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Am 7. Mai 2009 erschien<br />
in der „Frankfurter<br />
Allgemeinen Zeitung“<br />
eine Sonderbeilage zum<br />
Thema Mauerfall. Einer<br />
der Autoren, Marcus<br />
Jauer, sinniert, wie sein<br />
Leben verlaufen wäre,<br />
wenn die Mauer nicht<br />
gefallen wäre. Wenn es<br />
keine Wiedervereinigung<br />
gegeben hätte. Zu<br />
einem wirklichen Schluss<br />
kommt er nicht.<br />
Mit Sicherheit sagen<br />
kann er nur: Ich wäre<br />
heute vierunddreißig<br />
Jahre alt. Wahrlich<br />
interessant aber sind die<br />
Erinnerungen, die er an<br />
die Zeit der DDR hat.<br />
Die Erinnerungen eines<br />
ganz normalen jungen<br />
Mannes, der 15 Jahre alt<br />
war, als die Mauer fi el.<br />
36 Zeitbild Wissen<br />
Arbeitsauftrag<br />
Ich hatte Tanzstunde ...<br />
Am Abend, an dem die Mauer fi el, hatte ich Tanzstunde. ... Ich weiß noch, wie ich unter meinem<br />
Anorak zu schwitzen begann. Dann kam Atze und sagte, die Mauer sei offen.<br />
Ich weiß noch, wie wir in der Schule einmal einen Aufsatz geschrieben haben über das Jahr 2000,<br />
wenn alle Kohle aus der Erde geholt sein würde. Wir sollten uns vorstellen, wie schön es dann sei,<br />
die Gruben zu Seen gefl utet, Strände, Häfen, Promenaden, Radwege entlang der Ufer, neuer Wald. Im Grunde<br />
ist es genauso gekommen. Nur eben anders.<br />
Jedes Jahr vor den großen Ferien fragte unsere Klassenleiterin ab, was wir werden wollen. ... Alle Wünsche wurden<br />
auf dem Elternabend verlesen, wobei die Lehrerin gleich darauf verwies, dass unsere Volkswirtschaft so viele<br />
Automechaniker und Kindergärtnerinnen nicht gebrauchen könne und dass einige Jungs darüber nachdenken<br />
sollten, in die Armee zu gehen und einige Mädchen in die Brikettfabriken. Es war wie mit jeder Wahl in diesem<br />
Land, am Ende musste das Ergebnis stimmen.<br />
Das letzte Mal, dass wir gefragt wurden, bevor dann keiner mehr fragte, wollte ich tropische Landwirtschaft studieren.<br />
Die Lehrerin hatte von so einem Studium noch nie gehört. Aber ich wusste, dass es in Leipzig angeboten<br />
wurde und dass man damit später zum Beispiel nach Angola oder Moçambique kam, Länder, die als irgendwie<br />
sozialistisch galten. Ein Berufswunsch wie ein Ausreiseantrag. Ich frage mich, wie ich darauf gekommen bin. Ich<br />
wollte doch gar nicht weg.<br />
Ich war bei den Jungpionieren, den Thälmannpionieren und der Freien Deutschen Jugend. Ich habe immer gedacht,<br />
dass ich niemanden kannte, der nicht dabei war. Aber das stimmt nicht.<br />
Als im Herbst vor zwanzig Jahren die ersten Leute in Leipzig auf die Straßen gingen, habe ich im Staatsbürgerkundeunterricht<br />
den Führungsanspruch der Partei verteidigt, weil ich glaubte, dass jemand auf den Sozialismus aufpassen<br />
muss. ... Ich kann gar nicht sagen, wie ich zum Bürger dieses Staates geworden war. Mir gefi el das Kämpferische der<br />
Arbeiterlieder, der Zug der Massen bei den Demonstrationen, mir gefi el die Vorstellung, dass es eine Aufgabe gibt,<br />
die uns alle verbindet.<br />
Ich wohne heute allein in einer<br />
Wohnung, die fast doppelt so<br />
groß ist wie die Plattenbauwohnung,<br />
in der ich anfangs<br />
mit meinen Eltern und meinem<br />
Bruder wohnte. Es gibt in meinem<br />
Leben keine Aufgabe, die<br />
mich über meine Arbeit hinaus<br />
mit anderen verbindet. Ich habe<br />
für nichts Verantwortung außer<br />
für mich selbst. Ich habe nicht<br />
einmal ein Haustier. Als mich<br />
letztens jemand fragte, was ich<br />
für die Gesellschaft tue, habe<br />
ich gesagt, ich sei in der gesetzlichen<br />
Krankenkasse. Es war ein<br />
Witz, aber auch die Wahrheit.<br />
Es gibt eine Erinnerung an ein Gespräch mit meinem Vater, darüber, was aus mir werden soll. Was es auch sei, sagt<br />
er, es wäre gut, wenn ich dafür mit achtzehn in die Partei ginge. Ich konnte nicht erkennen, ob er es richtig fand<br />
oder nur hilfreich, und es störte mich, dass eine Sache, die als freiwillig galt, es auf einmal doch nicht war. Aber<br />
davon abgesehen, könnte ich nicht sagen, warum ich heute nicht in der Partei wäre.<br />
Quelle: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 7. Mai 2009, Marcus Jauer<br />
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.<br />
Stell dir vor, die Mauer wäre nicht gefallen.<br />
Wie wäre das Leben in Deutschland in den Neuen<br />
und den alten Bundesländern verlaufen?<br />
Lass deiner Fantasie freien Lauf und schreib eine<br />
kurze Geschichte (etwa eine DIN-A4-Seite).