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Der Tanz der Kraniche

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nicht aufgefallen wäre, aber die verständnislosen Blicke,<br />

die sie von den Hafenarbeitern erntete, trafen sie weniger<br />

als die verächtlichen Bemerkungen ihres Vaters.<br />

Über ihr hingen dicke weiße Wolken, scheinbar zum Greifen<br />

nah und so weich, dass Ida sich mit ihnen am liebsten umhüllt<br />

hätte. Je weiter sie ihren Blick über den zarthellen Frühjahrshimmel<br />

schweifen ließ, desto fl üchtiger wurden sie, bis<br />

von ihnen nur noch eine vage Ahnung am dunstigen Horizont<br />

zurückblieb. Ida versuchte zu zeichnen, was sie sah, aber<br />

<strong>der</strong> Himmel auf dem weißen Papier glich in ihren Augen eher<br />

einer leblosen Wand als einem sanften Naturschauspiel. Sie<br />

zerknüllte das Blatt und warf es achtlos neben sich.<br />

Ich muss dringend Unterricht nehmen, wenn ich malen will<br />

wie Herbert Klausen, dachte sie und setzte die ersten Striche<br />

auf ein frisches Blatt Papier. Wenn Vater das sieht, sie schüttelte<br />

den Kopf. Er wird niemals die Stunden bei Herrn Vogel<br />

fi nanzieren. Vorsichtig rieb sie über das Papier, so dass aus<br />

den plumpen Strichen ein nebliger Schleier entstand, <strong>der</strong> am<br />

oberen Bildrand hing wie eine bedrohliche Gewitterfront.<br />

Ida stöhnte. So funktionierte das nicht. Sie zeichnete und<br />

rieb und machte damit alles nur noch schlimmer. Aus dem<br />

freundlichen Himmel über ihr war endgültig ein düsteres<br />

Chaos geworden. Erneut zerknüllte sie das Papier. Aber<br />

auch <strong>der</strong> nächste Versuch scheiterte, und als sie das fünfte<br />

Blatt zerknüllt hatte, zeichnete sie aus dem Kopf ihre kleine<br />

Schwester Lilla. Das tat sie immer, wenn sie nicht weiterkam,<br />

und so war im Lauf <strong>der</strong> Zeit eine beachtliche Porträtserie<br />

entstanden, die sie wie einen Schatz hütete.<br />

Ihre zwölfjährige Schwester war für sie schon immer ein<br />

Lichtblick gewesen. <strong>Der</strong>en kindlich unschuldiges Wesen,<br />

<strong>der</strong>en unbekümmerte Frechheit ließen sie hoffen, dass sie<br />

es schaffen konnte, ein an<strong>der</strong>es Leben als das für sie vorge-<br />

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