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Journal Juden in Sachsen - Ausgabe Winter 2011/2012

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JJIS<br />

<strong>Journal</strong> <strong>Juden</strong> <strong>in</strong> <strong>Sachsen</strong><br />

W<strong>in</strong>ter <strong>2011</strong>/<strong>2012</strong>


Deutsch-Russisches Zentrum <strong>Sachsen</strong> e.V., ILB, Leipzig <strong>2011</strong><br />

ISSN 1866-5853


Thema<br />

Inhalt<br />

Ich bef<strong>in</strong>de mich weiter auf der Suche … 6<br />

Rezension<br />

Wanderer zwischen den Welten 17<br />

Adriana Altaras: Titos Brille. Die Geschichte<br />

me<strong>in</strong>er strapaziösen Familie 22<br />

Veranstaltungen<br />

Schalom - Chronik der Jüdischen Woche<br />

<strong>2011</strong> - Notizen 25<br />

Gedenk<strong>in</strong>stallation Leipziger Hauptbahnhof 33<br />

Medienwoche - Dr. Andrea Lorz<br />

über die Leipziger K<strong>in</strong>dertransporte 35<br />

Boris Sachakov: Vernissage<br />

zum 80. Geburtstag 38<br />

3


Kurzbiografien<br />

Ernst Max Unger 44<br />

He<strong>in</strong>rich Porges 46<br />

Nathan Porges 47<br />

Wilhelm Rettich 48<br />

Rosa Rettich 52<br />

Rudolf Rettich 54<br />

Israel Lazar Rettich 56<br />

Bernhard Rab<strong>in</strong>owitz 58<br />

Max Katz 59<br />

Sir Bernard Katz 60<br />

Leonid Kreutzer 65<br />

David Hacker 67<br />

Doba Hacker 68<br />

P<strong>in</strong>kus Hacker 69<br />

Siegfried Samson Bon 70<br />

Sigmund Ernst Bon 61


Leipziger Biografien<br />

Materialsammlung. Biografische Artikel<br />

<strong>in</strong> den regionalen und überregionalen<br />

Tageszeitungen 72<br />

5


Thema<br />

Ich bef<strong>in</strong>de mich weiter auf der Suche …<br />

E<strong>in</strong> Gespräch mit dem Musikwissenschaftler Thomas<br />

Sch<strong>in</strong>köth<br />

Biogramm: *1963 (20.32 Uhr), Vorschule, Schule, wunderbarer<br />

Klavier- und Lebensunterricht bei Hans-Joachim Wolf, Studium<br />

<strong>in</strong> Leipzig, jahrelange Abenteuerreise mit Studenten der<br />

Musikwissenschaft und Musikpädagogik durch die Geheimnisse<br />

von Musik und Welt. Zuletzt freiberuflich. Drei Zentimeter kle<strong>in</strong>er<br />

als Erik Satie. Vorträge und Veröffentlichungen über: Kunst unter<br />

Diktaturen, Musik des 20./21. Jahrhunderts, Musik und Bildende<br />

Künste, Leipziger Musikgeschichte, Chormusik, Helge Schneider.<br />

Rezensionen und CD-E<strong>in</strong>führungen. In jüngerer Zeit verstärkt<br />

Beschäftigung mit pädagogischen Fragen. Langjährige „Muggen“-<br />

Aktivitäten (Chor, Klavierbegleitung, Improvisationen etc.)<br />

Du beschäftigst dich seit vielen Jahren mit dem Wirken jüdischer<br />

Musiker <strong>in</strong> Leipzig. Wie schätzt du den momentanen For-<br />

schungsstand e<strong>in</strong>?<br />

T. S.: In den letzten anderthalb bis zwei Jahrzehnten s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e ganze<br />

Reihe von Studien zum Thema entstanden. Dazu gehören Arbeiten<br />

zu e<strong>in</strong>zelnen Persönlichkeiten wie Henri H<strong>in</strong>richsen, Wilhelm Ret-<br />

tich, Salomon Jadassohn, Barnet Licht ebenso wie Darstellungen<br />

zu bestimmten Zeitabschnitten. Pionierarbeit leistet Franziska<br />

Specht mit ihrem grundlegenden Werk über „Musikalisches Leben<br />

6


der <strong>Juden</strong> <strong>in</strong> <strong>Sachsen</strong> 1933– 19 1“. Und noch immer imponiert<br />

mir, mit welchem weitgespannten Blick sich Claudia Horn schon <strong>in</strong><br />

den frühen 1990er Jahren dem Thema gewidmet hat. Viele Details<br />

zum musikalischen Leben, aufgespürt im Alltagsleben, f<strong>in</strong>den sich<br />

darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> den Veröffentlichungen von Barbara Kowalzik<br />

über das „“ und die „Innere Nordvorstadt“. Nennen möchte ich darüber<br />

h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong> jüngst erschienenes Buch über „Mahler <strong>in</strong> Leipzig“.<br />

Ich habe aus ihm viel gelernt, nicht nur über Mahler. Besonders<br />

wegweisend empf<strong>in</strong>de ich dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Beitrag von Steffen Held,<br />

dem hervorragenden Kenner der Geschichte der <strong>Juden</strong> <strong>in</strong> Leipzig:<br />

Er erhellt unter dem Titel „Mahler und die Leipziger <strong>Juden</strong>heit“<br />

zeitgeschichtliche Kontexte, über die <strong>in</strong> musikhistorischen Studien<br />

allzu oft pauschal h<strong>in</strong>weggeschrieben wird. Nicht vergessen<br />

seien die noch fast druckfrischen „Jüdischen Schulgeschichten“,<br />

50 Interviews mit Überlebenden, aufgezeichnet und herausgegeben<br />

von Elke Urban, mit <strong>in</strong>teressanten Er<strong>in</strong>nerungen auch<br />

an das Musikleben, zumal den <strong>in</strong>dividuellen Umgang mit Musik.<br />

Welche Themen oder auch Schritte würdest du für die weitere<br />

Forschung empfehlen?<br />

T.S.: Empfehlen würde ich vor allem, dass Projekte und Aktivitäten<br />

stärker „vernetzt“ werden. Das sprichwörtliche „Fahrrad“ wird noch<br />

recht häufig doppelt erfunden. E<strong>in</strong>en nützlichen Schritt <strong>in</strong> dieser<br />

Richtung sehe ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Internet-Lexikon, das Interessenten frei<br />

zugänglich ist und regelmäßig ergänzt wird. Prof. Werner Schneider,<br />

der Vorstandsvorsitzende des Notenspur-Fördervere<strong>in</strong>s und selbst<br />

stets auf Zusammenarbeit bedacht, plant e<strong>in</strong> solches Vorhaben<br />

geme<strong>in</strong>sam mit dem hiesigen Musikwissenschaftlichen Institut. Ich


wünsche ihm und allen Beteiligten von Herzen, dass es gel<strong>in</strong>gt und<br />

sich e<strong>in</strong>e engagierte Forschungsgruppe zusammenf<strong>in</strong>det. Denn e<strong>in</strong><br />

solches Projekt bedarf natürlich vieler leidenschaftlicher Mitarbeiter.<br />

Wie könnte e<strong>in</strong> solches Lexikon aussehen?<br />

T. S.: Sicherlich wird es e<strong>in</strong>erseits Artikel zu e<strong>in</strong>zelnen Personen,<br />

Ensembles, Vere<strong>in</strong>en, Organisationen und Institutionen enthalten.<br />

Alle<strong>in</strong> das „Jüdische Jahr- und Adressbuch“ von 1933 bietet e<strong>in</strong>e<br />

Fundgrube an Namen an. Andererseits würde ich auch Sachbeiträge<br />

empfehlen, die helfen, historische Kontexte zu verstehen,<br />

wie sie beispielsweise Steffen Held im Zusammenhang mit Mahler<br />

dargestellt hat. Dazu gehört e<strong>in</strong> Beitrag zur Entstehung und zur<br />

stark differenzierten Struktur der jüdischen Geme<strong>in</strong>de, zum Verhältnis<br />

von liberalen und orthodoxen, „alte<strong>in</strong>gesessenen“ <strong>Juden</strong><br />

und Immigranten, die häufig staatenlos und rechtlich stark benachteiligt<br />

waren. Auch Antisemitismus, Konversion, „Taufdruck“,<br />

Streitpunkt Orgel, Emanzipation, Assimilation, Gibt es jüdische<br />

Musik?, „Waldstraßenviertel“, „Musikviertel“, Remigration wären<br />

e<strong>in</strong>ige weitere Stichpunkte für Sachbeiträge. Ferner könnte ich mir<br />

Porträts der e<strong>in</strong>zelnen Synagogen vorstellen, die bestimmte Richtungen<br />

repräsentiert haben, welche ich mir erläutert wünschte,<br />

zumal mit Blick auf die Musikausübung. Auch jüdische Feste<br />

könnten Anlass für e<strong>in</strong>en eigenständigen Beitrag se<strong>in</strong>, wenn ich<br />

an Er<strong>in</strong>nerungen von Zeitzeugen denke, wie sie das Laubhüttenfest<br />

oder Simchat Tora im Hofe des Rebben Israel Friedmann gefeiert<br />

haben. Auch auf die Rituale <strong>in</strong> den Familien könnte dort e<strong>in</strong>gegangen<br />

werden. Musikausübung ist ja etwas sehr Vielfältiges,<br />

Komplexes. Sie äußert sich nicht nur <strong>in</strong> Kompositionen und Noten.<br />

8


Musik ist vor allem Lebensäußerung. Und entsprechend verbun-<br />

den mit den unterschiedlichsten Bereichen des Alltags. Ich möchte<br />

aber nicht vorgreifen, das s<strong>in</strong>d nur me<strong>in</strong>e persönlichen Gedanken.<br />

Wäre e<strong>in</strong> solches Angebot nicht auch e<strong>in</strong>e große Hilfe für<br />

Interpreten?<br />

T.S.: Ganz gewiss. Und zwar nicht nur <strong>in</strong> re<strong>in</strong> praktischem S<strong>in</strong>ne,<br />

<strong>in</strong>dem dort H<strong>in</strong>weise auf Werke und Quellen gegeben werden.<br />

Vor allem erhoffe ich mir, dass die Kontextbetrachtungen zu<br />

e<strong>in</strong>em differenzierteren Verständnis beitragen. Me<strong>in</strong>es Erachtens<br />

wird noch viel zu oft e<strong>in</strong> pauschaler Standpunkt e<strong>in</strong>genommen,<br />

zum Beispiel alle<strong>in</strong> die Perspektive der Verfolgung. Dieser<br />

Blickw<strong>in</strong>kel äußert sich nicht selten bei Konzerten mit Werken<br />

„jüdischer“ Komponisten. Ich frage mich, ob nicht solche<br />

unbestritten gut geme<strong>in</strong>ten Veranstaltungen e<strong>in</strong> weiteres Mal<br />

verh<strong>in</strong>dern, dass die Betroffenen vorrangig als menschliche<br />

Individualitäten und nicht zu allererst als <strong>Juden</strong> gesehen werden.<br />

Besonderszwiespältigempf<strong>in</strong>deich<strong>in</strong>diesemZusammenhange<strong>in</strong>e<br />

CD-Reihe mit dem Titel „Entartete Musik“. Gewiss, das Anliegen ist<br />

e<strong>in</strong> Lobenswertes. Die Initiatoren wollen, das lässt sich nachlesen,<br />

zur Wiederentdeckung verfolgter Komponisten beitragen. Aber<br />

ich glaube, dass mit solchen „Aufarbeitungsmarken“, mit solchen<br />

„Schubkästen“ die ursprüngliche Absicht eher verh<strong>in</strong>dert wird,<br />

nämlich e<strong>in</strong>e Integration <strong>in</strong>s Kulturleben. – Sehr zum Nachdenken<br />

gebracht hat mich <strong>in</strong> diesem Zusammenhang das Buch „E<strong>in</strong><br />

ganz gewöhnlicher Jude“ von Charles Lew<strong>in</strong>ski. Und ebenso e<strong>in</strong><br />

Gedanke von Coco Schumann, dem Gitarristen, der das „Ghetto“<br />

Theresienstadt und die KZs Auschwitz und Dachau überlebt hat: „Ich<br />

9


<strong>in</strong> Musiker. E<strong>in</strong> Musiker, der im KZ gesessen hat, ke<strong>in</strong> KZler, der<br />

Musik macht.“ Dass er so lange nicht über se<strong>in</strong> Schicksal sprechen<br />

konnte, hatte se<strong>in</strong>en Grund nicht alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Unbegreifbarkeit der<br />

Geschehnisse. Er hatte „Angst vor der Betroffenheit“, bekennt er.<br />

Angst „vor der E<strong>in</strong>samkeit, die e<strong>in</strong> solches Schicksal mit sich br<strong>in</strong>gt“.<br />

Du erwähntest vorh<strong>in</strong> das Stichwort „Remigration“? Gab es denn<br />

Musiker, die 19 5 oder später nach Leipzig zurückgekehrt s<strong>in</strong>d?<br />

T. S.: Zum e<strong>in</strong>en Barnet Licht, e<strong>in</strong> namhafter Chorleiter, zugleich noch<br />

sehr viel mehr: Leiter der Musikabteilung des Arbeiter-Bildungs-<br />

Vere<strong>in</strong>s, Musikpublizist, nach 1933 im Jüdischen Kulturbund aktiv.<br />

Er sah se<strong>in</strong>en Platz <strong>in</strong> Leipzig, musste zuletzt <strong>in</strong> <strong>Juden</strong>häusern<br />

leben und ist 19 5 noch nach Theresienstadt deportiert worden.<br />

1951 ist er schwerkrank <strong>in</strong> Leipzig gestorben. Zum anderen die<br />

Geiger<strong>in</strong> Mirjam Zunser. Sie hatte <strong>in</strong> Leipzig und Dresden studiert,<br />

<strong>in</strong> Dresden u. a. bei Carl Flesch und Adolf Busch. In der Zeit der<br />

Ausgrenzung war sie <strong>in</strong> Konzerten des jüdischen Kulturbundes<br />

tätig, u. a. Konzertmeister<strong>in</strong> des „Collegium musicum jüdischer<br />

Musikliebhaber“. Dann ist sie <strong>in</strong>s Exil gegangen, die Informationen<br />

widersprechen sich, offenbar ist sie zunächst nach England und<br />

dann weiter nach Amerika gegangen. Über ihr Wirken <strong>in</strong> den USA<br />

las ich jüngst Aufschlussreiches <strong>in</strong> Verena Bopps Studie: „Mailamm<br />

1932– 19 1. Die Geschichte e<strong>in</strong>er Vere<strong>in</strong>igung zur Förderung<br />

jüdischer Musik <strong>in</strong> den USA“. E<strong>in</strong>e Lehrkraft der Musikhochschule,<br />

die ich vor e<strong>in</strong>igen Jahren nach ihr fragte, er<strong>in</strong>nerte sich noch an<br />

sie und berichtete, sie sei Lehrbeauftragte an der Musikhochschule<br />

gewesen. Ich ents<strong>in</strong>ne mich, ihren Namen im Hochschul-Archiv<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Liste für e<strong>in</strong> studentisches Vorspiel oder e<strong>in</strong>e Prüfung<br />

10


gelesen zu haben. Irgendwann hat sie Leipzig e<strong>in</strong> zweites Mal<br />

verlassen, dieses Mal gen Wien. Aber ich weiß leider viel zu wenig<br />

über sie.<br />

Du hast ja selber mehrere Arbeiten zum Thema „Jüdische<br />

Musiker <strong>in</strong> Leipzig“ veröffentlicht, Artikel und Bücher. Welche s<strong>in</strong>d<br />

dir selber am wichtigsten?<br />

11


T. S.: Aus allen Versuchen, mich zum Thema zu äußern, habe ich<br />

sehr viel gelernt. Alle Arbeiten haben mich menschlich, glaube ich,<br />

sehr geprägt. Sie haben mich vor allem zu e<strong>in</strong>er Grunde<strong>in</strong>stellung<br />

geführt: Mir ist es völlig gleich, welcher Religion, welcher Herkunft<br />

e<strong>in</strong> Mensch ist, ob er/sie schwarze oder weiße Hautfarbe, blonde<br />

oder rote Haare hat; für mich zählt die Individualität, zählen die<br />

menschlichen Werte, und ich b<strong>in</strong> neugierig auf me<strong>in</strong> Gegenüber,<br />

se<strong>in</strong>e Gedanken, se<strong>in</strong>e Erfahrungen. Mich ärgert sehr, wenn<br />

Menschengruppen gegene<strong>in</strong>ander ausgespielt werden und es<br />

empört mich, wenn sich Mitmenschen über andere Kulturen oft<br />

sehr pauschal äußern, ohne auch nur Elementares zu wissen – und<br />

was ich noch schlimmer f<strong>in</strong>de, auch nichts anderes wissen wollen.<br />

– Als ich das letzte Mal <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em Büro war, s<strong>in</strong>d mir Fotos von<br />

zwei Tafeln aufgefallen, an denen ich bislang leider vorbeigelaufen<br />

b<strong>in</strong>. Mich bee<strong>in</strong>druckt, wie mit den beiden Tafeln Er<strong>in</strong>nerung und<br />

Hoffnung verbunden werden, Er<strong>in</strong>nerung an die 1938 zerstörte<br />

Ez-Chaim-Synagoge, und die Hoffnung: „DIE WÜRDE DEINES<br />

NÄCHSTEN SEI DIR SO KOSTBAR WIE DEINE EIGENE.“ Dieser<br />

Satz spricht mir sehr aus dem Herzen …<br />

… Aber du fragtest: Welche Arbeiten mir selber am wichtigsten<br />

s<strong>in</strong>d … Es s<strong>in</strong>d Projekte mit Schülern und Studenten, die ich e<strong>in</strong><br />

wenig mit begleiten und betreuen durfte. Der Kontakt zu jungen<br />

Menschen, der Weg an Schulen hat mir enorm die Augen für viele<br />

Fragen geöffnet. Der 65. Mittelschule, der Georg-Schumann-<br />

Mittelschule, dem Immanuel-Kant-Gymnasium und vielen Leipziger<br />

Studenten b<strong>in</strong> ich unendlich dankbar für Erfahrungen, die ich bei<br />

ihnen sammeln durfte. Ich habe bei ihnen viele Möglichkeiten für<br />

mich entdeckt.<br />

12


Zum Beispiel?<br />

T.S.: Wie sich geschichtliche Themen – beispielsweise durch<br />

Theaterspielen, musikalische Erlebnisse, bildnerische oder<br />

dichterische Arbeiten – mit eigenen Lebenserfahrungen verb<strong>in</strong>den<br />

lassen. Wiederholt hatten wir Zeitzeugen zu Gast gehabt und<br />

bewegende menschliche Gespräche, wunderbare Gespräche. Vor<br />

allem wenn der Rahmen ke<strong>in</strong> „offizieller“ war. Vielleicht war dieses<br />

Mite<strong>in</strong>ander-Sprechen, der Gedankenaustausch von Generation<br />

zu Generation, das Allerwichtigste, damit auch die Erkenntnis, wir<br />

brauchen uns gegenseitig, und e<strong>in</strong> Leben ist nur durch beständige<br />

Kommunikation möglich, durch Aufe<strong>in</strong>ander-Zugehen, gerade<br />

auch zwischen verschiedenen Kulturen. Was der „großen Politik“<br />

so oft nicht gel<strong>in</strong>gt, Frieden zwischen den Menschen zu stiften, im<br />

Kle<strong>in</strong>en, im Alltag sehe ich es für möglich, wenn wir uns <strong>in</strong> unserem<br />

eigenen Lebensraum darum bemühen, <strong>in</strong> der Art und Weise, wie<br />

wir mite<strong>in</strong>ander umgehen, anderen Menschen offen begegnen,<br />

egal wo sie herstammen. Dazu gehört es me<strong>in</strong>es Erachtens auch,<br />

Probleme zu artikulieren, die wir spüren, aber bitte mite<strong>in</strong>ander<br />

und nicht übere<strong>in</strong>ander oder gegene<strong>in</strong>ander.<br />

Dort beg<strong>in</strong>nt, f<strong>in</strong>de ich, auch die Frage nach persönlicher<br />

Verantwortung, die Geschichte immer e<strong>in</strong>schließt, <strong>in</strong> der<br />

Vergangenheit wie <strong>in</strong> der Gegenwart. Oft denke ich an e<strong>in</strong>en Satz,<br />

den vor e<strong>in</strong>igen Jahren Anita Lasker-Wallfisch, Überlebende der<br />

KZs Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen, Leipziger Schülern<br />

mit auf den Weg gegeben hat: „Ihr seid nicht für die Vergangenheit<br />

verantwortlich, aber für die Gegenwart und Zukunft.“ Diese<br />

Verantwortung gilt es täglich neu zu leben – im Alltag: Wie<br />

reagieren wir, ne<strong>in</strong>: Wie reagiere ich auf me<strong>in</strong>e Mitmenschen?<br />

13


Gehe ich auf sie zu, suche ich das Gespräch? B<strong>in</strong> ich offen für ihre<br />

Gedanken, für die Kultur, die sie leben? Verteidige ich sie, wenn<br />

ihnen Unrecht geschieht? Oder schaue ich weg? Habe ich selber<br />

Vorbehalte gegen Menschen? Haben me<strong>in</strong>e Nachbarn, me<strong>in</strong>e<br />

Bekannten welche? Wenn ja, was tue ich gegen sie? Diskutiere<br />

ich oder schweige ich? Engagiere ich mich für Aufklärung? Denn<br />

Vorbehalte haben ja oft vor allem mit Unwissen zu tun und – wie<br />

vorh<strong>in</strong> schon erwähnt – leider auch oft mit Nicht(anders)wissenw<br />

ollen. Übrigens würde ich an Schulen die Fächer musikalische<br />

Improvisation und „gewaltfreie Kommunikation“ e<strong>in</strong>führen …<br />

überhaupt mehr Kulturtechniken vermitteln, dafür anderes<br />

weglassen. Aber das alles s<strong>in</strong>d jetzt noch sehr unausgegorene<br />

Gedankensplitter.<br />

Auf e<strong>in</strong>e de<strong>in</strong>er Arbeiten möchte ich aber konkret e<strong>in</strong>gehen:<br />

199 hast du e<strong>in</strong> Buch „Musikstadt Leipzig im NS-Staat“<br />

herausgegeben, e<strong>in</strong>e Sammlung von Aufsätzen verschiedener<br />

Autoren, darunter Studenten. Planst du e<strong>in</strong>e Neuauflage oder<br />

e<strong>in</strong>en neuen Band?<br />

T. S.: Der Gedanke e<strong>in</strong>es neuen Bandes zum Thema beschäftigt<br />

mich schon sehr lange. Von 200 bis 200 war ich am Institut<br />

für Musikwissenschaft tätig und hatte mir fest vorgenommen,<br />

während dieser Zeit e<strong>in</strong>e weitere Aufsatzsammlung zum Thema<br />

auf den Weg zu br<strong>in</strong>gen. Es s<strong>in</strong>d während dieser Zeit etliche<br />

Arbeiten und Recherchen entstanden, aber mir ist auch bewusst<br />

geworden, dass e<strong>in</strong> solches Projekt viel mehr Zeit benötigt.<br />

Manche Themen begannen nach den drei Jahren und <strong>in</strong>tensiven<br />

Recherchen überhaupt erst allmählich Kontur anzunehmen; von<br />

1


e<strong>in</strong>igen mussten wir uns auch verabschieden. Zugleich muss ich<br />

selbstkritisch sagen, dass ich mich damals noch mit so vielen<br />

weiteren Themen beschäftigt und me<strong>in</strong>e Kapazitäten auch e<strong>in</strong><br />

ganzes Stück weit überschätzt habe.<br />

Manchmal br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>en ja etwas Abstand auf neue Ideen und Re<br />

alisierungsmöglichkeiten. Ich wäre auch jederzeit offen, wenn mir<br />

e<strong>in</strong> anderer Wissenschaftler sagen würde, ich habe Kapazitäten,<br />

das Vorhaben aufzugreifen, lass uns austauschen … Jederzeit.<br />

Wie sollte, wie soll dieser Band aussehen?<br />

T. S.: Vor allem sollten möglichst vielfältige musikalische Bereiche<br />

erfasst werden, breiter noch als im ersten Band. Der Jazz sollte<br />

ebenso bedacht werden wie Posaunenchöre, Musikverlage<br />

gleichermaßen wie Kantoren <strong>in</strong> den Vorortkirchen und Synagogen,<br />

Musikalienhandlungen genauso wie die Konzertagentur Arthur<br />

Ehrlich, die Mitglied des „Reichsverbandes der Jüdischen<br />

Kulturbünde“ war. Wir wollten unterschiedliche Veranstaltungsorte<br />

aufsuchen: das Völkerschlachtdenkmal, ab 19 0 mit eigenem Chor,<br />

das Gohliser Schlösschen, damals von der NS-Kulturgeme<strong>in</strong>de,<br />

später der NS-Geme<strong>in</strong>schaft „Kraft durch Freude“ genutzt, den<br />

Krystallpalast, das Battenberg-Theater, die „Carlebach-Schule“,<br />

Parks mit Freiluftmusik und private Wohnungen. Auch Cafés<br />

und Restaurants, e<strong>in</strong> Thema, das sich als besonders schwer<br />

zu recherchieren erwies. Natürlich sollte der Band wiederum<br />

verschiedene Lebenswege nachvollziehen, besteht doch jedes<br />

Gesellschaftssystem aus E<strong>in</strong>zelpersonen, die sich <strong>in</strong> dieser oder<br />

jener Weise verhalten. Wir wollten uns der Musikpädagogik <strong>in</strong> jener<br />

Zeit widmen: der Lehrer-Ausbildung, dem Unterricht an Schulen,<br />

15


aber auch dem Wirken privater Gesangs- und Instrumentallehrer.<br />

Es sollte auch Beiträge geben über Musik und Gewalt, Musik als<br />

Lebenshilfe, über die Entnazifizierungsprozesse, Remigration<br />

und Fragen der Aufarbeitung, darunter über die so oft gespaltene<br />

Wahrnehmung nach künstlerischen Kriterien e<strong>in</strong>erseits und<br />

menschlichem Verhalten andererseits („aber er war doch so e<strong>in</strong><br />

bedeutender Künstler …“). Doch das ist – wie gesagt – vorläufig<br />

Zukunftsmusik geworden …<br />

Welches s<strong>in</strong>d de<strong>in</strong>e jüngsten Arbeiten und welche Vorhaben hast<br />

du?<br />

T. S.: Sehr am Herzen liegt mir von den jüngsten Arbeiten e<strong>in</strong><br />

kle<strong>in</strong>er Versuch über Erw<strong>in</strong> Schulhoff. Eigentlich ist es e<strong>in</strong>e<br />

persönliche Annäherung, mit vielen Fragen. Entstanden ist sie<br />

für den engagierten Pianisten Tilmann Loeser, der wunderbare<br />

Projekte plant – Projekte, die Musik und Menschlichkeit als zwei<br />

Seiten e<strong>in</strong>er Medaille vermitteln. Was mich an diesem Musiker<br />

so fasz<strong>in</strong>iert, dass er mit jedem Werk aufs Neue zu überraschen<br />

verstand, politische Wachheit besaß, zu <strong>in</strong>tegrieren suchte, sich<br />

selber immer wieder <strong>in</strong> Frage stellte, allen Schubkästen widersprach<br />

(auch sich selber). – Welche Vorhaben habe ich? Zunächst möchte<br />

ich e<strong>in</strong>e „Sabbath-Zeit“ e<strong>in</strong>legen, e<strong>in</strong> Jahr, vielleicht auch zwei. Ich<br />

möchte e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong>nehalten. Möchte vieles neu bedenken, lesen,<br />

angesammelte Gedanken e<strong>in</strong>fach für mich aufschreiben, ohne<br />

Veröffentlichungs-Erwartung. Möchte lernen und dabei manche<br />

Scheuklappe verlieren. Ich bef<strong>in</strong>de mich weiter auf der Suche …<br />

(Das Gespräch führte Petra Dehmel)<br />

16


Rezension<br />

Wanderer zwischen den Welten<br />

E<strong>in</strong>e bewegende Monografie über Eddie (Ady) Rosner<br />

und se<strong>in</strong>e Zeit<br />

Gertrud Pickhan und Maximilian Preisler: Von Hitler vertrieben,<br />

von Stal<strong>in</strong> verfolgt. Der Jazzmusiker Eddie Rosner. Berl<strong>in</strong>-<br />

Brandenburg 2010: be.bra wissenschaft verlag GmbH<br />

Über Eddie (Ady) Rosner (1910–19 6) wusste ich bislang nur<br />

Bruchstücke. Dazu gehört e<strong>in</strong>e Begegnung mit dem Komponisten<br />

Mieczysław We<strong>in</strong>berg (1919–1996). We<strong>in</strong>berg, Pole jüdischer<br />

Herkunft, war 1939 mit se<strong>in</strong>er jüngeren Schwester aus Warschau<br />

geflohen. Die Schwester hatte den Marsch nicht lange durchhalten<br />

können und mit wund gescheuerten Füßen zu den Eltern<br />

zurückkehren müssen. Ihr Bruder war alle<strong>in</strong>e weitergegangen<br />

und nach e<strong>in</strong>er Odyssee <strong>in</strong> die Sowjetunion gelangt. Über das<br />

Schicksal se<strong>in</strong>er Familie konnte er lange Zeit nichts erfahren,<br />

bis er – offenbar 19 2 – Rosner <strong>in</strong> Taschkent traf. Der Musiker,<br />

der gerade <strong>in</strong> der usbekischen Hauptstadt gastierte und e<strong>in</strong>ige<br />

Wochen länger <strong>in</strong> Warschau gelebt hatte, wusste zu berichten,<br />

dass We<strong>in</strong>bergs Angehörige aus Warschau deportiert worden<br />

waren …<br />

Ob sich beide Musiker später noch wieder begegnet s<strong>in</strong>d, weiß ich<br />

nicht. Inzwischen ist mir aber bewusst geworden, wie viele verwandte<br />

Momente das Schicksal beider Künstler – bei aller Individualität<br />

– aufweist. Die Flucht vor den Nazis, der Weg von Polen <strong>in</strong> die<br />

1


Sowjetunion, die Haft <strong>in</strong> der Sowjetunion, die Sehnsucht nach<br />

Freiheit und ihre Suche nach Identität nicht nur zwischen Welten,<br />

sondern auch Fronten, das s<strong>in</strong>d Prozesse, die ihre Lebenswege<br />

verb<strong>in</strong>det. Dazu gehört wohl auch die Rezeptionsgeschichte. Ihr<br />

Leben und ihre Musik – zwei Seiten e<strong>in</strong>er Medaille – lassen sich<br />

nicht auf e<strong>in</strong>e Formel br<strong>in</strong>gen.<br />

Diese Erfahrung vermitteln grundlegende Monografien von 2010.<br />

Was bei We<strong>in</strong>berg neben dem Team e<strong>in</strong>es Themenheftes der<br />

Zeitschrift „Osteuropa“ vor allem David Fann<strong>in</strong>g leistet, bleibt im<br />

Falle Rosners Gertrud Pickan und Maximilian Preisler zu verdanken:<br />

e<strong>in</strong>e aufwendig recherchierte, ebenso spannend wie e<strong>in</strong>fühlsam<br />

geschriebene Monografie. Ich habe die 150 Seiten gleich zweimal<br />

h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>ander gelesen und danach erneut <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Abschnitten<br />

gestöbert. Bei jeder Lektüre hatte ich das Gefühl, dass sich mir<br />

neue Facetten der bewegten Lebensgeschichte erschließen.<br />

Das liegt nicht zuletzt dar<strong>in</strong>, dass die Autoren immer wieder e<strong>in</strong><br />

lebendiges Bild der Zeitumstände und der Orte zeichnen, die den<br />

Entwicklungsweg des Musikers so nachhaltig geprägt haben.<br />

So wird der Leser <strong>in</strong>s Berl<strong>in</strong>er „Scheunenviertel“ geführt, <strong>in</strong> dem<br />

Rosner aufwuchs und Armut gleichermaßen herrschte wie „es zu<br />

stark antisemitisch gefärbten Übergriffen“ kam (S. 16). Ebenso<br />

erfährt der Leser über die Glanzzeiten der „Weimarer Republik“,<br />

die sich nicht zuletzt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em schillernden Unterhaltungsbetrieb<br />

spiegelten.<br />

Er darf e<strong>in</strong>tauchen <strong>in</strong> die Welt der Tanzlokale und Revuetheater. Er<br />

erfährt, was die Menschen damals so fasz<strong>in</strong>ierte an Ensembles wie<br />

den legendären „We<strong>in</strong>traub Syncopators“, deren Mitglied Rosner<br />

war. Und ihm wird die oft wechselvolle Geschichte von Gebäuden<br />

deutlich, an denen Musikgeschichte geschrieben wurde. Dazu<br />

18


gehört das „Verb<strong>in</strong>dungshaus des Brüdervere<strong>in</strong>es“, <strong>in</strong> dem die<br />

legendären „We<strong>in</strong>traub Syncopators“ ihren ersten Auftritt hatten.<br />

1939 wurde es enteignet, „seitdem befand sich das sogenannte<br />

‚Umsiedlungsreferat’ des Reichssicherheitshauptamtes’“ <strong>in</strong> ihm,<br />

ab 19 1 „‚<strong>Juden</strong>referat’ genannt“ (S. 26).<br />

Damals hatten die „We<strong>in</strong>traubs“ längst Deutschland verlassen,<br />

Richtung Westen: zunächst <strong>in</strong> die Niederlande, mit Rosner, dann<br />

nach Italien, nun ohne Rosner, der fortan se<strong>in</strong>e eigenen Wege<br />

suchte. Wechselvoll verlief die Existenz im Exil, oft von Augenblick<br />

zu Augenblick, zwischen künstlerischen Erfolgen und der Suche<br />

nach e<strong>in</strong>em Lebensort: „Als Ende des Jahres 1935 die belgischen<br />

bzw. holländischen Behörden Rosners Visum nicht verlängerten,<br />

g<strong>in</strong>g der heimatlose Musiker nach Polen“ (S. 2), bis die Deutschen<br />

e<strong>in</strong>marschierten. Gerade frisch verheiratet, erlebte er mit se<strong>in</strong>er<br />

Frau, deren Er<strong>in</strong>nerung zufolge, „die Bombardierung Warschaus<br />

[…] unter e<strong>in</strong>em Piano im Nachtclub Esplanade“ (S. 63). Kurze<br />

Zeit später erneut Flucht, diesmal Richtung Osten, <strong>in</strong> „sowjetisch<br />

besetztes Gebiet“, erfüllt von der Hoffnung, „nun endlich <strong>in</strong> der<br />

Freiheit angekommen zu se<strong>in</strong>“. Die Realität <strong>in</strong>des war e<strong>in</strong>e<br />

andere, auch wenn Rosner „<strong>in</strong>nerhalb kürzester Zeit […] vom<br />

mittellosen Flüchtl<strong>in</strong>g zum ‚Superstar’“ aufsteigen konnte, „der e<strong>in</strong><br />

Massenpublikum zu Begeisterungsstürmen h<strong>in</strong>riss“ (S. 65).<br />

Gertrud Pickhan und Maximilian Preisler erhellen e<strong>in</strong>erseits,<br />

<strong>in</strong> welchem Spannungsfeld sich der Jazz befand – zwischen<br />

Verteufelung und Verteidigung, zwischen dem Vorwurf „bürgerlicher<br />

Dekadenz“ und Funktionalisierung im S<strong>in</strong>ne von „sozialistischer<br />

Volkskultur“. (Das Etikett „Rotes Zeitalter des Jazz“ wird me<strong>in</strong>es<br />

Erachtens der Vielschichtigkeit der Rezeption, die äußerlich<br />

betrachtet der Situation des Jazz im NS-Staat nicht unähnlich ist,<br />

19


allerd<strong>in</strong>gs kaum gerecht, vgl. S. 69.) Andererseits wird deutlich, was<br />

es bedeutete, <strong>in</strong> die Fänge des „Gulag-Systems“ zu gelangen.<br />

Die Autoren zeichnen anhand e<strong>in</strong>er Vielzahl von Quellen – darunter<br />

Verhörprotokollen, Petitionen und Lagerberichten aus dem<br />

Regionalarchiv Kolyma (S. 90) sowie Zeitzeugen-Überlieferungen<br />

– Rosners Weg <strong>in</strong> und durch die stal<strong>in</strong>istischen Lager nach.<br />

Erneut g<strong>in</strong>g es, der „Willkür und Irrationalität“ (S. 93) und vor allem<br />

Brutalität unberechenbarer Funktionäre ausgeliefert, zudem unter<br />

„Extrembed<strong>in</strong>gungen“ im Alltag (S. 103), ums bloße Überleben. Die<br />

Musik half ihm dabei. Rosner war „Leiter e<strong>in</strong>er Kulturbrigade“, die für<br />

die Unterhaltung des Lagerpersonals sorgen musste. Dafür waren<br />

die beteiligten Musiker „von schwerer körperlicher Arbeit befreit“<br />

und erhielten meist bessere „Unterkunft und Verpflegung“. Zudem<br />

konnte Rosner komponieren: Neben offiziellen Auftragswerken<br />

entstanden auch private Musikstücke – für se<strong>in</strong>e Frau und se<strong>in</strong>e<br />

Tochter …<br />

Bis zum Juni 195 blieb Rosner gefangen. Nach der Freilassung<br />

konnte er, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er „Tauwetter“-Periode, an se<strong>in</strong>e früheren Erfolge<br />

wieder anknüpfen und <strong>in</strong> Moskau unter privilegierten Verhältnissen<br />

leben, auch wenn ihm die „Aufnahme <strong>in</strong> den prestigereichen<br />

Komponistenverband verwehrt blieb“ (S. 119). 1962 empf<strong>in</strong>g er <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Wohnung den berühmten Benny Goodman.<br />

19 3 führte se<strong>in</strong> Weg wieder nach Deutschland, zunächst erneut<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Lager, das „Durchgangslager“ Friedland, dann nach<br />

Berl<strong>in</strong>. Es wurde ke<strong>in</strong>e Rückkehr, sondern – wie die Autoren <strong>in</strong><br />

der Kapitelüberschrift (S. 128) treffend charakterisieren – „e<strong>in</strong>e<br />

Heimkehr <strong>in</strong> die Fremde“, auch musikalisch. Drei Jahre später<br />

starb er.<br />

Viel habe ich aus dem höchst anregenden Buch gelernt: über<br />

20


Rosner, über se<strong>in</strong>e Zeit und die Rezeptionsgeschichte, über viele<br />

Zeitgefährten, deren Spuren Gertrud Pickhan und Maximilian<br />

Preisler <strong>in</strong> zahlreichen Exkursen verfolgen. Und mir ist e<strong>in</strong>mal<br />

mehr deutlich geworden, wie wichtig es ist, Dokumente aus ihrem<br />

Kontext heraus zu begreifen.<br />

Dass zur Musik Rosners ke<strong>in</strong>e detaillierten Analysen ersche<strong>in</strong>en,<br />

sehe ich nicht als Mangel, im Gegenteil: Die so prägnant<br />

dargestellten Kontexte wecken, ergänzt durch grundsätzliche<br />

Orientierungspunkte, Neugier auf die Musik. Der eigene E<strong>in</strong>druck<br />

anhand von Schallplatten und diversen Zusammenstellungen auf<br />

CDs dürfte nachhaltigere Erfahrungen gestatten als m<strong>in</strong>utiöse<br />

musiktheoretische Erläuterungen.<br />

Während ich diese Zeilen schreibe, höre ich „Let it ra<strong>in</strong> let it<br />

pour“, im Arrangement von Fud Candrix, mit Rosner und se<strong>in</strong>em<br />

Orchester, 1938 <strong>in</strong> Paris aufgenommen und „auf dem deutschen<br />

Label der Columbia“ erschienen (S. 5 ). Ich stelle mir vor, wie<br />

die „Sw<strong>in</strong>gkids“ diesen Titel damals <strong>in</strong> Schallplattenabteilungen<br />

aufgespürt und – allen offiziellen Verlautbarungen zum Trotz –<br />

gehört, ne<strong>in</strong>: gelebt haben. Und ich spüre, wie ich anfange, mit<br />

dem Körper zu mitzusw<strong>in</strong>gen …<br />

Thomas Sch<strong>in</strong>köth, 1.9.<strong>2011</strong>, 0.12 Uhr<br />

P. S.: Bei der nächsten Auflage würde ich mir am Ende des<br />

Buches noch e<strong>in</strong> Register wünschen. Und ich würde noch öfter<br />

zu dem Buch greifen – versprochen.<br />

21


Adriana Altaras: Titos Brille. Die Geschichte me<strong>in</strong>er<br />

strapaziösen Familie<br />

Adriana Altaras‘ „Titos Brille“ ist e<strong>in</strong> kurzweiliger Roman über das<br />

Leben der Autor<strong>in</strong> und ihr Verhältnis zu den lebenden sowie den<br />

verstorbenen Mitgliedern ihrer Familie und zum <strong>Juden</strong>tum. Auto-<br />

biographisch schildert die Ich-Erzähler<strong>in</strong> zunächst, wie sie mit vier<br />

Jahren aus Zagreb, ihrer Geburtsstadt, nach Italien zu ihrer Tante<br />

zog und später bei ihren Eltern <strong>in</strong> Gießen und im Waldorf<strong>in</strong>ternat<br />

wohnte. Alles fühlt sich für sie anders an als bei „normalen<br />

Deutschen“, da sie als Jüd<strong>in</strong> mit deutschen Wurzeln mit der Gegenwärtigkeit<br />

und den Spätfolgen des Holocaust auf harte und<br />

bizarre Weise immer wieder konfrontiert wird. Als Altaras‘ Eltern<br />

sterben, ihre Mutter folgt dem Vater ziemlich schnell <strong>in</strong> den Tod,<br />

ist sie geme<strong>in</strong>sam mit ihrer Halbschwester mit dem Nachlass und<br />

den Haushaltsauflösungen beschäftigt.<br />

Sie ist darüber bestürzt, dass sich <strong>in</strong> der Wohnung ihrer Eltern <strong>in</strong><br />

den dreißig Jahren, die sie <strong>in</strong> Gießen lebten, e<strong>in</strong>e Unmenge von<br />

D<strong>in</strong>gen und Dokumenten angesammelt hatte. Höchstwahrsche<strong>in</strong>lich<br />

als e<strong>in</strong>e Spätfolge der Erfahrung der Not hatten die Eltern alles<br />

Mögliche aufbewahrt, oft <strong>in</strong> mehrfacher Ausführung. Der Satz:<br />

„Wer wegwirft, ist Faschist“ begleitet sie bei den langwierigen Aufräum-<br />

und Sortierarbeiten <strong>in</strong> der Wohnung ihrer Eltern permanent.<br />

Zudem warten noch e<strong>in</strong> seit mehreren Jahrzehnten geführtes<br />

Restitutionsverfahren wegen des e<strong>in</strong>stigen Familienbesitzes <strong>in</strong><br />

Zagreb sowie zahlreiche Familienfotos e<strong>in</strong>es offensichtlich bislang<br />

unbekannten Bruders auf Recherche. Während Altaras <strong>in</strong> der Vergangenheit<br />

kramt und sich emotional daran abarbeitet, entwickelt<br />

22


sie darüber h<strong>in</strong>aus noch e<strong>in</strong>e Stauballergie. Das, was sie dann<br />

noch f<strong>in</strong>det, lässt ihr noch weniger Ruhe. Es s<strong>in</strong>d die Anträge ihrer<br />

Mutter für die deutsche Staatsangehörigkeit. Diese überdauern e<strong>in</strong>en<br />

Zeitraum von mehreren Jahren, <strong>in</strong> denen die Mutter immer<br />

wieder und sehr ausführlich erklären muss, wann und wo sie im<br />

KZ war. Für e<strong>in</strong>e traumatisierte Person muss das sehr erniedrigend<br />

gewesen se<strong>in</strong>.<br />

Aber was Altaras beim Lesen am meisten auffällt und sie emotional<br />

fast zermürbt, ist der unterwürfige, erklärende und rechtfertigende<br />

Tonfall, <strong>in</strong> dem ihre Mutter sich dem deutschen Staat anbiedert.<br />

„Me<strong>in</strong> Gott! Man hätte doch diesen gebeutelten Nachkriegskreaturen<br />

alle<strong>in</strong> aus Dankbarkeit, dass sie überhaupt wieder deutschen<br />

Boden betraten, die Staatsbürgerschaft h<strong>in</strong>terhertragen müssen!<br />

Sie großzügig e<strong>in</strong>laden, sie auf Knien bitten, <strong>in</strong> Deutschland zu<br />

bleiben, statt sie mit zentnerschweren Anträgen erneut zu demütigen!<br />

(...) Ich schäme mich so sehr.“ 1<br />

Adriana Altaras selbst lebt mit e<strong>in</strong>em Nichtjuden zusammen, der<br />

obendre<strong>in</strong> sehr „arisch“ aussieht, und hat mit ihm zwei Söhne, die<br />

jüdisch erzogen werden. Mit ihrem jüdischen Freund Raffi hat sie<br />

seit Jahren e<strong>in</strong>e Wette laufen, ob e<strong>in</strong>e Liebesbeziehung zu <strong>Juden</strong><br />

oder zu Nichtjuden erfüllender bzw. glücklicher sei. Raffi hat<br />

ke<strong>in</strong> Glück bei den jüdischen Frauen, viele seien kompliziert. Sie<br />

reist viel, um die noch lebenden Familienmitglieder und Freunde<br />

ihrer Eltern, die zum Teil <strong>in</strong> aller Welt verstreut s<strong>in</strong>d, zu besuchen.<br />

Wenn sie zu Hause ist, muss sie sich mit ihren „Dibbuks“ ause<strong>in</strong>andersetzen<br />

und unterhalten. Dibbuks s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der jüdischen Religion<br />

die Geister von Toten, die bei Lebenden Unterschlupf suchen,<br />

solange sie noch ke<strong>in</strong>en Frieden gefunden haben. Zudem<br />

1 S. 167<br />

23


echnet Altaras <strong>in</strong> „Titos Brille“ mit dem rückwärtsgewandten, Re-<br />

formen ablehnenden orthodoxen <strong>Juden</strong>tum ab. Sie, als Frau, fühlt<br />

sich diskrim<strong>in</strong>iert, nennt es gar „chauv<strong>in</strong>istisch“. In Berl<strong>in</strong> gäbe es<br />

zehn Synagogen, die das Spektrum von Liberal bis Ultra-orthodox<br />

ausfüllen. Eigentlich ist sie Mitglied <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er liberalen Geme<strong>in</strong>de,<br />

aber für die kostenaufwendige und wie sie sagt, sehr konsumori-<br />

entierte Bar-Mizwa ihres 13-jährigen Sohnes muss sie zu e<strong>in</strong>em<br />

orthodoxen Rabb<strong>in</strong>er gehen, der dann auch noch die über Ge-<br />

nerationen weitergereichte Tefill<strong>in</strong> für nicht koscher erklärt. Diese<br />

Kritik am <strong>Juden</strong>tum, so sche<strong>in</strong>t es schließlich, darf sich dennoch<br />

nur e<strong>in</strong> Jude bzw. e<strong>in</strong>e Jüd<strong>in</strong> erlauben. Sie weiß auch am besten,<br />

wovon sie spricht. Ganz nebenbei erklärt die Autor<strong>in</strong> <strong>in</strong> ihrem Buch<br />

die wichtigsten Regeln und H<strong>in</strong>tergründe der jüdischen Religion,<br />

was besonders für unkundige Nichtjuden <strong>in</strong>teressant ist. Nach der<br />

Lektüre des Romans hat man viele neue Kenntnisse rund um das<br />

Thema <strong>Juden</strong>tum gewonnen.<br />

Gegen Ende des Romans verkauft sie schließlich schweren Her-<br />

zens die Goldzähne ihrer Mutter, um das f<strong>in</strong>anzielle Loch zu stop-<br />

fen, das wegen der Bar-Mizwa entstanden ist. Ihre Mutter hatte<br />

die Zähne wohlwissentlich zurückgelegt. Die Autor<strong>in</strong> er<strong>in</strong>nert sich<br />

natürlich an den Holocaust und die Bilder der gestohlenen Zähne<br />

der sechs Millionen Opfer. All das begleitet sie ja doch e<strong>in</strong> Leben<br />

lang. Und die Leser<strong>in</strong> bzw. der Leser fühlt <strong>in</strong>sgeheim, dass die<br />

Aufarbeitung der Familienvergangenheit und die Ause<strong>in</strong>anderset-<br />

zung mit dem <strong>Juden</strong>tum <strong>in</strong> Adriana Altaras Leben noch lange nicht<br />

vorbei ist.<br />

Das Buch ist <strong>2011</strong> bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.<br />

mj<br />

2


Veranstaltungen<br />

Schalom - Chronik der Jüdischen Woche <strong>2011</strong> - Notizen<br />

Schalom - 9. Jüdische Woche <strong>in</strong> Leipzig<br />

26. Juni - 3. Juli <strong>2011</strong><br />

Das Veranstaltungsprogramm der 9.Jüdischen Woche war außer-<br />

gewöhnlich breit gefächert. Es variierte zwischen eher heiteren<br />

Veranstaltungen wie dem Konzert Leipziger jüdischer Künstler<br />

und nachdenklichen Diskussionsrunden wie der Präsentation hi-<br />

storischer Studien zum Holocaust. Die Besucher fanden sich zu<br />

be<strong>in</strong>ahe 0 Veranstaltungen e<strong>in</strong>. Hier unsere Notizen.<br />

25


Montag, 2 . Juni <strong>2011</strong>, 19.00 Uhr<br />

Gesprächsrunde <strong>Juden</strong> <strong>in</strong> Leipzig Heute<br />

Im Ausstellungsraum des Ariowitsch-Hauses fand <strong>in</strong> fast privater<br />

Atmosphäre e<strong>in</strong>e sehr aktuelle Gesprächsrunde statt. E<strong>in</strong>ge-<br />

wanderte <strong>Juden</strong> aus der Ukra<strong>in</strong>e und aus Ungarn sprachen über<br />

ihre E<strong>in</strong>wanderung, über die Hürden der Integration, die Schwie-<br />

rigkeiten beim Erlernen der deutschen Sprache und über die<br />

Gründe, warum die Wahlleipziger und Wahlleipziger<strong>in</strong>nen gerade<br />

nach Deutschland gekommen s<strong>in</strong>d. Zu Gast waren der aus Un-<br />

garn zugewanderte orthodoxe Geme<strong>in</strong>derabb<strong>in</strong>er Zsólt Balla und<br />

dessen Frau Mar<strong>in</strong>a Charnis, die geme<strong>in</strong>sam mit ihrer Tochter <strong>in</strong><br />

Leipzig leben, sowie Ir<strong>in</strong>a Lempert mit Tochter Mar<strong>in</strong>a Limperska<br />

aus der Ukra<strong>in</strong>e, die beide im Ariowitsch-Haus arbeiten. Mode-<br />

riert wurde der Abend von Dr. Kerst<strong>in</strong> Plow<strong>in</strong>ski und dem Histori-<br />

ker Steffen Held von der Ephraim-Carlebach-Stiftung.<br />

Zsólt Balla kam vor etwa neun Jahren zum Studium nach<br />

Deutschland und wollte eigentlich nur e<strong>in</strong> Jahr bleiben. Aber es<br />

kam anders. Er begann e<strong>in</strong>e Ausbildung am Berl<strong>in</strong>er Rabb<strong>in</strong>erse-<br />

m<strong>in</strong>ar <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, die er vor zwei Jahren abschloss. Er lernt mo-<br />

mentan die russische Sprache, die für viele Geme<strong>in</strong>demitglieder<br />

Muttersprache ist. Mit Mar<strong>in</strong>a Charnis ist er seit 200 verheiratet.<br />

Sie kam im Alter von 13 Jahren aus der Ukra<strong>in</strong>e nach Deutschland<br />

und studierte <strong>in</strong> Leipzig an der HTWK.<br />

Im Gespräch wurde auch die Anerkennung ausländischer Berufsund<br />

Hochschulabschlüsse thematisiert. Frau Lempert hatte vor<br />

der Ausreise über 18 Jahre als Logopäd<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Ukra<strong>in</strong>e gearbeitet,<br />

konnte aber trotz <strong>in</strong>tensivster Bemühungen <strong>in</strong> Deutschland<br />

ihren Beruf nicht ausüben. Sie arbeitete zunächst ehrenamtlich<br />

26


als Dolmetscher<strong>in</strong> und kam dann zum Ariowitsch-Haus. Auch<br />

waren sich alle Gäste darüber e<strong>in</strong>ig, dass sie sich als <strong>Juden</strong>,<br />

ob religiös oder nicht, <strong>in</strong> Deutschland sehr wohl fühlen. In ihren<br />

Heimatländern mussten sie ihre jüdische Herkunft oft verstecken<br />

oder konnten nicht so offen dazu stehen wie hier. E<strong>in</strong> Grund da-<br />

für sei die <strong>in</strong>tensive und kritische Aufarbeitung der Vergangenheit<br />

<strong>in</strong> Deutschland, die <strong>in</strong> vielen osteuropäischen Ländern fehle. Die<br />

im Pass vermerkte jüdische Identität sei oft Anlass für Diskrimi-<br />

nierungen gewesen, selbst bei der Anmeldung <strong>in</strong> Bibliotheken<br />

habe man das spüren können.<br />

2


Montag, 2 . Juni <strong>2011</strong><br />

Ausstellung Aron Adlerste<strong>in</strong><br />

Im Ariowitsch-Haus ist von Montag bis Donnerstag (10.00 bis<br />

1 .00 Uhr) die von der Ephraim- Carlebach-Stiftung konzipierte<br />

Ausstellung über den Leipziger <strong>Juden</strong>, langjährigen Vorstand<br />

der israelitischen Religionsgeme<strong>in</strong>de zu Leipzig und Initiator des<br />

Ariowitsch-Hauses, Aron Adlerste<strong>in</strong>, zu sehen. Adlerste<strong>in</strong> hatte<br />

im Jahr 1999 die Initiative für e<strong>in</strong>en Begegnungsort wie das<br />

Ariowitsch-Haus <strong>in</strong> Leipzig gestartet. Zehn Jahre später wurde<br />

das Ariowitsch-Zentrum für jüdische Kultur e<strong>in</strong>geweiht.<br />

Adlerste<strong>in</strong>, von dem die IRGL bereits 2000 Abschied nehmen<br />

musste - er starb im Alter von 8 Jahren - erlebte die Eröffnung<br />

des von ihm angeregten Zentrums nicht mehr.<br />

Dienstag, 28. Juni <strong>2011</strong>, 1 .00 Uhr<br />

Enthüllung Henri H<strong>in</strong>richsen-Büste<br />

Sicherlich gehörte die Enthüllung der Porzellan-Büste<br />

des bedeutenden Verlegers Henri H<strong>in</strong>richsens zu den<br />

Höhepunkten der Jüdischen Woche. Der e<strong>in</strong>stige Inhaber des<br />

weltbekannten Leipziger Musikalienverlags C.F. Peters wurde<br />

19 2 im KZ Auschwitz ermordet. Heute hat im ehemaligen<br />

Wohn- und Verlagshaus der Familie unter anderem die Grieg-<br />

Begegnungsstätte e.V. ihren Sitz. Der Vere<strong>in</strong> war auch der<br />

Veranstalter und Initiator der Aufstellung der Büste H<strong>in</strong>richsens.<br />

Sie bildet das Pendant zur Büste des bedeutenden Komponisten<br />

und engen H<strong>in</strong>richsen-Freundes Edvard Grieg.<br />

28


Gestiftet wurde die Büste <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung an die im letzten Jahr<br />

verstorbene Griegforscher<strong>in</strong> Hanna de Vries Stavland durch<br />

deren Freundeskreis um den kanadischer Bildhauer Charles<br />

Kad<strong>in</strong>.<br />

Enthüllt wurde die Büste von zwei Enkeltöchtern Henri<br />

H<strong>in</strong>richsens: Irene Lawford-H<strong>in</strong>richsen, die 1935 noch <strong>in</strong> Leipzig<br />

geborene Tochter des nach England emigrierten Max H<strong>in</strong>richsen,<br />

und Martha H<strong>in</strong>richsen, Tochter von Walter H<strong>in</strong>richsen, der 19 5<br />

als Sergeant der US-Armee <strong>in</strong> Leipzig e<strong>in</strong>zog.<br />

29


Dienstag, 28. Juni <strong>2011</strong>, 19.30 Uhr<br />

Menschen ohne Grabste<strong>in</strong> 2<br />

Die Leipziger Autor<strong>in</strong> Ellen Bertram hat kürzlich die lang erwar-<br />

tete zweite und erweiterte Auflage ihres Buches „Menschen<br />

ohne Grabste<strong>in</strong>. Gedenkbuch für die Leipziger jüdischen Opfer<br />

der nationalsozialistischen Verfolgung“ im Leipziger Passage-<br />

Verlag veröffentlicht. Das e<strong>in</strong>zigartige Buch dokumentiert die<br />

Lebensdaten, Sterbeorte, Berufe, Verwandtschaftsbeziehungen<br />

und Adressen von 3386 Leipziger <strong>Juden</strong>, die zwischen 1933 und<br />

19 5 verschleppt und ermordet wurden. Verfolgungen, Zwangsarbeit,<br />

<strong>Juden</strong>häuser und Selbstmorde der <strong>Juden</strong> im Leipzig jener<br />

Zeit s<strong>in</strong>d ebenfalls im Buch verzeichnet. Bei der Abendveranstaltung<br />

und Präsentation ihres Buches im Interim der Leipziger<br />

Stadtbibliothek sprach Frau Bertram über das Schicksal L<strong>in</strong>a<br />

Rochmanns. In den Briefen, die L<strong>in</strong>a zwischen 1939 und 19 2 an<br />

ihre nach England und Rumänien emigrierten K<strong>in</strong>der sandte, wird<br />

die wachsende Verzweiflung der <strong>in</strong> Deutschland zurückgebliebenen<br />

Mutter greifbar. Als endlich das ersehnte Ausreisevisa vorlag,<br />

war es zu spät. L<strong>in</strong>a Rochmann wurde im Januar 19 2 mit dem<br />

ersten großen Transport <strong>in</strong> das Ghetto Riga deportiert. Die Entbehrungen<br />

der Deportation waren für die Sechzigjährige tödlich.<br />

Sie starb noch während des Transports nach Riga an Hunger<br />

und Kälte.<br />

Donnerstag, 30. Juni <strong>2011</strong>, 19.00 Uhr<br />

Von Jiddisch bis Klassisch<br />

30


Unter den jüdischen Migranten <strong>in</strong> Leipzig gibt es zahlreiche<br />

musikalische Talente. Diese e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Konzert geme<strong>in</strong>sam<br />

auftreten zu lassen, war Anliegen des Konzerts „Von Jiddisch<br />

bis Klassisch“. Wie versprochen wurde gesungen und getanzt;<br />

Lieder erklangen <strong>in</strong> deutscher, russischer und jiddischer Sprache.<br />

Instrumentalmusik stand ebenfalls auf dem Programm wie<br />

der Auftritt von Susana und Ari Babakhanov vom Jüdischen<br />

Forum beim DRZ <strong>Sachsen</strong> e.V. Ari Babakhanov beschäftigte<br />

sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er alten usbekischen Heimat mit der Fortführung der<br />

traditionellen bucharischen Musik. Als sich die ehemals große<br />

jüdische Geme<strong>in</strong>de Bucharas durch Auswanderung nach der<br />

Unabhängigkeit Usbekistans fast aufgelöst hatte, zog die Familie<br />

Ari Babakhanovs nach Deutschland.<br />

Sonntag. 3. Juli <strong>2011</strong>, 15.00 Uhr<br />

Konzert des Jugends<strong>in</strong>fonieorchesters<br />

Zum Abschluss der jüdischen Woche stand abermals e<strong>in</strong><br />

Highlight an. Das Jugends<strong>in</strong>fonieorchester der Musikschule<br />

Leipzig „Johann Sebastian Bach“ gastierte im Ariowitsch-Haus.<br />

Das ursprünglich als Open-Air geplante Konzert wurde aufgrund<br />

der Wetterlage <strong>in</strong>s Gebäude verlegt. Knapp 200 Zuschauer<br />

lauschten ca. 1 Stunde den Klängen des Orchesters unter der<br />

Leitung von Ron-Dirk Entleutner. Im Anschluss an klassische<br />

Stücke überraschte das Orchester mit e<strong>in</strong>em Beatles-Medley.<br />

Nach tosendem Applaus des Publikums gab es dann noch e<strong>in</strong>e<br />

Zugabe.<br />

31


Gedenk<strong>in</strong>stallation auf dem Leipziger Hauptbahnhof<br />

Entwurf des Denkmals mit Gedenkplatte und Koffer. Der Koffer<br />

zeigt auf der Vorderseite e<strong>in</strong>e vergitterte Waggonluke mit von<br />

<strong>in</strong>nen herausgestreckten Händen. Auf der Rückseite steht e<strong>in</strong>e<br />

Transportnummer.<br />

Am 22. August <strong>2011</strong> trafen sich Politiker_<strong>in</strong>nen von SPD, CDU,<br />

Der L<strong>in</strong>ken und Bü90/Die Grünen, Vertreter_<strong>in</strong>nen von Vere<strong>in</strong>en,<br />

von der Christlich-Jüdischen Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft Leipzig sowie<br />

der Gruppe „Gedenkmarsch“, Gewerkschaften u.a. im Leipziger<br />

Ariowitsch-Haus, um darüber zu beraten, wie die geplante Geden-<br />

k<strong>in</strong>stallation für die Deportierten auf dem Leipziger Hauptbahnhof<br />

weiter umgesetzt werden kann.<br />

32


Haupt<strong>in</strong>itiator der Er<strong>in</strong>nerungsstätte für alle deportierten Men-<br />

schen, die „während der NS-Diktatur mit Zügen der Deutschen<br />

Reichsbahn“ über das Leipziger Streckennetz <strong>in</strong> Konzentrations-<br />

lager verschleppt wurden, ist das Friedenszentrum Leipzig. Der<br />

Leipziger Künstler Roland Steckel wird die Ganzmetall<strong>in</strong>stallation<br />

realisieren. Der künstlerische Entwurf stammt ebenfalls von ihm.<br />

Es handelt sich um e<strong>in</strong>en Koffer mit grafischen Elementen, der<br />

auf e<strong>in</strong>em Sockel mit Inschrift steht. Der Künstler verzichtet dabei<br />

größtenteils auf se<strong>in</strong> Honorar.<br />

Die von dem Historiker Steffen Held verfasste Inschrift wird den<br />

169 deportierten K<strong>in</strong>dern, Frauen und Männern gewidmet se<strong>in</strong>,<br />

die am 1 . Februar 19 5, wenige Wochen vor Kriegsende, im<br />

letzten Deportationszug von Leipzig <strong>in</strong>s Konzentrationslager<br />

Theresienstadt verschleppt wurden.<br />

Am 1 . Februar wurden 169 Männer, Frauen und K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> das<br />

Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Wenige Wochen<br />

vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges war es der letzte Transport<br />

jüdischer Opfer aus Leipzig.<br />

Zum Gedenken an alle Opfer von NS-Verbrechen, die <strong>in</strong> den Jahren<br />

1933 bis 19 5 über das Leipziger Eisenbahnnetz <strong>in</strong> Zwangs- und<br />

Todeslager verschleppt wurden.<br />

Die Initiatoren legen großen Wert darauf, dass allen NS-Opfern,<br />

die deportiert wurden, gedacht wird; <strong>Juden</strong>, S<strong>in</strong>ti und Roma bilden<br />

dabei die größten Opfergruppen. Die Idee der Gedenk<strong>in</strong>stallation<br />

hat sich über e<strong>in</strong>en langen Zeitraum von mehr als zwei Jahren<br />

entwickelt. Verschiedene E<strong>in</strong>flüsse prägten das Endergebnis. Auf<br />

dem Dresdner Bahnhof Neustadt gibt es beispielsweise schon e<strong>in</strong>e<br />

Gedenkplatte bzw. <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Friedrichstraße steht e<strong>in</strong>e Gedenk-<br />

Skulptur für die K<strong>in</strong>dertransporte.<br />

33


Die Deportationszüge hielten zwar nicht direkt am Hauptbahnhof,<br />

sondern wurden über den Güterbahnhof abgewickelt. Das Denk-<br />

mal soll aber unbed<strong>in</strong>gt zentral verortet se<strong>in</strong>, der Hauptbahnhof<br />

ist für das gesamte Bahnnetz im Raum Leipzig repräsentativ. Mit<br />

mehr oder weniger großem Erfolg laufen seit e<strong>in</strong>iger Zeit die Ver-<br />

handlungen mit dem Kulturamt der Stadt Leipzig, der DB AG und<br />

dem Leipziger Hauptbahnhof.<br />

E<strong>in</strong>e Unterschriftenaktion hat den großen Bedarf und das<br />

Interesse an der Er<strong>in</strong>nerungsstätte deutlich gemacht. Viele<br />

Unterschriften kamen von weit außerhalb Leipzigs. Da trotz der<br />

breiten Unterstützung die Kosten von m<strong>in</strong>destens .500 Euro (für<br />

Material, Installation, Instandhaltung und Versicherung für fünf<br />

Jahre) noch nicht gedeckt s<strong>in</strong>d, wird um Spenden gebeten. Ziel ist<br />

es, das Denkmal Anfang <strong>2012</strong> fertigzustellen und e<strong>in</strong>zuweihen.<br />

Spenden bitte an: Friedenszentrum e.V., Konto: 30 60 50 ,<br />

Volksbank Leipzig, BLZ 860 956 0 , Verwendungszweck<br />

Gedenk<strong>in</strong>stallation<br />

Es können auf Anfrage Quittungen für geme<strong>in</strong>nützige Spenden<br />

erstellt werden.<br />

mj, mw<br />

3


Medienwoche - Dr. Andrea Lorz über die Leipziger<br />

K<strong>in</strong>dertransporte<br />

Im Rahmen der Leipziger Medienwoche „Courage leben – gegen<br />

Rassismus“ hat das Leipziger K<strong>in</strong>o CINEDING <strong>in</strong> Zusammenarbeit<br />

mit dem Landesfilmdienst <strong>Sachsen</strong> e.V. e<strong>in</strong> breit gefächertes Bildungs-<br />

und Unterhaltungsprogramm zu historischen und aktuellen<br />

Themen zusammengestellt. Am 3. November <strong>2011</strong> sprach die Historiker<strong>in</strong><br />

Dr. Andrea Lorz von der Gedenkstätte für Zwangsarbeit<br />

Leipzig über ihre Forschung zum Thema „Geschichte der Leipziger<br />

K<strong>in</strong>dertransporte 1938/39“ im CINEDING <strong>in</strong> Leipzig Plagwitz.<br />

Frau Dr. Lorz sprach darüber, dass schon lange vor der<br />

Wannseekonferenz im Januar 19 2 vielen <strong>Juden</strong> <strong>in</strong> Deutschland<br />

bewusst war, dass die <strong>Juden</strong>verfolgung e<strong>in</strong> schlimmes Ende nehmen<br />

würde, wenn nichts Grundlegendes passiere. Nachdem sich<br />

Mitte der 1930er Jahre nichts besserte, im November 1938 zur<br />

Reichspogromnacht Synagogen brannten und <strong>Juden</strong> willkürlich<br />

verhaftet wurden, war vielen jüdischen Menschen klar, dass die<br />

Situation <strong>in</strong> Deutschland ausweglos ist. Die jüdischen Geme<strong>in</strong>den<br />

<strong>in</strong> Deutschland vernetzten sich, um möglichst viele besonders<br />

gefährdete jüdische K<strong>in</strong>der im Ausland <strong>in</strong> Sicherheit zu br<strong>in</strong>gen.<br />

In Leipzig fand die Organisation der K<strong>in</strong>dertransporte unter der<br />

Leitung des Rabb<strong>in</strong>ers Gustav Cohn statt. Es wurden 50 bis 60<br />

Leipziger K<strong>in</strong>der nach England gebracht – <strong>in</strong>sgesamt waren es<br />

über 10.000 deutsche, tschechische und österreichische K<strong>in</strong>der,<br />

die nach England, Schweden oder sogar über den Iran nach Paläst<strong>in</strong>a<br />

gerettet wurden. Der erste Transport mit 15 K<strong>in</strong>dern fand<br />

35


am 2 .November 1938 statt und der letzte im August 1939, da<br />

mit Kriegsbeg<strong>in</strong>n die Grenzen dicht waren. Die Reise führte mit<br />

dem Zug über Berl<strong>in</strong> und Hamburg zunächst mit der Fähre <strong>in</strong>s<br />

englische Dovercourt <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Feriencamp, später nach London <strong>in</strong>s<br />

Bloomsbury-Haus. Von dort wurden sie <strong>in</strong> ihre Gastfamilien, den<br />

so genannten „Garantoren“, gebracht, die sich verpflichteten den<br />

K<strong>in</strong>dern Verpflegung, Unterkunft und Bildung zu bezahlen.<br />

Zuerst lernten die K<strong>in</strong>der die englische Sprache und wurden auch<br />

dazu angehalten, das schlechte Image Deutschlands im Ausland<br />

zu verbessern. Lorz stützt ihre Forschungsergebnisse auf die<br />

persönlichen Kontakte mit Menschen, die als K<strong>in</strong>der nach England<br />

kamen, und den erhaltenen Briefen zwischen ihnen und ihren<br />

Familien <strong>in</strong> Deutschland. Die meisten dieser K<strong>in</strong>der waren die<br />

e<strong>in</strong>zigen Überlebenden ihrer Familien. Viele trugen psychische<br />

Schäden davon: vor allem e<strong>in</strong>e Überlebensschuld, aber auch die<br />

späte E<strong>in</strong>sicht, dass ihre Eltern sie damals weggaben, weil sie<br />

sie liebten, hat viele von ihnen e<strong>in</strong> Leben lang begleitet. Nur sehr<br />

wenige kamen im Erwachsenalter zurück nach Deutschland. Im<br />

Bahnhof London-Liverpool bef<strong>in</strong>det sich heute e<strong>in</strong> Denkmal, das<br />

an die K<strong>in</strong>dertransporte er<strong>in</strong>nert.<br />

36


Boris Sachakov: Vernissage zum 80. Geburtstag<br />

Vernissage & Begegnungsabend<br />

anlässlich des 80. Geburtstags des russisch-jüdischen<br />

Malers Boris Sachakov<br />

Am 2 . Oktober <strong>2011</strong> luden die Deutsch-Israelische Gesellschaft,<br />

die Jüdisch-Christliche Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft und das Kultur- und<br />

Begegnungszentrum Ariowitsch-Haus <strong>in</strong> den großen Saal des<br />

Hauses zu e<strong>in</strong>er Vernissage mit Werken des russisch-jüdischen<br />

Malers Boris Sachakov unter dem Titel „Moskau, Leipzig und noch<br />

viel mehr - Malerei und Grafik von Boris Sachakov“ e<strong>in</strong>.<br />

38


Die zur Feier se<strong>in</strong>es 80. Geburtstages am . November gezeigten<br />

Gemälde und Grafiken umfassen viele Schaffensjahre und alle<br />

Themenkreise se<strong>in</strong>es Oeuvres.<br />

Die Begrüßung übernahmen Frau Ines-Maria Köllner von der Jü-<br />

disch-Christlichen Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft, die betonte, dass die Aus-<br />

stellung e<strong>in</strong> Geschenk Sachakovs an se<strong>in</strong>e Gäste sei, sowie der<br />

Hausherr Küf Kaufmann, der dem Jubilar <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er russischen Hei-<br />

matsprache gratulierte.<br />

Die anschließende Laudatio hielt die Kunstwissenschaftler<strong>in</strong> Chri-<br />

st<strong>in</strong>e-Dorothea Hölzig. Unter anderen sprach sie die Lebensstati-<br />

onen des Künstlers an:<br />

1931 im kasachischen Tschimkent geboren<br />

Ausbildung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Geburtsstadt, später Kunststudium <strong>in</strong> Kiew<br />

und Moskau (1953 bis 1960 an der Hochschule für Malerei <strong>in</strong><br />

Moskau)<br />

Ab 1961 Fachlehrer für Zeichnung und Aquarell an der Moskauer<br />

Hochschule für Bauwesen im Fachbereich Architektur<br />

39


Ab 19 Mitglied im Künstlerverband der UdSSR<br />

2000 Umsiedlung nach Deutschland<br />

2001 Mitglied im Bund bildender Künstler Leipzig<br />

Sie hob Sachakovs Bildkompositionen, die fe<strong>in</strong>en Farbharmonien,<br />

die stimmungsvollen und atmosphärischen Lichtimpulse <strong>in</strong> den<br />

impressionistischen Arbeiten mit Aquarellfarben bzw. <strong>in</strong> den<br />

Zeichnungen mit Tusche und Pastellkreiden hervor.<br />

Ebenso impressionistisch Sachakovs Stadtlandschaften, die se<strong>in</strong>e<br />

ganz eigene Sicht auf das Urbane als künstliche, von Menschen<br />

erschaffene Landschaft zeigen, darunter Moskau; Zentralasien:<br />

Buchara, Samarkand; Spanien; Paris, Berl<strong>in</strong> und natürlich se<strong>in</strong>e<br />

neue Heimat Leipzig.<br />

Boris Sachakov <strong>in</strong>teressieren die gebaute Umwelt; Räume und<br />

Landschaften, <strong>in</strong> denen Menschen leben. Jede Stadt, Landschaften<br />

und Flüsse haben dabei ihr spezielles Licht, ihre eigenen Farben.<br />

Se<strong>in</strong>e Darstellung von Menschen erfolge dagegen im Porträt<br />

oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em thematischen Zusammenhang, <strong>in</strong> elementaren<br />

Situationen des Lebens.<br />

Sachakovs Bilder waren <strong>in</strong> den letzten Jahren auf zahlreichen<br />

Ausstellungen <strong>in</strong> <strong>Sachsen</strong> und Leipzig zu sehen. Im vergangenen<br />

Jahr veranstaltete das Deutsch-Russische Zentrum <strong>Sachsen</strong><br />

e.V. e<strong>in</strong>e Ausstellungsreihe anlässlich des 65. Jahrestages der<br />

Befreiung vom Faschismus mit Werken Sachakovs und Maysei<br />

Faynbergs im Zentrum der jüdischen Geme<strong>in</strong>de Dresden und <strong>in</strong><br />

den Arkaden des Gohliser Schlösschens <strong>in</strong> Leipzig.<br />

prd<br />

0


Der Vorstandsvorsitzende des Deutsch-Russische Zentrum Herr<br />

Herbert Schmidt gratulierte dem Jubilar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em persönlichen<br />

Schreiben. Den Abdruck des Briefes <strong>in</strong> deutscher Sprache f<strong>in</strong>den<br />

Sie hier.<br />

Brief und Gratulationen des Vorsitzenden des<br />

Deutsch-Russischen Zentrums <strong>Sachsen</strong> e.V., Herbert Schmidt<br />

Herrn<br />

Boris Nisanowitsch Sachakov<br />

Lieber Boris Nisanowitsch,<br />

zu De<strong>in</strong>em 80. Geburtstag wünschen ich und alle me<strong>in</strong>e<br />

Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen des Deutsch-Russischen Zentrums<br />

<strong>Sachsen</strong> Dir das Allerbeste. Wir wünschen Dir und wir wünschen<br />

uns, dass Du noch viele Jahre im Kreise De<strong>in</strong>er Familie <strong>in</strong> guter<br />

Gesundheit leben wirst und mit De<strong>in</strong>er Persönlichkeit und mit<br />

De<strong>in</strong>er Kunst e<strong>in</strong>en gewichtigen Beitrag zur jüdisch-russischdeutschen<br />

Verständigung und zur Renaissance des <strong>Juden</strong>tums<br />

<strong>in</strong> Deutschland leisten kannst.<br />

1


Die Zusammenarbeit mit Dir und De<strong>in</strong>er Familie, vor allem bei<br />

unseren geme<strong>in</strong>sam organisierten Ausstellungen De<strong>in</strong>er Werke,<br />

war für mich und me<strong>in</strong>e Kollegen immer so angenehm, dass es,<br />

ebenso wie Du selbst, immer <strong>in</strong> unseren Herzen bleiben wird.<br />

Lieber Boris, die Renaissance des <strong>Juden</strong>tums <strong>in</strong> Deutschland,<br />

von der wir mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Sieg über den<br />

Faschismus und der Befreiung der europäischen <strong>Juden</strong> von der<br />

Shoah sprechen können, wäre ohne die jüdischen Migrant<strong>in</strong>nen<br />

und Migranten aus der UdSSR und deren Nachfolgestaaten nicht<br />

möglich.<br />

Mit dir geme<strong>in</strong>sam wollen wir dafür wirken, dass von den<br />

Faschisten zerstörte Erbe der jüdischen Geme<strong>in</strong>schaft <strong>in</strong><br />

Deutschland, den gesellschaftlichen, wissenschaftlichen,<br />

kulturellen und vor allem auch künstlerischen Beitrag der <strong>Juden</strong><br />

für deutsche und europäische Zivilisationsgeschichte anzutreten<br />

und es mit den ganz eigenen Erfahrungen e<strong>in</strong>er neuen, teils<br />

säkularen, teils der Tradition entfremdeten jüdischen Geme<strong>in</strong>de<br />

zu verb<strong>in</strong>den.<br />

Du und alle jüdischen neuen deutschen Staatsbürger<strong>in</strong>nen<br />

und Staatsbürger stehen als jüdische Geme<strong>in</strong>schaft <strong>in</strong><br />

Deutschland vor der Herausforderung, unter Rückbes<strong>in</strong>nung<br />

und Neu<strong>in</strong>terpretation der Quellen des <strong>Juden</strong>tums das<br />

Selbstverständnis des demokratischen Deutschlands<br />

mitzugestalten. Dabei an De<strong>in</strong>er und an der Seite aller Jüd<strong>in</strong>nen<br />

und <strong>Juden</strong> zu se<strong>in</strong>, ist uns ehrenvolle Verpflichtung. Wir nutzen<br />

De<strong>in</strong>en Geburtstag, um das erneut zu bekräftigen.<br />

2


Lieber Boris, wir mögen Dich alle sehr. Bleibe uns bitte noch sehr<br />

lange erhalten.<br />

Herbert Schmidt<br />

Vorstandsvorsitzender des Deutsch-Russischen Zentrums<br />

<strong>Sachsen</strong> e.V.<br />

Leipzig, den 2 . Oktober <strong>2011</strong><br />

3


Kurzbiografien<br />

Ernst Max Unger<br />

Der Musikwissenschaftler und Dirigent Ernst Max Unger wurde am<br />

28.5.1883 <strong>in</strong> Taura (<strong>Sachsen</strong>) als Sohn des Fabrikanten Hermann<br />

Unger und Anna Unger geb. Dell<strong>in</strong>g. Er besuchte die Volksschu-<br />

le zu Mittgensdorf bei Chemnitz und erhielt nebenbei im Franzö-<br />

sischen, Late<strong>in</strong>ischen und Klavierspiel Privatunterricht. Er wurde<br />

darauf Schuler des Chemnitzer Königlicher Gymnasium. 190<br />

bis 1906 besuchte er das Leipziger Konservatorium und studierte<br />

Musikwissenschaften u. a. bei Hugo Riemann an der Universität<br />

Leipzig. Unger promovierte am 22.12.1911 <strong>in</strong> Leipzig zum Dr. phil.,<br />

1912 bis 191 war er Dirigent des Leipziger Madrigalchors.<br />

Unger machte durch se<strong>in</strong>e Herausgebertätigkeit für die „Neue<br />

Zeitschrift für Musik“ (1919-1920) e<strong>in</strong>en Namen als Musikwissenschaftler<br />

und Beethoven-Forscher. „Die Neue Zeitschrift für Musik“<br />

war 183 von Robert Schumann gegründet worden und wurde bis<br />

1920 bei Schott verlegt. Sie ersche<strong>in</strong>t seit 1991 wieder.<br />

1926 veröffentliche Unger die Arbeit „Beethovens Handschrift“.<br />

Bereits während se<strong>in</strong>es Studiums bei Hugo Rieman am Leipziger<br />

Konservatorium stand der große Komponist im Mittelpunkt.<br />

Rieman arbeitete zu diesem Zeitpunkt an se<strong>in</strong>er Beethoven-<br />

Monographie. Unger trat <strong>in</strong> die Fußstapfen se<strong>in</strong>es Professor und<br />

hat im Laufe se<strong>in</strong>es musikwissenschaftlichen Schaffens e<strong>in</strong>e<br />

unüberschaubare Vielzahl von Veröffentlichungen zu Beethoven<br />

vorgelegt. Jahrzehntelang arbeitete er an e<strong>in</strong>er historisch-kritischen


Beethoven-Briefausgabe, ohne sie fertig stellen zu können. In<br />

diesem Zusammenhang entstand das oben erwähnte Buch zu<br />

Beethovens Handschrift.<br />

1933 war Unger zur Emigration nach Zürich gezwungen. In den<br />

Züricher Jahren 1933 bis 19 0 begleitete er als Kustos die legendäre<br />

Privatsammlung Bodmer.<br />

Neben se<strong>in</strong>en musikwissenschaftlichen Studien war Unger auch<br />

als Maler e<strong>in</strong>e große Begabung. 1923 bis 1932 besuchte er die<br />

Leipziger Akademie und erstellte e<strong>in</strong>e Vielzahl von Bildern und<br />

Zeichnungen. Ihn verband e<strong>in</strong>e enge Freundschaft mit dem Maler<br />

und Expressionisten Schmidt-Rottluff. Nach Kriegsende verlegte<br />

Unger se<strong>in</strong>en Wohnsitz nach Deutschland zurück. Er starb am<br />

01.12.1959 <strong>in</strong> Zürich.<br />

Deutsche Biographische Enzyklopädie & Deutscher Biographischer Index, Saur,<br />

2001, München.<br />

Universitätsarchiv Leipzig, Phil. Fak. Prom 8153, S. 1, 2 und 7.<br />

5


He<strong>in</strong>rich Porges<br />

He<strong>in</strong>rich Porges wurde am 25.11.183 <strong>in</strong> Prag geboren. Er stammte<br />

aus e<strong>in</strong>em wohlhabenden und jüdischen Elternhaus, was ihm e<strong>in</strong><br />

Studium der Philosophie und Rechtswissenschaften an der Uni-<br />

versität Prag ermöglichte. Später konvertierte er zum evange-<br />

lischen Glauben. He<strong>in</strong>rich Porges Leidenschaft bezog sich jedoch<br />

auf die Musik. Er organisierte <strong>in</strong> Prag Konzerte und lernte Franz<br />

Liszt sowie Richard Wagner kennen. 1863 arbeitete er kurzzeitig<br />

als Redakteur der „Neuen Zeitschrift für Musik“ <strong>in</strong> Leipzig und als<br />

Musiklehrer <strong>in</strong> Wien, bis er von Wagner dazu aufgefordert 1866<br />

dauerhaft nach München umzog. Dort schrieb er E<strong>in</strong>führungen für<br />

König Ludwig II. zu „Tristan“, „Die Meisters<strong>in</strong>ger“ und „Lohengr<strong>in</strong>.“<br />

Im Jahr zuvor (1865) heiratete er Wilhelm<strong>in</strong>e Merores. Die Porges<br />

hatten zwei Töchter, die Schriftsteller<strong>in</strong> Elsa Bernste<strong>in</strong> und Ga-<br />

briele. 18 0 bekam er von König Ludwig II. das Amt der Musik-<br />

direktors an der Hofoper zugesprochen. Dabei handelte es sich<br />

aufgrund se<strong>in</strong>er ger<strong>in</strong>gen Dirigiererfahrung allerd<strong>in</strong>gs nur um e<strong>in</strong><br />

kurzes Intermezzo. Danach wirkte er als Assistent Wagners und<br />

bis zu se<strong>in</strong>em Tod als Musikkritiker. He<strong>in</strong>rich Porges war der Initia-<br />

tor des 1885 gegründeten Porges’schen Chorvere<strong>in</strong>s <strong>in</strong> München.<br />

Mit dem Vere<strong>in</strong> unterstützte er die Verbreitung der Werke z. B.<br />

von Franz Liszt oder Hector Belioz. He<strong>in</strong>rich Porges verstarb am<br />

17.11.1900 <strong>in</strong> München. Se<strong>in</strong> Ehrengrab bef<strong>in</strong>det sich auf dem<br />

Münchner Ostfriedhof.<br />

Münster, Robert, „Porges, He<strong>in</strong>rich“, <strong>in</strong>: Neue Deutsche Biographie 20 (2001), S. 636<br />

[Onl<strong>in</strong>efassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118971603.html<br />

(11.07.<strong>2011</strong>).<br />

6


Nathan Porges<br />

Dr. phil. Nathan Porges kam am 21.12.18 8 <strong>in</strong> Proßnitz, Tsche-<br />

chien, zur Welt. Er war der Sohn von Dr. phil. Bernhard Porges<br />

und Carol<strong>in</strong>e Porges, geboren Hirsch. Dr. phil. Nathan Porges<br />

besuchte das Gymnasium <strong>in</strong> Olmütz, wo er anschließend auch<br />

studierte. 1869 erlangte er den Doktortitel. Noch im selben Jahr<br />

schloß er <strong>in</strong> Breslau se<strong>in</strong>e Ausbildung zum Rabb<strong>in</strong>er ab. In der<br />

Folgezeit war er <strong>in</strong> den Geme<strong>in</strong>den Nakel, Polen (18 5), Mannheim<br />

(18 9), Pilsen, Tschechien (1880), Karlo Vary, ebenfalls<br />

Tschechien (1882) und <strong>in</strong> Leipzig (1 88), tätig. Dr. phil. Nathan<br />

Porges war mit Rosalie Porges (10.09.185 - 19.01.1911), geboren<br />

Friedmann, verheiratet. Das Ehepaar hatte neun K<strong>in</strong>der, von<br />

denen e<strong>in</strong>es namentlich nicht bekannt ist. Bei den anderen acht<br />

K<strong>in</strong>dern handelt es sich um Gisella, Benno, Fritz, Leonie, Ludwig,<br />

He<strong>in</strong>rich, Gustav sowie He<strong>in</strong>rich. Als Hochschullehrer war er 1913<br />

zusammen mit Prof. Dr. Abraham Adler Vorsitzender des Vere<strong>in</strong>s<br />

Mendelssohnstiftung <strong>in</strong> Leipzig, zu dem alle Studierenden e<strong>in</strong>er<br />

Hochschule Zutritt hatten. Er war außerdem als Autor tätig und<br />

schrieb für regelmäßig ersche<strong>in</strong>ende Publikationen wie die „Monatszeitschrift<br />

für Geschichte und Wissenschaft des <strong>Juden</strong>tums“<br />

oder für die „Revue des Etudes Juives“ Artikel, Kritiken und Essays.<br />

Dr. phil. Nathan Porges starb am 01.09.192 <strong>in</strong> Würzburg,<br />

Bayern.<br />

Kowalzik, Barbara. Das jüdische Schulwerk <strong>in</strong> Leipzig: 1912-1933. Geschichte und<br />

Politik <strong>in</strong> <strong>Sachsen</strong>. Band 18. 2002. S. 116.<br />

Sächsisches Staatsarchiv Leipzig. Polizeimeldebuch Leipzig 1876. 11454K. Nr. 98.<br />

Filmsignatur 18028. Folie 92 Rückseite.<br />

http://www.jewishencyclopedia.com/ (11.07.<strong>2011</strong>).<br />

http://www.porges.net/(11.07.<strong>2011</strong>).


Wilhelm Rettich<br />

Der berühmte Komponist, Dirigent und Musiklehrer Wilhelm Ret-<br />

tich wurde am 3. .1892 <strong>in</strong> Leipzig als Sohn des Kaufmanns Wil-<br />

helm Israel Lazar (Isidor) Rettich geboren. Se<strong>in</strong> Vater war e<strong>in</strong> or-<br />

thodoxer Jude und kam ursprünglich aus Tarnow <strong>in</strong> Galizien. Er<br />

war dort am 30.9.1863 geboren worden und starb am 26.8.1933 <strong>in</strong><br />

Leipzig. Se<strong>in</strong>e Mutter, Rosa Benjam<strong>in</strong>owna Rettich, geb. Idelsohn,<br />

gehörte der Familie des berühmten Musikforschers Abraham Zwi<br />

Idelsohn (geb. 1 . .1882 <strong>in</strong> Filzburg bei Libau, gest. 1 .8.1938 <strong>in</strong><br />

Johannesburg) an. Sie war die Tochter von Benjam<strong>in</strong> Idelsohn.<br />

Ihre Familie stammte aus der Gegend um Riga. Sie wurde am<br />

22. . 1865 <strong>in</strong> Nowy Schagory, im Gouvernement Kaunas, damals<br />

Russisches Reich, geboren. Rosa Rettich war auch die Adoptivtochter<br />

des Kaufmanns Idal Rubyn Idelsohn und dessen Frau Rosetta<br />

Idelsohn, geb. Chachamowitz.<br />

Wilhelm Rettich war das erstes von sechs K<strong>in</strong>dern des Ehepaars<br />

Wilhelm und Rosa Rettich. Zur Zeit der Geburt von Wilhelm wohnten<br />

se<strong>in</strong>e Eltern <strong>in</strong> der Karol<strong>in</strong>enstraße 26. Später wohnte die Familie<br />

am Petersste<strong>in</strong>weg 21 und schließlich <strong>in</strong> der Gottschedstraße 6.<br />

Der zweitälteste Sohn war Julius, der am 22.5.189 <strong>in</strong> Leipzig geboren<br />

wurde. Dann folgte der Sohn Robert am 21.2.1901 und zuletzt<br />

der Sohn Rudolf am 25.8.1906. Aus dieser Ehe g<strong>in</strong>gen auch<br />

zwei Töchter hervor: Reg<strong>in</strong>a und Amalia. Die erste, Reg<strong>in</strong>a, wurde<br />

am 30. .189 geboren. Amalia folgte am 5.1.1903 und starb am<br />

1 .1.1903 im Alter von nur zwölf Tagen.<br />

Im Alter von 1 Jahren begann Wilhelm Rettich se<strong>in</strong> Studium am<br />

Leipziger Konservatorium. Dort studierte er u. a. Klavier bei Carl<br />

Wend<strong>in</strong>g sowie Komposition bei Max Reger. Nach dem Studium<br />

8


g<strong>in</strong>g er 1912 als Korrepetitor von Otto Lohse an das Leipziger<br />

Stadttheater. Danach wurde er Kapellmeister <strong>in</strong> Wilhelmshafen,<br />

diese Tätigkeit endete mit dem Beg<strong>in</strong>n des Ersten Weltkrieges.<br />

Zu dieser Zeit wurde er im Geburtsort se<strong>in</strong>es Vaters zum Dienst<br />

als Militärkapellmeister e<strong>in</strong>gezogen. Im September 191 geriet<br />

Rettich <strong>in</strong> russische Kriegsgefangenenschaft. Dort gründete er zusammen<br />

mit anderen Häftl<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Orchester. Nach der<br />

Oktoberrevolution 191 kam er frei und wohnte zuerst <strong>in</strong> der ostsibirischen<br />

Stadt Tschita, nah an der Grenze zu Ch<strong>in</strong>a. Dort gab er<br />

privat Klavierunterricht. Im November 1920 machte er sich auf den<br />

Rückweg nach Leipzig. Unterwegs folgten Aufenthalte <strong>in</strong> Shanghai,<br />

Triest und Wien.<br />

Zurück <strong>in</strong> Leipzig war Wilhelm Rettich wieder bei Otto Lohse angestellt<br />

und leitete auch den Chor der liberalen jüdischen Geme<strong>in</strong>de<br />

der Synagoge <strong>in</strong> der Leipziger Gottschedstraße. 1928 wurde er<br />

beim Leipziger Sender der Mitteldeutschen Rundfunk AG (MIRAG)<br />

angestellt. Dort gestalte er die „Funkstunde“, dirigierte das Rundfunkorchester<br />

und komponierte Hörspielmusik. Am 10.8.1929 heiratete<br />

er Bertha Wilhem<strong>in</strong>e Bahati Müller, die am .5.1903 <strong>in</strong> Tanga<br />

(damals Deutsch-Ost-Afrika) geboren wurde. Diese Ehe blieb<br />

k<strong>in</strong>derlos und endete 1935 mit e<strong>in</strong>er Scheidung.<br />

Im Februar 1933, kurz nach der Machtübernahme der NSDAP,<br />

erhielt Rettich Berufsverbot und emigrierte kurz danach nach<br />

Amsterdam. Von 193 bis zum Überfall der deutschen Wehrmacht<br />

auf die Niederlande im Mai 19 0 arbeitete Rettich u. a. als Leiter<br />

der Orchesterklasse des Haarlemse Muziek Instituut. Nach dem<br />

Überfall verlor er diese Stellung und g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> das Dorf Blaricum<br />

<strong>in</strong> der Nähe von Hilversum. Dort konnte er für zwei Jahre Privat-<br />

Musikunterricht und Hauskonzerte geben. Aber schon um 19 2<br />

9


musste er untertauchen und konnte nur durch die Hilfe der Nach-<br />

barn überleben. Se<strong>in</strong>e Mutter Rosa Rettich und der Bruder Ru-<br />

dolf, welche ebenfalls <strong>in</strong> die Niederlande emigriert waren, hatten<br />

allerd<strong>in</strong>gs weniger Glück. Sie hielten sich e<strong>in</strong>e Weile <strong>in</strong> Haarlem<br />

versteckt, wurden dann aber verraten und <strong>in</strong>s KZ Sobibor ver-<br />

schleppt, um bald darauf ermordet zu werden. Der Tod von Rosa<br />

und Rudolf Rettich lässt sich auf den 9. .19 3 datieren. Nach<br />

der Befreiung der Niederlande im Mai 19 5 kehrte Wilhelm Rettich<br />

nach Haarlem zurück und arbeitete <strong>in</strong> Den Haag und Amsterdam.<br />

19 6 lernte er die Sänger<strong>in</strong> Elsa Barther kennen und sie<br />

heirateten im selben Jahr. 196 kehrte Wilhelm Rettich mit se<strong>in</strong>er<br />

Ehefrau Elsa nach Deutschland zurück und ließ sich <strong>in</strong> Baden-Baden<br />

nieder. 19 starb se<strong>in</strong>e Ehefrau <strong>in</strong> Baden-Baden. Zu se<strong>in</strong>em<br />

zahlreichen kompositorischen Werken gehören u. a. die S<strong>in</strong>fonia<br />

Giudaica (op. 53), welche dem Gedenken an se<strong>in</strong>e Brüder gewidmet<br />

ist. Als weitere Werke s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Oper „König Tod (op. 11)“, e<strong>in</strong><br />

Viol<strong>in</strong>enkonzert (op. 51), Kantaten ( „Lettisches Liederspiel (op.<br />

65)“ und „Fluch des Krieges (op. 10)“) bekannt. Er schrieb auch<br />

Werke für Symphonieorchester sowie viele Lieder und Chöre (u. a.<br />

Synagogenchöre für gemischten Chor (op. 63a)). Er komponierte<br />

sogar <strong>in</strong> den besetzten Niederlanden ohne Klavier mehrere Werke.<br />

Dazu gehören u. a. die „Symphonische Variationen für Klavier und<br />

Orchester (op. 5 )“, <strong>in</strong> denen er e<strong>in</strong> Thema aus dem „Hebräischen<br />

Liederschatz“ von Abraham Zwi Idelsohn verarbeitete und das der<br />

ermordeten Mutter gewidmet ist. Wilhelm Rettich erhielt mehrere<br />

Auszeichnungen, darunter die Ehrenbürgerwürde der Stadt Baden-<br />

Baden und das Bundesverdienstkreuz. Er starb am 2 .12.1988 <strong>in</strong><br />

S<strong>in</strong>zheim bei Baden-Baden.<br />

50


Bertram, Ellen, Menschen ohne Grabste<strong>in</strong> – Gedenkbuch für die Leipziger jüdischen<br />

Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, Passage-Verlag (Leipzig), <strong>2011</strong>, S. 292<br />

Bundesarchiv Berl<strong>in</strong>, Residentenliste – Liste der jüdischen E<strong>in</strong>wohner im Deutschem<br />

Reich 1933 bis 1945, 4.7.<strong>2011</strong>.<br />

http://dic.academic.ru/dic.nsf/brokgauz_efron/40338/Жагоры, 1.7.<strong>2011</strong>.<br />

Leipziger Jüdisches Jahr-und Adressbuch 1933, S. 51.<br />

Sächsisches Staatarchiv – Staatsarchiv Leipzig:<br />

- Meldekarteien SF 8988/0650f und SF 7662/0140f<br />

- Geburtsbücher Leipzig 1892, 1894, 1897, 1901, 1903 und 1906<br />

- Polizeiregisterakte PP-S 8788<br />

- Adressbücher Leipzig 1894 (Abschnitt II), 1904 (Abschnitt I) sowie 1933 (Abschnitt<br />

I).<br />

The Central Database of Shoah Victims’ Names, Yad Vashem, Auszuge für Raphael<br />

Rudof Rettich sowie für Rosa Rettich, geb. Idelsohn, 4.7.<strong>2011</strong>.<br />

Wilhelm Rettich, www.ozg-orpheus.nl/orpheus/directie/Rettich-Wilhelm.php,<br />

30.6.<strong>2011</strong>.<br />

www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00001498, 30.6.<strong>2011</strong>.<br />

51


Rosa Rettich<br />

Rosa Benjam<strong>in</strong>owna Rettich, geb. Idelsohn, wurde am 22. .1865<br />

<strong>in</strong> Nowy Schagory (damals Nowyje Shagory <strong>in</strong> Gouvernement<br />

Kaunas im Russischen Reich) als Tochter von Benjam<strong>in</strong> Idelsohn<br />

geboren. Sie war auch die Adoptivtochter des Kaufmanns Idal<br />

Rubyn Idelsohn und Rosetta Idelsohn, geb. Chachamowitz. Rosa<br />

Rettich gehörte der Familie des berühmsten Musikforschers<br />

Abraham Zwi Idelsohn (geb. 1 . .1882 <strong>in</strong> Filzburg bei Libau, gest.<br />

1 .8.1938 <strong>in</strong> Johannesburg) an.<br />

Am 25.8.1891 heiratete sie den Kaufmann Israel Lazar (Isidor)<br />

Rettich <strong>in</strong> Leipzig. Am 3. .1892 wurde ihr Sohn Wilhelm Rettich,<br />

e<strong>in</strong> berühmter Komponist, Dirigent und Musiklehrer, geboren. Aus<br />

dieser Ehe stammten auch fünf weitere K<strong>in</strong>der, die <strong>in</strong> Leipzig zur<br />

Welt kamen. Der Sohn Julius wurde am 22.5.189 geboren. Dann<br />

folgte der Sohn Robert am 21.2.1901 und schließlich der Sohn<br />

Rudolf am 25.8.1906. Es kamen auch zwei Töchter zur Welt. Die<br />

erste, Reg<strong>in</strong>a, wurde am 30. .189 geboren. Die zweite Tochter<br />

hieß Amalia. Sie wurde am 5.1.1903 geboren und starb am<br />

1 .1.1903 im Alter von nur zwölf Tagen. Rosa Rettich wohnte mit<br />

ihrer Familie zuerst <strong>in</strong> der Karol<strong>in</strong>enstraße 26, später am Petersste<strong>in</strong>weg<br />

21 und schließlich <strong>in</strong> der Gottschedstraße 6. Ihr Ehemann<br />

starb am 26.8.1933 <strong>in</strong> Leipzig.<br />

Am 15.10.1936 emigrierte Rosa Rettich nach Holland, wo sich seit<br />

1933 bereits ihr Sohn Wilhelm aufhielt. Ihr Sohn Rudolf emigrierte<br />

zwei Wochen früher ebenfalls <strong>in</strong> die Niederlande.<br />

In Holland war es für ihren Sohn Wilhelm noch möglich<br />

Musikunterricht und Hauskonzerte zu geben. Im Mai 19 0 wurden<br />

die Niederlande von der deutschen Wehrmacht besetzt. 19 2<br />

52


mussten er und se<strong>in</strong>e Mutter sowie die Geschwister untertauchen.<br />

Wilhelm Rettich konnte nur durch die Hilfe der Nachbarn<br />

überleben. Rosa Rettich und ihr Sohn Rudolf wurden verraten und<br />

<strong>in</strong>s Lager Westerbork verschleppt. Am 6. .19 3 wurden sie beide<br />

<strong>in</strong> das Vernichtungslager Sobibor deportiert. Dort starben sie am<br />

9. .19 3.<br />

Bertram, Ellen, Menschen ohne Grabste<strong>in</strong> – Gedenkbuch für die Leipziger jüdischen<br />

Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, Passage-Verlag (Leipzig), <strong>2011</strong>, S. 292.<br />

Bundesarchiv Berl<strong>in</strong>, Residentenliste – Liste der jüdischen E<strong>in</strong>wohner im Deutschem<br />

Reich 1933 bis 1945, 4.7.<strong>2011</strong>.<br />

http://dic.academic.ru/dic.nsf/brokgauz_efron/40338/Жагоры, 1.7.<strong>2011</strong>.<br />

Leipziger Jüdisches Jahr-und Adressbuch 1933, S. 51<br />

Sächsisches Staatarchiv – Staatsarchiv Leipzig:<br />

- Meldekarteien SF 8988/0650f und SF 7662/0140f<br />

- Geburtsbücher Leipzig 1892, 1894, 1897, 1901, 1903 und 1906<br />

- Polizeiregisterakte PP-S 8788<br />

- Polizeimeldebuch Leipzig 1876, 11448K, Nr. 170, Filmsignatur 18022, Folien 1<br />

(Vorderseite) und 17 (Rückseite)<br />

- Adressbücher Leipzig 1894 (Abschnitt II), 1904 (Abschnitt I) sowie 1933 (Abschnitt<br />

I).<br />

The Central Database of Shoah Victims’ Names, Yad Vashem, Auszuge für Raphael<br />

Rudof Rettich sowie für Rosa Rettich, geb. Idelsohn, 4.7.<strong>2011</strong>.<br />

Wilhelm Rettich, www.ozg-orpheus.nl/orpheus/directie/Rettich-Wilhelm.php,<br />

30.6.<strong>2011</strong>.<br />

www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00001498, 30.6.<strong>2011</strong>.<br />

53


Rudolf Rettich<br />

Der Angestellte Rudolf (Raphael) Rettich kam am 25.8.1906 <strong>in</strong><br />

Leipzig als Sohn des Kaufmanns Wilhelm Israel Lazar (Isidor)<br />

Rettich und Rosa Benjam<strong>in</strong>owna Rettich, geb. Idelsohn zur Welt.<br />

Er wohnte <strong>in</strong> der Gottschedstraße 6.<br />

Am 1.10.1936 emigrierte er nach Haarlem <strong>in</strong> Holland, wo sich be-<br />

reits se<strong>in</strong> Bruder, der berühmte Komponist, Dirigent und Musik-<br />

lehrer, Wilhelm Rettich aufhielt. Zwei Wochen spätere emigrierte<br />

se<strong>in</strong>e Mutter ebenfalls <strong>in</strong> die Niederlande nach Haarlem.<br />

In Holland war es für se<strong>in</strong>en Bruder Wilhelm möglich, Musikunter-<br />

richt und Hauskonzerte zu geben. Im Mai 19 0 wurde die Nieder-<br />

lande jedoch von der deutschen Wehrmacht besetzt. 19 2 muss-<br />

ten er und se<strong>in</strong>e Mutter sowie se<strong>in</strong>e Geschwister untertauchen.<br />

Wilhelm Rettich konnte nur durch die Hilfe der Nachbarn überle-<br />

ben. Rudolf Rettich und se<strong>in</strong>e Mutter wurden dagegen verraten<br />

und <strong>in</strong>s Lager Westerbork verschleppt. Am 6. .19 3 wurden sie<br />

beide <strong>in</strong> das Vernichtungslager Sobibor deportiert. Dort starben<br />

sie am 9. .19 3.<br />

Bertram, Ellen, Menschen ohne Grabste<strong>in</strong> – Gedenkbuch für die Leipziger jüdischen<br />

Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, Passage-Verlag (Leipzig), <strong>2011</strong>, S. 292.<br />

Bundesarchiv Berl<strong>in</strong>, Residentenliste – Liste der jüdischen E<strong>in</strong>wohner im Deutschem<br />

Reich 1933 bis 1945, 4.7.<strong>2011</strong>.<br />

http://dic.academic.ru/dic.nsf/brokgauz_efron/40338/Жагоры, 1.7.<strong>2011</strong>.<br />

Leipziger Jüdisches Jahr-und Adressbuch 1933, S. 51.<br />

Sächsisches Staatarchiv – Staatsarchiv Leipzig:<br />

- Meldekarteien SF 8988/0650f und SF 7662/0140f<br />

- Geburtsbücher Leipzig 1892 und 1906<br />

- Polizeimeldebuch Leipzig 1876, 11448K, Nr. 170, Filmsignatur 18022, Folien 1<br />

(Vorderseite) und 17 (Rückseite)<br />

- Adressbücher Leipzig 1894 (Abschnitt II), 1904 (Abschnitt I) sowie 1933 (Abschnitt<br />

I)<br />

5


The Central Database of Shoah Victims’ Names, Yad Vashem, Auszuge für Raphael<br />

Rudof Rettich sowie für Rosa Rettich, geb. Idelsohn, 4.7.<strong>2011</strong>.<br />

Wilhelm Rettich, www.ozg-orpheus.nl/orpheus/directie/Rettich-Wilhelm.php,<br />

30.6.<strong>2011</strong>.<br />

www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00001498, 30.6.<strong>2011</strong>.<br />

55


Israel Lazar Rettich<br />

Israel Lazar Rettich (Isidor Rettich) wurde am 30.9.1863 <strong>in</strong> Tarnow<br />

<strong>in</strong> Galizien geboren. Von Beruf war er Kaufmann. Am 25.8.1891<br />

heiratete er <strong>in</strong> Leipzig Rosa Benjam<strong>in</strong>owna Idelsohn, geboren am<br />

22. .1865 <strong>in</strong> Nowy Schagory (damals Nowyje Shagory <strong>in</strong> Gouvernement<br />

Kaunas im Russischen Reich) als Tochter von Benjam<strong>in</strong><br />

Idelsohn. Sie war auch die Adoptivtochter des Kaufmanns Idal<br />

Rubyn Idelsohn und Rosetta Idelsohn, geb. Chachamowitz. Sie<br />

gehörte der Familie des berühmten Musikforschers Abraham Zwi<br />

Idelsohn (geb. 1 . .1882 <strong>in</strong> Filzburg bei Libau, gest. 1 .8.1938 <strong>in</strong><br />

Johannesburg) an.<br />

Ihre Familie stammte aus der Gegend von Riga. Aus der Ehe g<strong>in</strong>gen<br />

sechs K<strong>in</strong>der hervor, die alle <strong>in</strong> Leipzig geboren wurden – vier<br />

Söhne und zwei Töchter. Am 3. .1892 wurde se<strong>in</strong> Sohn Wilhelm<br />

Rettich, e<strong>in</strong> berühmter Komponist, Dirigent und Musiklehrer, geboren.<br />

Der Sohn Julius wurde am 22.5.189 geboren. Dann folgte<br />

der Sohn Robert am 21.2.1901 und dann der Sohn Rudolf am<br />

25.8.1906. Es kamen auch zwei Töchter zur Welt. Die erste, Reg<strong>in</strong>a,<br />

wurde am 30. .189 geboren. Die zweite Tochter Amalia wurde<br />

am 5.1.1903 geboren und starb am 1 .1.1903 im Alter von nur<br />

zwölf Tagen. Israel Lazar (Isidor) Rettich wohnte mit se<strong>in</strong>er Familie<br />

zuerst am Peterste<strong>in</strong>weg 21 und später <strong>in</strong> der Gottschedstraße 6.<br />

Er starb <strong>in</strong> Leipzig am 26.8.1933.<br />

Bertram, Ellen, Menschen ohne Grabste<strong>in</strong> – Gedenkbuch für die Leipziger jüdischen<br />

Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, Passage-Verlag (Leipzig), <strong>2011</strong>, S. 292.<br />

Bundesarchiv Berl<strong>in</strong>, Residentenliste – Liste der jüdischen E<strong>in</strong>wohner im Deutschem<br />

Reich 1933 bis 1945, 4.7.<strong>2011</strong>.<br />

56


http://dic.academic.ru/dic.nsf/brokgauz_efron/40338/Жагоры, 1.7.<strong>2011</strong>.<br />

Leipziger Jüdisches Jahr-und Adressbuch 1933, S. 51.<br />

Sächsisches Staatarchiv – Staatsarchiv Leipzig:<br />

- Meldekarteien SF 8988/0650f und SF 7662/0140f<br />

- Geburtsbücher Leipzig 1892, 1894, 1897, 1901, 1903 und 1906<br />

- Polizeiregisterakte PP-S 8788<br />

- Polizeimeldebuch Leipzig 1876, 11448K, Nr. 170, Filmsignatur 18022, Folien 1<br />

(Vorderseite) und 17 (Rückseite)<br />

- Adressbücher Leipzig 1894 (Abschnitt II), 1904 (Abschnitt I) sowie 1933 (Abschnitt<br />

I).<br />

The Central Database of Shoah Victims’ Names, Yad Vashem, Auszuge für Raphael<br />

Rudof Rettich sowie für Rosa Rettich, geb. Idelsohn, 4.7.<strong>2011</strong>.<br />

Wilhelm Rettich, www.ozg-orpheus.nl/orpheus/directie/Rettich-Wilhelm.php,<br />

30.6.<strong>2011</strong>.<br />

www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00001498, 30.6.<strong>2011</strong>.<br />

5


Bernhard Rab<strong>in</strong>owitz<br />

Der Kaufmann Bernhard Baruch Rab<strong>in</strong>owitz wurde am 13.9.1859<br />

<strong>in</strong> Tauroggen, damals Ostpreußen, heute Lituaen, geboren. Am<br />

16.8.1888 heiratete er Rifka (Reg<strong>in</strong>a) Glasz, geboren am 21.8.1866<br />

<strong>in</strong> Warschau. Aus dieser Ehe g<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>e Tochter sowie e<strong>in</strong> Sohn<br />

hervor. Die Tochter Eug<strong>in</strong>ia wurde am 2 . .1889 <strong>in</strong> Warschau geboren.<br />

Seit 25.6.1889 war Bernhard Rab<strong>in</strong>owitz mit se<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Familie<br />

<strong>in</strong> Leipzig ansässig und wohnte zuerst <strong>in</strong> der Gneisenaustraße .<br />

Am 15.9.1890 zogen sie <strong>in</strong> die Nordstraße 66 um. Von 29.9.1893<br />

bis 1.10.1901 wohnten sie <strong>in</strong> der König-Johann-Straße 13 (heute<br />

Tschaikowskistraße). Am 20.3.1893 wurde der Sohn Julius <strong>in</strong><br />

Leipzig geboren.<br />

Am 1 .10.1909 heiratete die Tochter Eug<strong>in</strong>ia den Kaufmann Eviduch-Vashim<br />

(genannt Max) Katz im Rabb<strong>in</strong>at zu Franzensbad auf<br />

dem Gebiet des heutigen Tschechien. Er wurde am 13.10.1882 <strong>in</strong><br />

Mogilev auf dem Gebiet der heutigen Belarus geboren. Aus dieser<br />

Ehe g<strong>in</strong>g ihr e<strong>in</strong>zigstes K<strong>in</strong>d, der künftige Nobelpreisträger Sir Bernard<br />

Katz (geboren am 26.3.1911 <strong>in</strong> Leipzig), hervor.<br />

Am 2 .1.1909 starb Bernhard Rab<strong>in</strong>owitz <strong>in</strong> Leipzig und am<br />

26. .1915 starb dort auch se<strong>in</strong>e Ehefrau Rifka.<br />

Sächsisches Staatsarchiv – Staatsarchiv Leipzig, Meldekarteien SF 6343/0541f und<br />

SF 7569/0382f.<br />

58


Max Katz<br />

Der Kaufmann und Rauchwarenhändler Eviduch-Vashim Katz,<br />

genannt Max Katz, wurde am 13.10.1882 <strong>in</strong> Mogilev auf dem<br />

Gebiet des heutigen Belarus geboren. Er war seit .8.190 <strong>in</strong><br />

Leipzig ansässig und wohnte zuerst <strong>in</strong> der Gustav-Adolf-Straße<br />

1. Ab 23.6.1905 wohnte er <strong>in</strong> der Ritterstraße 2. Am 1 .10.1909<br />

heiratete er Eug<strong>in</strong>ia Rab<strong>in</strong>owitz im Franzensbader Rabb<strong>in</strong>at auf<br />

dem Gebiet des heutigen Tschechien. Sie war die Tochter des<br />

Kaufmanns Bernhard Baruch Rab<strong>in</strong>owitz und Rifka Rab<strong>in</strong>owitz,<br />

geb. Glasz. Drei Tage nach der Eheschließung zog Max Katz <strong>in</strong><br />

die König-Johann Straße 13 (heute Tschaikowskistraße), wo se<strong>in</strong>e<br />

neue Ehefrau zusammen mit ihrer Mutter wohnte. Aus der Ehe<br />

g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> Sohn hervor, der künftige Nobelpreisträger Sir Bernard<br />

Katz. Er wurde am 26.3.1911 <strong>in</strong> Leipzig geboren und starb am<br />

20. .2003 <strong>in</strong> London. Bernhard Katz studierte Mediz<strong>in</strong> an der<br />

Universität Leipzig, wo er 193 se<strong>in</strong> Studium mit Promotion zum Dr.<br />

med. abschloß. Da se<strong>in</strong>e Familie russisch-jüdischer Abstammung<br />

war, wäre e<strong>in</strong> weiterer Aufenthalt <strong>in</strong> Deutschland für ihn und se<strong>in</strong>e<br />

Eltern gefährlich geworden. 1935 emigrierte Bernhard Katz nach<br />

London. Dort forschte er am University College London (UCL) auf<br />

dem Gebiet der Physiologie und promovierte 1938.<br />

Im März 1939 emigrierte Max Katz mit se<strong>in</strong>er Ehefrau nach<br />

London.<br />

Sächsisches Staatsarchiv – Staatsarchiv Leipzig, Meldekarteien SF 6343/0541f und<br />

SF 7569/0382f.<br />

Stets Primus, stets Lob; <strong>in</strong>: Leipziger Volkszeitung, 8.10.2008.<br />

Tucker, Anthony, Sir Bernard Katz, The Guardian, 24.3.2003.<br />

59


Sir Bernard Katz<br />

Der Physiologe und Biophysiker, Sir Bernard Katz, wurde am 26.<br />

März 1911 <strong>in</strong> Leipzig geboren. Se<strong>in</strong>e Eltern Eviduch-Vashim (ge-<br />

nannt Max) Katz und Eugenia Rab<strong>in</strong>owitsch waren jüdische E<strong>in</strong>-<br />

wanderer aus Russland. Der Vater kam am 13. Oktober 1882 <strong>in</strong><br />

Mogilev (damals zum Russischen Reich gehörend, heute auf dem<br />

Territorium Belarus‘) zur Welt, verließ das Russsische Reich be-<br />

reits 190 und baute e<strong>in</strong> Kaufmannsgeschäft (Pelz- und Rauch-<br />

waren) <strong>in</strong> der Leipziger Nikolaistraße 51 auf. Eugenia Rab<strong>in</strong>o-<br />

witsch, geboren am 2 . Juli 1889 <strong>in</strong> Warschau, lernte Max Katz <strong>in</strong><br />

Deutschland kennen und verheiratete sich mit ihm am 1 . Oktober<br />

1909 <strong>in</strong> Franzensbad (Tschechoslowakei, heutiges Tschechien).<br />

Bernard Katz lebte bis 193 <strong>in</strong> der elterlichen Wohnung des Hauses<br />

König-Johann-Straße 13 – die Straße heißt seit 19 Tschaikowskistraße.<br />

Von 191 bis 1921 besuchte Katz die 0. Bürgerschule<br />

<strong>in</strong> Leipzig. Im Zuge der russischen Oktoberrevolution 191<br />

wurde Katz mit Jahren die russische Staatsbürgerschaft aberkannt;<br />

die deutschen Behörden betrachteten den <strong>in</strong> Leipzig geborenen<br />

und aufgewachsenen Jungen daraufh<strong>in</strong> als sogenannten<br />

„staatenlosen Ausländer“, erst mit 30 Jahren sollte er wieder e<strong>in</strong>e<br />

Staatszugehörigkeit erhalten, nämlich die britische. Bed<strong>in</strong>gt durch<br />

se<strong>in</strong>e „Staatenlosigkeit“ war es ihm nicht möglich, das Leipziger<br />

Schiller-Real-Gymnasium zu besuchen, dafür nahm ihn das Leipziger<br />

König-Albert-Gymnasium auf. Wie aus dem Jahrbuch des<br />

Gymnasiums zu entnehmen ist, war Katz e<strong>in</strong> „Primus“, der „stets<br />

Lob“ bekam. In dieser Schulphase konzentrierte er sich mehr auf<br />

60


Griechisch und Late<strong>in</strong>, anstatt auf Mathematik, so hatte er nach ei-<br />

gener Aussage, mehr Zeit sich dem Schachspiel <strong>in</strong> den Leipziger<br />

Cafés zuzuwenden. Trotzdem bereitete ihm die Mathematik ke<strong>in</strong>e<br />

Schwierigkeiten.<br />

1925 brach er zwischenzeitlich die Schulzeit ab, um sich anderweitig<br />

weiterzubilden, 1926 kehrte er jedoch an se<strong>in</strong>e Schule zurück und<br />

bestand 1929 äußerst erfolgreich se<strong>in</strong> Abitur.<br />

Von 1929 bis 193 studierte Katz am Physiologischen Institut der<br />

Universität Leipzig Mediz<strong>in</strong>. Bereits 1931 erhielt er se<strong>in</strong> Physikum.<br />

1933 nahm er den „Siegfried-Garten-Preises“ entgegen, allerd<strong>in</strong>gs,<br />

bed<strong>in</strong>gt durch die damaligen antisemitischen Tendenzen an<br />

der Universität, unter dem deutschen Pseudonym Johann Müller.<br />

1933 war Katz der Vorsitzende der 1919 gegründeten jüdischen<br />

Studentenverb<strong>in</strong>dung „Hatikwah“ <strong>in</strong> Leipzig, die zum Kartell jüdischer<br />

Verb<strong>in</strong>dungen gehörte. Im Herbst 193 schloss er se<strong>in</strong><br />

Mediz<strong>in</strong>studium ab und promovierte an der Universität Leipzig<br />

zum Dr. med. Förderung und Schutz bot ihm hierbei der Ord<strong>in</strong>arius<br />

des Physiologischen Instituts, Prof. Dr. Mart<strong>in</strong> Gildemeister (18 6-<br />

19 3). Anschließend arbeitete Katz e<strong>in</strong>ige Monate im jüdischen<br />

Krankenhaus zu Leipzig als Mediz<strong>in</strong>-Assistent.<br />

Aufgrund zunehmender Repressalien emigrierte Katz im Februar<br />

1935 aus Nazideutschland, <strong>in</strong>dem er der E<strong>in</strong>ladung des britischen<br />

Physiologen Achibald Vivian Hill (1886-19 ), an dessen Institut<br />

am University College of London zu kommen, folgte. Bei se<strong>in</strong>er<br />

Ankunft hatte Katz nicht mehr und nicht weniger als se<strong>in</strong>en Staatenlosen-Pass<br />

des Völkerbundes, e<strong>in</strong> Empfehlungsschreiben von<br />

Ord<strong>in</strong>arius Gildemeister und Pfund <strong>in</strong> der Tasche. In England<br />

änderte er se<strong>in</strong>en Vornamen <strong>in</strong> das englische Pendant „Bernard“.<br />

Katz arbeitete <strong>in</strong> London bereits auf se<strong>in</strong>em Spezialgebiet - der<br />

61


Elektrobiophysik, zu Nervenerregung und Muskelkontraktionen.<br />

Am 23. Januar 1939 gelang es ihm, se<strong>in</strong>e Eltern aus Deutschland<br />

nach England nachzuholen und geme<strong>in</strong>sam mit ihnen nach Aus-<br />

tralien auszuwandern. Zuerst assistierte er im Sydney Hospital Sir<br />

John Eccles bis 19 2, dann meldete er sich zum Militärdienst <strong>in</strong><br />

der Royal Australian Air Force, bei der er während des 2. Weltkriegs<br />

als Radaroffizier im Südwest-Pazifik gegen die Japanischen<br />

Streitkräfte e<strong>in</strong>gesetzt wurde.<br />

19 3 ließ sich Katz habilitieren und forschte bis 19 5 über<br />

neuromuskuläre Transmissionen weiterh<strong>in</strong> am Sydney Hospital.<br />

Ende 19 5/Anfang 19 6 kehrte Katz an das Londoner University<br />

College zurück, nachdem er kurz zuvor Marguerite (genannt Rita)<br />

Penly aus Cremone, e<strong>in</strong>er Stadt im australischen Bundesstaat<br />

New South Wales, geheiratet hatte.<br />

Er arbeitete nun an der Cambridge University und am Mar<strong>in</strong>e Laboratory<br />

von Plymouth u.a. mit den Nobelpreisträgern des Jahres<br />

1963 Alan Hodgk<strong>in</strong> und Andrew Huxley zusammen. In der Folgezeit<br />

hatte er Professuren an der University of Liverpool sowie<br />

an der John Hopk<strong>in</strong>s University und der Harvard University <strong>in</strong><br />

den USA. Katz’ Forschungsschwerpunkt war die Physiologie der<br />

Nerven und Muskeln, se<strong>in</strong> Spezialgebiet die Elektrobiophysik zur<br />

Nervenerregung und Muskelkontraktion. Von 1952 bis 19 8 übernahm<br />

er den Lehrstuhl für Biophysik am University College, den<br />

bis zuvor se<strong>in</strong> Mentor und Förderer Achibald Vivian Hill <strong>in</strong>nehatte.<br />

1952 nahm die Royal Society Katz als Mitglied („Fellow“) auf und<br />

zeichnete ihn 196 mit der Copley Medal aus.<br />

Noch ehe er am 12. Oktober 19 0 geme<strong>in</strong>sam mit Julius Axelrod<br />

(1912-200 ) und Ulf Svante von Euler-Chelp<strong>in</strong> (1905-1983) den<br />

Nobelpreis für se<strong>in</strong>e Arbeiten zur Aufklärung der Erregungsüber-<br />

62


tragung <strong>in</strong> Nervensynapsen mit Hilfe chemischer Mediatoren, wie<br />

dem Neurotransmitter Acetylchol<strong>in</strong> (Ionen-Theorie der Nervener-<br />

regung) erhielt, wurde er im Jahr 1969 von König<strong>in</strong> Elisabeth II.<br />

geadelt.<br />

Katz war seit 1989 Mitglied der Akademie Deutscher Naturforscher<br />

„Leopold<strong>in</strong>a“.<br />

Am 26. Juli 1990 erhielt Bernhard Katz als Zeichen der Anerken-<br />

nung se<strong>in</strong>er Verdienste für die Naturwissenschaft, die von der<br />

Mediz<strong>in</strong>ischen Fakultät der Universität Leipzig verliehene Ehren-<br />

doktorwürde. Ebenfalls konnte er aus Anlass se<strong>in</strong>es ersten Stadt-<br />

besuchs nach se<strong>in</strong>er Emigration 1935 von der Stadt Leipzig die<br />

Ehrenbürgerwürde <strong>in</strong> Empfang nehmen.<br />

Zehn Jahre später, am 1 . Oktober 2000 wurde ihm zu Ehren e<strong>in</strong><br />

Gedenkste<strong>in</strong> mit Bronzetafel im Park des Universitätskl<strong>in</strong>ikums an<br />

der Liebigstraße e<strong>in</strong>geweiht.<br />

Sir Bernard Katz starb am 20. April 2003 im Alter von 92 Jahren<br />

<strong>in</strong> London.<br />

2006 wurde im Leipziger Stadtteil Probstheida e<strong>in</strong>e neu angelegte<br />

Straße ihm zu Ehren Katzstraße benannt.<br />

Katz widmete sich auch ausgiebig se<strong>in</strong>em Privatleben. Er war e<strong>in</strong><br />

begeisterter und talentierter Schachspieler. 1999 starb bereits se<strong>in</strong>e<br />

Ehefrau Marguerite Katz, geborene Penly. Mit Marguerite hatte<br />

Bernard Katz zwei geme<strong>in</strong>same Söhne.<br />

Colquhoun, David: Professor Sir Bernard Katz. Biophysicist who arrived <strong>in</strong> England<br />

with £4 and went on to w<strong>in</strong> a Noble Prize.http://www.<strong>in</strong>dependent.co.uk/news/<br />

obituaries/professor-sir-bernard-katz-730244.html, 08.09.<strong>2011</strong>.<br />

Diamant, Adolf: Chronik der <strong>Juden</strong> <strong>in</strong> Leipzig, Heimatland <strong>Sachsen</strong> GmbH Chemnitz<br />

1993, S. 189.<br />

Ephraim-Carlebach-Stiftung [Hrsg.], Judaica Lipsiensia: Zur Geschichte der <strong>Juden</strong> <strong>in</strong><br />

Leipzig, Edition Leipzig, 1994, Leipzig, S. 115.<br />

Hebenstreit, Uta: Die Verfolgung jüdischer Ärzte <strong>in</strong> Leipzig <strong>in</strong> den Jahren der<br />

nationalsozialistischen Diktatur: Schicksale der Vertriebenen, Dissertation, 1997,<br />

63


Leipzig, S108f.<br />

http://www.leipzig-lexikon.de/Personen/19110326.htm, 02.08.2007.<br />

http://www.waldstrassenviertel.de/persoenlichkeiten/katz.html, 08.09.<strong>2011</strong>.<br />

http://en.wikipedia.org/wiki/Bernard_Katz, 08.09.<strong>2011</strong>.<br />

Kirchhof, Heike: Jüdisches Leben <strong>in</strong> Leipzig: Gestern - Heute – Morgen: E<strong>in</strong> Literatur-<br />

und Bestandsverzeichnis der Rolf-Kralovitz-Bibliothek der ECS Stiftung Leipzig,<br />

2006, Leipzig, S. 127-128.<br />

Sächsisches Staatsarchiv – Staatsarchiv Leipzig, Meldekarteien SF 6343/0541f und<br />

SF 7569/0382f.<br />

Stets Primus, stets Lob; Leipziger Volkszeitung, 8.10.2008, S. 23.<br />

Tucker, Anthony: Sir Bernard Katz. Nobel Prize-w<strong>in</strong>ner and the founder of<br />

modern psychopharmacology. http://www.guardian.co.uk/news/2003/apr/24/<br />

guardianobituaries.highereducation, 08.09.<strong>2011</strong>.<br />

6


Leonid Kreutzer<br />

Der Klaviervirtuose, Klavierpädagoge, Komponist und Dirigent Le-<br />

onid Kreutzer wurde am 13. März 188 <strong>in</strong> St. Petersburg als Sohn<br />

deutsch-jüdischer Eltern geboren. Er besuchte das deutsche Gym-<br />

nasium <strong>in</strong> St. Petersburg und lernte danach am dortigen Konser-<br />

vatorium. Er studierte Klavier bei Anna Nikolaevna Essipovna und<br />

Komposition bei Alexander Glazunov. 1906, nach se<strong>in</strong>em Studium,<br />

zog er nach Leipzig und arbeitete hier als Pädagoge und Pianist.<br />

Während se<strong>in</strong>er kurzen Zeit <strong>in</strong> Leipzig wohnte er <strong>in</strong> der Kaiser-Wil-<br />

helm-Straße . 1908 zog er nach Berl<strong>in</strong>, wo er von 1921 bis 1931<br />

Professor für Klavier an der Staatlichen Hochschule für Musik war.<br />

192 erhielt Kreutzer die deutsche Staatsbürgerschaft.<br />

Neben se<strong>in</strong>er Lehrtätigkeit veröffentlichte er mehrere Bücher, u.<br />

a. „Das normale Klavierpedal vom akustischen und ästhetischen<br />

Standpunkt“ 1915 und „Ästhetische Bekenntnisse: Das Wesen der<br />

Klaviertechnik“ 1923. Drei weitere Bücher von ihm s<strong>in</strong>d später <strong>in</strong><br />

japanisch erschienen. Nach der Beendigung se<strong>in</strong>er Professur <strong>in</strong><br />

Berl<strong>in</strong> unternahm Kreutzer e<strong>in</strong>e weltweite Konzertreise, die ihn<br />

nach Japan, Ch<strong>in</strong>a und Manchukuo führte.<br />

Leonid Kreutzer war bei dessen Gründung im Sommer 1933 Mitglied<br />

im Ehrenpräsidium des Jüdischen Kulturbundes. Jedoch<br />

stand er zusammen mit Frieda Loebenste<strong>in</strong> auf der schwarzen<br />

Liste des „Kampfbundes für deutsche Kultur“, der 1928 vom NS-<br />

Chefideologen Alfred Rosenberg gegründet wurde.<br />

193 g<strong>in</strong>g Kreutzer <strong>in</strong> die Emigration nach Japan. 1938 übernahm<br />

Kreutzer e<strong>in</strong>e Meisterklasse für Klavier an der Kaiserlichen Musikakademie<br />

Tokyo. Dort wurde er als Pädagoge sehr geschätzt.<br />

65


Nachdem die deutsche Botschaft <strong>in</strong> Japan Kreutzer 19 als<br />

„ausgebürgerten Musiker“ gebrandmarkt hatte und er staatenlos<br />

geworden war, wurde er aus der Kaiserlichen Musikakademie <strong>in</strong><br />

Tokyo entlassen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges <strong>in</strong> Eu-<br />

ropa wurde er <strong>in</strong> Japan als „fe<strong>in</strong>dlicher Ausländer“ betrachtet und<br />

<strong>in</strong>haftiert. Nach der Kapitulation Japans konnte er wieder <strong>in</strong> Japan<br />

arbeiten, aber zunächst an der privaten Kunitachi Musikuniversität<br />

Tokyo und dann 19 8 wieder an der Kaiserlichen Musikakademie<br />

Tokyo.<br />

Leonid Kreutzer starb am 30. Oktober 1953 <strong>in</strong> Tokyo, wo er auch<br />

begraben ist. Nach se<strong>in</strong>em Tod wurde <strong>in</strong> Japan e<strong>in</strong>e Leonid Kreutzer<br />

Gesellschaft gegründet, die alljährlich e<strong>in</strong>en nach ihm benannten<br />

Preis vergibt.<br />

Sächsisches Staatsarchiv – Staatsarchiv Leipzig, Adressbuch Leipzig 1908 Abschnitt<br />

I.<br />

http://de.wikipedia.org./wiki/Leonid_Kreutzer, 3.8.<strong>2011</strong>.<br />

http://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002778, 24.8.<strong>2011</strong>.<br />

66


David Hacker<br />

Der Kürschner David Hacker wurde am 1 .5.185 <strong>in</strong> Husiatyn <strong>in</strong><br />

Galizien geboren. Am 2 . .1912 heiratete er auf dem Standesamt<br />

<strong>in</strong> Husiatyn Doba Hacker, geboren am 1.5.1858 <strong>in</strong> Husiatyn. Zuvor<br />

waren e<strong>in</strong> Sohn sowie e<strong>in</strong>e Tochter <strong>in</strong> Husiatyn zur Welt gekommen.<br />

Der Sohn P<strong>in</strong>kus (Paul) wurde am 1. .1883 und die Tochter<br />

Sorl am 1 .9.1891 geboren.<br />

Am 10.2.1908 zog der Sohn P<strong>in</strong>kus von Husiatyn nach Leipzig<br />

um. Am 18.3.1910 heiratete er Maria Margul<strong>in</strong>d, geboren am<br />

21. .1890 <strong>in</strong> Leipzig. Aus dieser Ehe g<strong>in</strong>gen drei Töchter hervor.<br />

Am .12.191 zogen David und Doba Hacker von Hamburg nach<br />

Leipzig um. Sie wohnten <strong>in</strong> der Yorckstraße 2. Seit 30.9.1925<br />

wohnten sie <strong>in</strong> der Sedanstraße 6.<br />

Am 6.5.193 starb David Hacker <strong>in</strong> Leipzig. Am 16.5.193 g<strong>in</strong>g<br />

P<strong>in</strong>kus Hacker mit se<strong>in</strong>er Ehefrau und der jüngsten Tochter nach<br />

Kopenhagen. Am 13.11.193 kamen sie von Kopenhagen noch<br />

e<strong>in</strong>mal nach Leipzig, um am 23.1.1938 endgültig nach Kopenhagen<br />

auszureisen. Später wurde die Witwe Doba Hacker gezwungen,<br />

<strong>in</strong>s „<strong>Juden</strong>heim“ <strong>in</strong> der Nordstraße 15 umzuziehen. Am<br />

19.9.19 2 wurde sie nach Theresienstadt deportiert. Dort starb sie<br />

am 31.1.19 3.<br />

Bertram, Ellen, Menschen ohne Grabste<strong>in</strong> – Gedenkbuch für die Leipziger jüdischer<br />

Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, Passage-Verlag, Leipzig, <strong>2011</strong>, S. 175.<br />

Diamant, Adolf, Deportationsbuch der <strong>in</strong> den Jahren 1942 bis 1945 von Leipzig aus<br />

gewaltsam verschickten <strong>Juden</strong>, Frankfurt am Ma<strong>in</strong>, 1991, S. 128.<br />

Sächsisches Staatsarchiv – Staatsarchiv Leipzig, Meldekarteien SF 6333/0128f,<br />

SF 6333/0136f, SF 6431/0584f, SF 6431/0590f und SF 6431/0594f.<br />

6


Doba Hacker<br />

Doba Hacker, geborene Hacker, kam am 1.5.1858 <strong>in</strong> Husiatyn, Ga-<br />

lizien, zur Welt. Am 2 . .1912 heiratete sie auf dem Standesamt<br />

<strong>in</strong> Husiatyn den Kürschner David Hacker, geboren am 1 .5.185<br />

<strong>in</strong> Husiatyn. Zuvor waren bereits e<strong>in</strong> Sohn sowie e<strong>in</strong>e Tochter der<br />

beiden <strong>in</strong> Husiatyn zur Welt gekommen. Der Sohn P<strong>in</strong>kus (Paul)<br />

wurde am 1. .1883 und die Tochter Sorl am 1 .9.1891 geboren.<br />

Am 10.2.1908 zog der Sohn P<strong>in</strong>kus von Husiatyn nach Leipzig um.<br />

Am 18.3.1910 heiratete er Maria Margul<strong>in</strong>d, geboren am 21. .1890<br />

<strong>in</strong> Leipzig. Aus dieser Ehe g<strong>in</strong>gen drei Töchter hervor.<br />

Am .12.191 zog Doba Hacker mit ihrem Ehemann von Hamburg<br />

nach Leipzig um. Sie wohnten <strong>in</strong> der Yorckstraße 2. Ab dem<br />

30.9.1925 wohnten sie <strong>in</strong> der Sedanstraße 6.<br />

Am 6.5.193 starb David Hacker <strong>in</strong> Leipzig. Am 16.5.193 g<strong>in</strong>g<br />

P<strong>in</strong>kus Hacker mit se<strong>in</strong>er Ehefrau und der jüngsten Tochter nach<br />

Kopenhagen. Am 13.11.193 kamen sie zurück, um am 23.1.1938<br />

endgültig nach Kopenhagen auszureisen.<br />

Später zwangen die Nazis die Witwe Doba Hacker <strong>in</strong>s „<strong>Juden</strong>heim“<br />

<strong>in</strong> der Nordstraße15 umzuziehen. Am 19.9.19 2 wurde sie nach<br />

Theresienstadt deportiert. Dort starb sie am 31.1.19 3.<br />

Bertram, Ellen, Menschen ohne Grabste<strong>in</strong> – Gedenkbuch für die Leipziger jüdischer<br />

Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, Passage-Verlag, Leipzig, <strong>2011</strong>, S. 175.<br />

Diamant, Adolf, Deportationsbuch der <strong>in</strong> den Jahren 1942 bis 1945 von Leipzig aus<br />

gewaltsam verschickten <strong>Juden</strong>, Frankfurt am Ma<strong>in</strong>, 1991, S. 128.<br />

Sächsisches Staatsarchiv – Staatsarchiv Leipzig, Meldekarteien SF 6333/0128f,<br />

SF 6333/0136f, SF 6431/0584f, SF 6431/0590f und SF 6431/0594f.<br />

68


P<strong>in</strong>kus Hacker<br />

Der Handlungsgehilfe P<strong>in</strong>kus (Paul) Hacker wurde am 1. .1883<br />

<strong>in</strong> Husiatyn <strong>in</strong> Galizien geboren. Er war der Sohn des Kürschners<br />

David Hacker und dessen Ehefrau Doba Hacker, geb. Hacker. Am<br />

10.2.1908 zog P<strong>in</strong>kus Hacker nach Leipzig um. Er wohnte zuerst<br />

<strong>in</strong> der Reichsstraße 5.<br />

Am 18.3.1910 heiratete er Maria Margul<strong>in</strong>d, geboren am 21. .1890<br />

<strong>in</strong> Leipzig geboren. Aus dieser Ehe g<strong>in</strong>gen drei Töchter, geboren<br />

<strong>in</strong> Leipzig, hervor.<br />

Die erste Tochter, Senta, kam am .2.1911 zur Welt. Am 12.6.1936<br />

heiratete sie <strong>in</strong> London den Reisenden und kaufmännischen<br />

Angestellten Walter Max Rogger (geboren <strong>in</strong> Leipzig). Seit<br />

Dezember 1936 war das Ehepaar <strong>in</strong> London ansässig.<br />

Die zweite Tochter des P<strong>in</strong>kus Hacker, Elly, wurde am 25.3.1913<br />

geboren. Am 15. .1936 g<strong>in</strong>g sie nach Malmö. Die jüngste Tochter,<br />

Ruth, kam am 19.10.1919 zur Welt. Sie g<strong>in</strong>g am 16.5.193 mit<br />

ihren Eltern nach Kopenhagen. Am 13.11.193 kehrten die drei<br />

nochmals nach Leipzig zurück, um am 23.1.1938 endgültig nach<br />

Kopenhagen auszureisen.<br />

Am 6.5.193 starb der Vater, David Hacker, <strong>in</strong> Leipzig. Später<br />

zwangen die Nazis die Mutter Doba Hacker, <strong>in</strong>s „<strong>Juden</strong>heim“ <strong>in</strong><br />

der Nordstraße 15 umzuziehen. Am 19.9.19 2 wurde sie nach<br />

Theresienstadt deportiert. Dort starb sie am 31.1.19 3.<br />

Bertram, Ellen, Menschen ohne Grabste<strong>in</strong> – Gedenkbuch für die Leipziger jüdischer<br />

Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, Passage-Verlag, Leipzig, <strong>2011</strong>, S. 175.<br />

Diamant, Adolf, Deportationsbuch der <strong>in</strong> den Jahren 1942 bis 1945 von Leipzig aus<br />

gewaltsam verschickten <strong>Juden</strong>, Frankfurt am Ma<strong>in</strong>, 1991, S. 128.<br />

69


Siegfried Samson Bon<br />

Der Schriftsteller, Privatgelehrte sowie Vorstand e<strong>in</strong>er Notenrol-<br />

lenfabrik, Dr. phil. Siegfried Samson Bon, wurde am 15.2.18 1<br />

<strong>in</strong> Leipzig geboren. Er war der zweite Sohn des Kaufmanns und<br />

Prokuristen Siegmund Bon (geb. 5.10.1838 <strong>in</strong> Mühlhausen, gest.<br />

19.2.18 2) und Ida Malw<strong>in</strong>a Bon, geb. Schiff (geb. 12.1.18 5 <strong>in</strong><br />

Hamburg, gest. 1 .12.1925 <strong>in</strong> Leipzig). Se<strong>in</strong> älterer Bruder, der<br />

Kaufmann Felix Magnus Bon, wurde am 23.6.1868 <strong>in</strong> Leipzig geboren.<br />

Wegen des frühen Todes se<strong>in</strong>es Vaters musste die Mutter<br />

die beiden Söhne alle<strong>in</strong> großziehen.<br />

Siegfried Bon war beruflich oft unterwegs, aber Leipzig blieb immer<br />

se<strong>in</strong>e Heimat. Er wohnte mehrere Jahre <strong>in</strong> der Gottschedstraße<br />

1 und <strong>in</strong> der Sedanstraße 12. Am 11.8.191 wurde er zum<br />

Heer e<strong>in</strong>berufen.<br />

Am 22.6.19 2 wurde Siegfried Bon gezwungen, <strong>in</strong> das „<strong>Juden</strong>heim“<br />

<strong>in</strong> der Auenstraße 1 (heute H<strong>in</strong>richsenstraße) zu ziehen.<br />

Am 19.9.19 2 wurde er nach Theresienstadt deportiert. Dort starb<br />

er am 10. .19 .<br />

Bertram, Ellen, Menschen ohne Grabste<strong>in</strong> – Gedenkbuch für die Leipziger jüdischer<br />

Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, Passage-Verlag Leipzig, <strong>2011</strong>, S. 107.<br />

Diamant, Adolf, Deportationsbuch der <strong>in</strong> den Jahren 1942 bis 1945 von Leipzig aus<br />

gewaltsame verschickten <strong>Juden</strong>, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1991, S. 118.<br />

Leipziger Jüdisches Jahr- und Adressbuch 1933, S. 14.<br />

Sächsisches Staatsarchiv – Staatsarchiv Leipzig<br />

- Polizeimeldebuch Leipzig 1855, 11426K, Nr. 74, Filmgisnatur 18000, Folie 166.<br />

- Polizeimeldebuch Leipzig 1876, 11442K, Nr. 133, Filmsignatur 18016 Folie 34<br />

(Rückseite).<br />

- Meldekarteien SF 6581/0457f, SF 6581/0459f und SF 8137/0165.<br />

0


Sigmund Ernst Bon<br />

Siegmund Ernst Bon wurde am 1 .9.1905 <strong>in</strong> Leipzig geboren. Er<br />

war der Sohn des Kaufmanns Felix Magnus Bon (geb. 23.6.1868<br />

<strong>in</strong> Leipzig) und Paul<strong>in</strong>a Bon, geb. Itz<strong>in</strong>g (geb. 16.3.1883 <strong>in</strong> Ber-<br />

l<strong>in</strong>). Se<strong>in</strong>e Eltern heirateten am 28.11.190 <strong>in</strong> Charlottenburg. Er<br />

wohnte <strong>in</strong> der Auenstraße 16 (heute H<strong>in</strong>richsenstraße) bei se<strong>in</strong>en<br />

Eltern. Siegmund Bon war auch e<strong>in</strong> Neffe des Schriftstellers, Pri-<br />

vatgelehrten sowie Vorstandes e<strong>in</strong>er Notenrollenfabrik, Dr. phil<br />

Siegfried Samson Bon, der am 19.9.19 2 nach Theresienstadt<br />

deportiert wurde, wo er am 10. .19 starb.<br />

Am 5.3.19 0 starb Sigmund Bon <strong>in</strong> Leipzig. Er war vermutlich Opfer<br />

der „Euthanasie“.<br />

Bertram, Ellen, Menschen ohne Grabste<strong>in</strong> – Gedenkbuch für die Leipziger jüdischer<br />

Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, Passage-Verlag Leipzig, <strong>2011</strong>, S. 107.<br />

Diamant, Adolf, Deportationsbuch der <strong>in</strong> den Jahren 1942 bis 1945 von Leipzig aus<br />

gewaltsame verschickten <strong>Juden</strong>, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1991, S. 118.<br />

Leipziger Jüdisches Jahr- und Adressbuch 1933, S. 14.<br />

Sächsisches Staatsarchiv – Staatsarchiv Leipzig<br />

- Polizeimeldebuch Leipzig 1855, 11426K, Nr. 74, Filmgisnatur 18000, Folie 166.<br />

- Polizeimeldebuch Leipzig 1876, 11442K, Nr. 133, Filmsignatur 18016 Folie 34<br />

(Rückseite).<br />

- Meldekarteien SF 6581/0457f, SF 6581/0459f und SF 8137/0165.<br />

Dr. Keith Barlow<br />

1


Leipziger Biografien<br />

Materialsammlung. Biografische Artikel <strong>in</strong> den regionalen<br />

und überregionalen Tageszeitungen<br />

Georg Ste<strong>in</strong>dorff<br />

Uni Leipzig muss Ste<strong>in</strong>dorff-Sammlung herausgeben<br />

Das Verwaltungsgericht Berl<strong>in</strong> hat entschieden, dass die Univer-<br />

sität Leipzig die Sammlung ägyptischer Altertümer des jüdischen<br />

Ägyptologen Georg Ste<strong>in</strong>dorff (1861-1951) an die Jewish Claims<br />

Conference (JCC) abgeben müsse (siehe Presseschau vom 1.-<br />

.April). Die Universität hatte sich bemüht, zu beweisen, dass ihr<br />

193 emeritierter Ägyptologieprofessor Ste<strong>in</strong>dorff se<strong>in</strong>e Sammlung<br />

von 163 Objekten, die sich als Leihgabe im Ägyptischen<br />

Museum der Universität befand, diesem dauerhaft überlassen<br />

wollte. Ste<strong>in</strong>dorff schätzte den Wert se<strong>in</strong>er Sammlung auf 10.260<br />

Reichsmark, verkaufte sie aber 1936 für 8.000 RM an die Universität.<br />

1939 emigrierte er <strong>in</strong> die USA. Das Gericht folgte der<br />

Argumentation der JCC, wonach der Verkauf verfolgungsbed<strong>in</strong>gt<br />

und unter Wert erfolgt sei. Ste<strong>in</strong>dorffs 88-jähriger Enkel Thomas<br />

Hemer, der aus den USA angereist war, erklärte dagegen, se<strong>in</strong><br />

Großvater habe verkauft, weil se<strong>in</strong> nichtjüdischer Schwiegersohn<br />

Geld für wirtschaftliche Unternehmungen benötigte. Für Ste<strong>in</strong>dorff<br />

selbst habe der Kaufpreis nur e<strong>in</strong>e untergeordnete Rolle<br />

gespielt. Hemer, der die mit zahlreichen Dokumenten, darunter<br />

Ste<strong>in</strong>dorffs Testament, belegte Auffassung der Universität un-<br />

2


terstützte, zeigte sich von dem Urteil enttäuscht. Die Uni Leipzig<br />

kann nun vor das Bundesverwaltungsgericht ziehen und/oder<br />

mit der JCC über die Bed<strong>in</strong>gungen verhandeln, unter denen<br />

die Ste<strong>in</strong>dorff-Sammlung <strong>in</strong> Leipzig verbleiben kann (Leipziger<br />

Volkszeitung, 26.5.<strong>2011</strong>, S.18 und 28./29.5.<strong>2011</strong>, S.1 , Neues<br />

Deutschland, 1.6.<strong>2011</strong>, S.11).<br />

Jan Assmann über Georg Ste<strong>in</strong>dorff und se<strong>in</strong>e Sammlung<br />

In der FAZ unterstützt der bekannte Ägyptologe Jan Assmann<br />

die Position der Universität Leipzig im Restitutionsstreit um die<br />

Ste<strong>in</strong>dorff-Sammlung (vgl. Presseschau vom 2 .Mai bis 2.Juni).<br />

Laut Assmann hatte Ste<strong>in</strong>dorff se<strong>in</strong>e Privatsammlung <strong>in</strong> bewusster<br />

Ergänzung zur Lehrsammlung der Universität aufgebaut<br />

und als Leihgabe <strong>in</strong> die Ausstellung des Ägyptischen Museums<br />

<strong>in</strong>tegriert. Demnach habe Ste<strong>in</strong>dorff geplant, die Stücke später<br />

der Universität zu schenken. Er verkaufte 1936, um se<strong>in</strong>en<br />

„arischen“ Schwiegersohn f<strong>in</strong>anziell zu unterstützen. Den Wert<br />

der Stücke addierte er auf 10.259 RM. Der vere<strong>in</strong>barte Kaufpreis<br />

von 8.000 RM für die ganze Sammlung entsprach dem damals<br />

üblichen Mengenrabatt. Ste<strong>in</strong>dorff hatte erst nach den Novemberpogromen<br />

1938 persönlich unter der Verfolgung zu leiden,<br />

so Assmann. Im März 1939 reiste Ste<strong>in</strong>dorff <strong>in</strong> die USA aus und<br />

konnte se<strong>in</strong>en gesamten Privatbesitz, darunter 100 ägyptische<br />

Antiquitäten mitnehmen. Durch das Urteil zur Restitution der<br />

1936 verkauften Sammlungsstücke ergebe sich „die widers<strong>in</strong>nige<br />

Lage, dass sie den Eigentümer wechseln, gegen den Willen des<br />

e<strong>in</strong>stigen Sammlers, gegen den Willen des Erben, gegen den<br />

Willen der Universität, die mit ihrer wundervollen Neuaufstellung<br />

ihrer Verantwortung gegenüber diesem kostbaren Erbe gerecht<br />

3


geworden ist, und gegen alle Vernunft. Insofern bleibt nur zu<br />

hoffen, dass die Jewish Claims Conference ihrerseits ihre Ver-<br />

antwortung gegenüber diesem jüdischen Erbe wahrnimmt und<br />

die Eigentumsverhältnisse so belässt, wie sie der ursprüngliche<br />

Besitzer vorgesehen hatte und se<strong>in</strong> Erbe wünscht“ (Frankfurter<br />

Allgeme<strong>in</strong>e Zeitung, 8.6.<strong>2011</strong>, S.N3).<br />

Universität Leipzig will Ste<strong>in</strong>dorff-Sammlung behalten<br />

Die Universität Leipzig bemüht sich nun um e<strong>in</strong>e gütliche E<strong>in</strong>i-<br />

gung mit der Jewish Claims Conference (JCC), damit die Ste<strong>in</strong>-<br />

dorff-Sammlung <strong>in</strong> Leipzig bleiben kann. Die JCC gab an, dass<br />

es ihr mehr um das politische Signal gehe, dass es sich bei dem<br />

Verkauf der altägyptischen Stücke 1936 „um e<strong>in</strong>en verfolgungs-<br />

bed<strong>in</strong>gten Entzug“ gehandelt habe. An der Ste<strong>in</strong>dorff-Sammlung<br />

selbst sei sie weniger <strong>in</strong>teressiert. Die Universität hofft ihrerseits,<br />

dass „die JCC im S<strong>in</strong>ne des Erben ganz von ihren Ansprüchen<br />

zurücktritt.“ Beide Seiten sehen gute Chancen für e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>igung<br />

(Neues Deutschland, 16.6.<strong>2011</strong>, S.1 , Mitteldeutsche Zeitung,<br />

16.6.<strong>2011</strong>).<br />

Zum Streit um die Ste<strong>in</strong>dorff-Sammlung<br />

Andreas Zielcke setzt sich <strong>in</strong> der Süddeutschen Zeitung für<br />

e<strong>in</strong>en Verbleib der Sammlung des jüdischen Ägyptologen Georg<br />

Ste<strong>in</strong>dorff im Ägyptischen Museum der Universität Leipzig e<strong>in</strong><br />

(vgl. Presseschau vom 10. bis 16.Juni). In der Darstellung des<br />

Sachverhalts folgt er Jan Assmanns Ausführungen <strong>in</strong> der FAZ.<br />

Interessant ist Zielckes Artikel, weil er auf die juristischen Besonderheiten<br />

des Falls e<strong>in</strong>geht. Das Berl<strong>in</strong>er Verwaltungsgericht<br />

habe nicht im S<strong>in</strong>ne des Vermögensgesetzes geurteilt, da es die


Beweislastanforderungen an die Universität Leipzig viel zu hoch<br />

angesetzt habe. Dass der Verkauf verfolgungsbed<strong>in</strong>gt gewe-<br />

sen sei, ist <strong>in</strong> solchen Restitutionsverfahren nur e<strong>in</strong>e plausible<br />

Vermutung. Das Gericht habe sie jedoch zum „unwiderleglichen<br />

Faktum“ erhoben. Problematisch sei an dem Fall jedoch vor<br />

allem die Entmündigung des Ste<strong>in</strong>dorff-Erben Thomas Hemer<br />

durch die Jewish Claims Conference (JCC). Zielcke verweist auf<br />

e<strong>in</strong>en „krassen Fehlschluss“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Erklärung der Bundesre-<br />

gierung vom September 1990. „Als e<strong>in</strong>zigen Grund dafür, dass<br />

die JCC an die Stelle passiv bleibender Erben treten soll, nannte<br />

die Regierung, dass andernfalls‚unbeanspruchtes Vermögen …<br />

den Fiskus des Staates begünstigen würde, <strong>in</strong> dessen jüngster<br />

Geschichte sich das wiedergutzumachende Unrecht ereignet<br />

hat.“ Begünstigt würde jedoch <strong>in</strong> der Regel nicht der „deutsche<br />

Fiskus“, nicht der Staat, sondern der heutige Besitzer, <strong>in</strong> diesem<br />

Falle e<strong>in</strong> Museum (Süddeutsche Zeitung, 21.6.<strong>2011</strong>, S.11).<br />

Ste<strong>in</strong>dorff-Sammlung bleibt <strong>in</strong> Leipzig<br />

Im Restitutionsstreit um die Sammlung des jüdischen Ägypto-<br />

logen Georg Ste<strong>in</strong>dorff (1861-1951) brachte e<strong>in</strong> „klärendes Ge-<br />

spräch“ zwischen der Universität Leipzig und der Jewish Claims<br />

Conference (JCC) nun die Lösung. Die Universität erkennt<br />

– dem Urteilsspruch des Berl<strong>in</strong>er Verwaltungsgerichts folgend<br />

– an, dass der Verkauf der Sammlung 193 „verfolgungsbed<strong>in</strong>gt“<br />

gewesen sei, und erklärt, Leben und Wirken Ste<strong>in</strong>dorffs noch<br />

besser erforschen und bekannt machen zu wollen. Im Gegenzug<br />

verzichtet die JCC auf die Sammlung. Die Süddeutsche Zeitung<br />

weist darauf h<strong>in</strong>, dass die Anerkennung der „Verfolgungsbed<strong>in</strong>gtheit“<br />

andere Restitutionsverfahren aus deutscher Sicht nachteilig<br />

5


ee<strong>in</strong>flussen könnte. Ausschlaggebend für das Nachgeben der<br />

JCC, die nach eigenem Bekunden nicht an e<strong>in</strong>er f<strong>in</strong>anziellen Ent-<br />

schädigung für die Ste<strong>in</strong>dorff-Sammlung <strong>in</strong>teressiert war oder ist,<br />

dürfte laut Süddeutscher Zeitung der Wille des Ste<strong>in</strong>dorff-Erben<br />

Thomas Hemer gewesen se<strong>in</strong> (Neues Deutschland, 2 .6.<strong>2011</strong>,<br />

S.1 , Süddeutsche Zeitung, 2 .6.<strong>2011</strong>, S.13, Frankfurter Allgeme<strong>in</strong>e<br />

Zeitung, 25.6.<strong>2011</strong>, S.33).<br />

Jochen Leibel<br />

Zur Jüdischen Woche <strong>in</strong> Leipzig<br />

Jochen Leibel, der 19 0 <strong>in</strong> Leipzig geboren wurde, lebt <strong>in</strong> Südfrankreich.<br />

Oft und gern besucht er se<strong>in</strong>e Heimatstadt. Er und<br />

se<strong>in</strong>e Mutter wurden während der NS-Zeit immer wieder von<br />

verschiedenen Personen gerettet. Der Leipziger Erich-Zeigner-<br />

Haus-Vere<strong>in</strong> bemüht sich um die Aufarbeitung dieser Geschichte.<br />

Nun hat sich e<strong>in</strong> weiterer Bekannter gemeldet. Rudolph Pögelts<br />

Mutter und se<strong>in</strong>e Geschwister hatten den damals dreijährigen<br />

Jochen Leibel für drei Wochen <strong>in</strong> ihrem Haus <strong>in</strong> Möckern vor den<br />

Nazis versteckt. Nun trafen sich Leibel und Pögelt wieder und<br />

konnten endlich fehlende Puzzleteile <strong>in</strong> Leibels Biografie zusammenfügen.<br />

– Anlässlich der Jüdischen Woche wird auch der Leipziger<strong>in</strong><br />

Joseph<strong>in</strong>e Hünerfeld gedacht, die während der Nazi-Zeit<br />

der dreiköpfigen jüdischen Familie Leopold das Leben rettete,<br />

<strong>in</strong>dem sie sie <strong>in</strong> ihrer Wohnung <strong>in</strong> der Gohliser Jägerstraße versteckte.<br />

Die 1913 geborene Katholik<strong>in</strong> weigerte sich, als Pianist<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> die Reichsmusikkammer e<strong>in</strong>zutreten. Deshalb durfte sie ihren<br />

Beruf <strong>in</strong> der NS-Zeit nicht ausüben. Joseph<strong>in</strong>e Hünerfeld starb<br />

6


Anfang Mai dieses Jahres. Sie und ihr Vater s<strong>in</strong>d die e<strong>in</strong>zigen<br />

Leipziger die von Israel die Auszeichnung „Gerechter unter den<br />

Völkern“ erhielten. Die Historiker<strong>in</strong> Andrea Lorz hat sich <strong>in</strong>tensiv<br />

mit dem Leben Hünerfelds beschäftigt (Leipziger Volkszeitung,<br />

2. .<strong>2011</strong>, S.20).<br />

Albert Hirschfeld<br />

Der letzte Rauchwarenhändler am Brühl<br />

In der Reihe „Leipziger Geschichte(n)“ wird der letzte Rauchwarenhändler<br />

am Leipziger Brühl, Albert Hirschfeld, vorgestellt.<br />

Hirschfeld kam Ende des 19.Jahrhunderts als Schulk<strong>in</strong>d nach<br />

Leipzig und wurde später Lehrl<strong>in</strong>g <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Rauchwarenhandlung.<br />

Er g<strong>in</strong>g dann nach Hamburg, heiratete und hatte zwei K<strong>in</strong>der.<br />

Im Ersten Weltkrieg war er Soldat. 1922 kehrte er nach Leipzig<br />

zurück und übernahm die Leitung der Firmenniederlassung von<br />

Wachtel & Eskreis. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme<br />

war der Jude Hirschfeld aufgrund se<strong>in</strong>er Mischehe lange<br />

Zeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er etwas besseren Position. 1939 musste aber auch er<br />

se<strong>in</strong>e Firma aufgeben. Am 1 .Februar 19 5 wurde Albert Hirschfeld<br />

im Alter von 68 Jahren mit dem letzten Deportationszug aus<br />

Leipzig nach Theresienstadt verschleppt. Dort erlebte er im Mai<br />

die Befreiung. Nach dem Krieg gründete Hirschfeld e<strong>in</strong>e neue<br />

Rauchwarenfirma am Brühl. Er starb 1965 (Leipziger Volkszeitung,<br />

1.9.<strong>2011</strong>, S.22).


Familie Rodoff<br />

Neue Stolperste<strong>in</strong>-Recherchen <strong>in</strong> Leipzig<br />

Im Herbst soll e<strong>in</strong> Jugendprojekt des Leipziger Vere<strong>in</strong>s Erich-<br />

Zeigner-Haus e. V. fortgesetzt werden. Das Thema lautet: „Et-<br />

was Licht im Dunkel des Holocaust – Fortsetzung des Projektes<br />

Stolperste<strong>in</strong>e für die Rodoffs“. Es werden noch Jugendliche<br />

gesucht, die daran teilnehmen möchten. Das Projekt begann im<br />

Frühjahr, als Leipziger Schüler Geld für sieben Stolperste<strong>in</strong>e zur<br />

Er<strong>in</strong>nerung an die jüdische Familie Rodoff sammelten und dabei<br />

e<strong>in</strong>en Betrag zusammenbrachten, der für 2 Stolperste<strong>in</strong>e reicht.<br />

Daher sollen nun die Biografien von 17 weiteren Leipziger Opfern<br />

des Nationalsozialismus erforscht werden. Es geht unter anderem<br />

um die Familie Berger, die S<strong>in</strong>ti-Familie Laub<strong>in</strong>ger und den<br />

<strong>Juden</strong> Karl Weil. Es ist wichtig, dass sich Jugendliche mit den<br />

Verbrechen an M<strong>in</strong>derheiten und der Geschichte des Nationalsozialismus<br />

ause<strong>in</strong>andersetzen. Im Juni kommenden Jahres sollen<br />

dann die Stolperste<strong>in</strong>e verlegt werden. Das Jugendprojekt wird<br />

von der Ephraim-Carlebach-Stiftung, dem Archiv Bürgerbewegung,<br />

dem Holocaust-Überlebenden Rolf Kralovitz, dem Jugendprogramm<br />

Zeitensprünge und dem Lokalen Aktionsplan der Stadt<br />

Leipzig unterstützt (Leipziger Volkszeitung, .9.<strong>2011</strong>, S.18).<br />

8


Ehemalige Leipziger erzählen<br />

Jüdische Vertriebene zu Besuch <strong>in</strong> Leipzig<br />

In Zusammenarbeit mit dem Leipziger Schulmuseum hat das<br />

Referat Internationale Zusammenarbeit der Stadt Leipzig am<br />

2 .Juni im Neuen Rathaus das Buch „Jüdische Schulgeschichten<br />

– Ehemalige Leipziger erzählen“ vorgestellt. In dem Buch erzählen<br />

2 ehemalige Leipziger <strong>Juden</strong> von ihrem Leben. Bei der Lesung<br />

waren e<strong>in</strong>ige ehemalige Mitbürger anwesend, die ihre K<strong>in</strong>dheit<br />

und Schulzeit <strong>in</strong> der Messestadt verbracht haben und <strong>in</strong> der<br />

Zeit des Nationalsozialismus vertrieben wurden. Insgesamt s<strong>in</strong>d<br />

18 Personen aus Israel und den USA der E<strong>in</strong>ladung von Oberbürgermeister<br />

Burkhard Jung (SPD) und Küf Kaufmann, dem<br />

Vorsitzenden der Israelitischen Religionsgeme<strong>in</strong>de, nach Leipzig<br />

gefolgt (Leipziger Volkszeitung, 23.6.<strong>2011</strong> und 2 .6.<strong>2011</strong>).<br />

Interview-Buch für Leipziger Bibliotheken<br />

Die Leiter<strong>in</strong> des Leipziger Schulmuseum Elke Urban hat nun<br />

das Buch „Jüdische Schulgeschichten - Ehemalige Leipziger<br />

erzählen“ mit Interviews von Leipziger <strong>Juden</strong> herausgegeben.<br />

100 Exemplare wurden an Leipzigs Bibliotheken verschenkt. Das<br />

Buch ist speziell für K<strong>in</strong>der und Jugendliche gedacht, die damit<br />

die persönlichen oft schweren Schicksale ihrer Mitbürger kennen<br />

lernen. Als nächstes ist e<strong>in</strong> Dokumentarfilm mit den Interviews<br />

geplant (Leipziger Volkszeitung, 29.9.<strong>2011</strong>, S.10).<br />

9


Schlomo Samson <strong>in</strong> Leipzig<br />

Schlomo Samson, 1923 <strong>in</strong> Leipzig geboren, hat am 22.Novem-<br />

ber im Ariowitschhaus geme<strong>in</strong>sam mit Schulmuseumsleiter<strong>in</strong><br />

Elke Urban e<strong>in</strong> öffentliches Gespräch – e<strong>in</strong>e besondere Ge-<br />

schichtsstunde mit Zeitzeugen - über se<strong>in</strong> Leben und se<strong>in</strong> Buch<br />

„Zwischen F<strong>in</strong>sternis und Licht“ geführt. Im Jahr 1938 musste<br />

Samson auf Druck des Oberbürgermeisters erst die Carlebach-<br />

Schule, dann Leipzig verlassen, da er e<strong>in</strong> nazi-kritisches Theater-<br />

stück verfasst hatte. Er wurde dann <strong>in</strong>s holländische Arbeitslager<br />

Westerbork und <strong>in</strong>s KZ Bergen-Belsen verschleppt. Heute wohnt<br />

er <strong>in</strong> Israel (Leipziger Volkszeitung, 21.11.<strong>2011</strong>, S.20).<br />

Felix Goldschmidt, Abraham Meyer Goldschmidt<br />

Die Gräber der Leipziger Geme<strong>in</strong>derabb<strong>in</strong>er<br />

Die Historiker<strong>in</strong> Katr<strong>in</strong> Löffler setzt sich dafür e<strong>in</strong>, <strong>in</strong> Kooperation<br />

mit der Ephraim-Carlebach-Stiftung und der Israelitischen Religionsgeme<strong>in</strong>de<br />

das Grab des 193 verstorbenen liberalen Leipziger<br />

Rabb<strong>in</strong>ers Felix Goldmann zu restaurieren. Es bef<strong>in</strong>det sich<br />

auf dem Neuen Israelitischen Friedhof. Für die Restaurierung,<br />

die etwa 3.000 Euro kosten soll, werden noch Spenden benötigt.<br />

Der zweite <strong>in</strong> Leipzig begrabene Geme<strong>in</strong>derabb<strong>in</strong>er ist Abraham<br />

Meyer Goldschmidt. Se<strong>in</strong> Grab bef<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em tadellosen<br />

Zustand, sicherlich wegen se<strong>in</strong>er berühmten Frau Henriette<br />

Goldschmidt (Leipziger Volkszeitung, 9. .<strong>2011</strong>, S.13).<br />

80


Benefizführungen über jüdische Friedhöfe<br />

Von 191 bis zu se<strong>in</strong>em Tod 193 wirkte Felix Goldmann als<br />

Rabb<strong>in</strong>er <strong>in</strong> Leipzig und setzte sich besonders für den Ausgleich<br />

zwischen liberalen und orthodoxen <strong>Juden</strong> e<strong>in</strong>. Goldmanns Grab<br />

- nur zwei Geme<strong>in</strong>derabb<strong>in</strong>er s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Leipzig bestattet - bef<strong>in</strong>det<br />

sich auf dem Neuen Israelitischen Friedhof. Die Inschrift ist<br />

kaum noch lesbar, die Schriftplatte löst sich von der Rückwand,<br />

und die E<strong>in</strong>fassung muss neu gerichtet und befestigt werden.<br />

Die Restaurierung des Grabmals soll bis zur „Woche der Brüderlichkeit“,<br />

die im März <strong>2012</strong> <strong>in</strong> Leipzig stattf<strong>in</strong>det, erfolgen.<br />

Gebraucht werden noch rund 1500 Euro. Um die fehlenden Mittel<br />

aufzubr<strong>in</strong>gen, werden Führungen über den Alten und Neuen<br />

Israelitischen Friedhof durchgeführt. So führt der Historiker Steffen<br />

Held am Sonntag, dem 16.Oktober ab 11.00 Uhr über den<br />

Alten Israelitischen Friedhof, der seit 186 an der Berl<strong>in</strong>er Straße<br />

123 besteht und am 23.Oktober ab 1 .00 Uhr führt die Initiator<strong>in</strong><br />

der Aktion, Katr<strong>in</strong> Löffler, über den Neuen Israelitischen Friedhof,<br />

der 1928 an der Delitzscher Straße 22 eröffnet wurde. Die<br />

Führungen dauern etwa 90 M<strong>in</strong>uten; um e<strong>in</strong>en Beitrag von sechs<br />

Euro wird gebeten. Männer müssen e<strong>in</strong>e Kopfbedeckung tragen<br />

(Leipziger Volkszeitung, 1 .10.<strong>2011</strong>, S. ).<br />

Erweiterung des Leipziger jüdischen Friedhofs<br />

Da <strong>in</strong> etwa zwei Jahren voraussichtlich die Kapazitäten des<br />

Neuen Jüdischen Friedhofs erschöpft se<strong>in</strong> werden, plant die Israelitische<br />

Religionsgeme<strong>in</strong>de e<strong>in</strong>e Erweiterung. H<strong>in</strong>sichtlich der<br />

demografischen Entwicklung und des jüdischen Gesetzes, dass<br />

Gräber niemals e<strong>in</strong>geebnet und neu vergeben werden dürfen,<br />

s<strong>in</strong>d neue Grabanlagen dr<strong>in</strong>gend notwendig. Das Gelände, das<br />

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von der Geme<strong>in</strong>de dafür vorgesehen ist, wird bisher noch kle<strong>in</strong>-<br />

gärtnerisch genutzt. Die Kosten für die Umstrukturierung tragen<br />

die Geme<strong>in</strong>de sowie das Amt für Stadtgrün und Gewässer (Leip-<br />

ziger Volkszeitung, 22.11.<strong>2011</strong>, S.15).<br />

Erw<strong>in</strong> Schulhoff<br />

Musik zum Gedenken an jüdische Komponisten<br />

In Jena er<strong>in</strong>nern Musiker mit e<strong>in</strong>em Konzert an den jüdischen<br />

Komponisten Gideon Kle<strong>in</strong> und den Holocaust. Kle<strong>in</strong> hatte das<br />

Musikstück, das aufgeführt wird, acht Tage vor se<strong>in</strong>em Tod <strong>in</strong><br />

Auschwitz komponiert. Außerdem werden Stücke von Hans<br />

Krasa und Erw<strong>in</strong> Schulhoff gespielt, die im Konzentrationslager<br />

Theresienstadt entstanden s<strong>in</strong>d. Das nächste Konzert f<strong>in</strong>det am<br />

8. November statt. (Thür<strong>in</strong>ger Allgeme<strong>in</strong>e, 21.10.11).<br />

Mart<strong>in</strong> Kober<br />

Jugendprojekt Leipzig – Lyon<br />

Seit Herbst 2009 erforschen Jugendliche aus Leipzig und Lyon<br />

im geme<strong>in</strong>samen Projekt „Der Brief“ die Lebensgeschichte des<br />

Leipziger <strong>Juden</strong> Mart<strong>in</strong> Kober (1890-19 2). Kober besaß e<strong>in</strong>e<br />

Schneiderei im Waldstraßenviertel und war 19 0 erst <strong>in</strong> die<br />

Schweiz und danach nach Brüssel geflohen. Nach der Besetzung<br />

Belgiens wurde er nach Auschwitz deportiert und 19 2<br />

ermordet. Zum Abschluss des Projektes reisten 1 Leipziger<br />

Jugendliche nach Lyon, von wo aus sie geme<strong>in</strong>sam mit ihren<br />

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französischen Projektpartner_<strong>in</strong>nen bis zum 26.Oktober wichtige<br />

Stationen <strong>in</strong> der Leidensgeschichte Mart<strong>in</strong> Kobers besuchen wer-<br />

den (Leipziger Volkszeitung, 21.10.<strong>2011</strong>, S.18).<br />

Henri H<strong>in</strong>richsen<br />

Prozess um Musikbibliothek Peters<br />

Das Bundesverwaltungsgericht entschied am 2 .November <strong>in</strong><br />

letzter Instanz im Streit um die E<strong>in</strong>leitung e<strong>in</strong>es Verfahrens zur<br />

E<strong>in</strong>tragung der Musikaliensammlung der Leipziger Musikbibliothek<br />

Peters <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Verzeichnis national wertvollen Kulturgutes.<br />

Damit wäre e<strong>in</strong> Ausfuhrverbot besiegelt, was ausländische Miteigentümer<br />

der aus rund 25.000 Medien bestehenden Sammlung<br />

ablehnen. Ursprünglich gehörte die Schriftensammlung (u.a. von<br />

Felix Mendelsohn-Bartholdy und Johann Sebastian Bach) zum<br />

Vermögen des jüdischen C. F. Peters OHG Verlages, im Zuge<br />

des Nationalsozialismus wurde die jüdische Gesellschaft aber<br />

arisiert. Der damalige Geschäftsführer Henri H<strong>in</strong>richsen wurde<br />

<strong>in</strong> Auschwitz ermordet. Vor wenigen Monaten ist zudem bekannt<br />

geworden, dass sich die Stadt Leipzig für den Kauf der Musikbibliothek<br />

Peters <strong>in</strong>teressiert (Leipziger Volkszeitung, 2 .11.<strong>2011</strong>,<br />

S.10).<br />

Musikbibliothek Peters bleibt <strong>in</strong> Leipzig<br />

Wie das Bundesverwaltungsgericht am 2 .November entschieden<br />

hat, bleibt die Musikbibliothek Peters <strong>in</strong> Leipzig. Kläger<br />

hatten die Herausgabe e<strong>in</strong>zelner Stücke der Sammlung erzw<strong>in</strong>gen<br />

wollen, die früher zum Vermögen der Jüdischen C. F. Peters<br />

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OHG gehörte und 1938 von den Nazis enteignet wurde. Das Ge-<br />

richt entschied, dass die Sammlung <strong>in</strong>s Verzeichnis der national<br />

wertvollen Kulturgüter aufgenommen wird, somit ist e<strong>in</strong>e Ausfuhr<br />

verboten (Sächsische Zeitung, 25.11.<strong>2011</strong>, S. ).<br />

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