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Arbeit in der Bürgergesellschaft- Standards für die Zukunft - BBE

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Dr. Sigrid Bachler <strong>BBE</strong>-Newsletter 24/2007<br />

<strong>Arbeit</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bürgergesellschaft</strong>- <strong>Standards</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Zukunft</strong><br />

In <strong>der</strong> letzten Zeit wird dem Verhältnis zwischen bürgerschaftlichem Engagement und<br />

Erwerbsarbeit zunehmend Aufmerksamkeit zuteil. Zwar war <strong>die</strong> <strong>Arbeit</strong>slosigkeit seit<br />

12 Jahren noch nie so niedrig wie jetzt. Doch <strong>die</strong> <strong>Arbeit</strong>smarktpolitik hat seit <strong>der</strong><br />

Agenda 2010 Bed<strong>in</strong>gungen gesetzt, so dass <strong>der</strong> Beschäftigungsaufbau deutliche<br />

Schattenseiten aufweist.<br />

E<strong>in</strong> Beispiel da<strong>für</strong> s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> 1-Euro-Jobs. 1-Euro-Jobs sollten nach dem Willen des<br />

Gesetzgebers nachrangig gegenüber allen an<strong>der</strong>en För<strong>der</strong><strong>in</strong>strumenten se<strong>in</strong>. Doch<br />

<strong>die</strong> 1-Euro-Jobs haben sich faktisch zum am häufigsten e<strong>in</strong>gesetzten<br />

arbeitsmarktpolitischen Instrument entwickelt. Rund 718 000 Menschen leisteten <strong>in</strong><br />

2006 e<strong>in</strong>en 1-Euro-Job.<br />

Mehr als zwei Drittel aller 1-Euro-Jobs s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den sozialen Diensten angesiedelt, e<strong>in</strong><br />

weiteres Viertel <strong>in</strong> sonstigen privaten und öffentlichen Dienstleistungen und nur e<strong>in</strong><br />

knappes Zehntel <strong>in</strong> <strong>der</strong> öffentlichen Verwaltung.<br />

<strong>Arbeit</strong>sgelegenheiten müssen – so will es das Gesetz – zusätzlich se<strong>in</strong> und im<br />

öffentlichen Interesse liegen. Doch <strong>die</strong> Zahlen sprechen e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Sprache:<br />

Während bei den öffentlichen und privaten Dienstleistungen im Westen auf e<strong>in</strong>en<br />

Zusatzjob 30 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte kommen, s<strong>in</strong>d es im Osten 4.<br />

In <strong>der</strong> öffentlichen Verwaltung kommen auf e<strong>in</strong>en Zusatzjob im Westen 53<br />

sozialversicherungspflichtige Beschäftigte, im Osten 8. Selbst <strong>in</strong> den sozialen<br />

Dienstleistungen betragen <strong>die</strong> Zahlen noch 26 zu 13. Während <strong>in</strong> Westdeutschland<br />

mehrheitlich An- und Ungelernte <strong>in</strong> 1-Euro-Jobs vermittelt werden, haben <strong>in</strong><br />

Ostdeutschland 70% e<strong>in</strong>en Berufs- o<strong>der</strong> Hochschulabschluss. Selbst wenn <strong>die</strong> 1-<br />

Euro-Jobber von <strong>der</strong> e<strong>in</strong>setzenden Organisation grundsätzlich als qualifiziert <strong>für</strong> den<br />

Tätigkeitsbereich wahrgenommen werden, wird nur 1 Prozent <strong>in</strong> e<strong>in</strong> unbefristetes<br />

sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis übernommen. Weitere 5<br />

Prozent <strong>der</strong> Organisationen denken darüber nach. Hauptgrund <strong>für</strong> <strong>die</strong><br />

Nichtübernahme s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> fehlenden Mittel. Bei 21 Prozent wird <strong>der</strong> Tätigkeitsbereich<br />

dann vom nächsten 1-Euro-Jobber übernommen. Insofern bilden 1-Euro-Jobs ke<strong>in</strong>e<br />

Brücke <strong>in</strong> den ersten <strong>Arbeit</strong>smarkt. Stattdessen werden durch 1-Euro-Jobs <strong>in</strong> nicht zu<br />

vernachlässigendem Umfang sozialversicherungspflichtige <strong>Arbeit</strong>sverhältnisse<br />

verdrängt.


Die Hans-Böcker-Stiftung hat im Mai 2007 e<strong>in</strong>e bittere Bilanz gezogen: 1-Euro-Jobs<br />

s<strong>in</strong>d nicht nur ke<strong>in</strong>e Brücke <strong>in</strong> den ersten <strong>Arbeit</strong>smarkt. Sie wirken sich sogar negativ<br />

auf das Wachstum sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung aus. Vor allem im<br />

Ostdeutschland. 1-Euro-Jobs s<strong>in</strong>d nicht zusätzliche, son<strong>der</strong>n schlechtere<br />

Beschäftigung durch Substitution von Kernbelegschaften.<br />

E<strong>in</strong>e Stu<strong>die</strong>, <strong>die</strong> im Auftrag <strong>der</strong> Evangelischen Kirche Hessen und Nassau <strong>die</strong><br />

Situation von 1-Euro-Jobbern untersucht hat, fasst das Verhältnis <strong>der</strong> Betroffenen zu<br />

den 1-Euro-Jobbs unter „notgedrungen-freiwillig“ zusammen. Notgedrungen, weil von<br />

<strong>der</strong> Behörde zwangsverpflichtet. Freiwillig, weil <strong>der</strong> Hartz-IV-Satz damit aufgestockt<br />

werden kann. Die Stimmungslage <strong>der</strong> 1-Euro-Jobber br<strong>in</strong>gt <strong>die</strong> Stu<strong>die</strong> wie folgt auf<br />

den Punkt „verarmt, verunsichert, ausgegrenzt und ohne Perspektive“.<br />

Geöffnet worden ist <strong>die</strong>se Büchse <strong>der</strong> Pandora von <strong>der</strong> Politik. Von <strong>der</strong> Politik, <strong>die</strong><br />

sich so lange hat e<strong>in</strong>reden hat lassen bis sie es geglaubt hat, dass <strong>der</strong> Sozialstaat<br />

nur Ballast sei und „verschlankt“ werden müsse. Und dass <strong>die</strong> <strong>Arbeit</strong>slosigkeit am<br />

besten bekämpft würde, <strong>in</strong>dem man <strong>die</strong> <strong>Arbeit</strong>slosen bedrängt. Ausgetragen wurde<br />

und wird <strong>die</strong>ser Kampf <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em hohen Maß auch <strong>in</strong> den Fel<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />

<strong>Bürgergesellschaft</strong>.<br />

Dass es auch an<strong>der</strong>s geht, zeigen zwei Konzepte, <strong>die</strong> im Folgenden vorgestellt<br />

werden:<br />

Decent Work<br />

Das Konzept von Decent Work stammt aus <strong>der</strong> ILO und kommt aus dem<br />

Zusammenhang <strong>der</strong> Entwicklungszusammenarbeit. Decent Work versteht <strong>Arbeit</strong> im<br />

umfassenden S<strong>in</strong>n: Dabei geht es nicht nur um Erwerbsarbeit und ökonomische<br />

Absicherung. Son<strong>der</strong>n auch darum, dass Menschen durch ihre <strong>Arbeit</strong> Schaffenskraft<br />

und Kreativität erleben können und Beziehungen zu an<strong>der</strong>en Menschen hergestellt<br />

werden. <strong>Arbeit</strong> wird als stabilisierendes Element <strong>für</strong> <strong>die</strong> Gesellschaft erkannt und ihr<br />

solidarischer Charakter betont. Insofern hat Decent Work auch Gültigkeit <strong>für</strong><br />

Familienarbeit und bürgerschaftliches Engagement.<br />

In <strong>der</strong> Gipfelerklärung von Heiligendamm vom 7. Jun 2007 haben sich <strong>die</strong> Staats-<br />

und Regierungsschefs <strong>der</strong> reichsten Industrielän<strong>der</strong> zu folgendem verpflichtet:<br />

„Daher unterstützen wir <strong>die</strong> Agenda <strong>für</strong> menschenwürdige <strong>Arbeit</strong> <strong>der</strong> Internationalen<br />

<strong>Arbeit</strong>sorganisation mit ihren vier gleichwertigen Pfeilern: wirksame Umsetzung<br />

arbeitsrechtlicher Normen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> IAO-Kernarbeitsnormen<br />

(Vere<strong>in</strong>igungsfreiheit, Beseitigung <strong>der</strong> Zwangsarbeit, Abschaffung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>arbeit,<br />

2


Verbot <strong>der</strong> Diskrim<strong>in</strong>ierung <strong>in</strong> Beschäftigung und Beruf); Schaffung produktiver<br />

Beschäftigung; Weiterentwicklung von allen e<strong>in</strong>beziehenden sozialen<br />

Schutzsystemen und Unterstützung des sozialen Dialogs mit den verschiedenen<br />

Akteuren.“<br />

Das bedeutet, <strong>die</strong> anwesenden Staats- und Regierungschefs haben sich e<strong>in</strong><br />

Instrument zu Eigen gemacht, dessen Strategie es ist, durch e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tegriertes Konzept<br />

Wirtschaftswachstum mit produktiver Beschäftigung und universellem Sozialschutz<br />

zu verb<strong>in</strong>den. Zentral ist dabei <strong>die</strong> Kohärenz <strong>der</strong> Maßnahmen.<br />

Anpassungsstrategien, <strong>die</strong> nach den Rezepten <strong>der</strong> jüngeren Vergangenheit auf<br />

schwachem Sozialschutz bauen, wird damit e<strong>in</strong>e Abfuhr erteilt.<br />

Europa war bisher führend bei <strong>der</strong> Stärkung <strong>der</strong> ILO mit ihrem Konzept „Decent<br />

Work“. Nach <strong>der</strong> Erklärung von Heiligendamm geht es nun darum, dass <strong>die</strong><br />

europäischen Regierungen „Decent Work“ nicht nur <strong>für</strong> <strong>die</strong> Welt propagieren,<br />

son<strong>der</strong>n es sich selbst auch zur Aufgabe machen. Das gilt sowohl <strong>für</strong> <strong>die</strong> Ebene<br />

europäischen Handelns als auch <strong>für</strong> <strong>die</strong> Ebene des b<strong>in</strong>nenstaatlichen Handelns <strong>der</strong><br />

Mitgliedstaaten.<br />

Bezogen auf deutsche Verhältnisse lassen sich e<strong>in</strong>e Reihe von politischen Fel<strong>der</strong>n<br />

identifizieren, <strong>in</strong> denen „Decent Work“ Handlungsbedarf aufzeigt. Zum Beispiel hat<br />

Deutschland, schon was <strong>die</strong> Umsetzung und Durchsetzung <strong>der</strong> Kernarbeitsnormen<br />

betrifft, immer noch Nachholbedarf: Zu denken ist dabei beispielsweise an<br />

Vere<strong>in</strong>igungsfreiheit, <strong>die</strong> es <strong>für</strong> <strong>die</strong> 1-Euro-Jobber nicht gibt; Lohndump<strong>in</strong>g bei<br />

öffentlicher Auftragsvergabe auf <strong>der</strong> Basis solcher prekärer <strong>Arbeit</strong>sverhältnisse und<br />

an Ausweitung von tariflichem Schutz <strong>für</strong> <strong>die</strong> angesprochenen Gruppen.<br />

In den letzten Jahren wurden unter <strong>die</strong>ser und <strong>der</strong> letzten Koalition e<strong>in</strong>e Reihe von so<br />

genannten Reformen durchgesetzt, <strong>die</strong> durchdrungen waren von dem Gedanken <strong>der</strong><br />

Notwendigkeit, e<strong>in</strong>en verme<strong>in</strong>tlich zu üppigen Wohlfahrtsstaat dramatisch<br />

auszudünnen. Die Verpflichtung zu „Decent Work“ muss hier e<strong>in</strong>en<br />

Paradigmenwechsel auslösen. Auf <strong>die</strong> Verpflichtung zu „Decent Work“ kann und<br />

muss man sich <strong>in</strong> <strong>Zukunft</strong> beziehen, wenn man <strong>die</strong> Politik <strong>in</strong> Pflicht nehmen will.<br />

DGB-Index „Gute <strong>Arbeit</strong>“<br />

Was im Konzept „Decent Work“ noch vergleichsweise abstrakt bleibt, macht das<br />

Instrument des DGB-Index „Gute <strong>Arbeit</strong>“ sehr viel konkreter. Beim DGB-Index geht<br />

es um <strong>die</strong> Sicht <strong>der</strong> Beschäftigten: Was verstehen <strong>die</strong> Beschäftigten unter guter<br />

<strong>Arbeit</strong>? Und wie beurteilen sie ihre <strong>Arbeit</strong>splätze? Damit kann aus Beschäftigtensicht<br />

3


e<strong>in</strong>e Bewertung von <strong>Arbeit</strong> <strong>in</strong> Deutschland auf den Tisch gelegt werden. E<strong>in</strong> Status<br />

quo sozusagen. Der <strong>in</strong> regelmäßigen Abständen wie<strong>der</strong>holt werden wird. Damit soll<br />

e<strong>in</strong> Verän<strong>der</strong>ungsprozess <strong>in</strong> Gang gesetzt werden. Der DGB will damit e<strong>in</strong>en<br />

Wettbewerb anstoßen, <strong>der</strong> nicht nur das kurzsichtige Kostenargument kennt,<br />

son<strong>der</strong>n Innovation und Gute <strong>Arbeit</strong> im Blick hat.<br />

In <strong>der</strong> Auswertung wird e<strong>in</strong>e Kennzahl zwischen Null und 100 ermittelt. Null bis 50<br />

wird als schlechte <strong>Arbeit</strong> def<strong>in</strong>iert. 50 bis 80 als mittelmäßige. Alles über 80 gilt als<br />

gute <strong>Arbeit</strong>. Wie <strong>der</strong> Index funktioniert, lässt sich im Internet sehen. Je<strong>der</strong> kann dort<br />

<strong>die</strong> Qualität se<strong>in</strong>es <strong>Arbeit</strong>splatzes prüfen. Man füllt auf <strong>der</strong> Seite www.dgb-<strong>in</strong>dex-<br />

gute-arbeit.de Fragen aus und bekommt sofort das Ergebnis.<br />

Für den Index wurden 6.900 Beschäftigte repräsentativ befragt. Die erste Befragung<br />

hat ergeben: Jede und je<strong>der</strong> Dritte <strong>in</strong> Deutschland bewertet se<strong>in</strong>e<br />

Beschäftigungssituation negativ. Gut <strong>die</strong> Hälfte <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>nehmer<strong>in</strong>nen und<br />

<strong>Arbeit</strong>nehmer, arbeitet unter Bed<strong>in</strong>gungen, <strong>die</strong> als mittelmäßige <strong>Arbeit</strong> bezeichnet<br />

werden können. Nur 12 Prozent <strong>der</strong> deutschen <strong>Arbeit</strong>splätze bieten gute <strong>Arbeit</strong>.<br />

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit soll hier skizziert werden, was folgen muss, will<br />

man <strong>die</strong> Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>die</strong> Decent Work und <strong>der</strong> DGB-Index stellen, ernst nehmen:<br />

1-Euro-Jobs können nicht e<strong>in</strong>fach wertneutral mit Verwischung, Entgrenzung o<strong>der</strong><br />

Ausdehnung von Grauzonen bezeichnet werden. Vielmehr geht es um Unterlaufen,<br />

Unterhöhlen und letztlich Absenken von <strong>Standards</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>.<br />

Aus <strong>der</strong> Beschäftigungsperspektive lässt sich feststellen: 1-Euro-Jobber verfügen<br />

nicht e<strong>in</strong>mal über <strong>die</strong> grundlegendsten Rechte von <strong>Arbeit</strong>nehmern, wie <strong>die</strong><br />

Kernarbeitsnormen <strong>der</strong> ILO und damit Decent Work sie for<strong>der</strong>t und wie sie im DGB-<br />

Index abgefragt werden. Sie dürfen ke<strong>in</strong>e betriebliche Interessenvertretung wählen.<br />

Sie dürfen sich nicht zusammentun mit dem Zweck e<strong>in</strong>en Tarifvertrag abzuschließen.<br />

Sie verfügen <strong>in</strong> den 1-Euro-Jobs über ke<strong>in</strong>erlei Perspektiven. 1-Euro-Jobber s<strong>in</strong>d<br />

ke<strong>in</strong>e Beschäftigten.<br />

Und aus <strong>der</strong> Ehrenamtsperspektive zeigt sich: 1-Euro-Jobber s<strong>in</strong>d auch ke<strong>in</strong>e<br />

Ehrenamtlichen. Ehrenamtliche können mit Eigens<strong>in</strong>n an <strong>die</strong> Aufgaben herangehen.<br />

Und sie können zur Not mit den Füßen abstimmen. Das können 1-Euro-Jobber nicht.<br />

1-Euro-Jobber s<strong>in</strong>d nicht frei. Sie s<strong>in</strong>d zwangsverpflichtet bei Bedrohung mit e<strong>in</strong>er<br />

Kürzung des ohneh<strong>in</strong> zu niedrigen ALG II.<br />

4


Diese 1-Euro-Jobs zu exekutieren bedeutet <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Bürgergesellschaft</strong> ke<strong>in</strong>e<br />

Marg<strong>in</strong>alie. Das geht an <strong>die</strong> Substanz <strong>der</strong> <strong>Bürgergesellschaft</strong>. An <strong>die</strong> Substanz <strong>der</strong><br />

eigenen Wertgebundenheit und Eigenlogik. An <strong>die</strong> Substanz <strong>der</strong> eigenen<br />

Glaubwürdigkeit.<br />

Wie lässt sich <strong>die</strong>se Situation verän<strong>der</strong>n?<br />

Von <strong>der</strong> Grundphilosophie her verlangt Decent Work e<strong>in</strong>e Abkehr vom Sozialabbau,<br />

weniger Repression und e<strong>in</strong>e verbesserte soziale Unterstützung <strong>der</strong>er, <strong>die</strong> von Armut<br />

betroffen o<strong>der</strong> gefährdet s<strong>in</strong>d. Und zwar nicht nur mit dem Ziel <strong>der</strong> Rückgew<strong>in</strong>nung<br />

von Beschäftigungsfähigkeit. Son<strong>der</strong>n mit dem Ziel e<strong>in</strong>es guten Lebens.<br />

Das bedeutet folgendes: Nicht je<strong>der</strong> und jedem ist mit „För<strong>der</strong>n und For<strong>der</strong>n“<br />

geholfen. Am Anfang e<strong>in</strong>er ehrlichen <strong>Arbeit</strong>smarktpolitik muss e<strong>in</strong>e<br />

Bestandsaufnahme stehen. Redlicherweise müsste man anerkennen: Für viele gibt<br />

es ke<strong>in</strong> Zurück mehr <strong>in</strong> den ersten <strong>Arbeit</strong>smarkt. Jedenfalls nicht zu Bed<strong>in</strong>gungen<br />

„Guter <strong>Arbeit</strong>“. Das hat unterschiedliche Gründe. Und unterschiedlich müssen auch<br />

<strong>die</strong> Lösungen aussehen. Aber geme<strong>in</strong>sam ist allen <strong>die</strong>sen Gruppen: Man muss sie<br />

zu fairen Bed<strong>in</strong>gungen aus dem Hartz-System herausholen. Dazu gehört auch e<strong>in</strong><br />

ehrlicher zweiter <strong>Arbeit</strong>smarkt <strong>für</strong> genau umschriebene Gruppen.<br />

Rente wegen Erwerbsm<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

Der deutschen <strong>Arbeit</strong>smarktpolitik liegt <strong>die</strong> Philosophie zugrunde, dass jedes<br />

H<strong>in</strong><strong>der</strong>nis, das e<strong>in</strong>er Teilnahme am <strong>Arbeit</strong>smarkt entgegensteht, beseitigt werden<br />

kann. Dementsprechend hoch hängt <strong>die</strong> Latte <strong>für</strong> <strong>die</strong> Erwerbsm<strong>in</strong><strong>der</strong>ungsrente.<br />

In den Nie<strong>der</strong>landen ist man realitätstüchtiger. Dort können Personen, bei denen<br />

realistischerweise nicht zu erwarten ist, dass sie dem <strong>Arbeit</strong>smarkt je wie<strong>der</strong> zur<br />

Verfügung stehen können e<strong>in</strong>e Art Rente bekommen. Das gilt beispielsweise <strong>für</strong><br />

Drogenabhängige. Aber <strong>in</strong> den Nie<strong>der</strong>landen erstreckt sich <strong>die</strong>se Regelung auch auf<br />

Langzeiterwerbslose, <strong>die</strong> länger als fünf Jahre nicht mehr am Erwerbsleben<br />

teilgenommen haben. Zwar s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Zugangsvoraussetzungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> letzten Zeit<br />

verschärft worden. Doch mit e<strong>in</strong>er ärztlichen Prüfung ist <strong>die</strong>se Rente wesentlich<br />

leichter zu erreichen als <strong>die</strong> deutsche Erwerbsm<strong>in</strong><strong>der</strong>ungsrente.<br />

Mit e<strong>in</strong>em <strong>der</strong>artigen Vorgehen s<strong>in</strong>d Vor- und Nachteile verbunden. Der<br />

gravierendste Nachteil ist, dass das holländische System <strong>die</strong> Schwächeren<br />

möglicherweise e<strong>in</strong>fach abschiebt. Während das deutsche System – theoretisch –<br />

alle nach ihren Möglichkeiten beteiligen will. Theoretisch ist unser System besser.<br />

5


Praktisch aber nicht. Weil das nicht so passiert. Weil <strong>für</strong> viele ke<strong>in</strong>e realistischen<br />

Chancen geboten werden, son<strong>der</strong>n viele nur frustriert werden.<br />

In Deutschland geht es nach Schätzungen des DGB, um rund 600 000 Menschen,<br />

<strong>die</strong> <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e solche Regelung <strong>in</strong> Frage kämen. Auch wenn <strong>der</strong> jeweilige Fallmanager<br />

heutzutage weiß, wem er mit e<strong>in</strong>em Ausstieg helfen könnte, kann er das nicht. Weil<br />

er dazu ke<strong>in</strong>en rechtlichen Rahmen hat. Insofern muss immer weiter so getan<br />

werden als ob man noch Chancen sähe. Obwohl alle Beteiligten wissen, dass es<br />

nicht so ist. Wir brauchen deshalb e<strong>in</strong>e neue Grundphilosophie und dann müssen<br />

Regularien <strong>für</strong> den Ausstieg geschaffen werden.<br />

Altersrente<br />

Auch wenn <strong>die</strong> Zahl <strong>der</strong> älteren Erwerbslosen <strong>in</strong> <strong>der</strong> letzten Zeit gesunken ist, treten<br />

nur fünf Prozent <strong>der</strong> Erwerbstätigen als solche im Regelrentenalter von 65 <strong>in</strong> den<br />

Ruhestand. Es werden auch nicht wie<strong>der</strong> mehr ältere <strong>Arbeit</strong>slose e<strong>in</strong>gestellt.<br />

Son<strong>der</strong>n <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> noch erwerbstätig s<strong>in</strong>d, arbeiten länger. Aus <strong>die</strong>sem Grund<br />

haben sich <strong>die</strong> Gewerkschaften auch fundamental gegen <strong>die</strong> E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Rente<br />

mit 67 ausgesprochen. Denn das Risiko, <strong>die</strong> Altersgrenze nicht zu erreichen, wurde<br />

von <strong>der</strong> Politik komplett auf <strong>die</strong> Betroffenen abgewälzt.<br />

Was wir vielmehr brauchen, s<strong>in</strong>d flexible Übergänge zwischen <strong>Arbeit</strong>sleben und<br />

Ruhestand. Für <strong>die</strong>jenigen Erwerbslosen, <strong>die</strong> noch arbeiten wollen, kann ich mir gut<br />

regelhaft Programme vorstellen, <strong>in</strong> denen geme<strong>in</strong>nützige <strong>Arbeit</strong> geleistet wird,<br />

tariflich bezahlt und mit <strong>Arbeit</strong>nehmerstatus. Das ist genau das Gegenteil davon,<br />

Erwerbslose dazu zu drängen, sich unter Inkaufnahme von erheblichen Abschlägen<br />

so früh wie möglich aus ALG II <strong>in</strong> <strong>die</strong> Altersrente abzumelden.<br />

Berufliche Erstausbildung und Weiterbildung<br />

Die weitgehende Abst<strong>in</strong>enz des Staates <strong>in</strong> <strong>der</strong> beruflichen Ausbildung trägt ebenfalls<br />

dazu bei, lebenslange Abhängigkeit von Hartz-IV zu produzieren. Denn das Risiko,<br />

arbeitslos zu werden, nimmt mit ger<strong>in</strong>gerem Bildungsstand deutlich zu.<br />

Auch wenn sich <strong>die</strong> Lage auf dem Ausbildungsmarkt <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Jahr relativ besser zu<br />

entwickeln sche<strong>in</strong>t als im letzten, lässt sich im September 2007 festhalten: Rund<br />

29.000 noch unversorgten Jugendlichen stehen nach Zahlen <strong>der</strong> Bundesagentur nur<br />

rund 18.000 Ausbildungsplätze gegenüber. Nicht mitgerechnet s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> m<strong>in</strong>destens<br />

300.000 so genannten Altbewerber. Für alle <strong>die</strong>se jungen Leute muss das Leben <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Warteschleife e<strong>in</strong> Ende haben. Da beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> Ostdeutschland <strong>die</strong> berufliche<br />

Erstausbildung ohneh<strong>in</strong> schon weitgehend staatlicherseits bezahlt wird, sollte<br />

6


deshalb über e<strong>in</strong>e Ausweitung <strong>der</strong> öffentlich f<strong>in</strong>anzierten Berufsausbildung<br />

nachgedacht werden.<br />

Was <strong>die</strong> berufliche Weiterbildung angeht, bekleckern sich <strong>die</strong> <strong>Arbeit</strong>geber <strong>in</strong><br />

Deutschland nicht mit Ruhm. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland weit<br />

abgeschlagen im unteren Drittel. Die berufliche Weiterbildung ist aber wichtig, um <strong>die</strong><br />

Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten. Doch sogar wenn das K<strong>in</strong>d schon <strong>in</strong> den<br />

Brunnen gefallen ist, wird weiterh<strong>in</strong> am falschen Platz gespart: An <strong>der</strong><br />

<strong>Arbeit</strong>smarktpolitik. Die Fortbildungsmaßnahmen <strong>für</strong> Erwerbslose wurden im<br />

längerfristigen Trend seit 2003 halbiert, von 300 000 auf 137 000, plus 80 000<br />

Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsmaßnahmen von Bezieher<strong>in</strong>nen und Beziehern von ALG I und II. Hier muss<br />

wie<strong>der</strong> deutlich draufgesattelt werden. Und zwar passgenau.<br />

Alle <strong>die</strong>s zusammengenommen lassen sich auf <strong>die</strong>se Weise sich erheblich große<br />

Gruppen aus dem Hartz-System herausholen. Es bleiben aber immer noch<br />

Erwerbslose übrig, <strong>die</strong> durchaus erwerbstätig se<strong>in</strong> könnten, wenn es denn<br />

<strong>Arbeit</strong>splätze gäbe.<br />

Für <strong>die</strong>jenigen müsste man dann 1. über e<strong>in</strong>en angemessenen Regelsatz reden.<br />

Und 2. darüber, dass man <strong>die</strong> 1-Euro-Jobs durch freiwilliges bürgerschaftliches<br />

Engagement ersetzt.<br />

Das könnte so aussehen:<br />

Die <strong>Arbeit</strong>sverwaltung weist von Anfang an, d.h. wenn sich jemand arbeitslos meldet<br />

o<strong>der</strong> spätestens wenn <strong>die</strong> Erwerbslosigkeit e<strong>in</strong>tritt, ausdrücklich auf das Angebot h<strong>in</strong>,<br />

sich bürgerschaftlich engagieren zu können. Damit ist nicht geme<strong>in</strong>t, dass<br />

Erwerbslose <strong>in</strong> gewissem Umfang bürgerschaftlich engagiert se<strong>in</strong> „dürfen“, ohne ihre<br />

Ansprüche zu verlieren. Das ist nicht genug. Damit ist geme<strong>in</strong>t, dass <strong>die</strong><br />

<strong>Arbeit</strong>sverwaltung darauf h<strong>in</strong>weist, dass man e<strong>in</strong> solches Engagement <strong>für</strong><br />

wünschenswert hält.<br />

Dabei geht es auch nicht um das bürgerschaftliche Engagement als so genannte<br />

„Brücke“ <strong>in</strong> den ersten <strong>Arbeit</strong>smarkt. Der Klebeeffekt ist – genauso wie bei den 1-<br />

Euro-Jobs - wahrsche<strong>in</strong>lich viel ger<strong>in</strong>ger als wir uns das wünschen.<br />

Vielmehr geht es um Selbstwertgefühl. Das Gefühl gebraucht zu werden. Um <strong>die</strong><br />

Erhaltung sozialer Kompetenzen. Um <strong>die</strong> Erhaltung von Tagesstruktur. All das<br />

verliert sich nämlich leicht, wenn man dem <strong>Arbeit</strong>smarkt vor dem Fernseher zur<br />

7


Verfügung steht. Wir alle wissen: Erwerbslose s<strong>in</strong>d signifikant weniger<br />

bürgerschaftlich engagiert als Erwerbstätige. Deshalb muss das Angebot auch<br />

regelhaft kommen bevor <strong>die</strong> Entmutigung sich e<strong>in</strong>stellt. Gleich beim ersten Gespräch<br />

wenn sich jemand arbeitslos meldet. Mit e<strong>in</strong>er Visitenkarte, wen man anrufen und<br />

e<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong> ausmachen kann um weiteres zu besprechen.<br />

Das Angebot sollte absolut freiwillig se<strong>in</strong>. Die <strong>Arbeit</strong>sverwaltung sollte allerd<strong>in</strong>gs<br />

schon e<strong>in</strong>e Aufwandsentschädigung anbieten, wenn das Engagement m<strong>in</strong>destens<br />

e<strong>in</strong>e gewisse Anzahl von Stunden wöchentlich umfasst. Damit würde man auch<br />

zeigen, dass das Engagement wirklich gewollt ist. Es dürfte ke<strong>in</strong>e zeitliche Befristung<br />

geben. Die Erwerbslosen würden sich <strong>die</strong> E<strong>in</strong>richtung selbst nach ihren Neigungen<br />

aussuchen. Und sie wären im Status des Ehrenamtlichen. Das ist wichtig. Denn<br />

damit wäre ke<strong>in</strong>e entwürdigende 1-Euro-Job-Situation mehr verbunden.<br />

Hier sollte <strong>die</strong> <strong>Bürgergesellschaft</strong> <strong>der</strong> Politik Angebote machen. Das wäre me<strong>in</strong>er<br />

Me<strong>in</strong>ung nach im Interesse <strong>der</strong> <strong>Bürgergesellschaft</strong> und des bürgerschaftlichen<br />

Engagements. Denn <strong>die</strong> <strong>Bürgergesellschaft</strong> darf sich nicht damit abf<strong>in</strong>den, immer<br />

mehr zu e<strong>in</strong>em Raum werden, <strong>in</strong> dem Armut, Prekarisierung und schlechte<br />

<strong>Arbeit</strong>sbed<strong>in</strong>gungen sich unwi<strong>der</strong>sprochen etablieren können.<br />

Dr. Sigrid Bachler ist im DGB Bundesvorstand verantwortlich <strong>für</strong> den Bereich<br />

Gesellschaftspolitik/Grundsatz<br />

Kontakt:<br />

Sigrid.Bachler@dgb.de<br />

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