Toynbee Hall: Außenstelle der Universität in einem Londoner Slum
Toynbee Hall: Außenstelle der Universität in einem Londoner Slum
Toynbee Hall: Außenstelle der Universität in einem Londoner Slum
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<strong>Toynbee</strong> <strong>Hall</strong>: <strong>Außenstelle</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Universität</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>Londoner</strong> <strong>Slum</strong><br />
Betreff Vorstellung von Henrietta und Samuel Barnett (Seite 21 – 59)<br />
Aus „Wie helfen zum Beruf wurde“ Band 1<br />
E<strong>in</strong>e Methodengeschichte <strong>der</strong> Sozialarbeit 1883-1945<br />
Von C. Wolfgang Müller, Edition Sozial - Beltz<br />
Datum 07.10.2002<br />
Verfasser Bauer Gabriele<br />
Ell<strong>in</strong>ger Peter<br />
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Samuel Augustus und Henrietta Barnett – die Grün<strong>der</strong> von <strong>Toynbee</strong> <strong>Hall</strong><br />
Fakten:<br />
Henrietta und Samuel Barnett zur Zeit <strong>der</strong> Gründung von <strong>Toynbee</strong> <strong>Hall</strong> 1882<br />
Samuel Augustus Barnett (1844 – 1913)<br />
Henrietta Octavia Barnett (1851 – 1936)<br />
Geboren <strong>in</strong> Bristol<br />
Studium <strong>der</strong> Geschichte, des Rechts und <strong>der</strong> Religion im Wadham College <strong>in</strong> Oxford<br />
Diakon <strong>in</strong> Bristol<br />
Bei Arbeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Liga <strong>der</strong> Wohlfahrtsverbände lernte Samuel die 19 jährige Henrietta kennen<br />
1872 g<strong>in</strong>gen sie nach St. Jude’s <strong>in</strong> Whitechapel (dem damals ärmsten Bezirk Londons)<br />
1873 heirateten sie<br />
1883 Gründung von <strong>Toynbee</strong> <strong>Hall</strong><br />
London <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>twende:<br />
39 Millionen Englän<strong>der</strong> <strong>in</strong> Armut<br />
6 Millionen Englän<strong>der</strong> lebten <strong>in</strong> Wohlstand<br />
Dualsystem von staatlicher Armenhilfe und privater Armenpflege<br />
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Staatliche Armenhilfe:<br />
Zurückgehend auf Queen Elisabeth I (1601) beschreibt man die damalige Hilfe auf drei Arten:<br />
1) Die Erlangung <strong>der</strong> Unterstützung muss gewiss se<strong>in</strong>; es muss die allgeme<strong>in</strong>e<br />
Überzeugung bestehen, dass je<strong>der</strong>mann von <strong>der</strong> äussersten Not geschützt ist.<br />
2) Die öffentliche Unterstützung darf über das Existenzm<strong>in</strong>imum nicht h<strong>in</strong>ausgehen (man<br />
darf sich durch Empfangen von Sozialhilfe nicht gesellschaftlich verbessern)<br />
3) Mit <strong>der</strong> Unterstützung müssen Nachteile verbunden se<strong>in</strong>, welche den Empfänger<br />
veranlassen, für se<strong>in</strong>e Zukunft selbst Vorsorge zu treffen.<br />
Dazu wurden drei Instrumente e<strong>in</strong>gesetzt:<br />
1) Verlust <strong>der</strong> bürgerlichen Ehrenrecht (und damit Verlust des Wahlrechts – für die<br />
Erlangung des Wahlrechts musste man allerd<strong>in</strong>gs 10 Pfund Grundsteuer bezahlen,<br />
daher war dieses Instrument wertlos)<br />
2) Öffentliche Sitzung über sich ergehen lassen (vor <strong>der</strong> kommunalen Armenbehörde)<br />
und e<strong>in</strong>e Prüfung <strong>der</strong> Besitzverhältnisse über sich ergehen lassen (ob denn e<strong>in</strong>e Hilfe<br />
gerechtfertigt sei) und damit se<strong>in</strong>e gesamte Privatsphäre preiszugeben<br />
3) In e<strong>in</strong> Armenhaus e<strong>in</strong>weisen und zur Arbeit zw<strong>in</strong>gen (zum Wergzupfen – Seile und<br />
Taue wie<strong>der</strong> auftrennen)<br />
Daher waren die meisten Armen eher bereit zu stehlen o<strong>der</strong> zu betteln, als staatliche Hilfe <strong>in</strong><br />
Anspruch zu nehmen.<br />
Private Armenpflege:<br />
Verschiedene kirchliche Vere<strong>in</strong>e und private Wohlfahrtsverbände verteilten Almosen unter<br />
von ihnen ausgewählten Armen und Erwerbslosen.<br />
Englische Arbeiterfamilien Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />
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Nicht so <strong>in</strong> <strong>Toynbee</strong> <strong>Hall</strong>:<br />
Ke<strong>in</strong>e punktuelle Hilfe, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung des Sozialsystems kann e<strong>in</strong>e Än<strong>der</strong>ung<br />
herbeiführen. Samuel nannte das „wechselseitige Durchdr<strong>in</strong>gung“:<br />
Die beiden gründeten „university settlements“ (<strong>Universität</strong>snie<strong>der</strong>lassungen), <strong>in</strong> denen junge<br />
<strong>Universität</strong>sabgänger und „ältere Semester“ wohnten und ihre vielseitigen Fähigkeiten zum<br />
Wohl <strong>der</strong> Allgeme<strong>in</strong>heit e<strong>in</strong>brachten.<br />
Im Vor<strong>der</strong>grund standen natürlich die Sonntagsschule, die Abendschule und die<br />
Erwachsenenbildung. Nachdem Barnett allerd<strong>in</strong>gs die gängige Schuldidaktik zuwi<strong>der</strong> war<br />
organisierten sie verschiedenste Clubs <strong>in</strong> denen nicht gelehrt wurde, son<strong>der</strong>n Me<strong>in</strong>ungen und<br />
Information ausgetauscht wurden.<br />
Zum Beispiel „Adam Smith Club“, „Foto Club“, „Schach Club“, „K<strong>in</strong><strong>der</strong>pflege Club“,<br />
„philosophische Gesellschaft“, „Reise – und Wan<strong>der</strong> Club“, „Schwimmvere<strong>in</strong>“,<br />
Shakespearegesellschaft“, um nur e<strong>in</strong>ige zu nennen.<br />
Es waren ke<strong>in</strong>e Schulklassen, son<strong>der</strong>n Vere<strong>in</strong>e <strong>in</strong> denen die Mittellosen geme<strong>in</strong>sam mit<br />
Intellektuellen dem Wissen e<strong>in</strong>en Schritt näher kamen.<br />
Sie lebten e<strong>in</strong>en geselligen Verkehr mit den Nachbarn (Gartenpartys, Vorträge, Musik,<br />
Gesang, zeitgenössische Künstler präsentierten ihre Arbeit, Ausstellungen,...), um ihnen e<strong>in</strong><br />
wenig Kultur und Wissen zu vermitteln.<br />
Nachdem bis 1884 an die 400 Partys und Feste organisiert wurden, war es durch ihre<br />
Kontakte e<strong>in</strong> Leichtes, Geldgeber für e<strong>in</strong>e eigene Gemäldegalerie <strong>in</strong> Whitechapel<br />
aufzutreiben.<br />
<strong>Toynbee</strong> <strong>Hall</strong> <strong>in</strong> Whitechapel<br />
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Die Leihbibliothek <strong>der</strong> <strong>Universität</strong>s Nie<strong>der</strong>lassung enthielt 1888 an die 4000 Exemplare.<br />
1884 wohnten <strong>in</strong> <strong>Toynbee</strong> <strong>Hall</strong> 16 Akademiker, woraufh<strong>in</strong> die Barnetts Jahre später<br />
„Wadham House“ gründeten (18 Bewohner) und sechs Jahre später gründeten sie „Balliol<br />
House“ (39 Bewohner.<br />
Die beiden letztgenannten bildeten den Grundstock für die heutige <strong>Londoner</strong> <strong>Universität</strong>.<br />
Die Stärke <strong>der</strong> beiden war ihr unglaubliches Organisationstalent. An<strong>der</strong>s hätten sie die nahezu<br />
unüberschaubare Vielfalt an Aktivitäten und Kontakten nicht mehr überblicken können.<br />
E<strong>in</strong>mal wöchentlich gab es mit jedem Mitarbeiter von <strong>Toynbee</strong> <strong>Hall</strong> e<strong>in</strong> halbstündiges<br />
Gespräch, um über das Erlebte sprechen zu können. Man kann dieses Vieraugengespräch als<br />
Vorgänger <strong>der</strong> Supervision ansehen.<br />
Manche Kritiker beschränkten ihre Methode auf die „drei P’s“ (pictures, parties and pianos).<br />
Dies galt allerd<strong>in</strong>gs primär, um das Vertrauen <strong>der</strong> Nachbarschaft zu gew<strong>in</strong>nen.<br />
Es gelang allerd<strong>in</strong>gs nicht, die wirtschaftlichen Ursachen von Armut und Erwerbslosigkeit zu<br />
bekämpfen. Daher stellte Samuel 1989 selbst sozialwissenschaftliche Untersuchungen <strong>der</strong><br />
<strong>in</strong>dustriellen und sozialen Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> Bevölkerung des <strong>Londoner</strong> Ostens an.<br />
Drei Jahre später wurde e<strong>in</strong> „Fond zur wissenschaftlichen Sozialuntersuchung“ gegründet, <strong>der</strong><br />
heute noch <strong>der</strong> Verwaltung des <strong>Toynbee</strong> Trust unterliegt.<br />
Dies zog natürlich e<strong>in</strong>e Schaar junger Akademiker mit sich, die e<strong>in</strong>en eigenen Club gründete,<br />
um die sozialen Verhältnisse besser Erforschen zu können. Henrietta mokierte sich über<br />
diesen neuen „Helfer - Typen“, da es zeitweise mehr Helfer gab, welche die sozialen<br />
Verhältnisse untersuchten, als diese zu reformieren.<br />
1893 wurde Samuel Kanonikus (=Mitglied des Domkapitels; dieses wie<strong>der</strong>um berät den<br />
Bischof <strong>in</strong> sämtlichen Fragen, kann mancherorts auch das Recht zur Bischofswahl besitzen)<br />
von Bristol und musste sich <strong>in</strong> dieser Position immer wie<strong>der</strong> dem Bischof gegenüber<br />
verantworten (die Kirche verstand nicht, wie man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gotteshaus e<strong>in</strong>e Ausstellung<br />
veranstalten konnte).<br />
Henrietta machte sich im Beson<strong>der</strong>en Gedanken über das damals übliche „duale System“,<br />
welches vorsah, erst e<strong>in</strong>mal abzuschätzen, ob denn <strong>der</strong> Hilfeempfänger überhaupt „würdig“<br />
ist, diese Hilfe auch zu empfangen. Dies wurde damals von ehrenamtlichen<br />
„Hausbesucher<strong>in</strong>nen“ vorgenommen. Henrietta war <strong>in</strong> ihrer Jugend e<strong>in</strong>e solche<br />
„Hausbesucher<strong>in</strong>“ und bereitete im Zuge ihrer Arbeit <strong>in</strong> <strong>Toynbee</strong> <strong>Hall</strong> junge Frauen auf diese<br />
Aufgabe vor.<br />
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Dazu e<strong>in</strong> Ausschnitt aus e<strong>in</strong>em Traum, den Henrietta hatte:<br />
[...] Ich träumte, ich sei ><strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt heruntergekommen< und würde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> schmalen,<br />
blauen Betten <strong>in</strong> dem langen, monotonen Saal des Krankenhauses von Whitechapel liegen.<br />
Ich träumte nicht von <strong>der</strong> Ursache me<strong>in</strong>er Krankheit o<strong>der</strong> me<strong>in</strong>es Fehlverhaltens, ich weiß nur<br />
noch, daß sich je<strong>der</strong>mann von mir abgewendet hatte, selbst me<strong>in</strong> Gatte. Dies bedrückte mich,<br />
aber me<strong>in</strong>e hauptsächliche Gefühlsbewegung war es, zu bereuen und Gutes zu tun. Im Schlaf<br />
arbeitet me<strong>in</strong> Gehirn an vielen Plänen, die alle undurchführbar waren, weil ich dazu die Hilfe<br />
an<strong>der</strong>er benötigt hätte. Plötzlich sah ich, wie die Tür sich öffnete und e<strong>in</strong>e Dame here<strong>in</strong>kam.<br />
Me<strong>in</strong> Herz schlug vor Freude. aber dann überkam mich e<strong>in</strong>e paralysierende Angst.<br />
„Ach, sie wird e<strong>in</strong>e Dame von <strong>der</strong> Liga <strong>der</strong> Wohlfahrtsverbände se<strong>in</strong>, und ich gehöre nicht zu<br />
den >würdigen< Fällen.“<br />
Damit erwachte ich und erkannte <strong>in</strong> aller Demut, daß Gott mir e<strong>in</strong>e Lehre erteilt hatte: selbst<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> niedrigsten Kreatur die Sehnsucht nach Güte zu suchen. [...]<br />
Dieser Traum hegte <strong>in</strong> Henrietta Zweifel an dem damaligen System und an ihrer Arbeit,<br />
welche sie <strong>in</strong> ihrer Bographie auch e<strong>in</strong>gestand.<br />
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Diese Informationen beruhen auf e<strong>in</strong>er Biographie, welche Henrietta Barnett nach dem Tode<br />
ihres Mannes (1913) verfasste und gibt die Entstehung von <strong>Toynbee</strong> <strong>Hall</strong> natürlich auf<br />
subjektive Art und Weise wie<strong>der</strong>.<br />
Der deutsche Werner Picht (e<strong>in</strong> Anhänger des franziskanischen Ordens-Ideals) untersuchte im<br />
Jahre 1913 <strong>Toynbee</strong> <strong>Hall</strong> (und e<strong>in</strong>ige weitere <strong>der</strong> mittlerweile 41 „Settlements“) und stellte<br />
fest, dass die Beteiligung <strong>der</strong> Arbeiter <strong>in</strong> den Sem<strong>in</strong>aren und Kursen von <strong>Toynbee</strong> <strong>Hall</strong><br />
mittlerweile merklich zurückgegangen war und dass sich auch die E<strong>in</strong>wohner aus <strong>der</strong><br />
erwachsenenpädagogischen Arbeit weitgehend zurückgezogen hätten.<br />
Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass Samuel und Henrietta sehrwohl auf e<strong>in</strong> gewisses<br />
Misstrauen gegenüber <strong>der</strong> „Settler“ e<strong>in</strong>gestellt waren, e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutiges „wir brauchen eure<br />
Freundschaft nicht“ sie aber überraschte. Wirkten diese „Settlements“ auf manche Nachbarn<br />
doch wie e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> sich geschlossene Festung. Daraus schliesst Picht, dass die e<strong>in</strong>zig erlaubte<br />
Methode, den Armen zu helfen, dar<strong>in</strong> bestehen müsste, die politischen Verhältnisse zu<br />
reformieren. E<strong>in</strong> E<strong>in</strong>greifen im E<strong>in</strong>zelfall (wie <strong>der</strong> barmherzige Samariter) sei nur schädlich.<br />
Aber nachdem Samuel Barnett bereits tot war und Henrietta nicht mehr darauf e<strong>in</strong>gehen<br />
konnte, bleibt diese Erkenntnis den späteren Generationen über, um an diesem System etwas<br />
zu än<strong>der</strong>n.<br />
Abschliesend möchte ich <strong>in</strong> eigener Sache noch bemerken, dass aus <strong>Toynbee</strong> <strong>Hall</strong> um 1908<br />
auch erste „Pfadf<strong>in</strong><strong>der</strong>gruppen“ hervorg<strong>in</strong>gen, die sich allerd<strong>in</strong>gs 1912 auf Grund von<br />
Geldmangel auflösten o<strong>der</strong> den „Baden Powell Boy Scouts“ anschlossen.<br />
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