Seidenrose
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JULIA VON<br />
DROSTE<br />
Die<br />
<strong>Seidenrose</strong><br />
ROMAN<br />
KNAUR TASCHENBUCH VERLAG
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Originalausgabe Januar 2011<br />
Copyright © 2011 by Knaur Taschenbuch.<br />
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt<br />
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München<br />
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –<br />
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.<br />
Redaktion: Christiane Fritsche<br />
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München<br />
Umschlagabbildung: © Allan Jenkins / Trevillion Images<br />
Satz: Adobe InDesign im Verlag<br />
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck<br />
Printed in Germany<br />
ISBN 978-3-426-50615-8<br />
2 4 5 3 1
Schönheit ohne Anmut gleicht einer Rose ohne Duft.<br />
(Jamaikanisches Sprichwort)
Rosengelee<br />
Ingredienzien: ⅛ Unze getrocknete Schwimmblase vom<br />
Stör (beste Qualität), 2 Unzen Glycerin,<br />
6 Unzen Rosenwasser, 10 Tropfen Rosenöl.<br />
Störblase in Rosenwasser aufl ösen, Glycerin und Rosenöl<br />
hinzufügen und ruhen lassen, bis die Mischung geliert.<br />
Kapitel eins<br />
M irella! Ecco, la mia beniamina! Hier, meine Kleine!«<br />
Die Dame hinter der Absperrung winkte lebhaft. Als<br />
Mirella nicht sofort reagierte, nahm sie dem neben ihr wartenden<br />
Droschkenkutscher das Schild mit der Aufschrift »Mirella<br />
Rossi« aus der Hand und reckte es so hoch wie möglich über<br />
die Köpfe der wartenden Menge.<br />
»Sehen Sie nur, Signorina, Ihre Tante erwartet Sie bereits.« Der<br />
Steward, der die Fünfzehnjährige während der neuntägigen<br />
Atlantiküberquerung betreut hatte und jetzt ihren Koffer zum<br />
Ausgang des Piers trug, lächelte.<br />
Mirellas braune Augen, Bernsteinaugen hatte ihre Mutter sie<br />
immer genannt, blieben an der Fremden hängen. Auf dem üppigen<br />
schwarzen Haar schwebte ein wagenradgroßer, ebenfalls<br />
schwarzer Hut mit einer schwarzgefärbten Feder. In einem<br />
blassen Gesicht schimmerten dunkle Augen. Die Freude über<br />
die Ankunft ihrer Nichte wurde vom Kummer über die traurigen<br />
Umstände dieses ersten Zusammentreffens überschattet.<br />
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In diesem Moment schob sich ein Herr vor Mirella, und sie<br />
verlor die Dame aus den Augen.<br />
Das also war ihre Tante Antonietta, die ältere Schwester ihres<br />
Vaters. Mirella hatte sie noch nie getroffen, da Antonietta bereits<br />
viele Jahre vor ihrer Geburt nach Amerika ausgewandert<br />
war. Es hatte zu Hause zwar ein paar vergilbte Fotografi en von<br />
ihr gegeben, doch die elegante ältere Dame, die sie hinter der<br />
Absperrung erwartete, hatte nur wenig mit der jungen, lebenslustig<br />
lachenden Frau auf den Fotos gemein. Antonietta hatte<br />
zwar immer an Weihnachten und Geburtstagen geschrieben<br />
und ab und zu Geld geschickt, doch die Tante aus dem fernen<br />
New York, bei der Mirella nun leben sollte, war für sie eine<br />
Fremde.<br />
Vor gut sechs Wochen, am 2. September 1907, war Mirella im<br />
Krankenhaus von Ponte Cadore aufgewacht, mit unerträglich<br />
schmerzendem Körper und der dumpfen Ahnung, dass etwas<br />
Furchtbares passiert war. Als der Gendarm an ihr Bett trat und<br />
ihr unbeholfen mitteilte, dass sie als Einzige ihrer Familie, ja<br />
fast als Einzige des ganzen Veretotals, das Inferno überlebt hatte,<br />
hatte sie nicht geweint und nicht geschrien. Sie hatte kaum<br />
reagiert.<br />
Aber je mehr Zeit verging, desto mehr grübelte sie, wieso Vater<br />
und Mutter, ihre Brüder Lorenzo und Matteo, Matteos Frau<br />
und das sechs Monate alte Baby von Wassermassen und<br />
Schlamm begraben worden waren, während sie selbst zwischen<br />
den Trümmern des zerstörten Hauses überlebt hatte. Sogar<br />
ihre Verletzungen waren angesichts des Ausmaßes der Katastrophe<br />
lächerlich: eine Gehirnerschütterung und eine Stirnwunde,<br />
die mit ein paar Stichen genäht wurde, zwei gebrochene<br />
Rippen, einige Quetschungen und Prellungen. Sie schämte<br />
sich, wie glimpfl ich sie davongekommen war, während fast<br />
tausend Menschen in jener Nacht ihr Leben verloren hatten.<br />
8
An das Unglück selbst konnte sie sich kaum erinnern. Es war<br />
spätabends gewesen, die Glocken von San Martino hatten gerade<br />
elf geschlagen. Draußen war es stockdunkel. Klare, kalte<br />
Bergluft kündete von einem frühen, schneereichen Winter. Sie<br />
hatte in ihrer Kammer unter dem Dach im Bett gelegen, als die<br />
Erde anfi ng zu beben. Anfangs hatte sie geglaubt, es sei ein<br />
Erdbeben oder eine kleine Gerölllawine, keine Seltenheit in<br />
den Karnischen Alpen. Doch dann setzte ohrenbetäubendes<br />
Krachen ein. Es hallte zwischen den Felswänden, als tobten<br />
zehn Gewitter zugleich über dem Valle Vereto. Sturmböen rasten<br />
gegen das Haus, drückten erst die Fenster, dann die ganze<br />
Wand ein, und als Glas und Holz ächzend zersplitterten, kamen<br />
das Wasser und der Schlamm. Wie lange sie in den geborstenen<br />
Mauern ihres Elternhauses gelegen hatte, wer sie gerettet<br />
hatte und wie sie nach Ponte Cadore gekommen war, wusste<br />
Mirella nicht.<br />
Auch als sie zwei Wochen später aus dem Krankenhaus entlassen<br />
wurde und im Valle Vereto die meterdicke Schicht aus<br />
Schlamm und Schutt betrachtete, kehrte die Erinnerung nicht<br />
zurück. Von der nördlichen Flanke des Monte Stella war unterhalb<br />
des bewaldeten Gipfels nur nackter zerklüfteter Fels geblieben.<br />
Auch der größte Teil des einmal sehr tiefen Veretosees<br />
war verschwunden. Der halbe Berg war in den See gestürzt,<br />
eine verheerende Flutwelle war über das Veretotal gerollt und<br />
hatte drei Dörfer, unter ihnen Mirellas Heimatdorf San Martino,<br />
buchstäblich zermalmt. Dicker, verkrusteter Schlamm bedeckte<br />
nun Häuser und Höfe, Weiden und kleine Äcker, Ställe<br />
und Tiere und die Menschen, die dort gelebt hatten und die<br />
Mirella gekannt und geliebt hatte. Ihr ganzes bisheriges Leben<br />
war dort begraben.<br />
Die Nonnen von San Felice im Nachbartal nahmen sie auf und<br />
benachrichtigten Mirellas einzige noch lebende Verwandte,<br />
Antonietta Rossi in New York. Antonietta hatte bereits von<br />
9
dem Unglück erfahren. Die New York Times hatte, wie jede<br />
andere große Zeitung der Welt, die Nachricht auf der Titelseite<br />
gebracht. Selbstverständlich würde sie ihre Nichte aufnehmen<br />
und sich um sie kümmern wie um eine Tochter, teilte sie den<br />
Nonnen telegraphisch mit. Zusammen mit einem Ticket für<br />
eine Schiffspassage zweiter Klasse nach New York schickte sie<br />
etwas Reisegeld für Mirella nach Italien.<br />
Vor neun Tagen dann hatte sich Mirella in Genua von Schwester<br />
Maria Elisa verabschiedet und war mit einem kleinen Koffer<br />
an Bord der Prinzess Irene gegangen. Die Nonnen hatten<br />
ihr von Antoniettas Geld das Nötigste an Wäsche und Kleidung<br />
besorgt, denn alles, was Mirella besessen hatte, war von<br />
den Schlammmassen begraben worden. Heute Morgen, am<br />
16. Oktober 1907, waren sie in New York eingelaufen. Mirella<br />
hatte von ihrem Platz im Frühstückssalon aus beobachtet, wie<br />
die herbstlichen Nebelschleier über dem Hudson zerrissen.<br />
Das Licht der aufgehenden Sonne hatte wie Silberstaub auf<br />
dem eben noch schwarzen Wasser gefunkelt. Hinter grauen,<br />
dicht an dicht stehenden Häuserwänden war der Himmel wie<br />
Gold erstrahlt. Es hatte so unglaublich ausgesehen, dass Mirella<br />
vergaß zu essen und die Schokolade in ihrer Tasse kalt werden<br />
ließ. Zum ersten Mal seit der Katastrophe hatte sie etwas<br />
anderes gefühlt als tiefe, ausweglose Trauer.<br />
Nun stand sie am Anleger, drehte sich um und warf einen letzten<br />
Blick zurück. Die Prinzess Irene lag fest vertäut am Pier des<br />
Norddeutschen Lloyd. Ihr mächtiger schwarzer Leib wiegte<br />
sich im sanften Wellengang des Hudson. Die Reisenden der<br />
ersten und zweiten Klasse waren bereits von Bord gegangen.<br />
Die Passagiere der überfüllten dritten Klasse strömten noch<br />
mit Koffern, Kisten und Kleinkindern beladen aus dem Bauch<br />
des mächtigen Ozeanliners. Die meisten von ihnen waren arme<br />
10
Emigranten, die wie Mirella aus den italienischen Alpen stammten.<br />
Beamte der Einwanderungsbehörde wiesen ihnen den Weg<br />
zu den Fähren nach Ellis Island. Dort erwarteten sie die vorgeschriebene<br />
ärztliche Untersuchung und die Einreiseformalitäten,<br />
die die Passagiere der ersten und zweiten Klasse bereits<br />
ganz bequem an Bord erledigt hatten.<br />
Die Einwanderer schoben sich aufgeregt schnatternd und gestikulierend<br />
an Mirella vorbei. Sie hofften nach der Armut und<br />
Enge ihrer Heimat auf ein neues, besseres Leben in Amerika.<br />
Mirella hatte diese Hoffnung nicht. Sie hatte ihr ganzes Leben<br />
im Valle Vereto verbracht und nie daran gedacht, das Tal zu<br />
verlassen. Doch von heute an würde sie in der fremden Stadt<br />
New York bei ihrer fremden Tante leben.<br />
Der Steward blieb vor der Gitterschranke stehen. »Hier trennen<br />
sich unsere Wege, Signorina Rossi. Ich wünsche Ihnen alles<br />
Gute. Arrivederla.« Er wusste, dass Mirella eine der wenigen<br />
Überlebenden der Vereto-Katastrophe war. Neun Tage lang<br />
hatte er beobachtet, wie tapfer sie ihr Schicksal ertrug, und das<br />
nötigte ihm Respekt ab.<br />
Mirella reichte ihm die Hand. »Grazie. Arrivederla.« Sie nahm<br />
ihren Koffer und trat in die unbekannte neue Welt.<br />
Nie zuvor hatten so viele Neubürger New York erreicht wie<br />
im Jahr 1907. Auch wenn die meisten von ihnen über Ellis<br />
Island einreisten, tummelten sich auf dem Vorplatz der Piers<br />
einige hundert Menschen. Sie begrüßten sich lachend und<br />
manchmal auch tränenreich, auf jeden Fall laut und zumeist auf<br />
Italienisch. Mirella hörte sogar einige Fetzen des ladinischen<br />
Dialekts ihrer Heimat. Dazwischen boten Gepäckträger laut<br />
rufend ihre Dienste an, ein Ozeanliner tutete ohrenbetäubend,<br />
auf der benachbarten Baustelle der Chelsea Piers dröhnten<br />
Hammer und Bohrmaschinen, und ein paar Taschendiebe<br />
schoben sich, in der Hoffnung auf einen erfolgreichen Beute-<br />
11
zug, durch die Menge. Der Lärm und das Gedränge ängstigten<br />
Mirella. Ihre Augen suchten Antonietta, die sich einen Platz<br />
direkt hinter der Schranke erkämpft hatte. Während sie sich<br />
einen Weg durch das dichte Gedränge zu bahnen versuchte,<br />
wurde Mirella hin und her gestoßen. Sie war klein für ihre<br />
fünfzehn Jahre. Breite Rücken und ausladende Kopfbedeckungen<br />
versperrten ihr die Sicht, und immer wieder verlor sie ihre<br />
Tante aus dem Blick.<br />
Antonietta hielt es nicht mehr aus und lief Mirella entgegen. Sie<br />
spürte Freude und Erleichterung, aber auch tiefen Schmerz<br />
beim Anblick des verstörten Mädchens in seiner schwarzen<br />
Trauerkleidung. Sie breitete die Arme aus, zog Mirella an sich<br />
und drückte sie. »Benvenuta cara mia! Willkommen in New<br />
York!« Antoniettas Italienisch war durch den jahrzehntelangen<br />
Aufenthalt in Amerika so breit geworden, dass Mirella sie<br />
kaum verstand. »Ich hätte dich überall erkannt, bambina mia«,<br />
fuhr Antonietta fort, und ihre Stimme zitterte leicht. »Du bist<br />
Bruno, deinem Vater, wie aus dem Gesicht geschnitten.«<br />
»Buongiorno, zia Antonietta«, murmelte Mirella verlegen und<br />
starrte auf die Spitzen ihrer Schnürstiefel.<br />
Antonietta räusperte sich. Sie hatte gehofft, dass Mirella ein<br />
kleines bisschen mehr Freude zeigen würde, ihre Tante kennenzulernen.<br />
Natürlich war ihr erstes Treffen unter diesen tragischen<br />
Umständen schwierig. Aber sie würde Mirella zeigen,<br />
dass sie ihren Kummer nicht nur verstand, sondern mit ihr unter<br />
dem plötzlichen Verlust fast ihrer gesamten Familie litt.<br />
»Sicher bist du erschöpft von der langen Reise«, sagte sie. »Wir<br />
fahren auch gleich nach Hause. Ich möchte nur kurz bei Saint<br />
Patrick’s anhalten. Die Kirche liegt direkt auf dem Weg. Dort<br />
können wir zusammen ein Gebet sprechen für die, die wir verloren<br />
haben.« Sie lächelte ihre Nichte traurig an. »Danach essen<br />
wir zusammen zu Mittag und du kannst dich hinlegen.<br />
Meine Sofi a soll deine Sachen später auspacken …« Ihr Blick<br />
12
lieb an Mirellas kleinem Pappkoffer hängen, und ihr wurde<br />
bewusst, dass ihre Nichte kaum etwas besaß. Sie hielt mitten<br />
im Satz inne und gab dem Kutscher einen Wink, den kleinen<br />
Koffer an sich zu nehmen. Dann fasste sie Mirella an der Hand<br />
und lotste sie durch das Gedränge zu den Droschken.<br />
Auf einem großen Platz direkt am Fluss parkten immer einige<br />
Dutzend der schnellen zweirädrigen Hansom Cabs. Mirella<br />
ging, immer noch verschüchtert von dem Trubel um sie herum,<br />
neben ihrer Tante her. Dabei stieß sie mit einem Zeitungs jungen<br />
zusammen, der die neuesten Nachrichten zum Mord prozess<br />
gegen Harry Thaw herausschrie. Ein Verbrechen aus Eifersucht,<br />
und natürlich drehte es sich um eine Frau, Thaws Ehefrau,<br />
eine stadtbekannte Schönheit.<br />
»Liebesspiele auf einer roten Samtschaukel!« Der Zeitungsjunge<br />
schwenkte eine Sonderausgabe der New York World vor<br />
Mirellas Nase und grinste frech. »Hey Miss, lesen Sie, wie<br />
Stanford White die kleine Mrs. Thaw mit Champagner abgefüllt<br />
und dann scharfe Fotografi en von ihr geschossen hat.«<br />
Antonietta war froh, dass ihre Nichte noch kein Englisch verstand,<br />
drängte den Jungen beiseite und zog das Mädchen eilig<br />
weiter.<br />
Auf Mirella wirkte der Rummel auf den Piers überwältigend.<br />
Niemand hatte sie darauf vorbereitet, dass es in New York keine<br />
Berge, keine Wälder und Wiesen gab. Niemand hatte ihr erklärt,<br />
dass diese Stadt noch viel größer und lauter war als Genua.<br />
Dass sie aus nichts als Stein bestand, vollgestopft war mit<br />
Menschen und durchdringend nach Dieselöl, Fisch und Brackwasser<br />
roch. Vor allem aber hatte ihr niemand gesagt, dass Tante<br />
Antonietta mit ihrem beeindruckenden Hut, dem schwarzen<br />
Samtkleid und dem pelzverbrämten Umhang einer Fürstin<br />
glich!<br />
Mirellas Eltern waren einfache Leute gewesen, die ein einfaches<br />
Leben geführt hatten. Ihr Vater und ihre Brüder waren<br />
13
jeden Winter, wenn es auf dem Hof wenig zu tun gab, nach<br />
Venedig gewandert, wo sie sich als Metzger oder Bäckergehilfen<br />
verdingt hatten. Seit Generationen waren die Rossis nie etwas<br />
anderes gewesen als hart arbeitende Gebirgsbauern. Dass<br />
Antonietta aus dem gleichen Dorf wie sie stammte, dass sie als<br />
junges Mädchen wie sie auf den Feldern geholfen hatte, konnte<br />
sich Mirella nur schwer vorstellen.<br />
Es war ein sonniger, fast sommerlich warmer Tag. Das Hansom<br />
Cab war nach vorne hin offen, und der Kutscher saß hinter<br />
der Fahrgastkabine, so dass Mirella einen guten Ausblick<br />
hatte. Und was sie nicht alles sah! Sie verließen die Piers und<br />
fuhren die Eleventh Avenue ein Stück südwärts. Ihr Weg führte<br />
sie mitten durch das Schlachthofviertel mit seinen Metzgereien,<br />
Lagerhallen und Kühlhäusern. Es stank nach Vieh und<br />
gestocktem Blut. Als ein Güterzug über die Schienen in der<br />
Mitte der Straße rumpelte, trieb der Kutscher den Wagen eilig<br />
an den Rand. Aus dem Inneren der Waggons hörte Mirella Muhen<br />
und Stampfen.<br />
Antonietta hatte ein Taschentuch vor die Nase gepresst und<br />
betrachtete ihre Nichte verstohlen. Sie hatte keine eigenen Kinder<br />
und kannte wenige junge Menschen. Ob sie und Mirella<br />
sich verstehen würden? Ob sie ihr über den Verlust der Eltern<br />
hinweghelfen konnte? Das arme Mädchen hatte so viel hinter<br />
sich!<br />
Auch für Antonietta im Tausende Meilen entfernten New York<br />
war die Katastrophe ein riesiger Schock gewesen. Helen Miller,<br />
ihre beste Freundin, hatte ihr die Nachricht überbracht. Antonietta<br />
hatte gerade hinter dem Empfangstresen ihres Kosmetiksalons<br />
gestanden und dem Lehrmädchen Dottie gezeigt, wie<br />
sie die Dosen mit Reispuder zu einer hübschen Pyramide stapeln<br />
sollte, als Helen hereinkam.<br />
14
»Guten Morgen Helen«, grüßte Antonietta fröhlich. »Dein<br />
Termin ist doch erst übermorgen.«<br />
Doch Helen legte eine Hand auf ihren Arm. »Antonietta«, begann<br />
sie leise. »In Italien hat es ein schreckliches Unglück gegeben.«<br />
Antonietta stellte die Puderdose, die sie gerade in die Hand<br />
genommen hatte, zurück auf den Tresen. Aus den Augenwinkeln<br />
sah sie, wie Dottie neugierig die Ohren spitzte. Sie starrte<br />
Helen an, die ihren Blick ungewöhnlich ernst erwiderte.<br />
»Im Veretotal ist ein ganzer Berg in einen See gestürzt. Es gab<br />
eine gewaltige Flutwelle …« Hilfl os brach sie ab und legte die<br />
New York Times auf den Tresen.<br />
In Windeseile überfl og Antonietta die Zeilen, ihre Augen<br />
huschten dabei aufgeregt hin und her. Das Dorf, in dem sie ihre<br />
Kindheit verbracht hatte, gab es nicht mehr, ihr Elternhaus war<br />
nur noch ein Trümmerhaufen, ihre gesamte Familie unter<br />
Schutt und Schlamm begraben. Sie merkte, wie ihr schwindlig<br />
wurde. Der Boden schien unter ihren Füßen wegzusacken.<br />
»Einen Stuhl, Dottie, schnell! Und ein Glas Wasser!«, hörte sie<br />
Helen rufen.<br />
»Meine Familie«, stammelte Antonietta tonlos. »Sie sind alle<br />
tot.«<br />
Helen drückte sie auf den Stuhl, den Dottie gebracht hatte.<br />
Dann nahm sie die Zeitung und las den Artikel, den sie selbst<br />
nur in aller Eile überfl ogen hatte, noch einmal genau durch.<br />
»Mein Gott!« Helen krallte die Finger ihrer freien Hand in<br />
Antoniettas Schulter. »Ein junges Mädchen aus San Martino<br />
hat überlebt, eine Mirella Rossi. Ist das eine Verwandte von<br />
dir?«<br />
Antonietta wurde kalkweiß. »Meine Nichte«, schluchzte sie.<br />
»Sie lebt!« Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte<br />
herzzerreißend.<br />
15
In den sechs Wochen, die seitdem vergangen waren, hatte sich<br />
Antonietta geschworen, der einzigen Tochter ihres verstorbenen<br />
Bruders ein neues Zuhause zu geben. Doch jetzt in der<br />
Droschke wurde ihr zum ersten Mal klar, dass zwischen ihr,<br />
der erfolgreichen Geschäftsfrau, und diesem einfachen Mädchen<br />
aus einem italienischen Bergdorf Welten lagen. Es würde<br />
viel Zeit und Geduld brauchen, dieses verstörte Geschöpf in<br />
den schlechtsitzenden Kleidern in eine energische, zupackende<br />
Amerikanerin zu verwandeln.<br />
Als Erstes würde sie Mirellas Kleidung verbrennen, bevor sie<br />
sich irgendwelches Ungeziefer ins Haus holte. Sie hatte schon<br />
ein paar Kleidungsstücke und Wäsche bei Lord & Taylor am<br />
Broadway besorgt. Morgen konnten sie dort alles andere kaufen,<br />
was das Mädchen noch brauchte.<br />
Unauffällig sah sie ihre Nichte an. Abgesehen von ein wenig<br />
Babyspeck war Mirella ein hübsches Ding mit goldbraunen<br />
Augen, einer leicht gebogenen Nase und üppig geschwungenen<br />
Lippen. Ihr olivbrauner Teint schimmerte wie bei vielen<br />
ihrer Landsleute zart und gesund. Das Auffallendste war zweifellos<br />
ihr Haar. Es hatte die gleiche Farbe wie dunkle Mokkabohnen<br />
und hing ihr zu einem dicken Zopf gefl ochten bis fast<br />
zum Po herab. Die frische rote Narbe auf ihrer linken Schläfe,<br />
offenbar die letzte sichtbare Erinnerung an die Katastrophe,<br />
war der einzige Makel in dem sonst so hübschen, harmonischen<br />
Gesicht. Immerhin war die Wunde sauber genäht worden,<br />
und Antonietta wusste, wie man die Narbe kaschieren<br />
konnte. Sie beugte sich vor und streichelte Mirellas Wange.<br />
»Wie alt bist du eigentlich, cara mia? Vierzehn?«<br />
Mirella, die staunend ihre Umgebung betrachtet hatte, fuhr zusammen.<br />
»Fünfzehn. Seit dem 14. Juni«, murmelte sie und<br />
schwieg dann wieder. Offenbar wollte sie nicht über sich sprechen.<br />
Deshalb beschloss Antonietta, das Thema zu wechseln<br />
und ihrer Nichte ein wenig über ihre neue Heimat zu erzählen.<br />
16
»Manhattan ist eine Insel, auf der alle Völker dieser Welt leben.<br />
Jedes in seinem eigenen kleinen Viertel«, erklärte sie, während<br />
das Hansom Cab auf die 14te Straße bog. »Die Gegend um den<br />
Schlachthof ist fest in der Hand der Iren. Ein Stück weiter südöstlich<br />
leben die Chinesen, in direkter Nachbarschaft zur Lower<br />
Eastside, dem Quartier der Juden.«<br />
»Und wo wohnen die Italiener?«, fragte Mirella.<br />
»Die Italiener, zumindest die Süditaliener, haben sich längs der<br />
Bowery angesiedelt. Eine heruntergekommene Gegend, in der<br />
anständige Menschen sich nicht aufhalten können, ohne um<br />
Leib und Leben zu fürchten …« Antonietta kräuselte verächtlich<br />
die Nase. »Als ich vor dreiunddreißig Jahren hier ankam,<br />
war das anders. Damals genoss diese Gegend hier noch einen<br />
tadellosen Ruf. In Pike’s Opernhaus an der 23sten Straße habe<br />
ich einige wunderschöne Operettenabende erlebt. Heute tritt<br />
ein gewisser Buffalo Bill mit einer obskuren Wildwest-Show<br />
dort auf. Aber so ist New York. Diese Stadt ändert ihr Gesicht<br />
jeden Tag …«<br />
Auf der 14ten Straße, die das Künstlerviertel Greenwich Village<br />
vom Textilarbeiterdistrikt trennte, zeugten noch einige<br />
wenige elegante Wohnhäuser vom einstigen Glanz. Auf den<br />
Bürgersteigen bahnten sich Hausfrauen mit Einkaufskörben<br />
ihren Weg zwischen den Buden der Obst- und Gemüseverkäufer.<br />
Schuhputzer und Kurzwarenhändler machten laut rufend<br />
auf sich aufmerksam. Kinder spielten gefährlich nah an Wagenrädern<br />
und Pferdehufen im Rinnstein.<br />
Das Hansom Cab kreuzte die Sixth Avenue und fuhr unter den<br />
Hochbahngleisen hindurch. Mirella presste erschrocken die<br />
Hände auf die Ohren, als ein Zug nur wenige Meter über ihren<br />
Köpfen entlangratterte, und Antonietta schimpfte, weil ein<br />
Schauer von Rußfl ocken und Öltropfen auf die Kutsche niederregnete.<br />
Wenige Minuten später rollten sie nordwärts auf den<br />
Broadway und erreichten schon bald den Theater-Distrikt.<br />
17
»Das prächtige Gebäude dort drüben ist die Metropolitan<br />
Opera. Die reichsten Familien unserer Stadt haben sich mit<br />
dem Bau ein Denkmal gesetzt. Diese Saison haben sie unseren<br />
Landsmann Enrico Caruso engagiert. Ich durfte ihn bereits als<br />
Leutnant Pinkerton in Madame Butterfl y bewundern. Es war<br />
außergewöhnlich!«<br />
In Höhe der 51sten Straße bogen sie nach links in die Fifth<br />
Avenue.<br />
Von dort bis zur Park Avenue lebte das vornehme New York.<br />
Familien wie die Vanderbilts, die Astors und die Rockefellers<br />
residierten hier in unermesslichem Reichtum. Ihre luxuriösen<br />
Wohnsitze glichen französischen Châteaux oder italienischen<br />
Palazzi: Stein gewordene Denkmäler des amerikanischen Glaubens<br />
an ein Land, in dem jeder, egal welcher Herkunft, dieselbe<br />
Chance auf Reichtum und Erfolg hatte.<br />
»Das hier«, setzte Antonietta ihre kleine Stadtführung fort,<br />
»sind die guten Gegenden, sie befi nden sich nördlich der 14ten<br />
Straße und östlich des Broadway. Denn merke dir eines, bambina<br />
mia, du kannst in New York alles erreichen, auch als Frau.<br />
Aber du musst hart dafür arbeiten.«<br />
Antonietta hatte sich mit Fleiß und Tatkraft ihren Platz in der<br />
aufstrebenden Nation erkämpft. Ihre erste Arbeit als Verkäuferin<br />
in einem kleinen Laden, der Farben, Drogerieprodukte<br />
und Seifen verkaufte, hatte sie in die vor dreißig Jahren noch<br />
wenig begehrte Gegend südlich des Central Park verschlagen.<br />
Einige Jahre später hatte ihr Liebhaber Alfred Fox, ein verheirateter<br />
Anwalt aus einer angesehenen Familie, ihr geholfen,<br />
günstig ein Grundstück unweit der 55sten Straße zu kaufen.<br />
Dort, mitten in Manhattan, dem inzwischen begehrtesten Viertel<br />
New Yorks, hatte sie sich ihr eigenes kleines Wohn- und<br />
Geschäftshaus gebaut.<br />
»Wir sind gleich da«, sagte sie zu Mirella. Antonietta öffnete<br />
18
das kleine Fenster im rückwärtigen Verdeck des Hansom Cab<br />
und rief dem Fahrer etwas zu. Er bog zweimal hintereinander<br />
links ab und hielt dann vor einer großen Kirche.<br />
»Lass uns aussteigen«, sagte Antonietta, nachdem sie den Fahrer<br />
bezahlt und damit beauftragt hatte, Mirellas Koffer zu ihrem<br />
Haus zu bringen. Aufmunternd streckte sie ihrer Nichte<br />
die Hand entgegen. Mirella zögerte. Sie war erschöpft von der<br />
Reise und hatte nicht die geringste Lust, ausgerechnet jetzt mit<br />
ihrer Tante die Messe zu besuchen. Widerwillig und ohne die<br />
angebotene Hand zu nehmen, kletterte sie aus dem Hansom<br />
Cab.<br />
Antonietta ließ sich von ihrem ablehnenden Verhalten jedoch<br />
nicht aus der Fassung bringen. Sie nahm ihre Nichte sanft am<br />
Ellbogen und schob sie vorwärts. »Das ist unsere Gemeindekirche,<br />
Saint Patrick’s«, sagte sie. »Ist sie nicht wunderschön?«<br />
Ihr Blick schweifte liebevoll über das mächtige, weiß glänzende<br />
Bauwerk. Mit den hohen schlanken Türmen und den zahllosen<br />
Zinnen und Bögen wirkte es auf Mirella wie ein Märchenschloss.<br />
»Als ich 1874 in diese Stadt kam, war sie noch nicht fertig. Die<br />
Gegend hier war arm, und die New Yorker haben Bischof<br />
Hughes für verrückt erklärt, ausgerechnet hier eine Kathedrale<br />
zu bauen. Aber hat nicht schon unser Herr gesagt: ›Selig ihr<br />
Armen, denn euch gehört das Reich Gottes‹? Letztendlich<br />
spendeten viele Geld für den Bau. Auch von mir stecken ein<br />
paar Dollar in diesen Mauern …« Sie zog die schwere Haupttür<br />
auf und warf Mirella einen Seitenblick zu. »Ich habe eine<br />
Spendensammlung ins Leben gerufen, damit die Kirche von<br />
San Martino neue Glocken bekommt.«<br />
Mirella starrte ihre Tante überrascht an. Der Glockenturm ihres<br />
Heimatdorfes war das einzige Gebäude im ganzen Tal, das<br />
die Flutwelle überstanden hatte. Viele Menschen hatten darin<br />
19
ein Zeichen gesehen, dass der Herrgott ihnen auch im schlimmsten<br />
Kummer tröstend zur Seite stand. Die Glocken allerdings<br />
hatte das Wasser fortgerissen. Einige zerborstene Stücke hatte<br />
man später an einem Berghang gefunden.<br />
»Woher weißt du von den Glocken?«, fragte Mirella.<br />
»Es stand in der Zeitung.« Antoniettas dunkle Augen betrachteten<br />
prüfend Mirellas Gesicht. Wie sehr wünschte sie sich,<br />
dar in ein Zeichen von Zuneigung zu erkennen, aber das Mädchen<br />
gab ihren Blick mit unbewegter Miene zurück.<br />
»Ich wollte etwas tun. Schließlich ist es auch meine Heimat«,<br />
sagte Antonietta leise.<br />
Im Inneren des Gotteshauses umfi ngen sie Stille und Dunkelheit.<br />
Nach der spätsommerlichen Wärme draußen war der<br />
Steinboden besonders kalt. Mirella wollte zwei Finger in das<br />
kleine Weihwasserbecken neben der Eingangstür tauchen, aber<br />
Antonietta hielt ihren Arm fest. »Weißt du, wie viele Leute hier<br />
ihre ungewaschenen Hände hineintauchen?«, fl üsterte sie.<br />
»Das ist unhygienisch.«<br />
Mirella sah sie trotzig an. »Es ist heiliges Wasser!«<br />
»Wenn du meinst, dass du Gott einen Gefallen tust, indem du<br />
dir eine ansteckende Krankheit einfängst, bitte. Nur zu.«<br />
Antonietta bekreuzigte sich, ohne ihre Handschuhe auszuziehen,<br />
und ging dann den Mittelgang entlang. Ihre Absätze klapperten<br />
über den Steinboden, und ihre Seidenröcke rauschten<br />
bei jedem Schritt.<br />
Mirella warf einen Blick auf das Kreuz mit der Christusstatue<br />
über dem Hauptaltar. Dann zog sie ihre trockene Hand vom<br />
Weihwasserbecken zurück, bekreuzigte sich und hastete hinter<br />
ihrer Tante her. Es war zwar gerade kein Gottesdienst, doch<br />
einige Gläubige knieten in den hölzernen Kirchenbänken, und<br />
eine Gruppe Kunststudenten bewunderte die nachtblauen und<br />
rubinroten Rosettenfenster. Als Mirellas Augen sich an die<br />
Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie ein hohes Kirchen-<br />
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schiff. Von den Orgelpfeifen war selbst die kleinste noch viel<br />
größer als bei der Orgel daheim in San Martino. Vor den Seitenaltären<br />
und der marmornen Pietà fl ackerten Kerzen. Rechts<br />
und links strebten schlanke Säulen empor und entfalteten sich<br />
zu einem fi ligranen Gewölbe, das hoch über ihr im Dämmerlicht<br />
verschwamm. Das Gotteshaus war großartig und erhaben<br />
schön.<br />
Sie durchquerten den Chorraum, gingen am Hochaltar vorbei<br />
und betraten eine kleine Marienkapelle am Ostende der Kathedrale.<br />
Durch die bunten Glasfenster fi el weiches Licht auf einen<br />
Altar mit einer Statue der Gottesmutter. Sie waren allein<br />
hier, die wenigen Kirchenbänke leer. Antonietta holte ihre<br />
Geldbörse aus der Handtasche, ging zu einer Stellage, auf der<br />
viele Kerzen fl ackerten, und ließ ein paar Münzen in das Körbchen<br />
daneben fallen. Dann nahm sie mehrere Kerzen aus einem<br />
Fach, entzündete eine und befestigte sie sorgsam auf der Stellage.<br />
»Für Bruno. Möge Gott sich seiner armen Seele erbarmen«,<br />
fl üsterte sie und bekreuzigte sich. Zu Mirella gewandt fügte sie<br />
hinzu: »Auch ich habe Menschen verloren, die ich liebe. Meinen<br />
Bruder, meine Schwägerin, deine Brüder … Jetzt habe ich<br />
nur noch dich, mein Kind.«<br />
Mirella blickte sie wie versteinert an. Was sollte sie darauf sagen?<br />
»Wenn wir ein Licht für sie anzünden, zeigen wir ihnen, dass<br />
wir an sie denken – wo immer sie auch sind.« Antonietta bot<br />
ihr eine Kerze an. Mirella zögerte. Ein dicker Kloß saß ihr in<br />
der Kehle. Das Atmen fi el ihr schwer. Schließlich nahm sie die<br />
Kerze und hielt den Docht an das Licht, das Antonietta für<br />
ihren Vater entzündet hatte. »Für Mama«, fl üsterte sie, als die<br />
Flamme auffl ackerte. Es war so schwer, diese beiden Worte<br />
auszusprechen, und es tat so weh. Aber als sie auch für Lorenzo<br />
und Matteo, für Matteos Frau und die kleine Chiara Kerzen<br />
angezündet hatten, und die sechs Lichter unter Marias mitlei-<br />
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digen Augen brennend nebeneinander standen, hatte sie das<br />
Gefühl, dass ihre Familie aus dem Himmel auf sie herabblickte.<br />
Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie hatte sie nicht einmal beerdigen<br />
können, es gab keine Gräber, die sie besuchen konnte.<br />
Der Schlamm und das Wasser hatten alles unter sich begraben.<br />
Sie spürte Antoniettas Hand auf ihrem Rücken und drehte den<br />
Kopf. Auch ihre Tante weinte. Behutsam schloss sie Mirella in<br />
ihre Arme und zog sie an sich. Und als das Mädchen sich nicht<br />
sträubte, fühlte sie sich, so traurig das alles war, auf einmal<br />
glücklich.<br />
»Lass uns nach Hause gehen«, sagte Antonietta, nachdem sich<br />
Mirella aus ihrer Umarmung gelöst hatte. Sie wollte ihr die<br />
Hand reichen, doch erneut wich ihre Nichte zurück. »Ich habe<br />
kein Zuhause mehr«, sagte sie rauh. Der kurze Moment der<br />
Nähe war verfl ogen.<br />
Sie gingen zu Fuß zu Antoniettas Haus. Es lag nur vier Blocks<br />
nordwärts von der Saint Patrick’s Cathedral an der Einmündung<br />
zur 55sten Straße. Herrschaftliche Villen und elegante<br />
Geschäfte säumten die Straße. Verglichen mit der quirligen<br />
14ten Straße fl oss das Leben hier träge, fast behäbig dahin.<br />
Antonietta zeigte auf ein nobles Gebäude mit hellen Sandsteinmauern<br />
und einem schwarzen Dach auf der Ostseite der Fifth<br />
Avenue. »Das St. Regis Hotel«, erklärte sie ihrer Nichte. »Ich<br />
wohne schräg gegenüber. Von meinen Salonfenstern aus können<br />
wir fast in die Suiten schauen.«<br />
Antonietta blieb vor einem schmucken, aus braunrotem Backstein<br />
gemauerten Gebäude stehen. »Da sind wir!«<br />
Ein mannshoher gusseiserner Zaun trennte Antoniettas Haus<br />
vom Gehweg und dem gepfl egten kleinen Vorgarten. Töpfe<br />
mit akkurat geschnittenen Buchsbäumen fl ankierten den saubergefegten<br />
Weg, der zur Eingangstür führte. Heller Sandstein<br />
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ahmte die vorspringenden Erker und hohen Sprossenfenster<br />
ein. Es war ein hübsches repräsentatives Haus, das sich jedoch<br />
zwischen den pompösen Luxusbauten der Fifth Avenue klein<br />
und bescheiden ausnahm. Mirella erschien es dennoch großartig.<br />
Die Rossis hatten wie alle im Valle Vereto in einem<br />
schmucklosen Steinhaus gelebt mit kleinen Fenstern und Holzläden,<br />
die in stürmischen Nächten geklappert hatten. Doch<br />
auch wenn es das alte Bauernhaus nicht mit Antoniettas schicker<br />
Villa aufnehmen konnte, würde sie alles darum geben,<br />
noch einmal in das Haus zurückkehren zu können, das fünfzehn<br />
Jahre lang ihre casa, ihr Zuhause, gewesen war.<br />
»Dieses Haus gehört mir ganz allein«, sagte Antonietta neben<br />
ihr. »Einen Ehemann, mit dem ich teilen muss, was ich mir so<br />
hart erarbeitet habe, gibt es nämlich nicht.«<br />
Mirella starrte ihre Tante an. Ihre Mutter hatte Antonietta oft<br />
bedauert für ihr Leben im fernen Amerika, so ganz ohne Mann<br />
und Kinder. Doch ihre Tante wirkte überhaupt nicht bedauernswert<br />
– im Gegenteil, ihre Stimme klang stolz und selbstsicher.<br />
Sie durchquerten den Vorgarten und erreichten die Eingangstür.<br />
Antonietta zeigte auf ein blankes Messingschild mit der<br />
Aufschrift »Casa di Bellezza« – Haus der Schönheit. »Mit meinem<br />
Schönheitssalon habe ich mir alles erarbeitet, was ich besitze«,<br />
erklärte sie. »Denn merke dir eines, cara. Einen Mann<br />
braucht eine Frau nur für die Liebe. Alles andere kann sie allein!«<br />
Bevor Mirella sich von ihrer Verblüffung erholt hatte, wurde<br />
die Tür geöffnet. Eine Dame mit silbergrauem Haar und in<br />
einem eleganten dunkelblauen Kostüm trat heraus.<br />
»Antonietta! Wie schön, dass ich euch treffe!« Sie küsste Antonietta<br />
auf beide Wangen, aber ihre Augen waren dabei auf Mirella<br />
gerichtet. »Du bist Mirella, nicht wahr?«, fragte sie in makellosem<br />
Italienisch. Sie umfasste Mirellas Rechte mit beiden<br />
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Händen. »Willkommen in New York, mein Kind. Erlaube mir,<br />
dir mein tiefstes Beileid auszusprechen. Du hast Schlimmes<br />
hinter dir, aber deine Tante wird dir helfen, darüber hinwegzukommen.«<br />
Sie musterte Mirella freundlich. »Mach es gut, Liebes,<br />
wir werden uns sicher bald wiedersehen.«<br />
Sie verabschiedete sich von Antonietta und ging zur Straße, wo<br />
inzwischen ein vornehmer vierspänniger Landauer vorgefahren<br />
war.<br />
Antonietta sah ihr nach. »Helen war eine meiner ersten Kundinnen.<br />
Inzwischen ist sie meine beste Freundin«, erklärte sie.<br />
»Es gibt keinen liebenswerteren Menschen, und dazu ist sie<br />
klüger als die meisten Männer, die ich kenne.«<br />
Antonietta zog die doppelfl ügelige schwarze Eingangstür auf<br />
und bedeutete Mirella, ihr zu folgen. Sie betraten einen langen,<br />
mit schwarz-grünen Fliesen ausgelegten Flur, der an der gesamten<br />
linken Seite des Hauses entlanglief. Im vorderen Bereich<br />
befand sich eine schwarzlackierte Tür. Darüber prangte<br />
ein Mosaik aus bunten Glassteinen, das eine nackte Frau zeigte,<br />
die, in ihr langes Haar gehüllt, einer Muschel entstieg.<br />
»Venus, die Göttin der Schönheit, wacht über den Eingang zur<br />
Casa di Bellezza«, bemerkte Antonietta lächelnd. »Aber wie es<br />
dahinter aussieht, zeige ich dir ein anderes Mal.«<br />
Sie führte ihre Nichte zu einer Treppe an der rückwärtigen<br />
Wand des Hauses. In der ersten Etage erreichten sie erneut<br />
einen langen Flur mit drei Türen. »Hier befi nden sich das Labor,<br />
der Pausenraum für meine Mitarbeiterinnen und ganz vorne<br />
ein Extraraum für besondere Behandlungen«, erklärte Antonietta.<br />
Sie wollte die Treppe weiter hinaufsteigen, aber in diesem Moment<br />
wurde die erste Tür geöffnet. Ein Mann trat heraus und<br />
ging auf Antonietta zu. Er war klein und blass, und sein helles<br />
Haar lichtete sich über der Stirn. Ein weißer Laborkittel schlotterte<br />
um seine mageren Schultern, und seine grauen Augen<br />
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starrten durch eine dicke Nickelbrille unverwandt Antonietta<br />
an. »Miss Rossi, wenn Sie vielleicht einen Augenblick …«<br />
Doch Antonietta winkte ab. »Ich komme später bei Ihnen vorbei,<br />
Mr. Casey. Jetzt möchte ich mich erst einmal um Mirella<br />
kümmern. Sie wissen doch, dass meine Nichte heute aus Italien<br />
angekommen ist.« Auf Italienisch erklärte sie Mirella: »Mr. Casey<br />
verwandelt meine Ideen in die besten Cremes und Lotionen<br />
von ganz New York.«<br />
Casey streckte Mirella die Hand entgegen: »Welcome to New<br />
York, Miss Rossi.«<br />
Mirella verstand ihn nicht und ergriff zögernd seine kalte Hand.<br />
Die langen dünnen Finger erinnerten sie an Spinnenbeine.<br />
Rasch stieg sie hinter ihrer Tante in das zweite Stockwerk des<br />
Hauses hinauf. »In der zweiten und dritten Etage wohne ich<br />
und du jetzt natürlich auch. Und darüber auf dem Dach befi ndet<br />
sich das Beste – mein Wintergarten mit Terrasse. Von dort<br />
hast du einen herrlichen Blick über Manhattan.« Antonietta<br />
schloss eine reichgeschnitzte Tür auf und führte sie in eine mit<br />
bunten Mosaiken gepfl asterte Empfangshalle. Sofort erschien<br />
ein Dienstmädchen, um ihnen Hut und Mantel abzunehmen.<br />
Dann betraten sie den Speisesaal, der direkt an die Halle grenzte.<br />
Rechts dahinter, erklärte Antonietta, lag die Küche. Auf der<br />
linken Seite des Hauses mit Blick auf die Fifth Avenue befanden<br />
sich ein Musikzimmer und ein kleiner Salon zum Karten<br />
oder Billard spielen. In der Mitte schließlich lag eine kleine Bibliothek,<br />
von der aus eine Treppe in die dritte Etage führte.<br />
»Dort befi nden sich unsere privaten Räume«, sagte Antonietta,<br />
als sie die Stufen hinaufstiegen. »Du hast natürlich ein eigenes<br />
Schlaf- und Badezimmer. Meine Räume liegen zur Fifth Avenue,<br />
deine zum Hinterhof. Dazwischen befi ndet sich mein<br />
Turnzimmer, das du natürlich jederzeit benutzen darfst«, setzte<br />
Antonietta mit einem Seitenblick auf Mirellas rundliche Figur<br />
hinzu.<br />
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