19.08.2012 Aufrufe

Der Tanz der Kraniche

Der Tanz der Kraniche

Der Tanz der Kraniche

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

JUDITH<br />

KERN<br />

<strong>Der</strong> <strong>Tanz</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Kraniche</strong><br />

ROMAN<br />

Knaur Taschenbuch Verlag


Besuchen Sie uns im Internet:<br />

www.knaur.de<br />

Originalausgabe April 2011<br />

Copyright © 2011 by Knaur Taschenbuch.<br />

Ein Unternehmen <strong>der</strong> Droemerschen Verlagsanstalt<br />

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München<br />

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –<br />

nur mit Genehmigung des Verlags wie<strong>der</strong>gegeben werden.<br />

Redaktion: Dr. Gisela Menza<br />

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München<br />

Umschlagabbildung: Gettyimages / Lars Oppermann;<br />

FinePic ® , München<br />

Satz: Adobe InDesign im Verlag<br />

Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck<br />

Printed in Germany<br />

ISBN 978-3-426-50765-0<br />

2 4 5 3 1


E E<br />

Prolog<br />

ndlich, endlich war sie wie<strong>der</strong> hier. Und endlich waren<br />

auch die <strong>Kraniche</strong> wie<strong>der</strong> zurück. Ida ließ ihren<br />

Blick über den im Morgendunst vor ihr liegenden Bodden<br />

schweifen und baute ihre Staffelei genau an <strong>der</strong> Stelle auf,<br />

an <strong>der</strong> sie zuletzt vor fünf Jahren gestanden hatte, als sie<br />

geglaubt hatte, nie glücklicher sein zu können. Aber nach<br />

allem, was passiert war, wusste sie, dass sie nie glücklicher<br />

war als jetzt.<br />

Um diese frühe Morgenstunde war es noch ruhiger als<br />

sonst auf Hiddensee. Nur eine Möwe, die über ihr kreiste,<br />

stieß einen kurzen, spitzen Schrei aus, bevor sie Richtung<br />

Rügen davonfl og und es danach wie<strong>der</strong> so still war wie<br />

zuvor.<br />

Wie sehr sie diese Stille vermisst hatte. Wie sehr sie sich<br />

nach dieser Ruhe gesehnt hatte, wusste sie erst, seitdem sie<br />

wie<strong>der</strong> zurück war auf Hiddensee und keine in den Potsdamer<br />

Bahnhof einfahrenden Züge sie mehr aufschrecken<br />

konnten. Wie oft hatte sie in Berlin vergeblich in den Himmel<br />

geblickt, weil sie geglaubt hatte, das Trompeten <strong>der</strong><br />

<strong>Kraniche</strong> gehört zu haben, und dabei war es nie etwas an<strong>der</strong>es<br />

gewesen als das Tuten <strong>der</strong> Züge, und wie oft hatte sie<br />

enttäuscht ihren Blick wie<strong>der</strong> gesenkt.<br />

Und jetzt stand sie hier und wartete darauf, dass die Vögel<br />

aus ihrem Schlaf erwachten, dass sie tänzelnd und mit einem<br />

lauten Schrei den Morgen begrüßten, wie damals, als<br />

sie zuletzt hier gewesen war.<br />

5


Ida streichelte sanft über ihren Bauch, und ein Lächeln<br />

huschte über ihr Gesicht. Noch immer passierte es ihr an<br />

manchen Tagen, dass sie glaubte, sich kneifen zu müssen,<br />

um zu verstehen, dass ihre Träume Wirklichkeit geworden<br />

waren, aber die Tage wurden weniger, und wenn jetzt gleich<br />

zum ersten Mal in diesem Jahr die <strong>Kraniche</strong> ihre Trompetenrufe<br />

zu ihr herüberschicken würden, dann wusste sie,<br />

dass sie tatsächlich angekommen war.<br />

6


I I<br />

1<br />

da malte mit ihren vor Kälte rot angelaufenen Füßen<br />

Kreise ins Wasser. Wie ein Stift über weißes Papier<br />

strichen ihre Zehen über die schattige Wasseroberfl äche<br />

und hinterließen dort fl üchtige Spuren. Das Entenpaar,<br />

das ihr Treiben aus sicherer Entfernung misstrauisch zu beobachten<br />

schien, nahm Ida nur aus dem Augenwinkel<br />

wahr, und auch als drei Schwäne fast zeitgleich unüberhörbar<br />

im Knieper Teich landeten, hob sie kaum merklich den<br />

Kopf.<br />

»Ida, verdammt, wo steckst du?« Die Stimme kam vom<br />

Haus, aber Ida war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie<br />

nichts hörte. »Herrje«, Emma schüttelte verständnislos<br />

den Kopf, während sie mit polternden Schritten über den<br />

Steg zu Ida ging, »wir haben April, und in <strong>der</strong> Nacht friert<br />

es noch immer, und du hältst deine nackten Füße schon<br />

wie<strong>der</strong> ins Wasser.« Sie packte ihre jüngere Schwester an<br />

<strong>der</strong> Schulter und zog sie hoch. »Zieh die an«, sagte sie mit<br />

einer Stimme, die keinen Wi<strong>der</strong>spruch duldete, und reichte<br />

ihr die Schnürstiefel, die kurz zuvor noch neben Ida gelegen<br />

hatten.<br />

»Ich bin beschäftigt«, sagte sie ruhig und sah dabei unentschlossen<br />

auf ihre Schuhe in Emmas Hand.<br />

Emma atmete tief durch. »Aha. Und womit, wenn man fragen<br />

darf? Mit Träumen?«<br />

»Ich studiere die Bewegungen des Wassers. Sieh doch mal.«<br />

Sie beugte sich über den Rand des Stegs und fuhr mit ihrem<br />

7


Zeigefi nger durchs Wasser. »Siehst du, wie es sich kräuselt,<br />

und jetzt, pass auf, jetzt sieht es so aus, als würde es ausfransen<br />

wie die Stoffreste in Mutters Nähzimmer. Siehst<br />

du?« Sie drehte sich zu ihrer Schwester, die ihr noch immer<br />

die Schuhe hinhielt.<br />

»Komm jetzt, Vater wartet.«<br />

Ida seufzte leise. »Sag ihm, dass ich gleich komme. Nur<br />

noch einen Moment.« Sie wandte den Blick zum Himmel.<br />

»Die Wolke müsste gleich weg sein. Ich will nur kurz das<br />

Wasserspiel im Sonnenschein beobachten.«<br />

»Glaubst du wirklich, dass du damit durchkommst?« Emmas<br />

Augen funkelten. Dann drehte sie sich um und ging<br />

wortlos davon.<br />

»Meine Schuhe!«, rief sie ihr noch hinterher, aber Emma<br />

trug sie wie eine Trophäe ins Haus.<br />

Ida schob ihren langen Rock nach oben und ließ sich auf<br />

die kühlen Planken des Stegs fallen. Auch wenn sie um das<br />

Gespräch mit ihrem Vater nicht herumkommen würde,<br />

war sie erleichtert, sich wenigstens einen kleinen Aufschub<br />

ergaunert zu haben. Sie wusste ja, was er ihr zu sagen hatte,<br />

und sie wusste auch, dass sie ihn wie<strong>der</strong> enttäuschen<br />

würde.<br />

Während sie auf die Strahlen <strong>der</strong> Frühjahrssonne wartete,<br />

drangen aus dem Musikzimmer leise Töne. Ida wandte sich<br />

zum Haus und sah, dass das Fenster zum Garten offen<br />

stand. Lilla musste es geöffnet haben, denn nicht einmal<br />

ihre Mutter konnte die Tonleitern in so rasantem Tempo<br />

spielen wie ihre jüngste Schwester. Sie lauschte <strong>der</strong>en immer<br />

schneller werdendem Spiel, bis ein lauter, scheußlich<br />

klingen<strong>der</strong> Akkord es abrupt beendete.<br />

Erst jetzt merkte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte.<br />

Die Wolke hatte sich noch immer nicht verzogen, und im<br />

8


Schatten war es kalt geworden. Wenn sie sich nicht erkälten<br />

wollte, musste sie schnell ins Haus. Stattdessen aber<br />

zog sie nur die Beine dichter an ihren Körper und vergrub<br />

ihre nackten Füße unter ihrem Rock.<br />

»Ida!«<br />

Den schneidenden Ton kannte sie nur zu gut. Jedes Mal,<br />

wenn sie ihn hörte, wun<strong>der</strong>te sie sich, dass er das Leben<br />

nicht wenigstens für einen kurzen Moment zum Stillstand<br />

brachte. Aber die Schwäne schwammen ungerührt am<br />

Schilf entlang, und über ihr kreisten einige Möwen. Mit<br />

einem Gefühl tiefer Ungerechtigkeit ging sie langsam zum<br />

Haus.<br />

Wie ein Mahnmal stand ihr Vater vor dem Eingang zur<br />

Veranda und erwartete sie bereits. Wortlos hielt er ihr die<br />

Schuhe hin und rührte sich nicht von <strong>der</strong> Stelle, bis sie ihre<br />

Stiefel zugeschnürt hatte. Ida lächelte zaghaft, aber sie<br />

wagte nicht, etwas zu sagen. Dabei hätte sie ihm gern erzählt,<br />

wie an<strong>der</strong>s das Wasser heute ausgesehen hatte, viel<br />

klarer als vor ein paar Tagen.<br />

Im Salon war es angenehm warm, und beim Anblick des<br />

lo<strong>der</strong>nden Kaminfeuers dachte sie kurz an ihren Zeichenblock,<br />

<strong>der</strong> auf dem Schreibtisch in ihrem Zimmer lag und<br />

den sie nach dem Gespräch unbedingt würde holen müssen,<br />

um die züngelnden Flammen aufs Papier zu bannen.<br />

Aber noch ehe sie sich genauer überlegen konnte, wie sie es<br />

anstellen sollte, das Knistern und Flackern zu zeichnen,<br />

kam ihr Vater auch schon zur Sache.<br />

»Ich habe mit Fräulein Stolz gesprochen«, sagte er, nachdem<br />

er in einem <strong>der</strong> beiden hohen Ohrensessel Platz genommen<br />

hatte, zwischen denen ein kleiner Spieltisch stand.<br />

»Sie wäre bereit, dich noch im Mai in ihre Klasse aufzunehmen.«<br />

9


»Im Mai?«, fragte Ida entsetzt.<br />

»Emma würde dir bis dahin helfen, den versäumten Unterricht<br />

nachzuholen.«<br />

»Das ist unmöglich«, entfuhr es ihr.<br />

»Aha.« Oskar Grotjahn strich sich über seinen frisch gestutzten<br />

Bart. »Das geht also nicht.«<br />

»Nein, Vater, nein, das ist ganz und gar unmöglich. Herr<br />

Vogel will mich doch empfangen. Darüber haben wir gesprochen.«<br />

»Herr Vogel«, wie<strong>der</strong>holte ihr Vater ruhig und beobachtete<br />

seine Tochter, die unentwegt ihren Rock glatt strich.<br />

»Das kannst du doch nicht vergessen haben? Balthasar Vogel,<br />

<strong>der</strong> Maler, <strong>der</strong> mir vielleicht Zeichenunterricht geben<br />

will.«<br />

»Natürlich, <strong>der</strong> berühmte Herr Vogel, wie konnte mir das<br />

nur entfallen sein.« Er schlug sich theatralisch an die Stirn.<br />

»Das Künstlergenie. Wie konnte ich nur vergessen, dass<br />

sich <strong>der</strong> weltberühmte Balthasar Vogel die belanglosen<br />

Zeichnungen meiner Tochter ansehen will.«<br />

»Vater!« Ida schluckte.<br />

»Du weißt genau, wie ich dazu stehe, Ida. Ich werde es<br />

nicht zulassen, dass du deine wertvolle Zeit mit diesen<br />

unnützen Schmierereien vergeudest. Du hast jetzt die höhere<br />

Schule abgeschlossen und dort genügend Mal- und<br />

Zeichenstunden gehabt. In zwei, drei Jahren heiratest du,<br />

und bis dahin solltest du das Einmaleins einer ordentlichen<br />

Haushaltsführung gelernt haben. Nimm dir ein Beispiel<br />

an Emma, sie wird bald die Ehefrau eines anständigen<br />

Stralsun<strong>der</strong> Brauereibesitzers. Was glaubst du denn,<br />

was dein zukünftiger Bräutigam sagen wird, wenn er erfährt,<br />

dass du noch nicht einmal einen Rocksaum umnähen<br />

kannst.«<br />

10


»Ich habe keinen Bräutigam«, erwi<strong>der</strong>te Ida ruhig. Aber<br />

wie immer, wenn er von »ihrem Bräutigam« sprach, konnte<br />

sie ein Lächeln nicht unterdrücken.<br />

»Ich würde wirklich gerne wissen, was du daran so komisch<br />

fi ndest«, entgegnete ihr Vater scharf.<br />

»Nichts, Vater, wirklich, gar nichts.« Ida hatte Mühe, sich<br />

zu beherrschen, um nicht loszukichern wie ein Schulmädchen.<br />

Ein Bräutigam! Die Vorstellung, einem Mann die Socken<br />

zu stopfen, fand sie absurd.<br />

»Ida.« Er erhob erneut die Stimme. »Wie oft soll ich mit<br />

dir denn noch dieses Gespräch führen. Du bist jetzt achtzehn<br />

Jahre alt, früher o<strong>der</strong> später wirst du heiraten, o<strong>der</strong><br />

glaubst du, ich kann es mir leisten, dich bis an dein Lebensende<br />

durchzufüttern?«<br />

»Aber Vater, natürlich nicht. Ich werde nur nicht die Haushaltsschule<br />

von Fräulein Stolz besuchen.« Sie hatte sich<br />

jetzt wie<strong>der</strong> im Griff und wun<strong>der</strong>te sich selbst ein wenig<br />

darüber, wie entschieden sie sich diesmal angehört hatte.<br />

Oskar Grotjahn schluckte. Die Entschlossenheit in ihrem<br />

Gesicht erfüllte ihn mit Sorge. Ida erinnerte ihn an seinen<br />

Vater, den er noch im Alter gefürchtet hatte. Mit zusammengekniffenen<br />

Augen, als würde er hoffen, sie auf diese<br />

Weise besser durchschauen zu können, musterte er seine<br />

Tochter. Doch einmal mehr fi el es ihm schwer, sich in ihr<br />

wie<strong>der</strong>zuerkennen. Die blauen Augen ähnelten noch am<br />

ehesten seinen eigenen, ansonsten schien sie vor allem nach<br />

ihrer Mutter zu kommen. Das dunkle Haar, das sie für seinen<br />

Geschmack viel zu locker zu einem Zopf gebunden<br />

trug, die hohen Wangenknochen, die ihrem Gesicht schon<br />

jetzt eine feine Eleganz verliehen, <strong>der</strong> geschwungene Mund<br />

mit den vollen Lippen, aus denen die Lebenslust sprach, all<br />

das hatte mit ihm nicht viel zu tun.<br />

11


»Und wer, glaubst du, zahlt dir den Zeichenunterricht bei<br />

diesem Herrn Meistermaler Vogel?«<br />

Ida überlegte kurz. »Ich könnte ja in <strong>der</strong> Fabrik arbeiten.«<br />

»Arbeiten in <strong>der</strong> Fabrik.« Die Vorstellung amüsierte ihren<br />

Vater. »Ich würde wirklich zu gerne wissen, wer dir nur<br />

alle diese Flausen in den Kopf gesetzt hat.«<br />

»Du musst den Läufer ziehen.« Johanna, Idas sechzehnjährige<br />

Schwester, war von beiden unbemerkt in den Salon<br />

gekommen und stand nun hinter ihnen, den Blick auf den<br />

Spieltisch mit den Schachfi guren gerichtet.<br />

»Ach, Johanna, was für eine Wohltat.« Oskar Grotjahn<br />

legte seinen Arm um die schmalen Hüften seiner Zweitjüngsten<br />

und zog sie näher zu sich. »Was für ein kluges<br />

Mädchen du doch bist. Kannst du mir verraten, warum<br />

deine Schwester so aus <strong>der</strong> Art schlägt?«<br />

Johanna verzog keine Miene. Die ständigen Streitereien<br />

zwischen den beiden interessierten sie schon lange nicht<br />

mehr. Sie verstand Ida einfach nicht.<br />

»Ida, Ida, Ida.« Ratlos schüttelte er den Kopf, doch Johannas<br />

Bemerkung hatte ihn abgelenkt. Sein Blick blieb auf<br />

dem Schachbrett hängen, während er nachdenklich seinen<br />

Bart rieb.<br />

Ida beobachtete ihn verunsichert. »Kann ich?«<br />

»Jaja«, sagte Oskar Grotjahn, »geh jetzt. Wir sprechen uns<br />

noch.«<br />

Als Ida kurz darauf den Salon verließ und in ihr Zimmer<br />

hin aufging, war ihr die Lust am Zeichnen erst einmal vergangen.<br />

<strong>Der</strong> Streit mit ihrem Vater zehrte mehr an ihr, als sie<br />

gedacht hatte. Erschöpft blickte sie aus dem Fenster. Direkt<br />

vor ihr lag <strong>der</strong> Knieper Teich. Doch während sein Anblick<br />

ihr vorher noch alles bedeutet hatte, schien er nun nichts<br />

weiter als ein trübes, langweiliges Gewässer zu sein.<br />

12


2<br />

S ie erkannte das Stück sofort. Mit dem ersten Akkord<br />

hatte sie es erkannt und gewusst, dass ihre<br />

Mutter es nur für sie spielte. Schon als sie noch ein kleines<br />

Kind war, hatte sie es gespielt, um sie zu trösten. Leise<br />

summte Ida die Melodie mit, diese sanfte Musik, die erst so<br />

unscheinbar in <strong>der</strong> Luft schwebt, bis sie sich immer lauter<br />

erhebt, um schließlich zaghaft zu verebben. Ida stellte sich<br />

ihre Mutter vor, wie sie an dem schwarzen Flügel im Klavierzimmer<br />

saß, dem Flügel, den ihr Großvater eigenhändig<br />

gebaut hatte und <strong>der</strong> den Grundstein gelegt hatte für<br />

seine erfolgreiche Pianofortefabrik, wie sie dort mit geschlossenen<br />

Augen saß, ganz versunken in Chopins Nocturne.<br />

Ida glaubte, dass es ihre Art war, ihr mitzuteilen,<br />

dass sie sie verstand.<br />

Mit dem Spiel ihrer Mutter kehrte Idas Mut langsam<br />

zurück. Sie öffnete ihren Schrank und griff nach einem<br />

<strong>der</strong> Magazine, die sie hütete wie einen Schatz. Ordentlich<br />

nach Erscheinungsdatum sortiert, lag dort Die neue deutsche<br />

Rundschau, eine Zeitschrift, die sich ihre Mutter aus<br />

Berlin kommen ließ und die für Ida mehr war als nur ein<br />

Bote aus einer fernen Welt. Drei Jahre war es her, dass sie<br />

zum ersten Mal eines <strong>der</strong> Hefte in Händen gehalten hatte,<br />

und schon beim Lesen des ersten Artikels über einen Dichter,<br />

dessen Namen sie zuvor noch nie gehört hatte, hatte<br />

sie gespürt, dass darin etwas enthalten war, was sie zutiefst<br />

berührte. Damals konnte sie noch nicht sagen, was<br />

es war, aber im Lauf <strong>der</strong> Jahre hatte sich ihr Interesse mehr<br />

und mehr auf die Kunst gerichtet, und seitdem las sie jeden<br />

noch so kleinen Artikel über eine Ausstellungseröff-<br />

13


nung, als würde es sich dabei um eine Offenbarung handeln.<br />

Es gab kaum ein Kunstwerk, das in diesen drei Jahren abgedruckt<br />

worden war, das sie nicht aus dem Kopf hätte<br />

nachmalen können, pompöse, mit allerlei Pracht und Prunk<br />

verzierte Kaiserkrönungen ebenso wie wollüstige Salonszenerien<br />

mit nackten, sich auf samtenen Chaiselongues räkelnden<br />

Damen. Mit Hingabe hatte sie Detail für Detail<br />

dieser großen Gemälde studiert und versucht sie zu kopieren.<br />

Und vielleicht hätte sie sich damit sogar zufriedengegeben,<br />

vielleicht hätte es ihr genügt, die Malerei als einen<br />

Zeitvertreib zu sehen, <strong>der</strong> ihr dabei half, an einer prächtigeren<br />

und größeren Welt teilzuhaben als an <strong>der</strong>, die sie aus<br />

Stralsund kannte, wenn ihr Blick nicht vor einem Jahr auf<br />

ein Bild gefallen wäre, das sie seitdem fesselte wie kein an<strong>der</strong>es.<br />

Mit <strong>der</strong> Feierlichkeit eines alten Rituals legte sie das abgegriffene<br />

Heft auf ihren Schreibtisch und blätterte es Seite<br />

für Seite langsam um – »Mondschein liegt um Meer und<br />

Land dämmerig gebreitet; in den weißen Dünensand Well’<br />

auf Welle gleitet«. Wie immer las sie zuerst Gerhart Hauptmanns<br />

»Mondscheinlerche« auf Seite drei, bevor sie sich<br />

<strong>der</strong> Strecke mit den Modezeichnungen widmete, die im<br />

Gegensatz zu den schweren Klei<strong>der</strong>n, die sie täglich an den<br />

Stralsun<strong>der</strong> Frauen sah, frisch und leicht wirkten. Ida überblätterte<br />

die Kritik einer Uraufführung an <strong>der</strong> Hofoper<br />

Unter den Linden, die ihre Mutter ebenso rot angestrichen<br />

hatte wie den Bericht über eine Wagner-Inszenierung in<br />

München, bevor sie schließlich zu <strong>der</strong> Seite kam, die den<br />

Beginn ihrer Sehnsucht markierte.<br />

Behutsam strich sie über das aufgrund des einfachen<br />

Drucks längst braunstichig gewordene Bild von Feldarbei-<br />

14


terinnen, das so an<strong>der</strong>s war als alle Bil<strong>der</strong>, die sie bis dahin<br />

gesehen hatte. Es hatte nichts von dem übertriebenen Pathos<br />

eines Hofzeremoniells, nichts von <strong>der</strong> gekünstelten<br />

Lebendigkeit einer in einem Traubenmeer badenden Schönheit,<br />

es war so schlicht, dass sie es beim ersten Mal sogar<br />

beinahe übersehen hätte. Ein bis zum Horizont sich erstrecken<strong>der</strong><br />

Acker, vier gebückte Arbeiterinnen, mit zerfurchten<br />

und ernsten Gesichtern, und dazwischen zarte, sich<br />

durch die aufgelockerte Erde drängende junge Pfl änzchen.<br />

Wie viel Gefühl darin lag, wie viel Sinn für das Wesentliche.<br />

Nie hätte Ida gewagt, dieses Bild wie die an<strong>der</strong>en<br />

nachzumalen. Zu groß war ihre Ehrfurcht vor dem Künstler,<br />

<strong>der</strong>, wie sie glaubte, sich seiner Kunst mit Leib und Seele<br />

verschrieben haben musste. Und nie hatte sich Ida so<br />

verstanden gefühlt wie bei ihrer ersten Begegnung mit diesem<br />

Bild, das so ungekünstelt und ehrlich war. Seitdem war<br />

es ihr Trost und Ansporn zugleich. Denn nichts auf <strong>der</strong><br />

Welt hatte bis dahin ihr Innerstes mehr berührt, und nichts<br />

wollte sie sehnlicher, als ebenfalls eine Sprache zu fi nden<br />

für ihre wahrhaftigsten Gefühle.<br />

Vater kann mich nicht zwingen, auf diese Schule zu gehen,<br />

sagte sie sich energisch, während sie eine weitere Seite umblätterte<br />

und ihr Blick auf dem Porträt des Künstlers haften<br />

blieb. Er hieß Herbert Klausen, hatte ein schmales, langes,<br />

wie Ida fand, edles Gesicht mit einem sorgfältig gestutzten<br />

Backenbart und kräftiges, nach hinten gekämmtes Haar<br />

und sah ebenso selbstbewusst wie nachdenklich aus. Ida<br />

hatte schon oft die wenigen Zeilen gelesen, die dort über ihn<br />

geschrieben standen. Sie wusste daher, dass er als einer <strong>der</strong><br />

wichtigsten Vertreter einer neuen deutschen Kunstrichtung<br />

galt und dass er sich in Berlin mit seiner Kunst nicht nur<br />

Freunde gemacht hatte. Einer wie er, dachte sie, <strong>der</strong> mit ganz<br />

15


eigenen Vorstellungen auf die Welt zu blicken schien, wäre<br />

bestimmt nicht so ängstlich wie sie. »Was soll ich bloß machen?«,<br />

fl üsterte sie seinem Porträt fl ehentlich zu, aber wie<br />

immer sprach aus seinen Augen nur eine stumme Mischung<br />

aus Melancholie und Provokation. Ida starrte nachdenklich<br />

ins Leere. Während sie erneut dem Spiel ihrer Mutter lauschte,<br />

geisterte nur ein einziger Satz durch ihren Kopf: Ich gehe<br />

auf keinen Fall zu Fräulein Stolz.<br />

Als <strong>der</strong> letzte Ton verklungen und es wie<strong>der</strong> still war im<br />

Haus und Ida erneut aus dem Fenster sah, stellte sie mit<br />

Erstaunen fest, dass <strong>der</strong> Teich plötzlich im Sonnenschein<br />

glänzte. Für einen kurzen Moment streifte ihr Blick noch<br />

einmal das Bild <strong>der</strong> Feldarbeiterinnen, als müsste sie sich<br />

ihrer Wirkung auf sie noch einmal versichern, bevor sie das<br />

Heft zurück an seinen Platz legte. Dann band sie ihre Haare<br />

neu, setzte einen kleinen Hut auf, steckte einen Zeichenblock<br />

unter ihren Mantel und ließ zwei Kohlestifte in ihren<br />

Taschen verschwinden.<br />

Als sie aus dem Haus trat, hielt gerade eine Droschke vor<br />

einer entfernt stehenden Nachbarvilla, ansonsten war die<br />

Teichstraße wie so oft menschenleer. Erst auf dem Knieper<br />

Damm begegnete ihr eine Gruppe junger fröhlicher Mädchen.<br />

Ida kannte sie und wollte schon grüßen, aber die<br />

Mädchen gingen ausgelassen schwatzend an ihr vorüber,<br />

ohne sie eines Blickes zu würdigen. Verwun<strong>der</strong>t sah Ida<br />

ihnen hinterher. Nicht, dass sie gerne mit ihnen gegangen<br />

wäre, aber das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, versetzte ihr<br />

einen kurzen, heftigen Stich.<br />

Je näher Ida dem Stadtkern kam, desto lauter wurde es.<br />

Dicht an dicht standen die Giebelhäuser, von <strong>der</strong>en Wänden<br />

das Geklapper <strong>der</strong> Pferdehufe und Droschkenrä<strong>der</strong><br />

wi<strong>der</strong>hallte. Ihr Blick streifte die Auslage <strong>der</strong> Bäckerei Her-<br />

16


mann Korn, in dessen Schaufenster eine bis zur Hälfte abgetragene<br />

Brotpyramide lag, und Schuhmacher Bruhn hatte<br />

neben halbfertige Schuhe und unbenutzte Sohlen braune<br />

und schwarze Schnürsenkel gelegt. In <strong>der</strong> engen Gasse war<br />

es an diesem Apriltag 1896 fast so belebt wie zur frühen<br />

Morgenstunde am Hafen, und Ida presste ihren Zeichenblock<br />

an sich und beschleunigte ihren Schritt, als würde sie<br />

fürchten, jemand würde sie erkennen und abführen wie<br />

eine Verbrecherin und auf direktem Weg zu Fräulein Stolz<br />

bringen.<br />

Als sie in <strong>der</strong> Heiliggeiststraße auf einer <strong>der</strong> Häuserwände<br />

in großen Buchstaben ihren Familiennamen prangen sah,<br />

zuckte sie zusammen. Obwohl sie schon unzählige Male<br />

dort entlanggegangen war, konnte sie sich nicht daran gewöhnen,<br />

ihren Namen, <strong>der</strong> zu ihr gehörte wie ihre geheimsten<br />

Wünsche, vor aller Augen ausgebreitet zu sehen. Mit<br />

den Jahren war das einst leuchtende Weiß ausgebleicht und<br />

schmutzig geworden, aber die Farbe hatte noch immer genügend<br />

Kraft, um sich deutlich von <strong>der</strong> rötlich schimmernden<br />

Backsteinfassade abzuheben. »Pianofortefabrik Grotjahn<br />

& Söhne« stand dort, und für einen Moment zögerte<br />

Ida, ob sie nicht hineingehen und ihren Onkel Fritz nach<br />

Arbeit fragen sollte. Aber die Vorstellung, dass sie wie alle<br />

an<strong>der</strong>en Arbeiterinnen an einer <strong>der</strong> Werkbänke stehen<br />

würde, erschien ihr nun fast ebenso lächerlich wie vorher<br />

ihrem Vater.<br />

»Na, Ida, ganz allein unterwegs?«<br />

Erschrocken drehte sie sich um. Vor ihr stand Anselm Preller,<br />

Emmas Verlobter, <strong>der</strong> sich zu ihr hinunterbeugte und<br />

seinen schweren Arm auf ihre Schultern legte.<br />

»Ein so hübsches Mädchen wie du sollte in Gesellschaft<br />

sein«, sagte er lachend und bleckte dabei seine gelbgefärb-<br />

17


ten Zähne. Wie immer roch er nach Bier, und Ida wich unwillkürlich<br />

einen Schritt zurück, aber er hielt sie weiterhin<br />

fest, fast so, als würde sie wie selbstverständlich zu ihm gehören.<br />

»So wie diese junge Dame da, die macht’s richtig.« Er<br />

zeigte auf eine hochschwangere Frau, kaum älter als Ida, die<br />

mit einem kleinen Mädchen an <strong>der</strong> einen und einem Jungen<br />

an <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Hand die Straße entlangging.<br />

Ida versuchte zu lächeln, aber innerlich schau<strong>der</strong>te es sie.<br />

»Emma meint, dass du ganz schön aufsässig bist. Sie fi ndet<br />

dein Verhalten reichlich ungebührlich. Du scheinst ja richtig<br />

besessen zu sein von deiner Malerei. Ida, Ida.« Er musterte<br />

sie kopfschüttelnd. »Wo soll das denn hinführen?«<br />

»Ich habe gehört, es soll noch Schwierigkeiten wegen <strong>der</strong><br />

Hochzeit geben? <strong>Der</strong> Dampfer?«<br />

»Ach, <strong>der</strong> Dampfer kann mir mal gestohlen bleiben. Sollen<br />

doch die Tietzes dort ihre Hochzeit feiern, ich war ohnehin<br />

von Anfang an für den Brauereikeller. Sag mir lieber, wann<br />

wir deine Hochzeit feiern?«<br />

Ida zuckte mit den Schultern. »Du wirst es dann sicherlich<br />

rechtzeitig erfahren«, sagte sie trocken, während sie erneut<br />

versuchte, sich, ohne unhöfl ich zu sein, aus seiner Umklammerung<br />

zu winden.<br />

»Weißt du eigentlich, dass halb Stralsund ein Auge auf dich<br />

geworfen hat? Seit bekannt ist, dass ich bei den Grotjahns<br />

einheirate, werde ich fast täglich von irgend so einem Tölpel<br />

belästigt, <strong>der</strong> mich anfl eht, dass ich ihn dir einmal vorstelle.<br />

Ich geb ja zu, viele sind nicht dabei, die in Frage kämen,<br />

aber du wirst ja wohl nicht als alte Jungfer enden<br />

wollen.«<br />

»Ach, Anselm.« Ida lachte. »Sei mir nicht böse, aber ich<br />

muss weiter.«<br />

»Glaubst wohl, du bist was Besseres, was?«<br />

18


»Nein, das glaube ich nicht«, antwortete sie energisch.<br />

»Dann benimm dich«, entgegnete er barsch.<br />

Ida sah ihn verblüfft an. In diesem Ton hatte er noch nie<br />

mit ihr gesprochen. »Ich denke nicht, dass dich das etwas<br />

angeht«, sagte sie nach kurzem Zögern und bemühte sich,<br />

ruhig zu bleiben.<br />

»Als dein zukünftiger Schwager will ich doch nur dein Bestes«,<br />

meinte er versöhnlich, während er erneut seinen Arm<br />

um ihre Schultern legte.<br />

»Ich muss jetzt wirklich los.« Ida wand sich ruckartig aus<br />

seiner Umarmung.<br />

»Ist ja gut, ich hab verstanden.« Er bleckte wie<strong>der</strong> die Zähne.<br />

»Aber dass du mir keinen Ärger machst. Meinst du, ich<br />

hätte nicht bemerkt, dass du unter deinem Mantel deinen<br />

Zeichenblock verbirgst?«<br />

Als sie sich einige Schritte entfernt hatte, atmete sie tief<br />

durch. Seine aufdringliche Art nahm ihr jedes Mal fast die<br />

Luft. Sie verstand nicht, wie Emma in seiner Gegenwart<br />

überhaupt einen Platz für sich fi nden konnte. Mit verschränkten<br />

Armen, als müsste sie sich auch jetzt noch vor<br />

seinem Zugriff schützen, ging sie zum Hafen.<br />

Dort, wo im Sommer <strong>der</strong> Dampfer mit den Sonntagsausfl<br />

üglern nach Hiddensee abfuhr und jetzt Fischerboote lagen,<br />

setzte sie sich an den Kai und ließ ihre Beine über dem<br />

ruhigen Wasser baumeln. Um sie herum herrschte kaum<br />

noch Betrieb. Die meisten Arbeiter und Fischer hatten sich<br />

im Seemannsheim versammelt, einer verräucherten Gaststätte,<br />

die direkt neben dem Mohrschen Kaufmannsladen<br />

lag und in <strong>der</strong> ab dem frühen Nachmittag das Bier in Strömen<br />

fl oss. Ida holte den Zeichenblock unter ihrem Mantel<br />

hervor und griff nach den Stiften in ihrer Tasche. Schon oft<br />

hatte sie hier gesessen, und es war beileibe nicht so, dass sie<br />

19


nicht aufgefallen wäre, aber die verständnislosen Blicke,<br />

die sie von den Hafenarbeitern erntete, trafen sie weniger<br />

als die verächtlichen Bemerkungen ihres Vaters.<br />

Über ihr hingen dicke weiße Wolken, scheinbar zum Greifen<br />

nah und so weich, dass Ida sich mit ihnen am liebsten umhüllt<br />

hätte. Je weiter sie ihren Blick über den zarthellen Frühjahrshimmel<br />

schweifen ließ, desto fl üchtiger wurden sie, bis<br />

von ihnen nur noch eine vage Ahnung am dunstigen Horizont<br />

zurückblieb. Ida versuchte zu zeichnen, was sie sah, aber<br />

<strong>der</strong> Himmel auf dem weißen Papier glich in ihren Augen eher<br />

einer leblosen Wand als einem sanften Naturschauspiel. Sie<br />

zerknüllte das Blatt und warf es achtlos neben sich.<br />

Ich muss dringend Unterricht nehmen, wenn ich malen will<br />

wie Herbert Klausen, dachte sie und setzte die ersten Striche<br />

auf ein frisches Blatt Papier. Wenn Vater das sieht, sie schüttelte<br />

den Kopf. Er wird niemals die Stunden bei Herrn Vogel<br />

fi nanzieren. Vorsichtig rieb sie über das Papier, so dass aus<br />

den plumpen Strichen ein nebliger Schleier entstand, <strong>der</strong> am<br />

oberen Bildrand hing wie eine bedrohliche Gewitterfront.<br />

Ida stöhnte. So funktionierte das nicht. Sie zeichnete und<br />

rieb und machte damit alles nur noch schlimmer. Aus dem<br />

freundlichen Himmel über ihr war endgültig ein düsteres<br />

Chaos geworden. Erneut zerknüllte sie das Papier. Aber<br />

auch <strong>der</strong> nächste Versuch scheiterte, und als sie das fünfte<br />

Blatt zerknüllt hatte, zeichnete sie aus dem Kopf ihre kleine<br />

Schwester Lilla. Das tat sie immer, wenn sie nicht weiterkam,<br />

und so war im Lauf <strong>der</strong> Zeit eine beachtliche Porträtserie<br />

entstanden, die sie wie einen Schatz hütete.<br />

Ihre zwölfjährige Schwester war für sie schon immer ein<br />

Lichtblick gewesen. <strong>Der</strong>en kindlich unschuldiges Wesen,<br />

<strong>der</strong>en unbekümmerte Frechheit ließen sie hoffen, dass sie<br />

es schaffen konnte, ein an<strong>der</strong>es Leben als das für sie vorge-<br />

20


sehene zu führen. Haushalt, schoss es ihr durch den Kopf.<br />

Lieber sterbe ich, als dass ich mich wie Emma füge. Sie<br />

warf noch einen letzten Blick auf Lillas Porträt, und einmal<br />

mehr war sie fest entschlossen, sich dem Wunsch ihres Vaters<br />

nicht zu unterwerfen. Ich muss einfach nur besser werden,<br />

dachte sie, ich muss zu Herrn Vogel, ich muss unbedingt<br />

zu Herrn Vogel.<br />

V V<br />

3<br />

orsichtig öffnete Ida die Tür zum Musikzimmer. Ihre<br />

Mutter saß am Flügel und übte ein Stück, das Ida<br />

noch nie zuvor gehört hatte.<br />

»Stör ich?«<br />

Ruckartig wandte sich Bertha Grotjahn ihr zu. Sie war<br />

ganz versunken gewesen in ihr Spiel und musste erst den<br />

Schreck verwinden, bevor sie ihrer Tochter freundlich zunicken<br />

konnte.<br />

»Komm, setz dich neben mich.« Sie rutschte etwas zur Seite,<br />

so dass Ida auf <strong>der</strong> breiten Klavierbank Platz fand.<br />

»Weißt du noch, wie wir früher immer vierhändig Bach<br />

gespielt haben?«<br />

Ida nickte.<br />

»Lass es uns doch noch mal versuchen. Ich vermisse unsere<br />

gemeinsamen Musikstunden.«<br />

»Ach, Mutter.« Ida seufzte. »Ich weiß doch gar nicht mehr,<br />

wie das geht.«<br />

»Na, na, na.« Bertha Grotjahn lächelte ihrer Tochter<br />

aufmunternd zu. »Das glaub ich nicht. Du wirst sehen,<br />

21


deine Finger werden ganz allein die richtigen Tasten fi nden.<br />

Außerdem bist du doch sonst auch nicht so ängstlich.«<br />

»Ich wollte eigentlich mit dir reden«, sagte Ida.<br />

»Wegen Vater?«<br />

»Auch. Es ist«, sie zögerte kurz, »ich könnte doch vielleicht<br />

von Herrn Vogel Zeichenunterricht bekommen, aber<br />

Vater …«<br />

»Ich weiß«, unterbrach ihre Mutter sie rasch. »Lass uns<br />

erst spielen, dann sehen wir weiter.«<br />

»Mutter, bitte, es ist wichtig«, protestierte Ida, aber Bertha<br />

Grotjahn kannte in dieser Hinsicht kein Erbarmen. Die<br />

Musik war seit langem das Wichtigste in ihrem Leben, und<br />

sie konnte ganze Tage am Flügel verbringen, die sie nur für<br />

die gemeinsamen Mittag- und Abendessen unterbrach, für<br />

<strong>der</strong>en Zubereitung Trude, die Köchin, zuständig war. Sie<br />

war eine gute Pianistin, aber nicht so gut, dass aus ihr eine<br />

große Musikerin geworden wäre, wenn sie mehr Möglichkeiten<br />

gehabt hätte, wie Ida insgeheim glaubte. Für Bertha<br />

Grotjahn war die Musik vor allem ein idealer Zufl uchtsort,<br />

und seitdem klar war, dass sie ihrem Mann keinen Erben<br />

schenken würde, und in <strong>der</strong> Fabrik längst auch nicht<br />

mehr alles zum Besten stand, ließ sie sich nur ungern aus<br />

ihrem Paradies vertreiben.<br />

Bertha stellte die Noten auf und schlug den ersten Ton an.<br />

»Komm, so schwer ist es nicht.«<br />

Ida wusste, dass sie keine Wahl hatte, wenn sie mit ihrer<br />

Mutter noch sprechen wollte. Und das wollte sie unbedingt,<br />

schließlich hoffte sie, bei ihr mehr Verständnis zu<br />

fi nden als bei ihrem Vater. Ungeübt, aber mit vielen Stunden<br />

Klavierunterricht in den Fingern, meisterte sie ihren<br />

Part besser, als sie gedacht hatte.<br />

22

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!