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anders als erwartet

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Stefan Kretzschmar<br />

<strong>anders</strong><br />

<strong>als</strong> <strong>erwartet</strong><br />

Unter Mitarbeit von Sandra und Sven Beckedahl<br />

Knaur Taschenbuch Verlag<br />

3


Besuchen Sie uns im Internet:<br />

www.knaur.de<br />

Vollständige Taschenbuchausgabe November 2009<br />

Knaur Taschenbuch<br />

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt<br />

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München<br />

Copyright © 2008 by Eichborn AG, Frankfurt am Main<br />

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –<br />

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.<br />

Umschlagfoto: Hartmuth Schröder<br />

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München<br />

Satz: Adobe InDesign im Verlag<br />

Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck<br />

Printed in Germany<br />

ISBN 978-3-426-78337-5<br />

5 4 3 2 1<br />

4


Inhalt<br />

Vorwort zur Taschenbuchausgabe .............................. 9<br />

1 Kindheit in der Straße der Besten ............................... 13<br />

Peter Kretzschmar über seinen Sohn Stefan .............. 37<br />

2 Mannwerdung ................................................................ 39<br />

Christian Schwarzer:<br />

Er braucht seine Streicheleinheiten ................................. 68<br />

3 Tief im Westen ................................................................ 70<br />

Andreas Thiel:<br />

Er hat sich nicht verbiegen lassen .................................... 94<br />

4 Rückkehr in den Osten .................................................. 99<br />

Gregor Gysi:<br />

Er ist auf bestimmte Weise ein Ostdeutscher geblieben .. 124<br />

5 Große Turniere und weite Welt .................................... 126<br />

Dirk Nowitzki:<br />

Er ist mit vollem Herzen dabei ........................................ 161<br />

5


6 Große Liebe ..................................................................... 164<br />

6<br />

Campino:<br />

In vielen Dingen sind wir auf derselben Wellenlänge ....... 211<br />

7 Niederlagen .................................................................... 216<br />

Heiner Brand:<br />

Er war zu schade für Linksaußen ..................................... 238<br />

8 Status quo ....................................................................... 242<br />

Danksagung .................................................................... 259<br />

Bildnachweis .................................................................. 261


ICH HABE immer versucht, bewusst zu leben. Es war manchmal<br />

wirklich so, dass ich nachts im Bett lag und mir überlegt habe:<br />

Was ist heute passiert? Und wenn nichts Interessantes passiert<br />

war, bin ich aufgestanden. Ich hab mich angezogen, bin raus in<br />

eine Kneipe. Oder <strong>als</strong> ich noch in Berlin wohnte, habe ich einfach<br />

jemanden angerufen. Zu nachtschlafender Zeit gab es dann<br />

einen Weckruf von mir: »Komm, lass uns was machen!«<br />

Ob es wirklich Tage gab, an denen nichts passiert ist? Ich weiß<br />

es nicht. Aber allein der Gedanke daran, dass es so einen Tag<br />

geben könnte, treibt mich auf die Straße.<br />

7


Vorwort zur Taschenbuchausgabe<br />

Juni 2009 – Varadero, Kuba<br />

ICH SITZE AM STRAND, schaue aufs Meer und beobachte die untergehende<br />

Sonne. Gleich wird der rote Feuerball im Meer<br />

verschwinden. Eigentlich bin ich nicht der Typ, der sich zurückzieht,<br />

um allein auf den Ozean zu starren und sich den<br />

Gedanken hinzugeben. Aber jetzt habe ich mir die Zeit dazu<br />

genommen. Mit einem Cuba Libre und einer Zigarre habe ich<br />

es mir im Sand bequem gemacht. Unweit von mir spielt die<br />

Band und die Festgesellschaft feiert. Es ist eine Hochzeit.<br />

Meine Hochzeit. In ein paar Minuten werde ich zu meiner<br />

Familie zurückkehren und weiterfeiern, aber vorher möchte<br />

ich einen kurzen Moment für mich allein sein und das vergangene<br />

Jahr Revue passieren lassen.<br />

Im Oktober 2008 erschien »Anders <strong>als</strong> <strong>erwartet</strong>« <strong>als</strong> Hardcover.<br />

Seitdem ist sehr viel bei mir passiert: Plötzlich haben<br />

sich Menschen gemeldet, zu denen ich seit langem keinen<br />

Kontakt hatte. Viele sagten nach der Lektüre des Buches zu<br />

mir: »Jetzt verstehe ich dich. Jetzt sehe ich dich mit anderen<br />

Augen.« Dass es Menschen gab, die mir versicherten, ich hätte<br />

ihr Leben mit meiner Autobiographie für kurze Zeit bereichert,<br />

hat mich besonders gefreut. Der Tenor der vielen positiven<br />

Rückmeldungen zu meinem Buch lautete meist: Ich<br />

konnte es nicht mehr weglegen und habe es in einem Rutsch<br />

durchgelesen.<br />

Der Titel »Anders <strong>als</strong> <strong>erwartet</strong>« sollte auch Programm sein,<br />

und so war die überwiegende Zahl der Leser wirklich überrascht.<br />

Gewisse Dinge hätten sie mir nie zugetraut. Dazu ge-<br />

9


hört, dass ich ein sehr sensibler Mensch bin, was man bei<br />

einem Typen, den man gern und plakativ <strong>als</strong> Handball-Punk<br />

in eine Schublade packen wollte, vielleicht nicht vermutet.<br />

Besonders viel Resonanz habe ich auf das Kapitel über das<br />

Verhältnis zu meiner Mutter bekommen. War es wirklich so?<br />

Wie kann man so etwas nur schreiben? Mit diesen Fragen sah<br />

ich mich immer wieder konfrontiert. Ja, ich hatte Bauchschmerzen<br />

beim Verfassen des Kapitels und beim Gedanken<br />

an mögliche Reaktionen. Vor allem innerhalb der Familie war<br />

der Umgang damit anfangs relativ kompliziert. Mein Vater,<br />

der das Buch vor Erscheinen gelesen hatte, machte mir schwere<br />

Vorwürfe. Wie ich denn nur so etwas über meine eigene<br />

Mutter schreiben könne – er verstand mich nicht. Sie selbst<br />

hatte zunächst angekündigt, dass sie das Buch gar nicht lesen<br />

wolle. Diese Haltung hat sie dann offenbar revidiert. An Weihnachten<br />

kam sie zu fortgeschrittener Stunde auf mich zu und<br />

versicherte mir, dass sie mit meinen Aussagen im Buch leben<br />

könne. Dies war für mich die wichtigste Reaktion auf mein<br />

Buch, und seit diesem Gespräch unterm Weihnachtsbaum hat<br />

sich unser Verhältnis deutlich verbessert. Was uns in den dreieinhalb<br />

Jahrzehnten vor Erscheinen des Buches nicht gelungen<br />

war, schaffen wir jetzt: Wir gehen respektvoll miteinander<br />

um und sind uns so nah wie nie zuvor. Stück für Stück arbeiten<br />

wir so das Vergangene auf. Meine Mutter spricht plötzlich<br />

über Emotionen und ist inzwischen sogar in der Lage, mich<br />

zu loben. Im Gegenzug kann auch ich mich ihr endlich anvertrauen.<br />

Ich spreche über Dinge mit ihr, die ich früher niem<strong>als</strong><br />

in ihrer Gegenwart angeschnitten hätte. All das wäre vor noch<br />

einem Jahr unmöglich gewesen. Ich bin unendlich dankbar<br />

dafür, dass wir normal miteinander umgehen – und schätzen,<br />

was wir aneinander haben.<br />

Dieses Buch hat nicht nur unser Familiengefüge erheblich<br />

10


zum Positiven verändert. Ich habe auch die Möglichkeit bekommen,<br />

ein Problem anzusprechen, das offenbar viele Menschen<br />

umtreibt. Vor allem Kinder von Leistungssportlern haben<br />

ähnliche Situationen erlebt, in denen ihnen die Anerkennung<br />

eines Elternteils versagt geblieben ist. Ich hätte nie<br />

gedacht, dass ich damit ein Tabuthema anschneide, aber viele<br />

Leser haben es so empfunden.<br />

Neben der Resonanz meiner Eltern auf das Buch war mir<br />

natürlich auch wichtig, was meine Frau Maria dazu sagt.<br />

Nichts, was darin beschrieben ist, hat sie überrascht oder war<br />

neu für sie. Maria weiß, welche Qualität meine Verbindung zu<br />

Franziska van Almsick hatte. Wir haben offen darüber gesprochen,<br />

bevor wir wieder zusammengekommen sind. Denn das<br />

macht unsere Beziehung, die uns beide sehr glücklich macht,<br />

heute aus: Wir spielen mit offenen Karten. Wir sind jetzt<br />

wirklich eine Familie – darum war es auch nur eine logische<br />

Konsequenz, dass wir wieder geheiratet haben. Ich habe in<br />

Kapitel 8 dieses Buches ja vorsichtig angedeutet, dass ich bereit<br />

bin, den Schritt erneut mit Maria zu gehen. Im April habe<br />

ich ihr dann einen Antrag gemacht. Im Vorfeld habe ich mir<br />

über das Wie den Kopf zerbrochen, hatte Ideen, habe geplant.<br />

Doch <strong>als</strong> es dann so weit war, habe ich alles über den Haufen<br />

geworfen und Maria stattdessen elf weiße Rosen geschickt.<br />

Für jedes Jahr, das wir uns kennen, eine. Dazu habe ich einen<br />

langen Brief auf Spanisch verfasst, in dem ich um ihre Hand<br />

angehalten habe. Ihre Antwort erreichte mich telefonisch und<br />

prompt. Sie rief mich im Büro an und schrie in den Hörer:<br />

»Ja. Ich nehme den Antrag an.«<br />

Unsere erste Hochzeit fand 1998 in Deutschland statt. Also<br />

war irgendwie klar, wenn wir noch mal Ja sagen, dann auf<br />

Kuba, in Marias Heimat. Um keine Zeit mit überflüssigem<br />

Papierkram zu verlieren, haben wir standesamtlich in Deutsch-<br />

11


land geheiratet. Ganz still und heimlich am 19. Juni um 14.15<br />

Uhr in Magdeburg im Beisein meiner Eltern, unserer Kinder<br />

und der beiden Trauzeugen – eine Freundin von Maria und<br />

Christoph Schneider, der Schlagzeuger der Band Rammstein.<br />

Vier Tage nach dem Standesamt sind wir nach Varadero geflogen.<br />

Aus Deutschland ist nur Christoph mit seiner Frau<br />

Regina mitgekommen. Maria und ich haben dann vor Ort<br />

einen Nachmittag lang gesucht, bis wir unsere Traumlocation<br />

hatten: eine Strandbar mit Steinterrasse und Holztreppe hinunter<br />

zum Sandstrand. Genau so, wie ich es mir immer vorgestellt<br />

habe, denn ich wollte immer barfuß am Strand heiraten.<br />

Wir haben einen kubanischen Weddingplaner engagiert, der<br />

uns binnen zwei Tagen alles organisierte. Er hat zwar keinen<br />

roten, aber einen grünen Teppich verlegen lassen und einen<br />

Tisch samt Palmenblätterdekoration an den Strand gestellt,<br />

was uns sehr gefallen hat. Von Marias Familie kamen ihre Eltern,<br />

die getrennt leben, Geschwister und deren Familien.<br />

Auch wenn es das zweite Mal war, war ich doch ziemlich<br />

aufgeregt. Ich ließ mir extra die gleiche Frisur machen, wie ich<br />

sie vor elf Jahren bei unserer ersten Hochzeit trug: kurze platinblonde<br />

Haare. Wir waren beide in Weiß. Die Umgebung,<br />

das Wetter, die ganz auf Spanisch abgehaltene Zeremonie, die<br />

lieben Menschen – alles passte. Es hatte wirklich Magie und<br />

genau diese Romantik, von der ich immer geträumt habe, und<br />

in diesem Moment wusste ich genau: Ich habe Maria einmal<br />

ziehen lassen, ein zweites Mal wird mir das nicht mehr passieren.<br />

12


1 KINDHEIT IN DER STRASSE DER BESTEN<br />

ICH BIN IN einer heilen Welt groß geworden. Bis zu meinem<br />

fünften Lebensjahr wohnten wir in Leipzig, dann zogen wir<br />

nach Berlin. Doch mein Synonym für all die schönen Kindheitserinnerungen<br />

ist weder Leipzig noch Berlin, sondern<br />

Damsdorf, ein kleiner Ort westlich von Berlin. Dort lebten<br />

meine Großeltern, deren Haus ich mit Familie assoziiere.<br />

Nicht nur weil sich bei ihnen immer die ganze Familie traf. Es<br />

kam mir riesig vor mit seinen drei Etagen, dem komplett ausgebauten<br />

Keller und dem fußballplatzgroßen Garten. Es war<br />

so viel Platz im großelterlichen Anwesen, dass ich ein eigenes<br />

Kinderzimmer hatte. Weil meine Eltern aufgrund ihres Leistungssports<br />

stark eingebunden waren, sind meine Großeltern,<br />

<strong>als</strong>o die Eltern meiner Mutter, regelmäßig eingesprungen und<br />

haben mich und später dann auch meine Schwester Katharina,<br />

die 1979 geboren wurde, zu sich genommen. Als sich meine<br />

Eltern 1980 beide auf die Olympischen Spiele in Moskau vorbereiten<br />

mussten, bin ich sogar für ein halbes Jahr bei meinen<br />

Großeltern eingezogen und in Damsdorf zur Schule gegangen,<br />

schließlich wollten meine Eltern nicht, dass ich in diesen<br />

Monaten hin- und herpendle und dadurch die Schule in Unordnung<br />

geriet. Meine Schwester Katharina war noch ein<br />

Baby, sie blieb bei meinen Eltern in Berlin und kam nur nach<br />

Damsdorf, wenn Lehrgänge bei den beiden anstanden.<br />

Meine Mutter war der Star des SC Leipzig. Sie war dreimalige<br />

Handballweltmeisterin und galt dam<strong>als</strong> <strong>als</strong> beste Spielerin<br />

der Welt. Mein Vater war <strong>als</strong> Spieler ebenfalls Weltmeister<br />

geworden, ehe er Frauenhandball-Nationaltrainer und somit<br />

13


Coach meiner Mutter wurde. An dieser Stelle möchte ich darauf<br />

hinweisen, dass mein Vater der Erste war, der <strong>als</strong> aktiver<br />

Handballspieler und später <strong>als</strong> Trainer Weltmeister wurde.<br />

Mir ist das wichtig, weil normalerweise der aktuelle Handball-<br />

Bundestrainer der Männer, Heiner Brand, der auch unheimlich<br />

viel für den Handball geleistet hat, <strong>als</strong> derjenige gewürdigt<br />

wird, dem das <strong>als</strong> Erster gelang.<br />

Mein Vater Peter Kretzschmar mit mir 1973<br />

Meine Mutter ist Jahrgang 1948, sie ist 16 Jahre jünger <strong>als</strong><br />

mein Vater und hat drei Geschwister, dementsprechend groß<br />

ist ihre Familie. Im Gegensatz zu der Familie väterlicherseits.<br />

An die Eltern meines Vaters habe ich keine Erinnerung, mein<br />

Opa starb bereits 1964. Meine Oma erlebte mich noch sehr<br />

kurz, sie starb aber ein Jahr nach meiner Geburt.<br />

Meine Großeltern mütterlicherseits haben den ganzen Laden<br />

zusammengehalten. Bis auf uns lebten alle anderen in<br />

14


Dams dorf oder im Nachbarort und waren in der Landwirtschaft<br />

tätig. Mein Opa war Vorsitzender der ortsansässigen<br />

Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG). Im<br />

Arbeiter- und Bauernstaat DDR ging es der ganzen Großfamilie<br />

ziemlich gut. Mein Onkel zum Beispiel, der produzierte<br />

Gurkensamen. Das ist wohl eine nicht ganz einfache Angelegenheit,<br />

jedenfalls hatte er den Kniff raus – und verdiente damit<br />

ein Vermögen. Später, nach der Wende, konnten viele<br />

Leute aus dem Westen nicht begreifen, dass alle meine Verwandten<br />

in abbezahlten Häusern lebten und fast mehr verdient<br />

hatten <strong>als</strong> meine Eltern mit ihrem Leistungssport. Aber<br />

wer wie viel besaß, das war zu dieser Zeit nicht wichtig. Das<br />

Einzige, was zählte, waren unsere Zusammenkünfte. Es war<br />

wie in der Berentzen-Werbung: Es gab eine lange Tafel, an<br />

der die Erwachsenen saßen, wir Kinder spielten unter dem<br />

Tisch oder draußen. Meine Eltern erzählten mir später, dass<br />

ich bei den Familienfeiern gern den Alleinunterhalter gegeben<br />

habe. Erst zierte ich mich wohl immer etwas, aber sobald<br />

ich das Mikrofon bekam, hätte ich stundenlang Witze erzählen<br />

können. Meine Mutter behauptet, dass ich mich gern produziert<br />

habe und schon dam<strong>als</strong> das Publikum brauchte. Vermutlich<br />

hat sie recht. Ich kann mich an meine ersten Ausfl üge<br />

ins Entertainment indes nicht mehr erinnern – oder vielmehr<br />

will ich es auch gar nicht, weil es mir im Nachhinein doch zu<br />

peinlich ist. Weihnachten feierten wir logischerweise auch bei<br />

meinen Großeltern, da kam dann irgendwann der Weihnachtsmann<br />

herein – der, leicht zu erkennen, meine Oma war.<br />

Wir trafen uns aber auch oft im Sommer, die meisten Mitglieder<br />

meiner Großfamilie haben im Juli oder August Geburtstag.<br />

So oft wie möglich und zu jedem Anlass sind wir nach<br />

Damsdorf gefahren.<br />

Nach der Wende war das schlagartig vorbei. Das fand ich<br />

15


ganz schlimm. Jede Familie existierte fortan für sich allein, die<br />

Großfamilie ist auseinandergebröckelt.<br />

Ob es daran lag, dass das Neue plötzlich interessanter wurde<br />

<strong>als</strong> das Altbewährte, wir uns nicht mehr die Zeit nahmen,<br />

uns zu sehen? Weil die neue Welt des Westens uns so viel<br />

mehr und anderes bot? Fuhr man im Sommer lieber in den<br />

Urlaub und fanden deshalb unsere traditionellen Feste nicht<br />

mehr statt? Wäre es vielleicht auch ohne die Wiedervereinigung<br />

irgendwann einfach vorbei gewesen? Ich habe keine<br />

Antworten auf diese Fragen, obwohl ich sie mir schon sehr oft<br />

gestellt habe.<br />

Wir haben zwar seit ein paar Jahren die Tradition, dass meine<br />

Eltern mit meinen Geschwistern an Weihnachten zu mir<br />

und meiner Familie nach Magdeburg kommen und wir dort<br />

gemeinsam feiern. Aber das ist nicht mehr das Gleiche wie<br />

dam<strong>als</strong>, <strong>als</strong> wir diese großen, unbeschwerten Familienfeste in<br />

Damsdorf erlebten. Das ist etwas, das ich meinen beiden Kindern<br />

Lucie und Elvis auch gern ermöglichen würde – leider ist<br />

es so nicht möglich. Die Tafel aus der Berentzen-Werbung<br />

bliebe halb leer. Maria, die Kinder und ich, wir sind zu viert.<br />

Katharina und Felix, meine Geschwister, haben noch keine<br />

Familien gegründet. Zu meinen Tanten und Onkeln, Cousins<br />

und Cousinen habe ich seit dem Tod meiner Großeltern kaum<br />

noch Kontakt. Inzwischen lebt Onkel Hartmut, der jüngere<br />

Bruder meiner Mutter, in dem Haus der Großeltern. Opa<br />

starb vor zehn Jahren, Oma 2006.<br />

Unsere Großfamilie war prinzipiell zufrieden und glücklich<br />

in der DDR. Klar, uns ging es allen gut dort. Uns in der Stadt<br />

und den anderen auf dem Dorf. Dort war wirklich heile Welt.<br />

Mein Leben in Berlin war mehr oder weniger unbeschwert,<br />

aber Damsdorf hat alles noch übertroffen. Unsere Zufriedenheit<br />

war sicherlich unter anderem auch statusbedingt. Wir<br />

16


hatten alles erreicht, was man erreichen konnte: ein Auto, eine<br />

Wohnung, eine Datsche. Es gab überhaupt keine Debatte darüber,<br />

ob wir Geld anlegen mussten. Das spielte keine Rolle.<br />

Meine Eltern und die Geschwister meiner Mutter wussten ja,<br />

sie würden sich im Alter auf die Staatsrente verlassen können.<br />

Vor allem aber war der Damsdorfer Teil der Familie durch die<br />

landwirtschaftliche Tätigkeit stets in der privilegierten Situation,<br />

in unserer Tauschgesellschaft über genug Tauscheinsätze<br />

zu verfügen.<br />

Wir waren auch nicht sonderlich politisch. Es gab niemanden,<br />

der etwas gegen das System einzuwenden hatte. Uns ging<br />

es ja gut, und so gab es keinen Grund, etwas an der Situation<br />

verändern zu wollen. Es war in der DDR auch nicht so, dass<br />

die perfi den Alltäglichkeiten des Regimes in der Zeitung standen.<br />

Wir hatten weder in der Familie noch im Bekanntenkreis<br />

jemanden, der beispielsweise einen Ausreiseantrag gestellt<br />

hatte und so unter den Schikanen der Staatssicherheit zu leiden<br />

hatte. Ein satter, zufriedener Mensch ist eben meistens<br />

weniger revolutionär <strong>als</strong> ein hungriger.<br />

Doch es war nicht nur die vergleichsweise privilegierte Situation,<br />

in der wir alle lebten, die unsere Großfamilie und ihren<br />

Zusammenhalt besonders machte. Eine starke Familienbande<br />

zeigt sich ja in erster Linie in schwierigen Zeiten. Oder<br />

bei Schicks<strong>als</strong>schlägen. Mein Vater war vor meiner Mutter<br />

schon einmal verheiratet gewesen. Aus dieser Ehe hatte er<br />

eine Tochter, meine Halbschwester Babett. Sie war verheiratet<br />

und hatte einen Sohn namens Felix. Er war vier Jahre alt, <strong>als</strong><br />

seine Eltern an jenem Wintertag Anfang 1988 im Auto unterwegs<br />

waren. Babett war Rechtsanwältin und mit ihrem Mann<br />

auf dem Weg zu einem Mandanten. Felix hatten sie zuvor wie<br />

üblich in der Kinderkrippe abgegeben. Auf dem Weg von Bernau,<br />

ihrem Wohnort, nach Berlin passierte das Unfassbare.<br />

17


Blitzeis machte die Straße spiegelglatt, meine Halbschwester<br />

verlor die Kontrolle über den Wagen, der direkt unter einen<br />

entgegenkommenden Lkw rutschte. Sie waren beide auf der<br />

Stelle tot.<br />

Als wir die Todesnachricht erhielten, war meinen Eltern sofort<br />

klar, dass wir den Kleinen zu uns nehmen würden. Rein<br />

juristisch war das ein enormer Aufwand, man kann nicht mal<br />

eben so ein Kind aufnehmen. Innerhalb der Familie wurde die<br />

Situation genau erörtert. Wir sind zu fünft, <strong>als</strong>o mit meiner<br />

sechs Jahre jüngeren Schwester Katharina und Felix, im Februar<br />

1988 nach Rabenberg ins Erzgebirge gefahren. Normalerweise<br />

bereiteten sich dort in der Sportschule die Eliteathleten<br />

der DDR auf große Wettkämpfe vor. Nun gingen wir in<br />

den Bergen in Klausur, um die Zukunft unserer Familie zu<br />

besprechen. Meine Eltern führten Katharina und mir ganz<br />

deutlich vor Augen, dass auch auf uns große Verantwortung<br />

und eine ganz neue Situation zukommen würde. Sie wollten<br />

Felix die Geborgenheit der Familie geben. Meine achtjährige<br />

Schwester und ich zögerten keine Sekunde: Wir erklärten uns<br />

sofort bereit, diese Verantwortung zu übernehmen – für unseren<br />

neuen Bruder.<br />

Heute sagen meine Eltern, dass wir beide für ihn Idole seien.<br />

Das macht mich irgendwie stolz. Das Verhältnis zwischen<br />

uns Geschwistern ist immer noch sehr eng – Katharina und<br />

Felix gehören zu meinem Leben wie meine Eltern und meine<br />

eigene Familie.<br />

Ich wollte, <strong>als</strong> wir diese Entscheidung trafen, dass Felix’<br />

Kindheitsjahre unbeschwert sein würden, so wie es meine bis<br />

dahin überwiegend gewesen waren. In Damsdorf blieb ich<br />

nicht nur, wenn meine Eltern berufl ich sehr eingespannt<br />

waren, sondern auch in sämtlichen Ferien. Das war wie in einem<br />

Siebzigerjahre-Heimatfi lm: Opa arbeitete den ganzen<br />

18


Tag im Garten, ich war draußen und habe mit dem Fußball<br />

aufs Gartentor geschossen. Oder ich machte mit meinen Cousins<br />

Fahrradtouren an den See. Heute gibt es ja kaum noch<br />

Zwölfjährige, die sich damit zufriedengeben würden, den ganzen<br />

Tag im Wald herumzu radeln oder Fußball zu spielen. Aber<br />

für mich war es dam<strong>als</strong> das Größte. Sämtliche Fußballturniere<br />

der Welt habe ich im Garten nachgespielt. Manchmal auch<br />

vorgespielt, in Vorfreude darauf, wenn ein großes Spiel unserer<br />

Nationalmannschaft anstand. Aber das war nicht ganz so<br />

oft der Fall. Mein Vater hat mir Jahre später gestanden, dass er<br />

mich einmal heimlich dabei beobachtet hat. Er erzählte, ich<br />

hätte mich eine halbe Stunde mit Kommentatoren-Phrasen<br />

selbst unterhalten. Es waren immer die letzten Minuten eines<br />

Endspiels, und der entscheidende Torschütze war immer: Stefan<br />

Kretzschmar. Ich muss bei diesen Solo-Fußballspielen wie<br />

in Trance gewesen sein. Mein Vater wertete diese stark ausgeprägte<br />

Fokussierung auf den Traum vom sportlichen Erfolg<br />

<strong>als</strong> Fingerzeig. Schon dam<strong>als</strong>, so seine These, sei der Leistungssportgedanke<br />

bei mir sehr ausgeprägt gewesen. Ihm war<br />

somit früh klar: Der Junge will im Sport was bewegen. Da<br />

kann ich aus heutiger Sicht nicht widersprechen.<br />

Als Kind spielte ich meistens Fußball, selten Handball.<br />

Mein Opa war immer stinksauer. Denn den Maschendrahtzaun<br />

von diesem Gartentor, auf das ich immer ballerte, hatte<br />

er selbst gebaut. Der Zaun war regelmäßig kaputt und musste<br />

erneuert werden. Interessant war, dass ich immer schon in die<br />

Ecken, selten in die Mitte des Tores geschossen habe. Später,<br />

<strong>als</strong> Handballer, sollte ich von meiner Position <strong>als</strong> Linksaußen<br />

auch die spektakulären Treffer in die Ecken erzielen.<br />

Dabei hatte ich zunächst gar keinen professionellen Ball,<br />

sondern nur Gummibälle. Meinen ersten Lederball bekam ich<br />

mit elf geschenkt, worauf ich höllisch stolz war. Der Lederball,<br />

19


Schon 1976 hatte ich ständig ein<br />

Telefon am Ohr – dam<strong>als</strong> noch<br />

kein schnurloses.<br />

20<br />

ein Ostprodukt, war echt teuer.<br />

Von drüben hatte ich ja nichts zu<br />

erwarten. Wir hatten keine Westbekannten,<br />

folglich gab es auch<br />

keine Westpakete für uns.<br />

An meine ersten fünf Lebensjahre<br />

in Leipzig habe ich dagegen<br />

nur wenige Erinnerungen. Le -<br />

diglich eine Geschichte aus dem<br />

Kindergarten, die symptomatisch<br />

für mein gesamtes Leben werden<br />

sollte, fällt mir ein. Überraschenderweise<br />

spielt ein Mädchen dabei<br />

eine Rolle. Ihr Name war<br />

Clau dia. Meine erste Freundin<br />

im Kindergarten. Meine erste<br />

Freundin überhaupt natürlich. In unserem Kindergarten gab<br />

es zum Abschluss eines jeden Tages ein sportliches Ritual: Auf<br />

dem Pausenhof musste eine Runde gerannt werden. Der Erste<br />

wurde dann ganz offi ziell <strong>als</strong> Sieger gekürt. Ich erinnere mich<br />

deshalb so genau an diese Zeremonie, weil ich zu dieser Zeit<br />

immer Erster war. Irgendwann fragte mich Claudia, ob ich sie<br />

nicht mal an der Hand nehmen könne, wenn es auf die tägliche<br />

Kindergarten-Abschlussrunde gehe. Sie hatte natürlich<br />

eindeutige Absichten: »Ich möchte auch mal Erste werden«,<br />

gab sie unumwunden zu. So hoffte sie <strong>als</strong>o, von mir im wahrsten<br />

Sinne des Wortes mitgezogen zu werden. Da war sie bei<br />

mir bestens aufgehoben – so schien es. Also habe ich sie an der<br />

Hand genommen, und wir sind losgespurtet.<br />

Um eins vorwegzunehmen: Ich habe mir alle Mühe gegeben.<br />

Da ich aber schon mit vier Jahren in Sachen Geschmeidigkeit<br />

und Geschwindigkeit eine echte Katze war, kam es,


wie es kommen musste: Sie war schlichtweg zu langsam für<br />

mich. Ich sprintete los, sie im Schlepptau. Nach ein paar Metern<br />

schon konnte sie nicht mehr mithalten und ging zu Boden.<br />

Dabei schlug sie sich auch noch die Knie auf, die waren<br />

im Nu ganz blutig. Und was habe ich gemacht? Ich bin weitergelaufen.<br />

Mann, war das herzlos. Aber ich wollte doch Erster<br />

werden. Ich hab sie einfach mit ihren blutigen Knien liegen<br />

gelassen. Die, die es schlecht mit mir meinen, können sich<br />

nun ereifern: Der Kretzschmar lässt die Frauen einfach fallen,<br />

wenn sie ihm zur Last werden. Das ist natürlich total polemisch,<br />

aber nicht ganz f<strong>als</strong>ch. Diejenigen, die den leistungssportlichen<br />

Ansatz vertreten, würden indes sagen: Der ist total<br />

auf sein Ziel fi xiert und ordnet dem alles unter. Was ja ebenfalls<br />

nicht aus der Luft gegriffen ist. Wie auch immer: Die<br />

Ambivalenz dieses Kindergarten-Zwischenfalls zeigte schon<br />

dam<strong>als</strong> die zwei Seiten des Stefan Kretzschmar.<br />

Meine Eltern haben aus dieser Zeit in Leipzig eine weitere<br />

Begebenheit in Erinnerung. Bei den Heimspielen meiner<br />

Mutter mit dem SC Leipzig soll ich demnach stets für das<br />

Pausenprogramm gesorgt haben. Mit einem Fußball sei ich in<br />

der Halbzeitpause sofort aufs Spielfeld gerannt und hätte mir<br />

mit Frank, dem Sohn von Mutters Teamkollegin Christina,<br />

einen heißen Kampf geliefert. Ich war fünf, er ein knappes<br />

halbes Jahr jünger. Mein Vater behauptet, dass ich schon dam<strong>als</strong><br />

ein irres Ballgefühl hatte. Entsprechend gekonnt donnerte<br />

ich Frank einen Schuss nach dem anderen aufs Tor. Und<br />

er habe im Gegenzug verdammt gut gehalten. Normalerweise<br />

seien die Zuschauer in der Halbzeit immer nach draußen zum<br />

Rauchen gegangen. Aber wenn wir uns duellierten, seien viele<br />

in der Halle geblieben und hätten uns zugesehen. Zwei Fünfjährige<br />

waren die Attraktion, jede gute Aktion wurde beklatscht.<br />

Für meine Mutter war das natürlich ein weiteres In-<br />

21


diz für meine Neigung zu spektakulären Auftritten vor Publikum.<br />

Ich sehe es eher <strong>als</strong> einen Hinweis darauf, dass da zwei<br />

Sportskanonen den ersten Schritt zu einer großen Karriere<br />

tätigten. Ich wurde Handball-Nation<strong>als</strong>pieler – und Frank einer<br />

der besten Fußballtorhüter Deutschlands. Frank, Frank<br />

Rost, ist heute noch die Nummer eins im Tor beim Hamburger<br />

SV.<br />

Als ich fünf war, sind wir von Leipzig nach Berlin umgezogen<br />

und zu den Spielen meiner Mutter immer gependelt.<br />

Mein Vater war <strong>als</strong> Nationaltrainer an Berlin gebunden. Er<br />

war jahrelang montags in die Hauptstadt gefahren und freitags<br />

wieder zurück nach Leipzig gekommen. Nach dem Gewinn<br />

seines zweiten Weltmeistertitels mit der Frauen-Nationalmannschaft<br />

fühlte er sich in seiner Position endlich etabliert<br />

und wagte den Umzug. Meine Mutter wollte aber weiter<br />

für den SC Leipzig spielen. Das Team war auch stärker <strong>als</strong> die<br />

Konkurrenz Dynamo in Berlin. Weil meine Mutter eine so<br />

wichtige Spielerin fürs Team war, gab es für sie eine Sondergenehmigung.<br />

Sie hat unter der Woche in Berlin bei Dynamo<br />

trainiert und ist nur noch zu den Spielen nach Leipzig gereist.<br />

Das ging zwei Jahre. 1980, nach den Olympischen Spielen,<br />

beendete Mutter dann ihre aktive Karriere und übernahm wie<br />

mein Vater ein Traineramt. Zehn Jahre lang trainierte sie erfolgreich<br />

den Nachwuchs des BVB Lichtenberg. Nach der<br />

Wende verlor sie wie so viele ihren Job. Der Verein konnte<br />

sich keinen hauptberufl ichen Trainer mehr leisten – und <strong>als</strong><br />

Osttrainerin hatte sie im wiedervereinigten Deutschland<br />

schlechte Karten, haftete denen doch generell der Ruf an, wissentlich<br />

ihre Spieler gedopt zu haben. Was natürlich so unwahr<br />

wie unverschämt ist. Mutter hat noch eine Umschulung<br />

zur Hotelfachfrau gemacht, doch aufgrund ihres Alters nie<br />

eine Anstellung in diesem Beruf bekommen. Auch mein Vater<br />

22


war gleich nach dem Mauerfall arbeitslos – fand aber aufgrund<br />

seines Ansehens schnell wieder eine Anstellung. Doch sein<br />

Engagement <strong>als</strong> Sportdirektor beim TSC Berlin, wo er die<br />

Arbeit von der Jugend bis zur Ersten Mannschaft koordinierte,<br />

dauerte nur drei Jahre. Danach haben meine Eltern zehn<br />

Jahre lang das Vereinslokal des BVB Lichtenberg geführt, ehe<br />

ihr Vertrag nicht mehr verlängert wurde – ein anderer war<br />

bereit, die höhere Pacht zu zahlen.<br />

Die Begeisterung über den Ortswechsel Leipzig – Berlin<br />

hielt sich 1978 bei meinen Eltern in Grenzen. Beide hatten<br />

einen von Popularität getragenen Status in Leipzig, der vergleichbar<br />

war mit meinem heute in Magdeburg. Jeder kannte<br />

sie, jeder schätzte sie. Hinzu kam: Meine Eltern waren nicht<br />

unbedingt angetan von den Berliner Großschnauzen. Mir<br />

schien das weniger auszumachen. Meine Mutter sagt heute<br />

noch: »Der Stefan ist Berliner durch und durch.«<br />

An meine Einschulung in<br />

Berlin kann ich mich leider<br />

noch gut erinnern. Dam<strong>als</strong> war<br />

meine Mutter schwanger mit<br />

meiner Schwester. Und zwar<br />

im neunten Monat. Ihr Bauch<br />

war riesig. Mir war das total<br />

peinlich, dass meine Mutter<br />

mit ihrer Schwangerschaftskugel<br />

bei meiner Einschulung dabei<br />

war. Bereits der Weg dorthin<br />

war für mich ein Albtraum,<br />

ich wollte partout nicht mit ihr<br />

gesehen werden. Ich hielt Abstand<br />

und wechselte sogar die<br />

Straßenseite.<br />

1978 war meine Mutter Waltraud<br />

Kretzschmar <strong>als</strong> Weltmeisterin eine<br />

gefragte Frau. Ich höre staunend zu.<br />

23


Ich war so wütend auf sie: Mein großer Tag und ihr dicker<br />

Bauch – das passte irgendwie nicht. Alle hatten sich so fein<br />

gemacht für die Schule. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass<br />

alle ihretwegen tuschelten. Erst Jahre später begriff ich, dass<br />

die Leute wahrscheinlich weniger wegen ihres dicken Bauchs<br />

getuschelt haben. Mutter war in der DDR einfach eine große<br />

Nummer. Weltmeisterin, Medaillengewinnerin bei Olympischen<br />

Spielen – sie war die beste Handballspielerin der Welt.<br />

Klar, dass die Leute da die Köpfe zusammensteckten.<br />

Als Schüler in der DDR gab es viele Möglichkeiten, sich zu<br />

engagieren – und ich ergriff sie alle: Ich war Wandzeitungsredakteur,<br />

Agitator, Milchgeldkassierer. Für diese Ämteranhäufung<br />

war ich prädestiniert. Meine Mutter meint, dass ich schon<br />

<strong>als</strong> Kind gern Verantwortung übernommen habe. Regelmäßig<br />

war ich auch in der »Straße der Besten«, einer Galerie im<br />

Schulfoyer mit den Fotos der jeweiligen Jahresbesten. Das hat<br />

meinen Ehrgeiz auf den Plan gerufen, da wollte ich hin. Natürlich<br />

war ich nicht der Einzige, der dieses Ziel verfolgte.<br />

Meine ärgste Widersacherin um einen Platz in der Ruhmesgalerie<br />

war Sophia. Jeder von uns beiden hatte den Ehrgeiz,<br />

die beste Klassenarbeit abzuliefern. War ihr Aufsatz besser, so<br />

konnte ich in Staatsbürgerkunde punkten. Hatte sie in Mathe<br />

alle richtigen Ergebnisse, so lieferte ich eine fehlerfreie Russischarbeit<br />

ab. So ging es die ersten vier Jahre, mal hing ihr<br />

Foto in der Straße der Besten ganz vorn, mal war meines in<br />

der Poleposition.<br />

Später, so viel kann ich vorwegnehmen, ließ mein Ehrgeiz<br />

im schulischen Bereich nach – mein Abitur habe ich dann mit<br />

einem Notendurchschnitt von 3,0 abgelegt. Damit ist man in<br />

der Straße der Besten kein Anwohner mehr.<br />

Meine Eltern erzogen mich streng, ohne hart zu sein. Es<br />

war aber auch so, dass ich alles andere <strong>als</strong> ein Problemkind<br />

24


war. Ich hatte gute Noten und wusste mich zu benehmen. Das<br />

Einzige, was man mir vorwerfen konnte, war, dass ich neben<br />

Schule und Handballtraining das Feiern nicht vergaß. Aber<br />

das kam sowieso erst später.<br />

Mein Vater hat mich auch nie geschlagen – bis auf ein einziges<br />

Mal. Meine Tante war mit meinem Cousin Stefan zu Besuch.<br />

Sie hatte wie immer Tomaten und Eier aus dem Garten<br />

meiner Großeltern mitgebracht. Irgendwann haben mein<br />

Cousin und ich uns auf den Balkon gestellt – unsere Wohnung<br />

war im neunten Stock eines modernen Plattenbaus am Berliner<br />

Tierpark – und haben nach und nach alle mitgebrachten<br />

Lebensmittel runter geworfen. Ich weiß heute nicht mehr, was<br />

mich dam<strong>als</strong> geritten hat. Meine Eltern haben zunächst auch<br />

gar nichts davon mitbekommen. Doch dann traf ich mit einer<br />

Tomate ein Mädchen aus unserem Block an der Schulter. Sie<br />

hat einen Riesenaufstand gemacht. Mit Heulkrampf und einem<br />

Gehabe wie ein waidwundes Reh.<br />

Heute ist mir natürlich schon bewusst, dass es höllisch wehgetan<br />

haben muss, von einer Tomate aus 25 Meter Höhe getroffen<br />

zu werden. Jedenfalls stand sie plötzlich mit ihrem Vater<br />

vor unserer Tür. Mit Tomatenresten auf der Schulter. Ich<br />

habe mich vorsorglich versteckt. Im Kabuff. So hießen in der<br />

DDR die Abstellkammern, die es in allen modernen Plattenbauwohnungen<br />

gab. War es die erregte Stimme meines Vaters<br />

oder waren es die hellhörigen Wände im Plattenbau – selbst in<br />

meinem Versteck hörte ich, wie mein Vater sagte: »Ich werde<br />

meinen Sohn zur Verantwortung ziehen.« Danach kam er in<br />

das Kabuff, hat mich kopfüber an den Beinen hochgezogen<br />

und mir einen ordentlichen Schlag auf den Hintern gegeben.<br />

Es war zwar nur ein Schlag, aber der hatte es in sich: Noch<br />

einige Tage später konnte ich die Umrisse seiner Handfl äche<br />

deutlich auf meiner Haut erkennen. Er war wirklich richtig<br />

25


wütend, aber das Ausmaß meiner sinnlosen Tat war auch<br />

enorm.<br />

Vater nannte den Vorfall meine größte Irrsinnstat, was<br />

nichts daran ändert, dass ich meinen Vater verehre wie keinen<br />

anderen Menschen auf dieser Welt. Wenn ich über ihn schreibe,<br />

muss ich aufpassen, nicht andauernd in Superlative zu verfallen.<br />

Wenn es jemanden gibt, der so ist, wie ich gerne wäre,<br />

wenn jemand der perfekte Mann ist, dann ist es mein Vater. Er<br />

ist sensibel, aber nicht gefühlsduselig. Er ist stark, aber nicht<br />

dominant. Er ist intelligent, aber nicht neunmalklug. Er ist<br />

mein Held, mein Vorbild, war immer mein Halt. Aus jedem<br />

Gespräch mit ihm zog ich Kraft und ging zufrieden heraus –<br />

egal wie es mir vorher gegangen war.<br />

Es gibt zwei Phasen in unserem gemeinsamen Leben. Ich<br />

unterteile es für mich jedenfalls so. Phase eins: die unantastbare,<br />

sehr souveräne Seite bis zu seiner Lungenembolie 1998.<br />

Phase zwei: die Zeit danach. In der zweiten Phase war er erstmalig<br />

in der Lage, Gefühle zu zeigen.<br />

Nach seiner Krankheit vor zehn Jahren fi ngen wir an, über<br />

wirklich alles zu reden, und entwickelten ein gleichgestelltes,<br />

vertrautes, freundschaftliches Verhältnis. Man möchte auf niemanden<br />

verzichten, der einem ans Herz gewachsen ist. Von allen<br />

Menschen, die ich mag oder liebe, könnte ich ihn jedoch am<br />

wenigsten entbehren in meinem Leben. Es klingt absurd, aber<br />

in den schwierigsten Situationen oder in den schönsten Momenten<br />

denke ich zuerst an ihn. Andererseits: Wenn ich konsequent<br />

auf seine Ratschläge gehört hätte in den letzten<br />

35 Jahren, hätte sich die Zahl meiner Fehler auf die Hälfte reduziert.<br />

Das gilt für meine handballerischen Fehlentscheidungen.<br />

Schließlich war er <strong>als</strong> Spieler und <strong>als</strong> Trainer Weltmeister<br />

geworden. Das gilt aber auch für Fehler, die ich in anderen Bereichen<br />

gemacht habe. Seine Lebenserfahrung ist unermess-<br />

26


lich. Er ist der Grund, warum ich Ideale lebe. Denn er hat mich<br />

gelehrt, wie wichtig Ideale sind, außerdem war er für mich<br />

schon immer das größte Vorbild. Er glaubt an eine Gesellschaftsform,<br />

die mehr Gerechtigkeit zeigt <strong>als</strong> die unsere. Sein<br />

Ideal ist eine Welt ohne Ungerechtigkeiten. Eine Welt, in der<br />

jeder eine Chance hat und nicht nur ein Teil der Bevölkerung.<br />

Er glaubt an die Idee des Sozialismus und ist überzeugt, dass es<br />

ein gutes System sein kann – schließlich ist es im Interesse der<br />

Ausgebeuteten und Armen erfunden worden. Mein Vater ist<br />

ein absoluter Mannschaftsspieler. Und darum weiß er auch,<br />

dass man nur etwas erreichen kann, wenn man gemeinsam auftritt.<br />

Er lebt nach den Grundregeln des Sozialismus, frei von<br />

Egoismen und Neid. So hat er auch mich erzogen. Für ihn ist es<br />

sehr wichtig, dass man nicht nur an das eigene Wohl denkt, sondern<br />

auch an seine Mitmenschen. Vater wurde vor dem Zweiten<br />

Weltkrieg geboren und hat in der Nachkriegszeit seine prägenden<br />

Jahre erlebt. Er hat mir mal gesagt, dass seine Altersgenossen<br />

und er ein neues Land aufbauen wollten, das diesen<br />

Idealen entsprach. Heute wissen wir, dass sie gescheitert sind.<br />

Dennoch glaube ich an dieses Ideal der Gerechtigkeit. Wenn<br />

das schon nicht für ein ganzes Volk möglich ist, so müssen wir<br />

im Kleinen, in unserem Mikrokosmos, danach leben. Freilich<br />

ist das für meinen jetzigen Job <strong>als</strong> Sportdirektor des SC Magdeburg<br />

nicht unbedingt förderlich. Doch ich will mich nicht<br />

ändern. Natürlich ist es schon ein krasser Seitenwechsel: Bis<br />

vor Kurzem war ich noch Spieler und habe um gut dotierte<br />

Verträge gefeilscht. Nun muss ich von der Gegenseite aus argumentieren.<br />

Aber ich bin überzeugt davon, dass man Ideale<br />

leben, fair mit den Mitmenschen umgehen – und dass man<br />

trotzdem ein guter Manager sein kann.<br />

Vater, für all das danke ich dir. Ich liebe dich über alles. Du<br />

bist der Mann meines Lebens.<br />

27


Häufi g werde und wurde ich in den Jahren, die seit der<br />

Wiedervereinigung vergangen sind, von Wessis gefragt, wie<br />

das Leben in der DDR war. Anfangs haben mich diese Fragen<br />

genervt und mein Vorurteil vom ignoranten Wessi bestätigt.<br />

Mittlerweile stört es mich nicht mehr, weil ich erkannt habe,<br />

dass viele Leute ja nicht fragen, um ihre Vorurteile bestätigt zu<br />

bekommen, sondern aus echtem Interesse. So antworte ich<br />

mittlerweile auch gern und ehrlich auf diese Frage.<br />

Wie es auch nicht eine einzige BRD zu Zeiten des geteilten<br />

Deutschlands gab, so waren es auch viele verschiedene DDRs,<br />

die im realen Sozialismus nebeneinander existierten. Selbstverständlich<br />

sahen die verschiedenen Welten <strong>anders</strong> aus. Und<br />

ja, sie waren nicht nur in verschiedenen Grautönen schattiert,<br />

wie gern behauptet wird – sie waren bunt. Ich muss immer<br />

lachen über dieses Vorurteil, wir hätten im Osten keine Bananen<br />

gekannt. In Berlin hatten wir nicht nur Bananen, sondern<br />

auch Trauben und Orangen. Und die konnten sich auch alle<br />

leisten. Denn alle wesentlichen Dinge des Lebens waren für<br />

jeden erschwinglich. Meine Eltern zahlten für unsere 120<br />

Quadratmeter im Plattenbau 60 Ostmark Miete im Monat.<br />

Ein Brot kostete 60 Pfennig. Mein Vater verdiente 2500 Mark<br />

beim Verband. Bevor jetzt die Frage aufkommt, was wir mit all<br />

unserem Geld gemacht haben: Es waren die grundlegenden<br />

Güter des Lebens, wie Wohnung, Essen, öffentlicher Nahverkehr<br />

und Energie, die so günstig waren. Ein Farbfernseher<br />

beispielsweise kostete dagegen 6000 Mark.<br />

Nicht nur die Südfrüchte verliehen unserem Leben Farbe.<br />

Unsere Gesellschaft war kein Nebeneinander von Individuen,<br />

wir waren wirklich eine Gemeinschaft. Wenn ich heutzutage<br />

in der Zeitung lese, dass jemand ein Jahr lang unentdeckt tot<br />

in seiner Wohnung gelegen hat, dann schockiert mich das,<br />

und gleichzeitig fi nde ich es symptomatisch für die Verein-<br />

28


samung der Menschen. Aus der DDR kenne ich es <strong>anders</strong>.<br />

Wir feierten einmal im Monat in unserem Plattenbau ein<br />

Hausfest – mit allen Mitbewohnern. Einmal pro Jahr wurde in<br />

Berlin die »Goldene Hausnummer« an das Haus verliehen,<br />

das den gepfl egtesten Eindruck machte. Das war ein Ansporn –<br />

unser Haus hat dieses Prädikat auch einmal verliehen bekommen.<br />

Auch wenn die Verleihung einer goldenen Hausnummer<br />

heute lächerlich erscheinen mag, ich bin der Meinung, wenn<br />

wir uns Rituale wie dieses bewahrt und sie in die Bundesrepublik<br />

exportiert hätten, dann wären einige unserer heutigen gesellschaftlichen<br />

Probleme, wie die Verwahrlosung von Kindern,<br />

kleiner.<br />

Handball spielte in unserer Familie immer eine große Rolle,<br />

dennoch haben meine Eltern in keiner Weise Druck auf<br />

mich ausgeübt, auch diesen Sport zu wählen. Viele denken ja,<br />

dass das Kind erfolgreicher Eltern von ihnen gezwungen wird,<br />

ebenfalls um jeden Preis erfolgreich zu sein. Damit die Eltern<br />

ihren eigenen Erfolg in und mit ihrem Kind noch einmal erleben<br />

können. Aber genau das Gegenteil war bei mir der Fall.<br />

Wenn ich an irgendeinem Punkt meines Lebens keine Lust<br />

mehr auf Handball gehabt hätte, wäre das völlig okay gewesen<br />

für meine Eltern – wenn ich es vernünftig begründet hätte.<br />

Obwohl ich durchaus andere Sportarten hätte ausüben<br />

können, die in der DDR gefördert wurden, habe ich mich für<br />

den Handball entschieden. Meine Eltern sind zu ihrer Zeit<br />

noch ganz <strong>anders</strong> zu dieser Sportart gekommen. In Damsdorf<br />

gab es eine Handball-Mannschaft – alle haben dort gespielt,<br />

folglich auch meine Mutter. Als Vater erstm<strong>als</strong> mit diesem<br />

Sport in Berührung kam, war meine Mutter noch gar nicht<br />

geboren.<br />

Es war 1947 in Leipzig, in den Wirren des Nachkriegsdeutschlands.<br />

Mein Vater bildete mit anderen Jungs eine Stra-<br />

29


Ich hatte schon früh ein sehr gutes<br />

Ballgefühl.<br />

30<br />

ßengang, die immer auf der<br />

Suche nach etwas Spannendem<br />

war. Sie haben dann in Erfahrung<br />

gebracht, dass es einen<br />

Verein gebe, in dem Handball<br />

gespielt werde. Der Trainer des<br />

Vereins sollte auch ganz prima<br />

sein. Seinerzeit spielte man<br />

noch nicht in der Halle, sondern<br />

auf dem Fußballplatz den<br />

sogenannten Feldhandball.<br />

Hallenhandball, so wie ich es<br />

ausschließlich kenne, hat sich<br />

ja erst in den Siebzigerjahren<br />

durchgesetzt. Nicht nur die<br />

Gang meines Vaters strömte zu diesem Verein, sondern noch<br />

viele andere Leipziger Jungs. So bildeten sich schnell sieben<br />

Jugendmannschaften in Leipzig-Gohlis. Doch mein Vater war<br />

der talentierteste von allen und wurde schließlich Weltmeister:<br />

1963 <strong>als</strong> Spieler (übrigens mit einem Fin<strong>als</strong>ieg gegen die<br />

BRD) und 1975 sowie 1978 <strong>als</strong> Trainer meiner Mutter und<br />

ihrer Mannschaft.<br />

Weil ich auch Handball spielen wollte, hat mich mein Vater<br />

mit sieben Jahren zur Schulsportgemeinschaft Dr. Kurt Ritter<br />

mitgenommen, um ein Probetraining zu machen. Und von da<br />

an war ich dabei, drei U-Bahn-Stationen von unserer Wohnung<br />

entfernt im Friedrichshain. Bis ich zwölf Jahre alt war.<br />

Dann bin ich zum Trainingszentrum (TZ) delegiert worden.<br />

Das war dam<strong>als</strong> in der DDR so üblich, man wurde immer<br />

weiterdelegiert. Das TZ war aber nicht mehr so nah. Ich<br />

musste zwar nicht wirklich bis ans andere Ende der Stadt fahren,<br />

aber es fühlte sich so an, mit Bus und Bahn bis nach Pan-


kow. Eine Stunde einfach, fünfmal pro Woche zum Training.<br />

Aber das hat mich nicht gestört. Ich wollte Handball spielen,<br />

und das richtig. Das ist, wenn man es so nennen mag, unsere<br />

Familienmaxime. Der meistgehörte Satz meiner Mutter lautete:<br />

»Junge, wenn, dann richtig.« Darauf haben meine Eltern<br />

ganz viel Wert gelegt. So haben beide auch gelebt und ihren<br />

Sport verstanden. Meine Mutter kam vom Dorf – aber sie allein<br />

hat ihre Dorfmannschaft, die BSG Traktor Damsdorf,<br />

seinerzeit zur DDR-Vizemeisterschaft geführt.<br />

Sportlich habe ich mir weder von ihr noch von meinem<br />

Vater etwas abgucken können, denn beide habe ich nie spielen<br />

sehen, zumindest nicht, <strong>als</strong> ich bereits selbst den Sport betrieb.<br />

Meine Mutter hat nach den Olympischen Spielen in<br />

Moskau 1980 ihre aktive Karriere beendet, kurz darauf begann<br />

ich mit Handballspielen. Mutter war jedenfalls diejenige,<br />

die das Sieger-Gen in der Familie geprägt hat. Bei uns konnte<br />

nie jemand verlieren. Egal was wir gespielt haben. Ob »Mensch<br />

ärgere dich nicht« oder Federball. Jedes scheinbar harmlose<br />

Kartenspiel artete zu einem erbitterten Kampf jeder gegen jeden<br />

aus. Wir hatten dam<strong>als</strong> eine Datsche in Kagel, in der Nähe<br />

von Kienbaum, östlich von Berlin. Im Sommer haben wir auf<br />

dem Rasen ein Stück abgetrennt, ein Seil in der Mitte gespannt<br />

und Family-Tennis-Turniere gespielt, mit Plastikschlägern<br />

und Schaumstoffball, interfamiliär zu dritt. Meine Mutter<br />

litt chronisch unter den Folgen eines doppelten Kreuzbandrisses.<br />

Ihr Knie war völlig kaputt; sobald sie fünf Minuten<br />

Family-Tennis gespielt hatte, schwoll es bedenklich an. Dennoch<br />

spielte sie weiter, aufgeben wäre für sie nie infrage gekommen.<br />

So musste sie zwar regelmäßig danach ins Krankenhaus<br />

gehen und dort punktiert werden, aber das Turnier hat<br />

sie gespielt. Vater konnte eine Niederlage noch am ehesten<br />

akzeptieren, aber Mutter und ich waren gnadenlos. Wir konn-<br />

31


ten beide nicht verlieren. Denn das ging dann ja weiter. Wenn<br />

Mutter gewonnen hatte, zog sie einen noch Tage später mit<br />

dem eigenen Scheitern auf. Das wollte ich um keinen Preis.<br />

Lieber habe ich im Turnier um jeden Ball gekämpft. Der<br />

Ärmste in diesem Familienturnier war sowieso immer der<br />

Schiedsrichter – das war automatisch derjenige, der gerade<br />

nicht gespielt hat. Jede seiner Entscheidungen wurde angezweifelt.<br />

Nach jedem Ball hieß es: »War der Ball noch im<br />

Spielfeld? Hat das Seil nicht gewackelt?« So ging das stundenlang<br />

bei den Kretzschmars im Sommer.<br />

Meine Schwester Katharina war noch ärmer dran, weil sie<br />

überall Letzte wurde. Auch andere Dinge arteten zum Wettkampf<br />

aus. Wenn wir in der Nähe unserer Datsche zum Angeln<br />

gingen, war das Wichtigste, wer <strong>als</strong> Erster einen Fisch<br />

fi ng. Beim Waldspaziergang ging es darum, wer <strong>als</strong> Erster Pilze<br />

fi ndet. Dabei hat sich Katharina einmal böse den Kopf verletzt.<br />

Sie hat nur auf den Boden geguckt, um nach Pilzen zu<br />

suchen – und ist direkt gegen einen Baum gelaufen, es hat<br />

stark geblutet. Es dauerte, bis sich überhaupt jemand von uns<br />

um sie kümmerte. Wir haben es zunächst gar nicht gesehen,<br />

weil wir nur die Pilze im Blick hatten.<br />

Meine Eltern haben uns nie absichtlich gewinnen lassen.<br />

Diese harte Linie bei Aktivitäten in Sport und Spiel habe ich<br />

auch in die Erziehung meiner Tochter einfl ießen lassen. Ich<br />

fi nde das nicht gut, kann mich aber nicht davon frei machen.<br />

Ich möchte ja eigentlich nicht, dass es ihr so ergeht wie mir,<br />

andererseits kann ich nicht aus meiner Haut heraus. Mittlerweile<br />

sind es meine Eltern, die sagen, ich solle nicht so hart zu<br />

ihr im Spiel sein. Ich kann meine Tochter Lucie nur selten im<br />

Basketball gewinnen lassen, obwohl sie erst acht Jahre alt ist.<br />

Von drei Spielen gewinne ich zwei.<br />

Mit 14 Jahren kam ich dann auf die Heinrich-Rau-Kinder-<br />

32


und Jugendsportschule (KJS). In der DDR gab es ja ein landesweites<br />

Sichtungsprogramm mit fünf staatlichen Sport-<br />

Clubs: in Berlin, Leipzig, Rostock, Frankfurt/ Oder und Magdeburg.<br />

Bei uns in Berlin wurden ungefähr 300 Jungen<br />

gesichtet. Für 16 Plätze in der Handballklasse! Drei Tage lang<br />

wurde gesiebt: Kraft, Kondition, Spielfähigkeit. Nach jedem<br />

Test fl ogen ein paar mehr raus. Ich auch. Ich war dam<strong>als</strong> 1,68<br />

Meter groß und in meiner biologischen Entwicklung drei Jahre<br />

zurück. Im Klartext gesprochen: Ich hatte keine Haare auf<br />

dem Sack. Alle anderen in meinem Alter waren 1,90 Meter<br />

groß und hatten in Sachen Körperbehaarung Vollwuchs. Das<br />

war mir peinlich, und ich hätte aufgrund meiner rückständigen<br />

Entwicklung keine Chance gehabt, einen Platz in der KJS<br />

zu bekommen. Aber dank meiner Eltern bin ich <strong>als</strong> 17. aufgenommen<br />

worden. Die haben Druck gemacht und gesagt: Unser<br />

Junge kommt in diese Schule.<br />

Im DDR-Sport hat man dam<strong>als</strong> bei jedem Kind eine Messung<br />

des Mittelhandknochens vorgenommen, um die spätere<br />

Körpergröße vorauszusagen. Mir haben sie bescheidene 1,72<br />

Meter prognostiziert. Damit konnte man in der DDR kein<br />

Handball-Leistungssportler werden. Mein Vater war überzeugt,<br />

dass ein Irrtum vorliegen müsse, weil ich dam<strong>als</strong> schon<br />

so große Füße hatte. Vater war <strong>als</strong> Nationaltrainer beim Verband<br />

angestellt und in gewisser Weise den Trainern der KJS<br />

übergeordnet. Nachdem er so insistiert hatte, wurde <strong>als</strong>o eigens<br />

für mich eine neue Planstelle geschaffen.<br />

Vater erzählte mir später einmal, dass ihm, <strong>als</strong> ich zwölf<br />

Jahre alt war, klar wurde, was ich am allerliebsten machen<br />

möchte: Sport – und das erfolgreich. Er macht das an einem<br />

Zwischenfall fest. Ich kann mich an das abendliche Fußballspiel,<br />

das wir offenbar im Fernsehen verfolgten, nicht mehr<br />

erinnern. Darum kann ich jetzt nur wiedergeben, was er mir<br />

33


sagte. Mitten im Spiel habe ich wohl unvermittelt meinem Vater<br />

erklärt, welche Taktik die in Rückstand geratene Mannschaft<br />

nun wählen müsse, wenn sie das Spiel noch umbiegen<br />

wolle. Mein Vater <strong>als</strong> Trainer konnte direkt einordnen, dass<br />

das, was ich gerade gesagt hatte, nicht Große-Klappe-kleiner-<br />

Junge-Äußerungen waren, sondern alles korrekt und stimmig.<br />

Er war total begeistert, weil ich <strong>als</strong> Zwölfjähriger bereits in<br />

der Lage war, ein Spiel richtig zu lesen. Dieser Begebenheit ist<br />

es auch zu verdanken, dass er sich zwei Jahre später so vehement<br />

für uns einsetzte, um einen Platz in der KJS zu bekommen.<br />

Es war weniger ein übersteigerter, wenngleich verständlicher<br />

Eltern-Ehrgeiz, der ihn so handeln ließ, sondern vielmehr<br />

seine Überzeugung, dass es das Richtige für mich wäre.<br />

Er merkte, ich hatte die Fähigkeiten, und es wäre gemäß seiner<br />

Defi nition ungerecht, wenn ich die Chance nicht bekäme.<br />

Darum hat er seine Kontakte ausgenutzt.<br />

Leider sahen das meine Mitschüler und das Umfeld auf der<br />

Schule nicht so. Die folgenden zwei Jahre waren für mich die<br />

Hölle. Alle wussten natürlich, wie ich meinen Platz an der KJS<br />

bekommen hatte. Aber auch weil ich der Kleinste war, gab es<br />

für mich nicht viel zu lachen.<br />

Ich wurde die ersten beiden Jahre nur fertiggemacht. Jeden<br />

Tag. Habe nie gespielt, saß immer ganz hinten. Ich hatte keine<br />

Chance. Bei jedem Training, jedem Spiel musste ich mir die<br />

galligen Kommentare anhören: »Du bist nur wegen deiner<br />

Eltern hier, eigentlich hast du hier nichts verloren.«<br />

So ging das Tag für Tag. Aber ans Aufgeben habe ich trotzdem<br />

keine Sekunde lang gedacht. Ich liebte diesen Sport, und<br />

außerdem musste ich doch allen das Gegenteil beweisen. Das<br />

war sicher das einzige Mal in meinem Leben, dass ich so hart<br />

für etwas kämpfen musste – gleichzeitig war es darum auch so<br />

unendlich wichtig für mein späteres Leben. Dass ich mich in<br />

34


diesen beiden schrecklichen Jahren durchgebissen habe und<br />

letztlich der Einzige aus meiner Klasse war, der den Sprung<br />

zum Profi geschafft hat, macht mich unglaublich stolz. Es war<br />

sicherlich enorm wichtig für mein Selbstbewusstsein.<br />

Meinen Eltern habe ich in all den Monaten keinen Ton gesagt.<br />

Aber auch sie sprachen nicht mit mir darüber, obwohl sie<br />

hätten wissen müssen, wie sehr ich litt. Denn sie haben ja auch<br />

mitbekommen, dass ich nicht spielte, sondern auf der Bank<br />

saß. Wie gesagt, mein Vater arbeitete für den Verband, er hat<br />

sicher das ein oder andere Mal mit meinen Trainern gesprochen.<br />

Mutter und Vater behaupten heute, dass ich Negatives<br />

ohnehin immer lieber für mich behalten hatte, während positive<br />

Mitteilungen nur so aus mir heraussprudelten. Es gibt<br />

noch einen weiteren Grund, warum ich mich in dieser Zeit<br />

niemandem und vor allem nicht meinen Eltern anvertrauen<br />

konnte. Aber dazu an anderer Stelle mehr.<br />

Mein damaliger Trainer hat im Nachhinein, <strong>als</strong> ich ein Star<br />

geworden war, über diese Zeit gesagt: »Ich wusste schon immer,<br />

dass der Kretzsche was wird.« Dabei hat er dam<strong>als</strong> keinen<br />

Pfi fferling auf mich gegeben. Dennoch berichtete er nun<br />

stolz: »Nach jedem Training war Kretzsche immer noch eine<br />

halbe Stunde in der Halle und hat Sonderschichten gemacht.«<br />

Das stimmt, war aber weniger dem hehren Ehrgeiz geschuldet<br />

<strong>als</strong> vielmehr meiner Spätreife: Weil ich keine Haare auf dem<br />

Sack hatte, war es mir schlichtweg zu peinlich, mit den anderen<br />

zu duschen. Darum blieb ich noch in der Halle und warf<br />

allein Bälle aufs leere Tor, bis sich unter der Dusche die Reihen<br />

gelichtet hatten.<br />

Meine dam<strong>als</strong> geringe Körpergröße ist auch der Grund,<br />

warum ich Linksaußen geworden bin. Man konnte mich ja<br />

nirgendwo <strong>anders</strong> hinstellen <strong>als</strong> auf die Außenposition. Im<br />

Rückraum muss man groß und stattlich sein, um die Abwehr<br />

35


mit mächtigen Sprüngen zu überwinden. So wird die Rolle<br />

des linken Rückraumspielers in Fachkreisen gern <strong>als</strong> Königsposition<br />

tituliert. Das sind vermeintlich jene Leute, die<br />

mit vielen Toren das Spiel entscheiden. Eine weitere Handballer-Weisheit<br />

besagt: Wer <strong>als</strong> Jugendlicher nichts kann, wird<br />

ins Tor oder auf Linksaußen gestellt. Diese Position ist nicht<br />

so populär, weil man normalerweise auf die Mitspieler angewiesen<br />

ist, die einem irgendwann mal gnädigerweise den Ball<br />

zupassen. Es sei denn, man trickst sein Gegenüber im direkten<br />

Duell Mann gegen Mann aus. Das war aber die Ausnahme,<br />

und folglich konnte in den Lehrjahren meines Schaffens noch<br />

niemand ahnen, dass ich auf der eher stiefkindlich behandelten<br />

Linksaußen-Position später einmal Maßstäbe setzen und<br />

für einen gewissen Unterhaltungswert sorgen würde.<br />

Rückblickend kann ich über die KJS-Zeit sagen: Am wichtigsten<br />

war mir, dass ich mich gegen alle Widrigkeiten durchgesetzt<br />

habe – und heute bin ich 1,90 Meter groß. Mein Vater<br />

hatte <strong>als</strong>o wieder einmal recht behalten.<br />

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