Die verändernde Kraft des Evangeliums - Worshipworld.de
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sen <strong>de</strong>r Pharisäer und Schriftgelehrten von Generation zu Generation<br />
weitergegeben wur<strong>de</strong>n. Der Begriff tikkun olam zum Beispiel scheint<br />
auf Rabbi Gamaliel <strong>de</strong>n Älteren zurückzugehen, einen Zeitgenossen<br />
Jesu, bei <strong>de</strong>m auch Paulus studierte (vgl. Apg 22,3 und Apg 5,34-42).<br />
Wir wissen nur wenig über diesen Lehrer, aber die wenigen Überlieferungen,<br />
die von ihm erhalten sind, <strong>de</strong>uten darauf hin, dass er darum<br />
bemüht war, Gesetzestreue und Weltoffenheit miteinan<strong>de</strong>r zu<br />
verbin<strong>de</strong>n. So überwand er etwa die traditionellen Animositäten zwischen<br />
Pharisäern und Schriftgelehrten, in<strong>de</strong>m er, selbst ein Pharisäer,<br />
seiner Tochter die Hochzeit mit einem Sadduzäer erlaubte. Auch sein<br />
weiser Rat, von <strong>de</strong>m die Apostelgeschichte berichtet, zeugt von <strong>de</strong>m<br />
Bemühen, Gottes Willen treu zu bleiben und <strong>de</strong>nnoch auch offen zu<br />
sein für An<strong>de</strong>rs<strong>de</strong>nken<strong>de</strong>. Und schließlich verrät auch die Theologie<br />
<strong><strong>de</strong>s</strong> Paulus, die von Treue zur Schrift und gleichzeitiger Öffnung für<br />
die Völkerwelt geprägt ist, vermutlich eine Prägung durch Gamaliel.<br />
Ein wichtiger Wahlspruch Gamaliels lautete: „Schön ist es, wenn das<br />
Studium <strong>de</strong>r Tora mit <strong>de</strong>m Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r Welt verbun<strong>de</strong>n wird (also<br />
mit <strong>de</strong>r weltlichen Alltagsrealität)“ (Sprüche <strong>de</strong>r Väter 2,2).<br />
Genau diese Verbindung von Gesetzestreue und Alltagswelt zeigt<br />
sich nun auch in <strong>de</strong>m Rechtsprinzip tikkun olam, das von Gamaliel<br />
eingeführt wur<strong>de</strong>, um schwierige Rechtsfragen zu klären, die sich aus<br />
<strong>de</strong>m Alltagsleben <strong><strong>de</strong>s</strong> jüdischen Volkes im Kontext von nichtjüdischen<br />
Gesellschaften ergaben. Gamaliel argumentiert, dass sich Ju<strong>de</strong>n<br />
in solchen Fällen nicht allein an <strong>de</strong>n rechtlichen Vorschriften <strong>de</strong>r<br />
Bibel orientieren sollten, son<strong>de</strong>rn an <strong>de</strong>r Frage, was <strong>de</strong>m Wohl <strong>de</strong>r<br />
Allgemeinheit und <strong>de</strong>r Gesellschaft dient, also <strong>de</strong>r „Besserung <strong>de</strong>r<br />
Welt“. <strong>Die</strong>ses neue Rechtsprinzip wird etwa bei schwierigen Scheidungsfällen<br />
angewen<strong>de</strong>t, um die Rechte <strong>de</strong>r Frauen zu stärken. Aber<br />
auch beim Verkauf von Sklaven, um <strong>de</strong>ren Rechte zu stärken, und<br />
ebenso auch bei <strong>de</strong>r Auslösung von Kriegsgefangenen zu einem fairen<br />
Preis (Mischna Gittin 4,2-7). <strong>Die</strong>se ethischen Richtlinien hatten<br />
zwar keine eigentliche Begründung in biblischen Geboten, sie wer<strong>de</strong>n<br />
aber begrün<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>m allgemeinen Auftrag <strong><strong>de</strong>s</strong> Menschen bzw. <strong><strong>de</strong>s</strong><br />
jüdischen Volkes, zur Verbesserung und Heilung <strong>de</strong>r Welt beizutragen.<br />
<strong>Die</strong>se rechtliche Neuerung <strong><strong>de</strong>s</strong> Gamaliel, verbun<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r<br />
Grundhoffung <strong><strong>de</strong>s</strong> Aleinu-Gebetes, bil<strong>de</strong>te dann im weiteren Verlauf<br />
<strong>de</strong>r Geschichte die Grundlage für das jüdische Verhältnis zur Gesellschaft<br />
und zur nichtjüdischen Welt als Ganzes. Denn es ist genau<br />
diese Spannung zwischen einer erkennbaren jüdischen I<strong>de</strong>ntität und<br />
einer gleichzeitigen Weltzugewandtheit (vgl. Gamaliels Prinzip „Tora<br />
mit weltlichem Wan<strong>de</strong>l“), die die jüdische Sozialethik charakterisiert.<br />
Spannungsfeld Gesellschaft: Heimisch in frem<strong>de</strong>r Umgebung<br />
<strong>Die</strong> bei<strong>de</strong>n eingangs erwähnten jüdischen Stimmen, die <strong><strong>de</strong>s</strong> orthodoxen<br />
britischen Oberrabbiners wie <strong><strong>de</strong>s</strong> liberalen <strong>de</strong>utschen Professors,<br />
bringen bei<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Begriff tikkun olam in Zusammenhang mit eben<br />
diesem Spannungsverhältnis zwischen jüdischem Volk und nichtjüdischer<br />
Welt, zwischen Gemein<strong>de</strong> und Gesellschaft, zwischen Bindung<br />
an die Tora und Einmischung in <strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r Welt. <strong>Die</strong>ses<br />
Spannungsverhältnis prägte die Geschichte <strong><strong>de</strong>s</strong> jüdischen Volkes angefangen<br />
von Abraham, <strong>de</strong>r als Gast ein frem<strong><strong>de</strong>s</strong> Land durchwan<strong>de</strong>rte,<br />
über Moses, <strong>de</strong>r als Sklave und als Prinz unter Ägyptern lebte,<br />
über die Erfahrungen <strong><strong>de</strong>s</strong> babylonischen Exils und <strong>de</strong>r Zerstreuung<br />
im römischen Reich bis hin zur weltweiten Diaspora <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne:<br />
Immer war man Teil einer frem<strong>de</strong>n Gesellschaft und gehörte dieser<br />
doch nicht völlig an. Immer war man aufgerufen, mitzugestalten,<br />
aber doch nicht alles mitzumachen. <strong>Die</strong>se Grundspannung fand ihren<br />
Nie<strong>de</strong>rschlag auch im christlichen Selbstverständnis, „in <strong>de</strong>r<br />
Welt, aber nicht von <strong>de</strong>r Welt“ zu sein, auch wenn Jesus selbst das so<br />
nie formuliert hat. Aber auch die Ansicht <strong><strong>de</strong>s</strong> Pharisäers Paulus steht<br />
dieser jüdischen Haltung sehr nahe: „Fügt euch nicht ins Schema<br />
dieser Welt, son<strong>de</strong>rn verwan<strong>de</strong>lt euch durch die Erneuerung eures<br />
Sinnes.“ (Röm 12,2: Zürcher Übersetzung).<br />
<strong>Die</strong> jüdische Tradition sucht diese bei<strong>de</strong>n Pole zusammenzuhalten:<br />
Einerseits versteht sich das Volk Israel als ein erwähltes, herausgerufenes<br />
und zu Gott gehöriges Volk, das sich unterschei<strong>de</strong>t von<br />
seiner Umgebung. Und <strong>de</strong>nnoch hat es überall dort, wo es ist, <strong>de</strong>n<br />
Auftrag zur Mitgestaltung, ja sogar entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Umgestaltung