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Die verändernde Kraft des Evangeliums - Worshipworld.de

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Tobias Faix / Tobias Künkler (Hg.)<br />

<strong>Die</strong> <strong>verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong></strong> <strong>Kraft</strong><br />

<strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Evangeliums</strong><br />

Beiträge zu <strong>de</strong>n<br />

Marburger Transformationsstudien


Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek<br />

<strong>Die</strong> Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in <strong>de</strong>r Deutschen<br />

Nationalbibliografie; <strong>de</strong>taillierte bibliografische Daten sind im Internet<br />

über http://dnb.ddb.<strong>de</strong> abrufbar.<br />

ISBN 978-3-86827-320-5<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

© 2012 by Verlag <strong>de</strong>r Francke-Buchhandlung GmbH<br />

35037 Marburg an <strong>de</strong>r Lahn<br />

Covergestaltung: Verlag <strong>de</strong>r Francke-Buchhandlung GmbH /<br />

Sven Gerhardt<br />

Satz: Verlag <strong>de</strong>r Francke-Buchhandlung GmbH<br />

Druck: Bercker Graphischer Betrieb, Kevelaer<br />

www.francke-buch.<strong>de</strong><br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort ............................................................................................ 9<br />

Teil I<br />

<strong>Die</strong> gesellschafts<strong>verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong></strong> <strong>Kraft</strong><br />

<strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Evangeliums</strong> .......................................................................17<br />

N.T. Wright<br />

Was Jesus wirklich wollte:<br />

Sein Wirken im Kontext <strong><strong>de</strong>s</strong> antiken Ju<strong>de</strong>ntums und seiner<br />

Eschatologie .................................................................................. 18<br />

N.T. Wright<br />

Der gesellschaftliche Auftrag <strong>de</strong>r Christen .................................... 45<br />

Tobias Faix<br />

Exodus, Jubeljahr, Kreuz und die Gemein<strong>de</strong> heute<br />

Biblische Aspekte <strong>de</strong>r Befreiung, Erlösung und<br />

Transformation .............................................................................. 68<br />

Guido Baltes<br />

Tikkun Olam: Heilung <strong>de</strong>r Welt<br />

Jüdische Ansätze zur Gesellschaftsverän<strong>de</strong>rung .............................. 96<br />

Volker Rabens<br />

<strong>Die</strong> <strong>verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong></strong> <strong>Kraft</strong> <strong><strong>de</strong>s</strong> Geistes<br />

Paulinische Perspektiven zur Gesellschaftstransformation ........... 122


Teil II<br />

Das Evangelium zwischen Anpassung, Infragestellung<br />

und Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Kultur ............................................ 147<br />

Leslie Newbigin<br />

Kultur nach <strong>de</strong>r Aufklärung als missionarisches Problem ....... 148<br />

Alan Roxburgh<br />

Das Evangelium, die Kirche und die Kultur<br />

Eine missionale Lektüre <strong>de</strong>r Theologie Lesslie Newbigins ............171<br />

Miroslav Volf<br />

„In <strong>de</strong>r Welt, aber nicht von <strong>de</strong>r Welt“<br />

Nachfolge zwischen Zugehörigkeit und Distanz<br />

zur eigenen Kultur ...................................................................... 194<br />

Thomas Weißenborn<br />

Das eine Evangelium und die vielen Kontexte<br />

Schritte aus <strong>de</strong>m hermeneutischen Schlamassel? ......................... 226<br />

Tobias Künkler<br />

<strong>Die</strong>ner Gottes o<strong>de</strong>r Unternehmer seiner selbst?<br />

Glaube als Wi<strong>de</strong>rstand gegen die ,ökonomische Vernunft‘ .......... 252<br />

Teil III<br />

<strong>Die</strong> <strong>verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong></strong> <strong>Kraft</strong> <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Evangeliums</strong><br />

(als Gemein<strong>de</strong>) leben ........................................................... 271<br />

N.T. Wright<br />

Charakterbildung und Jüngerschaft ............................................ 272<br />

Tobias Künkler<br />

Warum guter Wille allein nicht hilft<br />

Ein lerntheoretischer Blick auf geistliches Wachstum<br />

und Nachfolge ............................................................................ 282<br />

Johannes Reimer<br />

Der Missionale Aufbruch:<br />

Paradigmenwechsel im Gemein<strong>de</strong><strong>de</strong>nken ................................... 303<br />

Volker Brecht<br />

<strong>Die</strong> Zukunft gestalten<br />

Wie gesellschaftsrelevante I<strong>de</strong>en konkret im Kontext <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong><br />

umgesetzt wer<strong>de</strong>n können .......................................................... 329<br />

Einsatz mit Gebet und kräftigem Kaffee<br />

Ein Interview mit Monika Deitenbeck-Goseberg über<br />

die Arbeit mit Obdachlose, über Rollstuhlfahrerdiscos<br />

und einer ganz normalen Gemein<strong>de</strong> . .......................................... 339<br />

<strong>Die</strong> Autoren ................................................................................ 355


96 97<br />

Tikkun Olam: Heilung <strong>de</strong>r Welt<br />

Jüdische Ansätze zur Gesellschaftsverän<strong>de</strong>rung<br />

Guido Baltes<br />

Es gehört zu <strong>de</strong>n spannen<strong>de</strong>n Erfahrungen je<strong><strong>de</strong>s</strong> Dialogs, dass man<br />

im an<strong>de</strong>ren oft gera<strong>de</strong> das ent<strong>de</strong>ckt, was man bei sich selbst vermisst.<br />

Auch im jüdisch-christlichen Gespräch ist diese Erfahrung nicht selten:<br />

Wenn Christen anfangen, die jüdische Welt <strong><strong>de</strong>s</strong> Neuen Testaments<br />

besser zu verstehen, ent<strong>de</strong>cken sie darin nicht selten Aspekte,<br />

die <strong>de</strong>m Christentum im Lauf <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rte verloren gingen, weil<br />

es sich mehr und mehr von seinen jüdischen Ursprüngen entfernte.<br />

Und viele Christen sind überrascht, wenn sie dann bei <strong>de</strong>n jüdischen<br />

Zeitgenossen Jesu (o<strong>de</strong>r auch bei ihren eigenen jüdischen Zeitgenossen)<br />

genau die Werte und Überzeugungen ent<strong>de</strong>cken, die sie selbst<br />

immer für genuin christlich hielten – o<strong>de</strong>r die sie in ihrer eigenen<br />

christlichen Tradition seit langem schmerzlich vermisst haben.<br />

Ihren Grund hat diese Überraschung oft in einer weitgehen<strong>de</strong>n<br />

Unkenntnis <strong><strong>de</strong>s</strong> jüdischen Glaubens und Lebens. Wir sind groß gewor<strong>de</strong>n<br />

mit <strong>de</strong>n vertrauten Klischees über Pharisäer und Schriftgelehrte,<br />

die wir in Predigten und Kin<strong>de</strong>rstun<strong>de</strong>n gehört haben. <strong>Die</strong>se<br />

haben aber oft wenig mit <strong>de</strong>m tatsächlichen Ju<strong>de</strong>ntum zu tun. In <strong>de</strong>r<br />

Schule haben wir dann vielleicht das jüdische Brauchtum und die<br />

jüdischen Feste kennengelernt, aber kaum je jüdische Denker und<br />

Philosophen <strong>de</strong>r Gegenwart o<strong>de</strong>r die Welt <strong><strong>de</strong>s</strong> Ju<strong>de</strong>ntums in neutestamentlicher<br />

Zeit. So entwickeln wir oft unsere eigenen, christlichen<br />

Standpunkte im Kontrast zu einem selbst entworfenen Zerrbild <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

Ju<strong>de</strong>ntums, ohne dabei wissen, dass unsere oft als neuartig und revolutionär<br />

empfun<strong>de</strong>nen Grundwerte o<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>en ihre Wurzeln und<br />

Vorläufer bei eben jenen jüdischen Pharisäern und Schriftgelehrten<br />

haben, von <strong>de</strong>nen wir uns so gerne distanzieren.<br />

tikkun olam als Grundbegriff jüdischer Spiritualität<br />

Ein Beispiel für solche jüdischen Grundwerte und I<strong>de</strong>en ist etwa das<br />

Konzept einer Transformation <strong>de</strong>r Gesellschaft durch das Reich Gottes,<br />

das ja auch für die Botschaft Jesu charakteristisch war. In <strong>de</strong>r<br />

jüdischen Tradition ist dieses Konzept mit <strong>de</strong>m hebräischen Begriff<br />

tikkun olam verbun<strong>de</strong>n. Es han<strong>de</strong>lt sich dabei um einen schillern<strong>de</strong>n<br />

Begriff, <strong>de</strong>r sich auf ganz verschie<strong>de</strong>ne Weise übersetzen lässt: „Heilung<br />

<strong>de</strong>r Welt, Wie<strong>de</strong>rherstellung <strong>de</strong>r Welt, Zurechtbringung <strong>de</strong>r<br />

Welt, Verbesserung <strong>de</strong>r Welt.“ Der Begriff fin<strong>de</strong>t sich schon in <strong>de</strong>n<br />

alten Schriften <strong><strong>de</strong>s</strong> rabbinischen Ju<strong>de</strong>ntums, die in <strong>de</strong>n ersten Jahrhun<strong>de</strong>rten<br />

n.Chr. gesammelt und aufgeschrieben wur<strong>de</strong>n. Aber er ist<br />

auch für viele aktuelle sozialethische Entwürfe <strong><strong>de</strong>s</strong> mo<strong>de</strong>rnen und<br />

postmo<strong>de</strong>rnen Ju<strong>de</strong>ntums zentral. Dass <strong>de</strong>r Begriff tikkun olam<br />

durch viele Jahrhun<strong>de</strong>rte hindurch diese zentrale Be<strong>de</strong>utung entwickelt<br />

und behalten hat, liegt dabei sicher daran, dass er in Worten <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

täglichen Aleinu-Gebets erscheint, das nach jüdischer Tradition dreimal<br />

am Tag gebetet wer<strong>de</strong>n soll. Es stammt in seinen Grundzügen<br />

aus <strong>de</strong>r Zeit <strong><strong>de</strong>s</strong> Neuen Testaments und kommt im jüdischen Gebetsleben<br />

an Be<strong>de</strong>utung in etwa <strong>de</strong>m christlichen Vaterunser gleich. In<br />

diesem Gebet heißt es unter an<strong>de</strong>rem:<br />

Im Himmel wie auf Er<strong>de</strong>n ist keiner wie du!<br />

Darum hoffen wir auf dich, Herr, unser Gott,<br />

dass wir bald sehen wer<strong>de</strong>n, wie du die Götzen entfernst von <strong>de</strong>r<br />

Er<strong>de</strong>,<br />

wie du die Wahngebil<strong>de</strong> vernichtest,<br />

um die Welt wie<strong>de</strong>r herzustellen<br />

durch die Königsherrschaft <strong><strong>de</strong>s</strong> Allmächtigen,<br />

damit die ganze Menschheit <strong>de</strong>inen Namen anruft,<br />

alle Übeltäter sich hinwen<strong>de</strong>n zu dir, alle Bewohner <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> dich<br />

erkennen,<br />

je<strong><strong>de</strong>s</strong> Knie sich beugt vor dir und je<strong>de</strong> Zunge dich bekennt.<br />

<strong>Die</strong> hier im täglichen Gebet formulierte Grundhoffung <strong><strong>de</strong>s</strong> Ju<strong>de</strong>ntums<br />

auf eine Wie<strong>de</strong>rherstellung o<strong>de</strong>r Heilung <strong>de</strong>r Welt (tikkun


98 99<br />

olam) durch das Offenbarwer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Königsherrschaft Gottes gehört<br />

zu <strong>de</strong>n prägen<strong>de</strong>n ethischen Grundmaximen <strong><strong>de</strong>s</strong> Ju<strong>de</strong>ntums. So formuliert<br />

etwa Jonathan Sacks, <strong>de</strong>r bekannte orthodoxe Oberrabbiner<br />

<strong><strong>de</strong>s</strong> britischen Commonwealth:<br />

Tikkun Olam – also die Welt zu vervollkommnen, zu bereiten<br />

o<strong>de</strong>r auch zu reparieren: Das ist unsere Rolle als Ju<strong>de</strong>n, speziell als<br />

orthodoxe Ju<strong>de</strong>n, im Kontext <strong>de</strong>r Gesellschaft, in <strong>de</strong>r wir leben.<br />

[…] Abraham lebte zwar Zeit seines Lebens mehr o<strong>de</strong>r weniger<br />

abgeson<strong>de</strong>rt von seiner Umgebung. Aber er hatte doch offenbar<br />

einen gewissen Einfluss auf seine Umgebung, so dass sich seine<br />

Nachbarn am En<strong>de</strong> seines Lebens an ihn wen<strong>de</strong>n und sagen: „Du<br />

bist ein Fürst Gottes in unserer Mitte!“ (Gen 23,6). Ähnlich war<br />

es auch bei Moses am En<strong>de</strong> seines Lebens. Er sagte <strong>de</strong>m Volk Israel:<br />

Glaubt nicht, dass diese Tora, die ich euch heute gebe, nur<br />

für euch allein da ist, <strong>de</strong>nn das ist sie nicht: „Denn dadurch wer<strong>de</strong>t<br />

ihr als weise und verständig gelten bei allen Völkern, dass,<br />

wenn sie alle diese Gebote hören, sie sagen müssen: Ei, was für<br />

weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk!“ (Dtn<br />

4,6). Am einfachsten, aber auch am <strong>de</strong>utlichsten formuliert es das<br />

Aleinu-Gebet: Nämlich als Verheißung und als Aufgabe: le-takken<br />

olam be-malkut shaddai – „aufzurichten die Welt unter <strong>de</strong>r<br />

Königsherrschaft Gottes‘. Das ist die allerhöchste Aufgabe <strong>de</strong>r jüdischen<br />

Geschichte, aber zugleich auch die schwerste. Und es ist<br />

vielleicht auch die paradoxeste Aufgabe, dass ausgerechnet wir,<br />

die wir doch als Volk ausgeson<strong>de</strong>rt leben und nicht zu <strong>de</strong>n übrigen<br />

Völkern zählen, trotz<strong>de</strong>m ein Volk sein sollen, von <strong>de</strong>m gesagt<br />

wird: „Und alle Völker auf Er<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n sehen, dass über dir <strong>de</strong>r<br />

Name <strong><strong>de</strong>s</strong> HERRN genannt ist.“ (Dtn 28,10) Mit an<strong>de</strong>ren Worten:<br />

In<strong>de</strong>m wir uns selbst zu einem Volk transformieren, transformieren<br />

wir die Welt. […]. <strong>Die</strong>se Aufgabe <strong>de</strong>r tikkun olam liegt<br />

allerdings noch vor uns. […] Wenn wir ein jüdisches Leben führen,<br />

dann wer<strong>de</strong>n die Menschen um uns herum, mit <strong>de</strong>nen wir zu<br />

tun haben, dadurch gesegnet. Und am En<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n sie zu uns<br />

kommen und sagen: „Du warst ein Fürst o<strong>de</strong>r eine Fürstin Gottes<br />

in unserer Mitte!“ Tut das, und es wird <strong>de</strong>r Beginn für die Heilung<br />

<strong>de</strong>r Welt sein, für tikkun olam. (Sacks 1997)<br />

Ganz ähnlich klingt das Urteil eines führen<strong>de</strong>n Vertreters <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>de</strong>utschen<br />

liberalen Ju<strong>de</strong>ntums, Rabbiner Walter Homolka, Rektor <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

Potsdamer Abraham-Geiger-Kollegs. Das ist um so bemerkenswerter,<br />

als es zwischen <strong>de</strong>n orthodoxen und liberalen Flügeln <strong><strong>de</strong>s</strong> Ju<strong>de</strong>ntums<br />

in vielen Fragen sehr unterschiedliche Auffassungen gibt. Im<br />

Blick auf die jüdische Berufung zur Mitgestaltung herrscht hier jedoch<br />

Einigkeit:<br />

Das liberale Ju<strong>de</strong>ntum verpflichtet sich zu einem konstruktiven<br />

An<strong>de</strong>rssein innerhalb <strong>de</strong>r Gesellschaft und zur Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

mit aktuellen Problemen. Früher waren das Fragen wie die<br />

Gleichberechtigung <strong>de</strong>r Frau o<strong>de</strong>r die Liturgiereform. Zurzeit<br />

sind das Fragen wie die Unterstützung <strong>de</strong>r Opfer von Darfur o<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>r Umgang mit <strong>de</strong>r Genforschung. Unsere Stärke ist unsere Dialogfähigkeit.<br />

[…] <strong>Die</strong> Frage „Wer bin ich?“ kann nur in Zusammenhang<br />

mit <strong>de</strong>r Frage „Wer ist <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re?“ beantwortet wer<strong>de</strong>n.<br />

Uns verpflichtet Leo Baecks Verständnis <strong><strong>de</strong>s</strong> ethischen<br />

Monotheismus als gesellschaftlicher Auftrag für die Gegenwart.<br />

Das be<strong>de</strong>utet tikkun ha’olam, Bewahrung <strong>de</strong>r Schöpfung, Heilung<br />

<strong>de</strong>r Welt und Hinwendung zum Nächsten, zum Leben: „Das<br />

Leben zu wählen und zu gestalten, das ist die For<strong>de</strong>rung, die das<br />

Ju<strong>de</strong>ntum an <strong>de</strong>n Menschen richtet.“ (Homolka 2007)<br />

<strong>Die</strong> Ursprünge <strong><strong>de</strong>s</strong> Konzeptes<br />

<strong>Die</strong> älteste Quelle für <strong>de</strong>n Gebrauch <strong><strong>de</strong>s</strong> Begriffes tikkun olam, neben<br />

<strong>de</strong>m ebenfalls sehr alten Aleinu-Gebet, ist die Mischna, eine Sammlung<br />

von mündlich überlieferten Gesetzen, die gegen En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>s</strong> zweiten<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rts n.Chr. von <strong>de</strong>n jüdischen Rabbinen zusammengestellt<br />

wur<strong>de</strong>. Trotz dieser relativ späten Entstehungszeit enthält die<br />

Mischna jedoch viele Überlieferungen, die auch in die Zeit Jesu und<br />

sogar in vorchristliche Zeit zurückreichen, und die vor allem in Krei-


100 101<br />

sen <strong>de</strong>r Pharisäer und Schriftgelehrten von Generation zu Generation<br />

weitergegeben wur<strong>de</strong>n. Der Begriff tikkun olam zum Beispiel scheint<br />

auf Rabbi Gamaliel <strong>de</strong>n Älteren zurückzugehen, einen Zeitgenossen<br />

Jesu, bei <strong>de</strong>m auch Paulus studierte (vgl. Apg 22,3 und Apg 5,34-42).<br />

Wir wissen nur wenig über diesen Lehrer, aber die wenigen Überlieferungen,<br />

die von ihm erhalten sind, <strong>de</strong>uten darauf hin, dass er darum<br />

bemüht war, Gesetzestreue und Weltoffenheit miteinan<strong>de</strong>r zu<br />

verbin<strong>de</strong>n. So überwand er etwa die traditionellen Animositäten zwischen<br />

Pharisäern und Schriftgelehrten, in<strong>de</strong>m er, selbst ein Pharisäer,<br />

seiner Tochter die Hochzeit mit einem Sadduzäer erlaubte. Auch sein<br />

weiser Rat, von <strong>de</strong>m die Apostelgeschichte berichtet, zeugt von <strong>de</strong>m<br />

Bemühen, Gottes Willen treu zu bleiben und <strong>de</strong>nnoch auch offen zu<br />

sein für An<strong>de</strong>rs<strong>de</strong>nken<strong>de</strong>. Und schließlich verrät auch die Theologie<br />

<strong><strong>de</strong>s</strong> Paulus, die von Treue zur Schrift und gleichzeitiger Öffnung für<br />

die Völkerwelt geprägt ist, vermutlich eine Prägung durch Gamaliel.<br />

Ein wichtiger Wahlspruch Gamaliels lautete: „Schön ist es, wenn das<br />

Studium <strong>de</strong>r Tora mit <strong>de</strong>m Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r Welt verbun<strong>de</strong>n wird (also<br />

mit <strong>de</strong>r weltlichen Alltagsrealität)“ (Sprüche <strong>de</strong>r Väter 2,2).<br />

Genau diese Verbindung von Gesetzestreue und Alltagswelt zeigt<br />

sich nun auch in <strong>de</strong>m Rechtsprinzip tikkun olam, das von Gamaliel<br />

eingeführt wur<strong>de</strong>, um schwierige Rechtsfragen zu klären, die sich aus<br />

<strong>de</strong>m Alltagsleben <strong><strong>de</strong>s</strong> jüdischen Volkes im Kontext von nichtjüdischen<br />

Gesellschaften ergaben. Gamaliel argumentiert, dass sich Ju<strong>de</strong>n<br />

in solchen Fällen nicht allein an <strong>de</strong>n rechtlichen Vorschriften <strong>de</strong>r<br />

Bibel orientieren sollten, son<strong>de</strong>rn an <strong>de</strong>r Frage, was <strong>de</strong>m Wohl <strong>de</strong>r<br />

Allgemeinheit und <strong>de</strong>r Gesellschaft dient, also <strong>de</strong>r „Besserung <strong>de</strong>r<br />

Welt“. <strong>Die</strong>ses neue Rechtsprinzip wird etwa bei schwierigen Scheidungsfällen<br />

angewen<strong>de</strong>t, um die Rechte <strong>de</strong>r Frauen zu stärken. Aber<br />

auch beim Verkauf von Sklaven, um <strong>de</strong>ren Rechte zu stärken, und<br />

ebenso auch bei <strong>de</strong>r Auslösung von Kriegsgefangenen zu einem fairen<br />

Preis (Mischna Gittin 4,2-7). <strong>Die</strong>se ethischen Richtlinien hatten<br />

zwar keine eigentliche Begründung in biblischen Geboten, sie wer<strong>de</strong>n<br />

aber begrün<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>m allgemeinen Auftrag <strong><strong>de</strong>s</strong> Menschen bzw. <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

jüdischen Volkes, zur Verbesserung und Heilung <strong>de</strong>r Welt beizutragen.<br />

<strong>Die</strong>se rechtliche Neuerung <strong><strong>de</strong>s</strong> Gamaliel, verbun<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r<br />

Grundhoffung <strong><strong>de</strong>s</strong> Aleinu-Gebetes, bil<strong>de</strong>te dann im weiteren Verlauf<br />

<strong>de</strong>r Geschichte die Grundlage für das jüdische Verhältnis zur Gesellschaft<br />

und zur nichtjüdischen Welt als Ganzes. Denn es ist genau<br />

diese Spannung zwischen einer erkennbaren jüdischen I<strong>de</strong>ntität und<br />

einer gleichzeitigen Weltzugewandtheit (vgl. Gamaliels Prinzip „Tora<br />

mit weltlichem Wan<strong>de</strong>l“), die die jüdische Sozialethik charakterisiert.<br />

Spannungsfeld Gesellschaft: Heimisch in frem<strong>de</strong>r Umgebung<br />

<strong>Die</strong> bei<strong>de</strong>n eingangs erwähnten jüdischen Stimmen, die <strong><strong>de</strong>s</strong> orthodoxen<br />

britischen Oberrabbiners wie <strong><strong>de</strong>s</strong> liberalen <strong>de</strong>utschen Professors,<br />

bringen bei<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Begriff tikkun olam in Zusammenhang mit eben<br />

diesem Spannungsverhältnis zwischen jüdischem Volk und nichtjüdischer<br />

Welt, zwischen Gemein<strong>de</strong> und Gesellschaft, zwischen Bindung<br />

an die Tora und Einmischung in <strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r Welt. <strong>Die</strong>ses<br />

Spannungsverhältnis prägte die Geschichte <strong><strong>de</strong>s</strong> jüdischen Volkes angefangen<br />

von Abraham, <strong>de</strong>r als Gast ein frem<strong><strong>de</strong>s</strong> Land durchwan<strong>de</strong>rte,<br />

über Moses, <strong>de</strong>r als Sklave und als Prinz unter Ägyptern lebte,<br />

über die Erfahrungen <strong><strong>de</strong>s</strong> babylonischen Exils und <strong>de</strong>r Zerstreuung<br />

im römischen Reich bis hin zur weltweiten Diaspora <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne:<br />

Immer war man Teil einer frem<strong>de</strong>n Gesellschaft und gehörte dieser<br />

doch nicht völlig an. Immer war man aufgerufen, mitzugestalten,<br />

aber doch nicht alles mitzumachen. <strong>Die</strong>se Grundspannung fand ihren<br />

Nie<strong>de</strong>rschlag auch im christlichen Selbstverständnis, „in <strong>de</strong>r<br />

Welt, aber nicht von <strong>de</strong>r Welt“ zu sein, auch wenn Jesus selbst das so<br />

nie formuliert hat. Aber auch die Ansicht <strong><strong>de</strong>s</strong> Pharisäers Paulus steht<br />

dieser jüdischen Haltung sehr nahe: „Fügt euch nicht ins Schema<br />

dieser Welt, son<strong>de</strong>rn verwan<strong>de</strong>lt euch durch die Erneuerung eures<br />

Sinnes.“ (Röm 12,2: Zürcher Übersetzung).<br />

<strong>Die</strong> jüdische Tradition sucht diese bei<strong>de</strong>n Pole zusammenzuhalten:<br />

Einerseits versteht sich das Volk Israel als ein erwähltes, herausgerufenes<br />

und zu Gott gehöriges Volk, das sich unterschei<strong>de</strong>t von<br />

seiner Umgebung. Und <strong>de</strong>nnoch hat es überall dort, wo es ist, <strong>de</strong>n<br />

Auftrag zur Mitgestaltung, ja sogar entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Umgestaltung


102 103<br />

<strong>de</strong>r Welt: „Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, nur um die<br />

Stämme Jakobs wie<strong>de</strong>r aufzurichten und die Verschonten Israels<br />

heimzuführen. Ich mache dich zum Licht für die Völker; damit mein<br />

Heil bis an das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> reicht.“ (Jes 49,6: Einheitsübersetzung).<br />

<strong>Die</strong> klassischen Zerrbil<strong>de</strong>r <strong><strong>de</strong>s</strong> Ju<strong>de</strong>ntums haben stets bei<strong>de</strong><br />

Pole dieses Spannungsfel<strong><strong>de</strong>s</strong> ins Negative gewandt: Da war auf <strong>de</strong>r<br />

einen Seite das Klischee vom abgeson<strong>de</strong>rten Volk, das sich <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />

und Kultur verweigert und sich exklusivistisch gegen alles<br />

Frem<strong>de</strong> abschottet. Und auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite das Klischee von <strong>de</strong>r<br />

jüdischen Weltverschwörung, die durch Medien, Banken und Politik<br />

<strong>de</strong>n Lauf <strong>de</strong>r ganzen Welt zu steuern versucht. Nur selten fällt dabei<br />

auf, dass bei<strong>de</strong> Unterstellungen in einem diametralen Gegensatz zueinan<strong>de</strong>r<br />

stehen. Ein genauer Blick auf die jüdischen Überzeugungen<br />

zeigt jedoch, dass eine feine Balance zwischen An<strong>de</strong>rsartigkeit und<br />

Anteilnahme, zwischen Kulturschaffen und Kulturkritik schon in<br />

biblischer und neutestamentlicher Zeit, dann aber auch bis in die<br />

Mo<strong>de</strong>rne hinein charakteristisch war für das Verhältnis <strong><strong>de</strong>s</strong> Ju<strong>de</strong>ntums<br />

zu <strong>de</strong>n Gesellschaften, in <strong>de</strong>nen es lebt.<br />

Mo<strong>de</strong>rne jüdische Antworten<br />

Rabbi Joseph Soloveitchik (1903-1993), orthodoxer Rabbiner und<br />

einer <strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>n jüdischen Philosophen <strong><strong>de</strong>s</strong> 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts, beschrieb<br />

diese Balance in seinem berühmt gewor<strong>de</strong>nen Essay „Confrontation“,<br />

mit <strong>de</strong>m er 1964 auf das katholische Dokument „Nostra<br />

Aetate“ antwortete. <strong>Die</strong>ses Dokument gilt als Meilenstein <strong><strong>de</strong>s</strong> christlich-jüdischen<br />

Dialogs, und es wur<strong>de</strong> seinerzeit als wichtiges Signal<br />

<strong>de</strong>r Annäherung zwischen bei<strong>de</strong>n Religionen gesehen. Um so überraschen<strong>de</strong>r<br />

kam für viele die ungewöhnlich schroffe Antwort Soloveitchiks,<br />

<strong>de</strong>r die ausgestreckte Hand <strong><strong>de</strong>s</strong> christlichen Dialogpartners<br />

nur sehr zögerlich annahm und statt<strong><strong>de</strong>s</strong>sen die Grenzen <strong>de</strong>r Annäherung<br />

<strong>de</strong>utlich markierte, ohne sich jedoch <strong>de</strong>m Dialog zu verweigern.<br />

Er gebrauchte dabei das Bild <strong>de</strong>r vorsichtigen Begegnung zwischen<br />

Jakob und Esau (Gen 32,18-20), um das Verhältnis <strong><strong>de</strong>s</strong> jüdischen<br />

Volkes zu seiner nichtjüdischen Umwelt zu beschreiben.<br />

Unsere Beziehung zur Welt um uns herum hatte schon immer<br />

einen ambivalenten Charakter: Intrinsisch antithetisch, manchmal<br />

sogar ans Paradoxe grenzend. Wir suchen die Beziehung zur Welt<br />

Esaus und ziehen uns doch gleichzeitig aus ihr zurück, wir kommen<br />

ihr nahe und gehen doch gleichzeitig auf Distanz. Wenn <strong>de</strong>r Prozess<br />

<strong>de</strong>r Annäherung gera<strong>de</strong> zustan<strong>de</strong> kommt, beginnen wir sofort wie<strong>de</strong>r,<br />

uns zu entziehen. Wir arbeiten mit Angehörigen an<strong>de</strong>rer Glaubensgemeinschaften<br />

zusammen in allen Bereichen menschlicher Bemühungen,<br />

aber zugleich mit unserer Integration in das allgemeine<br />

soziale Netzwerk bewegen wir uns doch auch wie<strong>de</strong>r zurück und<br />

bremsen unsere Schritte. In einem Wort: Wir gehören zur menschlichen<br />

Gesellschaft und fühlen uns doch gleichzeitig als Frem<strong>de</strong> und<br />

Außenseiter. Wir sind verwurzelt im hier und jetzt als Bewohner dieses<br />

Planeten, und doch erleben wir auch das Gefühl von Heimatlosigkeit<br />

und Einsamkeit, so als gehörten wir an<strong>de</strong>rswo hin. Wir sind sowohl<br />

Realisten als auch Träumer, klug und pragmatisch auf <strong>de</strong>r einen<br />

Seite, Visionäre und I<strong>de</strong>alisten auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren. Natürlich beteiligen<br />

wir uns an <strong>de</strong>r kulturellen Anstrengung, und doch gehören wir auch<br />

einer an<strong>de</strong>ren Erfahrungsdimension an. Schon unser Stammvater hat<br />

sich selbst mit <strong>de</strong>n Worten beschrieben: „Ich bin ein Frem<strong>de</strong>r und<br />

Mitbewohner unter euch“. Geht das überhaupt bei<strong><strong>de</strong>s</strong>? (Soloveitchik<br />

1964)<br />

Soloveitchiks Konzept einer aktiven Zuwendung zur Welt, bei<br />

gleichzeitiger Abgrenzung und Verwurzelung außerhalb dieser Welt,<br />

hat seine Vorbil<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Bewegung <strong><strong>de</strong>s</strong> neo-orthodoxen Ju<strong>de</strong>ntums<br />

im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt. In Deutschland stan<strong>de</strong>n die jüdischen Gemein<strong>de</strong>n<br />

in dieser Epoche vor <strong>de</strong>r existentiellen Alternative zwischen völliger<br />

Assimilation und völliger Separation: Sollte man die eigenständige<br />

jüdische I<strong>de</strong>ntität endgültig aufgeben und sich ganz und gar in<br />

die <strong>de</strong>utsche Gesellschaft einglie<strong>de</strong>rn? <strong>Die</strong> Lebenswege prominenter<br />

Künstler wie Felix Men<strong>de</strong>lssohn-Bartholdy (1809-1847) o<strong>de</strong>r Heinrich<br />

Heine (1797-1856), die bei<strong>de</strong> zum Christentum übertraten,<br />

schienen dies nahezulegen. O<strong>de</strong>r sollte man gera<strong>de</strong> umgekehrt in die<br />

völlige Abson<strong>de</strong>rung gehen, wie sie vor allem im orthodoxen Ju<strong>de</strong>ntum<br />

Osteuropas praktiziert wur<strong>de</strong>? Samson Raphael Hirsch (1808-


104 105<br />

1888), Rabbiner in Frankfurt und Grün<strong>de</strong>rvater <strong><strong>de</strong>s</strong> orthodoxen Ju<strong>de</strong>ntums<br />

in Deutschland, knüpfte in dieser Zeit an die bereits<br />

erwähnte Formel <strong><strong>de</strong>s</strong> Gamaliel an: „Treue zur Tora, verbun<strong>de</strong>n mit<br />

<strong>de</strong>m Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r Welt“. Für Hirsch hieß das: Ein aktives jüdisches<br />

Engagement auf <strong>de</strong>n „Wegen <strong>de</strong>r Welt“, also in <strong>de</strong>r Gesellschaft und<br />

für die Gesellschaft. Aber eines, das sich nicht einfach assimiliert,<br />

son<strong>de</strong>rn seine <strong>Kraft</strong> und I<strong>de</strong>ntität gera<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>r An<strong>de</strong>rsartigkeit und<br />

aus <strong>de</strong>r Bindung an die Tora bezieht. Er schreibt:<br />

Mit Gesinnung und Tat gehöre je<strong>de</strong>r Einzelne seiner Gemein<strong>de</strong><br />

an. Mit Gesinnung: dass ihn <strong>de</strong>r Gemeinsinn beseele, <strong>de</strong>r das allgemeine<br />

Beste wie das Eigene beherzigt; <strong>de</strong>r, wenn es gilt, das<br />

Eigene <strong>de</strong>m Allgemeinen aufopfert; <strong>de</strong>m es nicht gleichgültig ist,<br />

ob die Anstalten, Einrichtungen und Angelegenheiten <strong><strong>de</strong>s</strong> Gemeinwesens<br />

blühen o<strong>de</strong>r nicht, wenn ihm auch persönlich kein<br />

Nutzen daraus flösse; <strong>de</strong>m es nicht gleichgültig ist, ob die Gemein<strong>de</strong><br />

ihre Aufgabe löst, Trägerin <strong><strong>de</strong>s</strong> Heiligsten zu sein o<strong>de</strong>r<br />

nicht. Es hat das Gemeinwesen keinen größeren Feind als jene<br />

Gleichgültig- und Engherzigkeit, die nur für Einzelwohl, größtenteils<br />

nur für das Eigene, und nur für das Nächste Sinn hat, die<br />

sich überall fragt: „Was nützt es mir, was scha<strong>de</strong>t es mir?“; die<br />

drum nicht freudig weiß <strong>de</strong>n Stein zu einem Bau zu tragen, an<br />

<strong>de</strong>n alle, und nicht nur sie, an <strong>de</strong>n die späteren Enkel, wenn gleich<br />

nicht die Gegenwart, ihr Leben sicher lehnen wer<strong>de</strong>n. Ein Sinn,<br />

erfüllt von <strong>de</strong>r großen Aufgabe <strong><strong>de</strong>s</strong> Gemeinwesens, ein Sinn <strong>de</strong>r<br />

Wahrheit, <strong><strong>de</strong>s</strong> Rechts und <strong><strong>de</strong>s</strong> Frie<strong>de</strong>ns, ein Sinn <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>-<br />

Ehre, <strong>de</strong>r stolz darauf ist, wenn das Gemeinwesen blühet, ein<br />

Sinn, <strong>de</strong>r sich selbst in <strong>de</strong>n Gemein<strong>de</strong>vertretern und in je<strong>de</strong>m Bemühen<br />

ums Gemeinwohl achtet, und je<strong>de</strong>r das Gemeinwohl för<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n<br />

Anordnung gerne sich fügt. Das ist <strong>de</strong>r Sinn, <strong>de</strong>r dann<br />

auch je<strong>de</strong>n Einzelnen gern und freudig an Tat zu leisten spornt,<br />

was das Gemeinwesen for<strong>de</strong>rt. (Hirsch 1837: 610-611)<br />

<strong>Die</strong> unfertige Schöpfung als bleiben<strong>de</strong>r Auftrag<br />

<strong>Die</strong> biblische Begründung für <strong>de</strong>n gesellschaftlichen Auftrag <strong><strong>de</strong>s</strong> Ju<strong>de</strong>ntums<br />

fand Hirsch schon auf <strong>de</strong>n ersten Seiten <strong>de</strong>r Bibel. Nach<br />

einer alten jüdischen Auslegungstradition zum Schöpfungsbericht<br />

ruhte Gott am siebten Tag <strong>de</strong>r Schöpfung, um die Vollendung <strong>de</strong>r<br />

Welt von diesem Punkt an <strong>de</strong>m Menschen zu überlassen. In einer für<br />

<strong>de</strong>n rabbinischen Umgang mit Bibeltexten sehr typischen Weise wird<br />

dabei ein ungewöhnlicher Wortlaut <strong><strong>de</strong>s</strong> Bibeltextes als Anlass genommen,<br />

nach <strong>de</strong>m tieferen Sinn dieses Wortlauts zu fragen. In 1.<br />

Mose 2,3 heißt es nämlich:<br />

Und Gott segnete <strong>de</strong>n siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an<br />

ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht<br />

hatte. (Gen 2,3: Luther)<br />

Luther hat hier das En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>s</strong> Satzes etwas ungenau übersetzt. Eine genauere<br />

Übersetzung wür<strong>de</strong> lauten „von allen seinen Werken, die Gott<br />

geschaffen hatte, damit er es machte“. <strong>Die</strong> Elberfel<strong>de</strong>r Übersetzung lautet:<br />

„… in<strong>de</strong>m er es machte“, die Schlachter Übersetzung „…als er es<br />

machte“, und die Zürcher Bibel „durch sein Tun“. Im Hebräischen<br />

steht hier jedoch ein Partikel, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Zweck ausdrückt, also „um zu<br />

tun“ o<strong>de</strong>r „damit er es täte“. Hier setzen die Rabbinen <strong>de</strong>r ersten Jahrhun<strong>de</strong>rte<br />

an und fragen: Wer soll hier eigentlich etwas machen? Vielleicht<br />

steckt in diesen Worten ja bereits <strong>de</strong>r Auftrag Gottes an <strong>de</strong>n<br />

Menschen, die Welt weiter zu gestalten und zur Vollendung zu bringen.<br />

Gott ruhte, damit <strong>de</strong>r Mensch nun das Werk weiterführen kann.<br />

So legt etwa Rabbi Pinehas (4. Jh. n.Chr.) diesen Vers aus:<br />

Es steht geschrieben: „Denn an ihm [am Sabbat] ruhte Gott von<br />

all seinen Werken die er geschaffen hatte, um zu tun“ (Gen 2,3).<br />

Also ruhte er zwar von <strong>de</strong>r Arbeit an seiner Welt, aber er ruhte<br />

nicht von seiner Arbeit an <strong>de</strong>n Gerechten und an <strong>de</strong>n Frevlern.<br />

Denn er arbeitet ja mit bei<strong>de</strong>n, mit diesen und mit jenen. Er zeigt<br />

diesen ihren wirklichen Charakter, und auch jenen ihren wirklichen<br />

Charakter. (Midrasch Rabba 11,10 zu Gen 2,3)


106 107<br />

In <strong>de</strong>r spätmittelalterlichen jüdischen Mystik wur<strong>de</strong> dieser Gedanke<br />

dann noch weiterentwickelt: So ging <strong>de</strong>r kabbalistische Lehrer Isaak<br />

Luria (1534-1572) davon aus, dass Gott die Schöpfung ganz bewusst<br />

unvollen<strong>de</strong>t ließ, um so <strong>de</strong>m Menschen Raum zur Entfaltung und<br />

zur Gestaltung zu geben. Durch <strong>de</strong>n Fall Adams jedoch blieb die<br />

Welt unfertig, und seit<strong>de</strong>m hat die Menschheit <strong>de</strong>n Auftrag, die unfertige<br />

bzw. gefallene Welt wie<strong>de</strong>r zurecht zu bringen bzw. zu heilen.<br />

Luria war es auch, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n traditionellen Begriff tikkun olam in diesen<br />

neuen, universaleren Zusammenhang von Schöpfungsauftrag<br />

und Erlösungswerk einführte. Hieran knüpfte dann Samson Raphael<br />

Hirsch im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt an und entwickelte daraus Ansätze zu einer<br />

mo<strong>de</strong>rnen jüdischen Sozialethik:<br />

„Da vollen<strong>de</strong>te Gott mit <strong>de</strong>m siebten Tage sein Werk, das er gemacht<br />

hatte, und hörte mit <strong>de</strong>m siebten Tage von jeglichem seiner<br />

Werke, das er gemacht hatte, auf. Gott segnete <strong>de</strong>n siebten Tag<br />

und heiligte ihn; <strong>de</strong>nn mit ihm hatte er von allem seinem Werke<br />

aufgehört, welches Er, Gott, ins Dasein gesetzt hatte, es fort zu<br />

gestalten […]“ (Gen 2,2-3). Gott segnete also <strong>de</strong>n siebten Tag<br />

und heiligte ihn, gab ihm die <strong>Kraft</strong>, die geistige und sittliche Erziehung<br />

<strong><strong>de</strong>s</strong> Menschengeschlechtes zu vollbringen und stellte diese<br />

Erziehung als das absolut Siegreiche, gegen alle Trübung und<br />

Vergänglichkeit unantastbar Gesicherte hin. Warum? Weil er ja<br />

mit diesem Erziehungsmittel <strong>de</strong>r Menschheit von allen seinen<br />

Werken aufgehört hatte, weil es das Letzte, und seine Bestimmung<br />

ja das Ziel <strong>de</strong>r ganzen geschaffenen Erdwelt ist, und Gott ja<br />

diese Erdwelt von vornherein ins Dasein gerufen hat, um dieses<br />

Ziel herbeizuführen. Wäre <strong>de</strong>r Mensch unfrei wie die übrigen Geschöpfe,<br />

es wäre das Gotteswerk mit <strong>de</strong>m sechsten Tag abgeschlossen.<br />

Weil aber <strong>de</strong>r Mensch frei geschaffen, und diese ihn<br />

selbst über die Engel erheben<strong>de</strong> Freiheit notwendig auch die Möglichkeit<br />

<strong><strong>de</strong>s</strong> Irrtums und <strong>de</strong>r Verirrung bedingt, <strong>de</strong>r Mensch vielmehr<br />

zur freien Anerkenntnis <strong><strong>de</strong>s</strong> Wahren und freien Übung <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

Guten erst heranerzogen wer<strong>de</strong>n soll: so ist nun freilich Gottes<br />

Werk in <strong>de</strong>r Natur geschlossen, allein sein Wirken in <strong>de</strong>r Ge-<br />

schichte <strong><strong>de</strong>s</strong> Menschen und die Fortgestaltung <strong>de</strong>r natürlichen<br />

Verhältnisse für dieses Erziehungsmittel seines Waltens in <strong>de</strong>r<br />

Menschheit hat eben damit begonnen. (Hirsch 1883:47)<br />

Auch Soloveitchik knüpft gut ein halbes Jahrhun<strong>de</strong>rt später an diesen<br />

Gedanken an. Allerdings fin<strong>de</strong>t bei ihm eine weitere Verlagerung <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

Schwerpunktes statt: War bei Hirsch noch <strong>de</strong>r Mensch als Teil <strong>de</strong>r<br />

unvollen<strong>de</strong>ten Schöpfung und als Objekt <strong><strong>de</strong>s</strong> göttlichen Erziehungshan<strong>de</strong>lns<br />

im Blick, so rückt bei Soloveitchik die Übertragung <strong>de</strong>r<br />

Schöpfungsaufgabe und <strong>de</strong>r Vollendung <strong>de</strong>r Schöpfung (tikkun olam)<br />

an <strong>de</strong>n Menschen als Subjekt in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund:<br />

Der Gipfel religiöser ethischer Vollkommenheit, <strong>de</strong>n das Ju<strong>de</strong>ntum<br />

anstrebt, ist <strong>de</strong>r Mensch als Schöpfungshan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r. Als Gott<br />

die Welt erschuf, gab er damit <strong>de</strong>m Objekt seiner Schöpfung, <strong>de</strong>m<br />

Menschen, eine Gelegenheit, an <strong>de</strong>r Schöpfung mitzuwirken. Der<br />

Schöpfer hat sozusagen die geschaffene Wirklichkeit unvollkommen<br />

gelassen, damit <strong>de</strong>r Mensch ihre Unvollkommenheit heilen<br />

könnte und die Welt so vervollkommnen könnte (Soloveitchik<br />

1944/1983:101)<br />

Alter Begriff in neuen Gewän<strong>de</strong>rn<br />

Der Begriff tikkun olam hat also in <strong>de</strong>r jüdischen Überlieferung<br />

durch die Jahrhun<strong>de</strong>rte einen gewissen Wan<strong>de</strong>l erlebt: Am Anfang<br />

stand die religiöse Hoffnung einer Wie<strong>de</strong>rherstellung und Heilung<br />

<strong>de</strong>r Welt durch die Königsherrschaft Gottes (Aleinu-Gebet) und die<br />

Erweiterung jüdischer Gebote im Kontext nichtjüdischer Gesellschaften<br />

durch das Prinzip <strong><strong>de</strong>s</strong> Allgemeinwohls (Rabbi Gamaliel). In<br />

<strong>de</strong>r Lehre <strong><strong>de</strong>s</strong> Isaak Luria wur<strong>de</strong> tikkun olam dann zu einem ganz<br />

grundsätzlichen Begriff für <strong>de</strong>n Auftrag <strong><strong>de</strong>s</strong> Menschen zur Wie<strong>de</strong>rherstellung<br />

<strong>de</strong>r gefallenen Schöpfung. Samson Raphael Hirsch und<br />

Joseph Soloveitchik wandten dieses Konzept schließlich auf die konkrete<br />

gesellschaftliche Realität <strong><strong>de</strong>s</strong> 19. und 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts an und<br />

verstan<strong>de</strong>n tikkun olam als Auftrag zur Mitgestaltung <strong>de</strong>r Gesell-


108 109<br />

schaft bei gleichzeitiger Wahrung <strong>de</strong>r jüdischen I<strong>de</strong>ntität und Eigenart.<br />

In <strong>de</strong>r heutigen Diskussion ist tikkun olam zu einem allgemeinen<br />

und verbreiteten Sammelbegriff für eine jüdische Spiritualität <strong>de</strong>r<br />

Weltverantwortung und Gesellschaftsethik gewor<strong>de</strong>n. Dabei wird<br />

<strong>de</strong>r Begriff auf immer neue Fel<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r ethischen und gesellschaftlichen<br />

Diskussion ausgeweitet. So for<strong>de</strong>rte etwa Abraham Jehoshua<br />

Heschel (1907-1972), neben Soloveitchik ein weiterer großer jüdischer<br />

Philosoph und politischer Aktivist <strong><strong>de</strong>s</strong> 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts, die<br />

traditionellen jüdischen Koschergesetze nicht nur auf <strong>de</strong>n privaten<br />

Bereich <strong>de</strong>r Speisevorschriften, son<strong>de</strong>rn eben auch auf die internationalen<br />

Finanzmärkte anzuwen<strong>de</strong>n:<br />

Ich bin sehr dankbar dafür, dass in offiziellen Institutionen und<br />

Hotels die Kaschrut-Gesetze eingehalten wer<strong>de</strong>n. Aber was mich<br />

schmerzt, ist die Frage: Warum stehen nur die Metzgereien unter<br />

religiöser Aufsicht? Warum bestehen wir nicht darauf, dass auch<br />

Banken, Fabriken und Immobilienmakler einen koscher-Stempel<br />

erhalten und entsprechend <strong>de</strong>n religiösen Gesetzen betrieben wer<strong>de</strong>n?<br />

Wenn man in einem Ei einen Tropfen Blut fin<strong>de</strong>t, dann wäre<br />

es für uns unvorstellbar, es noch zu essen. Aber oft ist mehr als ein<br />

Tropfen Blut in einem Dollar o<strong>de</strong>r einem Lire, aber wir versäumen<br />

es am laufen<strong>de</strong>n Band, diese Leute an die Überlieferungen<br />

unserer Lehrer zu erinnern. (Kaplan 2007:361)<br />

In einem Leitartikel <strong>de</strong>r Jerusalem Post vom März 2010 ent<strong>de</strong>ckt <strong>de</strong>r<br />

Unternehmensberater und Autor David Sarna sogar im mo<strong>de</strong>rnen<br />

Konzept <strong><strong>de</strong>s</strong> conscious capitalism, das durch <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>nsnobelpreisträger<br />

Mohammed Yunus weltweite Bekanntheit erlangte, eine zeitgemäße<br />

Ausdrucksform überlieferter jüdischer Grundwerte:<br />

Conscious Capitalism gehört heute zu <strong>de</strong>n heiß diskutierten I<strong>de</strong>en<br />

im Wirtschaftsleben. Sein hebräisches Äquivalent, tikkun olam,<br />

ist allerdings schon vor langer Zeit entstan<strong>de</strong>n: tikkun olam be<strong>de</strong>utet,<br />

Verantwortung zu übernehmen für das materielle, moralische<br />

und geistliche Wohlergehen <strong>de</strong>r weiteren Gesellschaft. Daran<br />

wird <strong>de</strong>utlich, dass das Gebot zu einem „bewussten Kapitalismus“,<br />

etwa für Mechanismen wie Mikrokredite, Arbeitsplatzbeschaffung,<br />

Ausbildungsför<strong>de</strong>rung und Hilfe zur Gründung von<br />

Kleinunternehmen bereits seit über zwei Jahrtausen<strong>de</strong>n im jüdischen<br />

Recht vorgesehen, kodifiziert und auch praktiziert wor<strong>de</strong>n<br />

ist. Der Begriff tikkun olam bezeichnet dabei Rechtsnormen, die<br />

zwar nicht durch biblische Gebote vorgeschrieben sind, aber <strong>de</strong>nnoch<br />

durch die Rabbinen beschlossen wur<strong>de</strong>n, weil sie für das<br />

Gelingen <strong><strong>de</strong>s</strong> öffentlichen Lebens notwendig waren, o<strong>de</strong>r, wie sie<br />

es in ihrem eigenen Idiom ausdrückten, „um die Welt zu einem<br />

besseren Ort zu machen“. (Sarna 2010)<br />

Christliche Missverständnisse und Engführungen<br />

Ein Blick auf jüdische Ansätze zur Gesellschaftsverän<strong>de</strong>rung hat gezeigt,<br />

dass <strong>de</strong>r Auftrag zu einer bewussten Mitgestaltung und Umgestaltung<br />

<strong>de</strong>r Gesellschaft durch die Normen <strong>de</strong>r Königsherrschaft<br />

Gottes seit alters her zu <strong>de</strong>n Grundi<strong>de</strong>en jüdischer Spiritualität und<br />

Ethik gehört. Um so erstaunlicher ist es jedoch, dass in manchen<br />

Kreisen <strong>de</strong>r christlichen Kirche, insbeson<strong>de</strong>re in bestimmten Teilen<br />

<strong>de</strong>r neuzeitlichen evangelikalen Bewegung, diese Perspektive <strong>de</strong>r<br />

Weltverantwortung und <strong>de</strong>r Auftrag zur Gesellschaftsverän<strong>de</strong>rung<br />

über lange Zeit fast vollkommen in Vergessenheit geriet. Ja, noch<br />

mehr als das: Sie wur<strong>de</strong> sogar manchmal als eine gefährliche Irrlehre<br />

angesehen, die <strong>de</strong>n Christen vom „Eigentlichen“, also von <strong>de</strong>r persönlichen<br />

Bekehrung und von <strong>de</strong>r Verkündigung <strong><strong>de</strong>s</strong> <strong>Evangeliums</strong>, abhält.<br />

Ein Christ, so heißt es dann, soll sich nicht um die Verbesserung,<br />

Heilung o<strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rherstellung <strong>de</strong>r Welt bemühen, son<strong>de</strong>rn er<br />

soll dieser Welt <strong>de</strong>n Rücken kehren und sich <strong>de</strong>r himmlischen und<br />

zukünftigen Welt zuwen<strong>de</strong>n.<br />

Solche Überzeugungen konnten nur dort Raum gewinnen, wo<br />

das geistliche Erbe <strong><strong>de</strong>s</strong> Ju<strong>de</strong>ntums in <strong>de</strong>r christlichen Kirche entwe<strong>de</strong>r<br />

völlig in Vergessenheit geriet – o<strong>de</strong>r sogar ganz bewusst bekämpft<br />

wur<strong>de</strong>! Denn darin besteht ja die tragische Ironie <strong>de</strong>r christlich-jüdischen<br />

Geschichte: In <strong>de</strong>r Überzeugung, sich vom Ju<strong>de</strong>ntum abgren-


110 111<br />

zen zu müssen, hat man sich oft genau von <strong>de</strong>n geistlichen Wurzeln<br />

getrennt, aus <strong>de</strong>nen man sich eigentlich hätte nähren können.<br />

<strong>Die</strong>s gilt in beson<strong>de</strong>rer Weise für <strong>de</strong>n hier beschriebenen Bereich<br />

<strong>de</strong>r weltzugewandten Spiritualität: In <strong>de</strong>r jüdischen Tradition hätte<br />

die christliche Kirche schon früh einen uralten und tief verwurzelten<br />

Impuls für eine Ethik <strong>de</strong>r Gesellschaftsverän<strong>de</strong>rung fin<strong>de</strong>n können.<br />

Statt<strong><strong>de</strong>s</strong>sen hat sie sich immer wie<strong>de</strong>r von diesen Wurzeln losgesagt<br />

und sich in manch einen Irrweg verrannt, <strong>de</strong>r die Spannung zwischen<br />

„in <strong>de</strong>r Welt“ und „nicht von <strong>de</strong>r Welt“ in die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Richtung<br />

auflöste. So behauptete bereits im 4. Jahrhun<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>r Kirchenvater<br />

Eusebius, die Welt sei mit <strong>de</strong>r Ankunft <strong><strong>de</strong>s</strong> christlichen römischen<br />

Reiches bereits vollkommen. Sein Zeitgenosse Laktanz dagegen<br />

war überzeugt, dass die vollkommene Welt nur durch einen zukünftigen<br />

apokalyptischen Weltuntergang zu erwarten sei. Einig waren<br />

sich aber bei<strong>de</strong> darin, dass es keine christliche Verantwortung zur<br />

Umgestaltung <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Welt gibt. Bei<strong>de</strong> Extreme, die kritiklose<br />

Akzeptanz <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Welt und das tatenlose Warten auf<br />

eine kommen<strong>de</strong>, fin<strong>de</strong>n sich bis heute an <strong>de</strong>n Rän<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Kirche.<br />

Natürlich gab es dazwischen immer auch einen breiten christlichen<br />

„Mainstream“, <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r alten jüdischen Hoffnung einer Verän<strong>de</strong>rung<br />

<strong>de</strong>r Welt durch das Reich Gottes festhielt, angefangen von Paulus,<br />

über Augustinus, Benedikt, Calvin, Francke, Wilberforce und<br />

Kolping bis hin zu <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen sozialethischen Ansätzen <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

20. Jahrhun<strong>de</strong>rts, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.<br />

Aber die Tatsache, dass das Wissen um die christliche Weltverantwortung<br />

links und rechts dieses „Mainstreams“ immer wie<strong>de</strong>r<br />

auch verloren ging, und zwar gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r neuzeitlichen evangelikalen<br />

Welt, die sich doch beson<strong>de</strong>rs bibelnah und <strong>de</strong>m Ju<strong>de</strong>ntum verbun<strong>de</strong>n<br />

wähnt, muss doch zu <strong>de</strong>nken geben. <strong>Die</strong> tiefere Ursache liegt<br />

vermutlich darin, dass man gera<strong>de</strong> hier allzu oft gegen selbst erdachte<br />

Klischees <strong><strong>de</strong>s</strong> Ju<strong>de</strong>ntums angekämpft hat und die eigenen Einseitigkeiten<br />

oft erst in Auseinan<strong>de</strong>rsetzung und Abgrenzung gegen diese<br />

Klischees entstan<strong>de</strong>n sind. Einige konkrete Beispiele für solche Einseitigkeiten<br />

möchte ich daher kurz benennen.<br />

Das Klischee vom „gesetzlichen“ Ju<strong>de</strong>ntum und das „gesetzesfreie“<br />

Christentum<br />

Aus christlicher Sicht ist das Ju<strong>de</strong>ntum eine „gesetzliche“ Religion.<br />

Und das ist meistens als Vorwurf gemeint. Man unterstellt <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n,<br />

sich engstirnig und ängstlich an Gesetze zu halten, während<br />

Christen stets nur in Freiheit und Freu<strong>de</strong> „gute Regeln“ Gottes einhalten.<br />

Worin genau <strong>de</strong>r Unterschied zwischen „Gesetzen“ und „Regeln“<br />

besteht, vermag man aber oft gar nicht zu sagen. Vielleicht darin,<br />

dass letztere nicht eingehalten wer<strong>de</strong>n müssen, o<strong>de</strong>r nur ein<br />

wenig? Man unterstellt Ju<strong>de</strong>n aber auch, dass sie sich durch das Halten<br />

<strong><strong>de</strong>s</strong> Gesetzes <strong>de</strong>n Himmel verdienen wollen, während Christen ja<br />

wissen, dass das gar nicht geht, weil Gott allein aus Gna<strong>de</strong> rettet.<br />

Übersehen wird dabei, dass das Konzept <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> im Alten wie im<br />

Neuen Testament gleichermaßen zu fin<strong>de</strong>n ist, also durchaus keine<br />

„christliche“ Erfindung ist. Wenn allerdings das Klischee eines „gesetzlichen“<br />

Ju<strong>de</strong>ntums erst einmal gezeichnet ist, dann muss das<br />

christliche Gegenbild natürlich „gesetzesfrei“ sein. Das Evangelium<br />

lautet also: Gott hat dich lieb und nimmt dich an, ganz egal, was du<br />

tust. Dein praktisches Leben, <strong>de</strong>in Han<strong>de</strong>ln und auch <strong>de</strong>in Verhalten<br />

in <strong>de</strong>r Gesellschaft haben keine Relevanz, zumin<strong><strong>de</strong>s</strong>t keine „Heilsbe<strong>de</strong>utung“.<br />

Es ist letztlich egal, ob du <strong>de</strong>in Essen fair o<strong>de</strong>r unfair einkaufst,<br />

ob du dich um die Armen kümmerst o<strong>de</strong>r nicht, <strong>de</strong>nn für <strong>de</strong>n<br />

Eintritt in <strong>de</strong>n Himmel spielt das keine Rolle. Im Gegenteil, es könnte<br />

dich sogar in die Gefahr führen, dir auf <strong>de</strong>ine guten Taten etwas<br />

einzubil<strong>de</strong>n und dich auf sie zu verlassen anstatt auf die Gna<strong>de</strong> Gottes.<br />

Am En<strong>de</strong> dieses Weges steht letztlich ein Christentum ohne<br />

Ethik. Ein Auftrag zur Weltverän<strong>de</strong>rung und Wie<strong>de</strong>rherstellung <strong>de</strong>r<br />

Welt, wie er für das jüdische Menschenbild und die jüdische Heilserwartung<br />

so zentral ist, wird dann zu einer „Nebensache“, theologisch<br />

ausgedrückt zum „Adiaphoron“, ja vielleicht sogar zu einer Gefahr.<br />

Der christliche Wunsch nach Abgrenzung zum „gesetzlichen“ Ju<strong>de</strong>ntum<br />

ist also letztlich ein ethisches Eigentor. Er ist aber ein völlig unnötiges<br />

Eigentor, <strong>de</strong>nn ein unvoreingenommener Blick in die jüdischen<br />

Quellen <strong>de</strong>r Antike und die jüdischen Ansätze <strong>de</strong>r Gegenwart


112 113<br />

zeigt, dass Ju<strong>de</strong>n sich (ebenso wie wir Christen) nicht nur aus Angst<br />

und Engstirnigkeit an Gottes Gebote halten, son<strong>de</strong>rn aus Liebe und<br />

weil sie darin (ebenso wie wir Christen) Gottes guten Willen zur<br />

Heilung <strong>de</strong>r Welt erkennen.<br />

Vielleicht sagst du: Ich lerne darum Tora, weil ich reich wer<strong>de</strong>n<br />

will. O<strong>de</strong>r weil ich Rabbi genannt wer<strong>de</strong>. O<strong>de</strong>r weil ich Lohn in<br />

<strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n Welt dafür erhalte. <strong>Die</strong> Schrift lehrt aber: Du<br />

sollst <strong>de</strong>n Herrn, <strong>de</strong>inen Gott, lieben! (Dtn 6,5). Daher sollt ihr<br />

alles, was ihr tut, aus Liebe zu Gott tun! (Sifre Devarim 41 zu Dtn<br />

11,13)<br />

<strong>Die</strong> Worte <strong>de</strong>r Tora sind mit einer Arznei zu vergleichen, die man<br />

auf eine Wun<strong>de</strong> legt. Es ist wie mit einem König, <strong>de</strong>r im Zorn<br />

seinen Sohn schlug. Sogleich gab er ihm einen Verband und legte<br />

ihn auf die Wun<strong>de</strong>, damit sie heilen konnte. Und <strong>de</strong>r König sagte:<br />

Mein Sohn, solange dieser Verband auf <strong>de</strong>iner Wun<strong>de</strong> liegt, wirst<br />

du keinen Scha<strong>de</strong>n nehmen. Wenn du ihn aber abnimmst, dann<br />

wird sich die Wun<strong>de</strong> entzün<strong>de</strong>n. Genau so sagte Gott, <strong>de</strong>r Herr,<br />

auch zu Israel: Meine Kin<strong>de</strong>r, ich habe in euch <strong>de</strong>n Hang zum<br />

Bösen mit erschaffen. Aber wenn ihr euch mit <strong>de</strong>r Tora beschäftigt,<br />

dann kann er nicht über euch herrschen. Wenn ihr euch aber<br />

von <strong>de</strong>n Worten <strong>de</strong>r Tora trennt, dann herrscht er über euch (vgl.<br />

Gen 4,7). (Sifre Devarim zu Dtn 11,18)<br />

Der Blick in die Quellen zeigt auch, dass Ju<strong>de</strong>n eben nicht (ebenso<br />

wenig wie wir Christen) glauben, dass man sich durch gute Werke<br />

<strong>de</strong>n Himmel verdient, son<strong>de</strong>rn dass Gottes Gna<strong>de</strong> allem menschlichen<br />

Tun vorausgeht. Aber sie glauben auch (ebenso wie wir Christen),<br />

dass gute Werke ein Ausdruck <strong>de</strong>r Dankbarkeit für diese Gna<strong>de</strong><br />

sein können und dass wir für unsere guten Werke himmlischen Lohn<br />

empfangen wer<strong>de</strong>n.<br />

Das Klischee vom „äußerlichen“ Ju<strong>de</strong>ntum und das „innerliche“<br />

Christentum<br />

Ein weiteres Klischee vom Ju<strong>de</strong>ntum, das oft und gerne in Predigten<br />

und Bibelauslegungen gezeichnet wird, verstellt uns in gleicher Weise<br />

<strong>de</strong>n Blick für das gesellschafts<strong>verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong></strong> Potential <strong>de</strong>r jüdischen<br />

Spiritualität. Es ist das Klischee von <strong>de</strong>r „veräußerlichten“ Religion.<br />

Im Ju<strong>de</strong>ntum, so sagt das Klischee, macht sich <strong>de</strong>r Glaube an Äußerlichkeiten<br />

fest. An Ritualen, Institutionen, Verhaltensweisen und an<br />

materiellen Dingen. Bei Jesus dagegen geht es um das Innere. Das<br />

Ju<strong>de</strong>ntum klammert sich an das <strong>Die</strong>sseits, im Christentum geht es<br />

um das Jenseits, die geistliche Welt o<strong>de</strong>r die Haltung <strong><strong>de</strong>s</strong> Herzens.<br />

Auch hier führt das Klischee <strong><strong>de</strong>s</strong> Ju<strong>de</strong>ntums zu einem Gegenentwurf<br />

<strong><strong>de</strong>s</strong> Christentums, <strong>de</strong>r an Äußerlichkeiten und Institutionen nicht<br />

interessiert ist. Ein solches Christentum wird aber auch an <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung<br />

<strong>de</strong>r Gesellschaft nicht interessiert sein, <strong>de</strong>nn eine Gesellschaft<br />

existiert nun einmal im <strong>Die</strong>sseits und in <strong>de</strong>r wirklichen, äußerlichen<br />

Welt. Materielle Armut ist für ein solches Christentum nicht relevant,<br />

weil es Jesus nur um „geistliche“ Armut geht. Eine Verän<strong>de</strong>rung<br />

<strong>de</strong>r sozialen und wirtschaftlichen Realitäten ist nicht wichtig, <strong>de</strong>nn<br />

Verän<strong>de</strong>rung geschieht allein im Kopf und im Herzen. Auch hier<br />

beraubt uns <strong>de</strong>r Wunsch nach einer Abgrenzung vom Ju<strong>de</strong>ntum<br />

letztlich <strong>de</strong>r Grundlagen für eine wirklich weltzugewandte Spiritualität.<br />

Um so tragischer ist das, weil das Klischee auch hier gar nicht<br />

<strong>de</strong>r jüdischen Wirklichkeit entspricht. Denn auch im Ju<strong>de</strong>ntum ist<br />

(wie bei uns Christen) die Spiritualität zuerst im Inneren <strong><strong>de</strong>s</strong> Menschen<br />

verankert, wie etwa <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong> Ausspruch von Rabbi Simon<br />

(2. Jh.) zeigt:<br />

Rabbi Simon sagte: Sei aufmerksam und genau beim Lesen <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

»Höre Israel« und beim Achtzehngebet. Wenn du betest, mache<br />

<strong>de</strong>in Gebet nicht zu etwas Äußerlichem, son<strong>de</strong>rn bete mit Inbrunst<br />

und Flehen vor Gott. (Mischna Avot, 2,13)<br />

Inneres und Äußeres wer<strong>de</strong>n aber im Ju<strong>de</strong>ntum nicht, wie oft bei<br />

uns, voneinan<strong>de</strong>r getrennt. Ein innerlich ernst gemeintes Gebet kann


114 115<br />

eben auch durch äußere Gesten ausgedrückt wer<strong>de</strong>n. Der Mensch<br />

besteht aus Gottes Geist und aus Lehm. <strong>Die</strong> Gegenwart Gottes zeigt<br />

sich im Heiligen Geist und in einem Tempel aus Stein und Holz.<br />

Gott schreibt reale Geschichte durch ein historisches Volk in einem<br />

Land mit geografischer Aus<strong>de</strong>hnung. Das alles aber glaubten nicht<br />

nur Ju<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn auch die ersten Christen. Und sie glaubten sogar,<br />

dass Gott selbst ein Mensch aus Fleisch und Blut wur<strong>de</strong>. Mehr „Äußerlichkeit“<br />

also, als <strong>de</strong>n meisten Ju<strong>de</strong>n damals lieb war. Erst später,<br />

als sich das Christentum mehr und mehr von seinen jüdischen Wurzeln<br />

löste, rückte auch die Spiritualität <strong>de</strong>r <strong>Die</strong>sseitigkeit in <strong>de</strong>n Hintergrund<br />

und geriet in manchen Strömungen <strong><strong>de</strong>s</strong> Christentums vollends<br />

in Vergessenheit. Eine Rückkehr zu <strong>de</strong>n jüdischen Wurzeln<br />

unseres Glaubens kann uns also auch hier zur Wie<strong>de</strong>rent<strong>de</strong>ckung<br />

einer gesellschaftsrelevanten Spiritualität verhelfen.<br />

Das Klischee vom „politischen Messias“ und das „unpolitische“<br />

Christentum<br />

Auch das Klischee von <strong>de</strong>r „politischen Messiaserwartung“ <strong><strong>de</strong>s</strong> Ju<strong>de</strong>ntums<br />

hat dazu beigetragen, dass Christen sich von politischen und gesellschaftlichen<br />

Dimensionen <strong><strong>de</strong>s</strong> Glaubens distanziert haben. <strong>Die</strong>ses<br />

Klischee besagt, dass die Ju<strong>de</strong>n zur Zeit Jesu einen Messias erwarteten,<br />

<strong>de</strong>r die Römer aus <strong>de</strong>m Land vertreibt und in Jerusalem ein irdisches<br />

Königreich nach <strong>de</strong>m Vorbild <strong><strong>de</strong>s</strong> davidischen Königreiches aufrichtet.<br />

Jesus aber habe diesen Erwartungen nicht entsprochen. We<strong>de</strong>r hat er<br />

die Römer vertrieben noch hat er ein politisches Königreich aufgerichtet.<br />

Statt<strong><strong>de</strong>s</strong>sen starb er am Kreuz für unsere Sün<strong>de</strong>n und richtete ein<br />

weltumfassen<strong><strong>de</strong>s</strong>, durch neue Maßstäbe <strong>de</strong>finiertes Königreich <strong>de</strong>r<br />

Herzen auf, zu <strong>de</strong>m nicht nur die Ju<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn alle Völker eingela<strong>de</strong>n<br />

waren. Natürlich hat dieses christliche Beharren auf <strong>de</strong>m „unpolitischen“<br />

Wesen <strong><strong>de</strong>s</strong> Messias und seines Reiches langfristig dazu geführt,<br />

dass die politischen, sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

Reiches Gottes vernachlässigt o<strong>de</strong>r sogar bewusst verdrängt wur<strong>de</strong>n.<br />

Man wollte ja nicht <strong>de</strong>m gleichen Irrtum wie die Ju<strong>de</strong>n verfallen, dass<br />

<strong>de</strong>r Messias ein irdisches Reich bauen will.<br />

Das Problem dieses Klischees, wie auch <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren, ist jedoch,<br />

dass es keinen Anhalt in <strong>de</strong>r Wirklichkeit hat. Es gibt keine jüdischen<br />

Quellen aus <strong>de</strong>r Zeit Jesu, die von einem jüdischen Hass gegen die<br />

Römer sprechen o<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Erwartung, dass <strong>de</strong>r Messias die Römer<br />

aus <strong>de</strong>m Land vertreiben müsste o<strong>de</strong>r dass er ein rein politisches, lokal<br />

begrenztes jüdisches Königreich aufrichten wer<strong>de</strong>. Ganz im Gegenteil:<br />

Schon die prophetischen Texte <strong><strong>de</strong>s</strong> Alten Testaments, auf <strong>de</strong>n<br />

sich die messianischen Hoffnungen und Erwartungen stützen, sprechen<br />

von einem König, <strong><strong>de</strong>s</strong>sen Reich die ganze Welt umspannt und<br />

in <strong>de</strong>m alle Völker willkommen sind. Sie sprechen auch nicht davon,<br />

dass die Fein<strong>de</strong> aus Israel vertrieben wer<strong>de</strong>n. Sie wer<strong>de</strong>n entwe<strong>de</strong>r<br />

„besiegt“ o<strong>de</strong>r „vertilgt“, o<strong>de</strong>r aber sie wen<strong>de</strong>n sich <strong>de</strong>m Gott Israels<br />

zu und wer<strong>de</strong>n so ein Teil <strong><strong>de</strong>s</strong> messianischen Frie<strong>de</strong>nsreiches. Das<br />

aber ist etwas an<strong>de</strong>res als die militärische Vertreibung <strong>de</strong>r Fein<strong>de</strong> aus<br />

<strong>de</strong>m eigenen Land. In <strong>de</strong>n prophetischen Visionen <strong><strong>de</strong>s</strong> Alten Testaments<br />

wird es am En<strong>de</strong> überhaupt keine Fein<strong>de</strong> mehr geben, weil<br />

diese entwe<strong>de</strong>r nicht mehr existieren o<strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>m wahren Gott zugewandt<br />

haben. Das aber ist, mit allen Höhen und Tiefen, exakt dieselbe<br />

Zukunftserwartung, die wir auch im neutestamentlichen Buch<br />

<strong>de</strong>r Offenbarung und bei Jesus fin<strong>de</strong>n.<br />

Im Ju<strong>de</strong>ntum zur Zeit Jesu waren diese Hoffnungen aber weithin<br />

auf die Zukunft gerichtet. Für die Gegenwart hatte man sich unter<br />

<strong>de</strong>r römischen Herrschaft ganz gut eingerichtet. Flavius Josephus berichtet<br />

sogar davon, wie eine offizielle jüdische Delegation aus Jerusalem<br />

nach <strong>de</strong>m Tod <strong><strong>de</strong>s</strong> (jüdischen) Königs Hero<strong><strong>de</strong>s</strong> beim Kaiser in<br />

Rom ausdrücklich um die Abschaffung <strong><strong>de</strong>s</strong> jüdischen Königtums<br />

bittet:<br />

Ihr Hauptanliegen, um das sie baten, war dieses: Dass sie befreit<br />

wür<strong>de</strong>n vom Königtum und allen ähnlichen Regierungsformen,<br />

und statt<strong><strong>de</strong>s</strong>sen <strong>de</strong>r römischen Provinz Syrien zugeordnet wür<strong>de</strong>n,<br />

und <strong>de</strong>r Regierungsgewalt von Statthaltern unterstellt wür<strong>de</strong>n,<br />

die ihnen aus Rom geschickt wür<strong>de</strong>n. (Jüdische Altertümer<br />

17,300-314).


116 117<br />

<strong>Die</strong> Kräfte, die für eine politische Unabhängigkeit von Rom kämpften,<br />

waren laut Josephus stets nur kleine Gruppen von „Banditen“<br />

und „Aufrührern“, während <strong>de</strong>r Großteil <strong><strong>de</strong>s</strong> Volkes auf Seiten <strong>de</strong>r<br />

Römer stand. <strong>Die</strong> „Zeloten“ schließlich waren eine Gruppe, die sich<br />

erst im jüdischen Krieg 66 n.Chr. unter diesem Namen formierte<br />

und in <strong>de</strong>r Zeit Jesu noch gar nicht existierte. Man mag Josephus<br />

zwar in seiner Darstellung politische Voreingenommenheit vorwerfen.<br />

Aber auch die Schriften an<strong>de</strong>rer jüdischer Gruppen zeigen keinerlei<br />

Anzeichen für eine „rein politische“ Messiashoffnung, wie sie<br />

das Klischee unterstellt. In <strong>de</strong>n Schriftrollen von Qumran etwa geht<br />

es mehr um <strong>de</strong>n kosmischen Kampf zwischen Gut und Böse als um<br />

einen realen Kampf gegen die Römer. Mit <strong>de</strong>n „Söhnen <strong>de</strong>r Finsternis“,<br />

„frevelhaften Priestern“ und „Lügenpropheten“, gegen die die<br />

„Kin<strong>de</strong>r <strong><strong>de</strong>s</strong> Lichts“ in Qumran zu kämpfen haben, sind nicht die<br />

Römer, son<strong>de</strong>rn an<strong>de</strong>rsgläubige Ju<strong>de</strong>n gemeint. In <strong>de</strong>r Erwartung eines<br />

endzeitlichen Kampfes zwischen Gut und Böse, in <strong>de</strong>m nicht nur<br />

die Römer, son<strong>de</strong>rn alle bösen Herrscher und alle Ungläubigen „vertilgt“<br />

wer<strong>de</strong>n, sind sich die Ju<strong>de</strong>n von Qumran wie<strong>de</strong>r einig mit <strong>de</strong>n<br />

Propheten <strong><strong>de</strong>s</strong> Alten und Neuen Testaments, aber diese Erwartung<br />

geht eben über ein „rein politisches Königreich“ weit hinaus. Auch<br />

<strong>de</strong>m rabbinischen Ju<strong>de</strong>ntum, also <strong>de</strong>n Nachfahren <strong>de</strong>r Pharisäer und<br />

Schriftgelehrten, ist die Vorstellung eines solchen politischen Messias,<br />

<strong>de</strong>r die Römer aus Israel vertreibt, fremd. Im Gegenteil: Hier<br />

herrscht die schon oben beschriebene Überzeugung, dass das jüdische<br />

Volk auch unter frem<strong>de</strong>r Herrschaft einen positiven Beitrag zur<br />

Gestaltung <strong>de</strong>r Gesellschaft leisten soll. Man grün<strong>de</strong>t sich dabei auf<br />

die biblische Tradition vom Sendbrief <strong><strong>de</strong>s</strong> Jeremia an die Deportierten<br />

in Babylon (Jer 29,1-14) und auf die Überzeugung, dass Gott<br />

selbst sein Volk in die Exilserfahrung hineingeführt hat und es <strong><strong>de</strong>s</strong>halb<br />

auch zu seiner Zeit wie<strong>de</strong>r herausführen wird.<br />

Es steht geschrieben: „Sie sollen nach Babel geführt wer<strong>de</strong>n und<br />

dort bleiben bis auf <strong>de</strong>n Tag, an <strong>de</strong>m ich nach ihnen sehe, spricht<br />

<strong>de</strong>r HERR, und ich sie wie<strong>de</strong>r zurückbringen lasse an diesen Ort“<br />

(Jer 27,22). Rabbi Juda sagt: Hierauf bezieht sich auch <strong>de</strong>r Vers:<br />

„Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, dass ihr die Liebe nicht<br />

weckt, bevor es ihr selbst gefällt“ (Hoh 2,7). Was ist <strong>de</strong>r Zweck<br />

dieser Beschwörung? Erstens: Dass die Israeliten nicht alle zusammen<br />

„wie eine Mauer“ aus <strong>de</strong>m Exil zurückkehren sollen. Zweitens:<br />

Dass die Israeliten nicht rebellieren sollen gegen die Fremdherrscher.<br />

Und drittens: Dass die Götzendiener Israel nicht über die<br />

Maßen bedrücken sollen. (Babylonischer Talmud, Ketubot 111a)<br />

Auch hier fin<strong>de</strong>t sich also nicht die Hoffnung auf einen politischen<br />

Messias, <strong>de</strong>r die Römer vertreibt. Im Gegenteil, die Fortsetzung <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

babylonischen Exils unter <strong>de</strong>r römischen Herrschaft wird als Wille<br />

Gottes akzeptiert, und es wird nicht durch Rebellion, son<strong>de</strong>rn durch<br />

Gottes Eingreifen zu Gottes Zeit been<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong>se Auslegung<br />

von Rabbi Juda fügt sich prinzipiell gut in das Bild, das auch Josephus<br />

von <strong>de</strong>n führen<strong>de</strong>n Lehrern <strong><strong>de</strong>s</strong> Volkes zeichnet.<br />

Das Klischee von einer „rein politischen Messiaserwartung“ und<br />

einer Hoffnung auf gewaltsame Vertreibung <strong>de</strong>r Römer ist also ein<br />

Phantom, das sich bei näherem Hinsehen in Luft auflöst. <strong>Die</strong> messianische<br />

Hoffnung <strong><strong>de</strong>s</strong> Ju<strong>de</strong>ntums im ersten Jahrhun<strong>de</strong>rt ist zum einen<br />

pragmatischer, zum an<strong>de</strong>ren universaler als weithin angenommen.<br />

Sie ist universaler, weil sie nicht nur auf ein lokal begrenztes,<br />

jüdisches Königreich hofft, son<strong>de</strong>rn auf ein weltweites messianisches<br />

Frie<strong>de</strong>nsreich, das auch die übrigen Völker <strong>de</strong>r Welt einschließt und<br />

erst durch die endgültige Vernichtung aller bösen Mächte, nicht nur<br />

durch Vertreibung <strong>de</strong>r Römer aus Jerusalem, aufgerichtet wird. Sie ist<br />

aber zugleich pragmatischer, weil sie sich für die Zwischenzeit bis<br />

zum endgültigen Kommen dieses Reiches mit <strong>de</strong>n politischen Verhältnissen<br />

durchaus zu arrangieren weiß, insbeson<strong>de</strong>re mit <strong>de</strong>r Herrschaft<br />

<strong>de</strong>r Römer. Man wartet also auf das Kommen eines universalen,<br />

messianischen Frie<strong>de</strong>nsreiches, ist aber in <strong>de</strong>r Zwischenzeit schon<br />

jetzt und hier aktiver Teil <strong>de</strong>r Gesellschaft, in <strong>de</strong>r man lebt. Auch<br />

dann, wenn sie von frem<strong>de</strong>n Herrschern regiert wird. Und gleichzeitig<br />

gestaltet man das Leben in dieser frem<strong>de</strong>n Welt schon jetzt nach<br />

<strong>de</strong>n Regeln <strong><strong>de</strong>s</strong> kommen<strong>de</strong>n Reiches Gottes und versucht dadurch<br />

die bestehen<strong>de</strong> Welt zu vervollkommnen bzw. zu heilen.


118 119<br />

Genau dies ist aber, bei genauerem Hinsehen, auch die Haltung<br />

<strong>de</strong>r ersten Christen, die ja zum größten Teil Ju<strong>de</strong>n waren. Sie hatten<br />

kein Bedürfnis und auch keine Notwendigkeit, sich von einer „falschen“<br />

Messiaserwartung <strong><strong>de</strong>s</strong> Ju<strong>de</strong>ntums zu distanzieren. Im Gegenteil,<br />

sie sahen genau diese Erwartung in Jesus erfüllt. <strong>Die</strong> christliche<br />

Angst vor einer allzu „jüdischen“ politischen Messiaserwartung ist<br />

also unbegrün<strong>de</strong>t. Ja, sie ist sogar irreführend: Denn die jüdische<br />

Erwartung ist zwar in <strong>de</strong>r Tat politisch, weil sie das Wohl <strong><strong>de</strong>s</strong> ganzen<br />

Menschen und <strong>de</strong>r ganzen Gesellschaft im Blick hat. Es geht nicht<br />

nur um „geistliches“ o<strong>de</strong>r „jenseitiges“ Wohl, son<strong>de</strong>rn um Gottes<br />

Herrschaft in <strong>de</strong>r Welt. Aber sie ist eben nicht „rein politisch“ im<br />

Sinne <strong><strong>de</strong>s</strong> Klischees, das nur <strong>de</strong>n militärischen Sieg über die Römer<br />

im Blick hat. Sie umfasst die politischen und sozialen, aber eben auch<br />

die spirituellen und seelischen Dimensionen <strong><strong>de</strong>s</strong> Daseins. Und sie<br />

umfasst von vornherein nicht nur die jüdische, son<strong>de</strong>rn auch die gesamte<br />

nichtjüdische Welt. Genau diese Botschaft <strong>de</strong>r politischen,<br />

aber eben nicht rein politischen Weltverän<strong>de</strong>rung ist die Botschaft,<br />

die auch Jesus verkün<strong>de</strong>t hat. Auch hier hat also das christliche Klischee<br />

vom Ju<strong>de</strong>ntum für lange Zeit auf unnötige Weise <strong>de</strong>n Blick<br />

verstellt für eine Spiritualität <strong>de</strong>r Gesellschaftsverän<strong>de</strong>rung, von <strong>de</strong>r<br />

wir als Christen <strong>de</strong>r Neuzeit schon viel früher hätten lernen und profitieren<br />

können.<br />

Ju<strong>de</strong>n, Christen und die gemeinsame Vision <strong>de</strong>r Gesellschaftsverän<strong>de</strong>rung<br />

Tikkun olam – mit diesem hebräischen Begriff wird heute die jüdische<br />

Vision <strong>de</strong>r Gesellschaftsverän<strong>de</strong>rung beschrieben und zusammengefasst.<br />

Bereits im alten Aleinu-Gebet wird diese Vision mit <strong>de</strong>r<br />

Hoffnung auf das Kommen <strong><strong>de</strong>s</strong> Reiches Gottes verbun<strong>de</strong>n. Es ist<br />

diese Vision einer durch Gottes Herrschaft verän<strong>de</strong>rten Welt, die<br />

auch das Neue Testament prägt und die zum Kernthema <strong>de</strong>r Predigt<br />

Jesu gehörte. Hätte die christliche Kirche ihre jüdischen Wurzeln<br />

treuer bewahrt, hätte sie diese Vision gemeinsam mit <strong>de</strong>m jüdischen<br />

Volk leben und in die gesellschaftliche Realität umsetzen können.<br />

Statt<strong><strong>de</strong>s</strong>sen aber haben sich die Wege schon früh getrennt, und das<br />

Wissen um die gemeinsamen Wurzeln ging dabei nicht selten verloren.<br />

In <strong>de</strong>r christlichen Welt entwarf man das Klischee eines gesetzlichen,<br />

an Äußerlichkeiten orientierten und auf eine rein politische<br />

Messiaserwartung fixierten Ju<strong>de</strong>ntums. Als Gegenbild dazu stellte<br />

man das Christentum oft als eine gesetzesfreie, auf innerliche Werte<br />

konzentrierte und an Politik nicht interessierte Religion, in <strong>de</strong>r ethisches<br />

Han<strong>de</strong>ln als Nebensache, gesellschaftliche Institutionen als irrelevant<br />

und politische Verän<strong>de</strong>rung als Irrweg galten. <strong>Die</strong> revolutionäre<br />

und gesellschafts<strong>verän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong></strong> <strong>Kraft</strong>, die in <strong>de</strong>r jüdischen und<br />

frühchristlichen Hoffnung steckte, ging dabei weithin verloren. Heute<br />

ent<strong>de</strong>cken viele Christen diese Botschaft <strong><strong>de</strong>s</strong> Neuen Testamentes<br />

neu. Oft jedoch tun sie dies erneut in Abgrenzung gegenüber <strong>de</strong>n<br />

beliebten alten Klischees vom Ju<strong>de</strong>ntum. Da wird Jesu Zuwendung<br />

zu <strong>de</strong>n Armen mit einem vermeintlichen Snobismus <strong>de</strong>r jüdischen<br />

„Frommen“ kontrastiert. Jesu Zuwendung zu Zöllnern, Aussätzigen<br />

und Nichtju<strong>de</strong>n wird einem vermeintlich exklusivistischen Ju<strong>de</strong>ntum<br />

gegenübergestellt. Und die Vision von einem multikulturellen, weltoffenen<br />

Reich Gottes wird erneut <strong>de</strong>m alten Klischee vom jüdischen<br />

Nationalismus entgegengehalten. <strong>Die</strong> Gefahr, dass sich die Fehler <strong>de</strong>r<br />

Vergangenheit wie<strong>de</strong>rholen, lauert also vor <strong>de</strong>r Tür.<br />

Abwen<strong>de</strong>n lässt sie sich nur, wenn wir als Christen von <strong>de</strong>m alten<br />

Wunsch Abschied nehmen, unseren Glauben stets im Kontrast zum<br />

Ju<strong>de</strong>ntum zu entwerfen. Statt<strong><strong>de</strong>s</strong>sen sollten wir uns <strong>de</strong>nen zuwen<strong>de</strong>n,<br />

die wir lange Zeit nur durch die Brille unserer Klischees betrachtet<br />

haben, um von ihnen und mit ihnen zu lernen. Gera<strong>de</strong> im Blick auf<br />

die Hoffnung einer verän<strong>de</strong>rten Gesellschaft teilen wir als Ju<strong>de</strong>n und<br />

Christen eine gemeinsame Vision. Wir unterschei<strong>de</strong>n uns nicht in<br />

unserem Verständnis <strong><strong>de</strong>s</strong> Gesetzes, <strong><strong>de</strong>s</strong> Glaubens o<strong>de</strong>r <strong><strong>de</strong>s</strong> Reiches<br />

Gottes. Worin wir uns tatsächlich unterschei<strong>de</strong>n, ist die Überzeugung,<br />

dass in Jesus die messianische Zeit bereits angebrochen ist, auf<br />

<strong>de</strong>ren Anbruch die jüdische Welt mehrheitlich noch wartet. Hier<br />

wer<strong>de</strong>n wir wohl auf absehbare Zeit an<strong>de</strong>rer Meinung bleiben. Einig<br />

sind wir uns jedoch in <strong>de</strong>r Überzeugung, dass wir auf die endgültige<br />

Vollendung dieses Reiches noch warten. Und dass wir, während wir


120 121<br />

gemeinsam warten, schon hier und jetzt die Welt nach <strong>de</strong>n Maßstäben<br />

<strong><strong>de</strong>s</strong> Reiches Gottes umgestalten und damit zu ihrer Heilung beitragen<br />

können.<br />

<strong>Die</strong>se gemeinsame Vision von Ju<strong>de</strong>n und Christen formulierten<br />

im Jahr 2002 führen<strong>de</strong> jüdische Gelehrte in Amerika unter <strong>de</strong>m Titel<br />

„Dabru Emet – Re<strong>de</strong>t die Wahrheit!“, einer bahnbrechen<strong>de</strong>n Stellungnahme<br />

zum jüdisch-christlichen Verhältnis. Sie schließen darin<br />

mit <strong>de</strong>n Worten:<br />

Ju<strong>de</strong>n und Christen erkennen, ein je<strong>de</strong>r auf seine Weise, die Unerlöstheit<br />

<strong>de</strong>r Welt, wie sie sich in andauern<strong>de</strong>r Verfolgung, Armut,<br />

menschlicher Entwürdigung und Not manifestiert. Obgleich<br />

Gerechtigkeit und Frie<strong>de</strong>n letztlich in Gottes Hand liegen,<br />

wer<strong>de</strong>n unsere gemeinsamen Anstrengungen zusammen mit <strong>de</strong>nen<br />

an<strong>de</strong>rer Glaubensgemeinschaften helfen, das Königreich<br />

Gottes, auf das wir hoffen und nach <strong>de</strong>m wir uns sehnen, herbei<br />

zu führen. Getrennt und vereint müssen wir daran arbeiten, unserer<br />

Welt Gerechtigkeit und Frie<strong>de</strong>n zu bringen. In dieser Bemühung<br />

leitet uns die Vision <strong>de</strong>r Propheten Israels (Jes 2,2-3): „In<br />

<strong>de</strong>r Folge <strong>de</strong>r Tage wird es geschehen: Da wird <strong>de</strong>r Berg <strong><strong>de</strong>s</strong> Hauses<br />

<strong><strong>de</strong>s</strong> Herrn festgegrün<strong>de</strong>t stehen an <strong>de</strong>r Spitze <strong>de</strong>r Berge und<br />

erhaben sein über die Hügel. Zu ihm strömen alle Völker. Dorthin<br />

pilgern viele Nationen und sprechen: Auf, lasst uns hinaufziehen<br />

zum Berg <strong><strong>de</strong>s</strong> Herrn, zum Hause <strong><strong>de</strong>s</strong> Gottes Jakobs! Er lehre<br />

uns seine Wege, und wir wollen auf seinen Pfa<strong>de</strong>n wan<strong>de</strong>ln.“<br />

Möge Gott es schenken, dass wir als Christen aus <strong>de</strong>r Vergangenheit<br />

lernen und in <strong>de</strong>r Zukunft statt <strong>de</strong>r Abgrenzung die Begegnung mit <strong>de</strong>m<br />

Ju<strong>de</strong>ntum suchen. Hier können wir viel lernen über unsere eigenen Wurzeln,<br />

über die jüdische Welt von Jesus und die Be<strong>de</strong>utung seiner Worte,<br />

über unsere eigenen christlichen Einseitigkeiten und über die Menschen,<br />

die schon damals mit Jesus und heute mit uns auf das Kommen <strong><strong>de</strong>s</strong><br />

messianischen Reiches und auf die Heilung <strong>de</strong>r Welt hoffen.<br />

Literatur<br />

Sacks, Jonathan: Tikkun Olam: Orthodoxy’s Responsibility to Perfect<br />

G-d’s World. Delivered at the Orthodox Union West Coast Convention,<br />

December 1997 – Kislev 5758. http://www.ou.org/public/Publib/tikkun.htm<br />

(abgerufen am 4.11.2011).<br />

Homolka, Walter: Tradition und Erneuerung. <strong>Die</strong> Reformbewegung und<br />

ihre Dynamik als größte religiöse Strömung <strong><strong>de</strong>s</strong> Ju<strong>de</strong>ntums. Kompass<br />

Online Extra Nr. 60 (2007): http://www.compass-infodienst.<strong>de</strong>/<br />

in<strong>de</strong>x.php?id=4082&type=98 (abgerufen am 4.11.2011).<br />

Hirsch, Samson Raphael: Horev. Versuche über Jissroels Pflichten in<br />

<strong>de</strong>r Zerstreuung. Altona: Johann Friedrich Hammerich 1837.<br />

Hirsch, Samson Raphael: Der Pentateuch. Übersetzt und erläutert. Band<br />

1: Genesis. Frankfurt a.M.: Kaufmannsche Buchhandlung 1883.<br />

Soloveitchik, Joseph B.: Confrontation. In: Tradition: A Journal of<br />

Orthodox Thought. Vol. 6, no. 2 (1964).<br />

Online publiziert unter http://www.bc.edu/dam/files/research_sites/cjl/texts/cjrelations/resources/articles/soloveitchik/<br />

(abgerufen am 4.11.2011)<br />

Soloveitchik, Joseph B.: Halakhic Man. Translated from the Hebrew<br />

by Edward K. Kaplan. Phila<strong>de</strong>lphia: Jewish Publication Society<br />

1983. [Ursprünglich veröffentlicht auf Hebräisch in Talpiot I, No.<br />

3-4, 1944.]<br />

Kaplan, Edward K.: Spiritual Radical – Abraham Joshua Heschel in America,<br />

1940-1972. New Haven, London: Yale University Press 2007<br />

National Jewish Scholars Project: Dabru Emet. Eine jüdische Stellungnahme<br />

zu Christen und Christentum (15.7.2002).<br />

Online publiziert unter http://www.jcrelations.net/Dabru_<br />

Emet__-_Re<strong>de</strong>t_Wahrheit.2419.0.html?L=2 (abgerufen am<br />

4.11.2011).<br />

Anmerkung:<br />

Im Text sind einzelne Begriffe (vor allem hebräische Ausdrücke) kursiv<br />

gedruckt. Es wäre wichtig, dass diese Formatierung beibehalten<br />

wird.

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