichen Kirche, insbeson<strong>de</strong>re in bestimmten Teilen<br />
<strong>de</strong>r neuzeitlichen evangelikalen Bewegung, diese Perspektive <strong>de</strong>r<br />
Weltverantwortung und <strong>de</strong>r Auftrag zur Gesellschaftsverän<strong>de</strong>rung<br />
über lange Zeit fast vollkommen in Vergessenheit geriet. Ja, noch<br />
mehr als das: Sie wur<strong>de</strong> sogar manchmal als eine gefährliche Irrlehre<br />
angesehen, die <strong>de</strong>n Christen vom „Eigentlichen“, also von <strong>de</strong>r persönlichen<br />
Bekehrung und von <strong>de</strong>r Verkündigung <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Evangeliums</strong>, abhält.<br />
Ein Christ, so heißt es dann, soll sich nicht um die Verbesserung,<br />
Heilung o<strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rherstellung <strong>de</strong>r Welt bemühen, son<strong>de</strong>rn er<br />
soll dieser Welt <strong>de</strong>n Rücken kehren und sich <strong>de</strong>r himmlischen und<br />
zukünftigen Welt zuwen<strong>de</strong>n.<br />
Solche Überzeugungen konnten nur dort Raum gewinnen, wo<br />
das geistliche Erbe <strong><strong>de</strong>s</strong> Ju<strong>de</strong>ntums in <strong>de</strong>r christlichen Kirche entwe<strong>de</strong>r<br />
völlig in Vergessenheit geriet – o<strong>de</strong>r sogar ganz bewusst bekämpft<br />
wur<strong>de</strong>! Denn darin besteht ja die tragische Ironie <strong>de</strong>r christlich-jüdischen<br />
Geschichte: In <strong>de</strong>r Überzeugung, sich vom Ju<strong>de</strong>ntum abgren-