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Genetik des erblichen Mammakarzinoms

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enmutationen im Zusammenhang<br />

mit einem erhöhten Risiko<br />

für ein Mamma- oder Ovarialkarzinom<br />

waren in den letzten<br />

Jahren Gegenstand intensiver Forschung.<br />

In der medizinischen Fachliteratur<br />

wurden mehr als 1 000 Artikel<br />

zum Thema publiziert. Die BRCA1und<br />

BRCA2- (BRCA: breast cancer)-<br />

Gene waren hierbei die am häufigsten<br />

zitierten Vertreter. Die Lokalisation<br />

und Isolierung der beiden Gene eröffnete<br />

zum einen neue Wege in der Diagnostik,<br />

zum anderen vielfältige Forschungsansätze<br />

zum besseren Verständnis<br />

der Tumorentstehung, der<br />

Tumorprogression und hinsichtlich einer<br />

spezifischen Tumortherapie.<br />

A-600<br />

Elke Holinski-Feder 1<br />

Oliver Brandau 1<br />

Carolin Nestle-Krämling 2<br />

Popak Derakhshandeh-Peykar 1<br />

Jan Murken 1<br />

Michael Untch 2<br />

Alfons Meindl 1<br />

Stichwörter: BRCA1, BRCA2, Ätiologie, Epidemiologie<br />

Die beiden Tumorsuppressorgene BRCA1 und BRCA2<br />

sind ursächlich an der Entstehung <strong>des</strong> familiär gehäuft auftretenden<br />

<strong>Mammakarzinoms</strong> beteiligt. Mutationen im BR-<br />

CA1 Gen werden in etwa 80 Prozent aller Familien mit<br />

Mamma- und Ovarialkarzinom gefunden. Ferner müssen<br />

noch andere, bislang unbekannte Gene an der Entstehung<br />

von Mammakarzinomen beteiligt sein. Die BRCA1- und<br />

BRCA2-Proteine sind an der Reparatur von DNA-Doppel-<br />

Key words: BRCA1, BRCA2, etiology, epidemiology<br />

The tumor suppressor genes BRCA1 und BRCA2 are<br />

involved in the etiology of familial breast cancer. Mutations<br />

in the BRCA1 gene are found in 80 per cent of families with<br />

breast and ovarian cancer. However, other, unknown<br />

genes are involved in families with isolated breast cancer.<br />

BRCA1 and BRCA2 gene products are involved in the<br />

G<br />

Mutationen in<br />

Proto-Onkogenen und<br />

Tumorsuppressorgenen<br />

In der molekulargenetischen Pathogenese<br />

der Tumorentstehung werden<br />

zwei Klassen von Genen unterschieden:<br />

Onkogene und Tumorsuppressorgene.<br />

Onkogene entstehen aus<br />

(44) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998<br />

M E D I Z I N<br />

DIE ÜBERSICHT<br />

<strong>Genetik</strong> <strong>des</strong><br />

<strong>erblichen</strong><br />

<strong>Mammakarzinoms</strong><br />

Grundlagen – Forschung – Diagnostik<br />

Proto-Onkogenen, die ein normaler<br />

Bestandteil <strong>des</strong> menschlichen Genoms<br />

sind. Erhält ein Proto-Onkogen durch<br />

eine Mutation eine zusätzliche oder eine<br />

neue Funktion, die es in die Lage<br />

versetzt, gesunde Zellen zu transformieren,<br />

so bezeichnet man es als Onkogen.<br />

Für die Initiation der Tumorentstehung<br />

ist die somatische Mutation in<br />

einem Allel <strong>des</strong> Proto-Onkogens ausreichend.<br />

Dieser Transformationsweg<br />

findet sich häufig bei der Entstehung<br />

sporadischer Tumoren, bisher sind<br />

über 30 verschiedene Onkogene isoliert<br />

und charakterisiert worden (11).<br />

Auch Tumorsuppressorgene sind<br />

ein normaler Bestandteil in unserem<br />

Genom. Sie haben die Aufgabe, die<br />

Zelle vor einer unkontrollierten Zellteilung<br />

zu schützen. Diese Schutzwirkung<br />

geht verloren, wenn beide Allele<br />

eines Tumorsuppressorgens in einer<br />

1 Abteilung Medizinische <strong>Genetik</strong> (Leiter: Prof.<br />

Dr. med. Jan Murken), Klinikum Innenstadt, Kinderpoliklinik<br />

der LMU, München<br />

2 Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und<br />

Geburtshilfe (Direktor: Prof. Dr. med. H. Hepp),<br />

Klinikum Großhadern der LMU, München<br />

ZUSAMMENFASSUNG<br />

strangbrüchen und an der Regulation<br />

der Zellteilung beteiligt. In beiden Genen<br />

können einzelne Mutationen mit einem unterschiedlichen<br />

Erkrankungsrisiko für das Mammakarzinom und mit<br />

einer unterschiedlichen Häufigkeit bezüglich eines Ovarialkarzinoms<br />

assoziiert sein. Die Korrelation molekulargenetischer<br />

und klinischer Daten soll zu differenzierten Risikoziffern<br />

und individuellen Vorsorge- und Behandlungskonzepten<br />

führen.<br />

SUMMARY<br />

DNA repair mechanism and in the regulation of<br />

cell proliferation. Mutations in both genes seem<br />

to be associated with a variable risk for breast cancer and a<br />

variable frequency for ovarian cancer. The correlation of<br />

molecular and clinical data should result in appropriate<br />

genetic counselling and individual tumor prevention and<br />

tumor therapy.<br />

Zelle funktionslos sind (Grafik 1).<br />

Mutationen in diesen Genen sind<br />

häufiger an der Entstehung der<br />

hereditären Tumoren beteiligt, wobei<br />

die erste Mutation in einem Allel<br />

in Form einer Keimbahnmutation<br />

von einem betroffenen Elternteil<br />

vererbt wird. Wird in einer Zelle<br />

durch eine somatische Mutation<br />

auch das zweite Allel funktionslos,<br />

so kann es zur Tumorentstehung<br />

kommen (Grafik 1, Tabelle 1). Mutationen<br />

in Protoonkogenen beziehungsweise<br />

Tumorsuppressorgenen<br />

stehen am Anfang der Tumorentstehung,<br />

für die Tumorprogression sind<br />

vermutlich Mutationen in verschiedenen<br />

anderen Genen notwendig.<br />

Es gibt min<strong>des</strong>tens<br />

zwei Klassen von<br />

Tumorsuppressorgenen<br />

Ursprünglich hatte man die Vorstellung,<br />

daß Tumorsuppressorgene in<br />

erster Linie an der Regulation der<br />

Zellteilung beteiligt sind. Zunehmend<br />

stellt sich aber heraus, daß Mutationen


in Genen, die für DNA-Reparaturenzyme<br />

kodieren, ebenfalls zu Tumorerkrankungen<br />

prädisponieren. Solche<br />

Gene müssen somit auch zur Klasse<br />

der Tumorsuppressorgene gerechnet<br />

werden.<br />

Mutationen in DNA-Reparaturgenen<br />

führen vermutlich indirekt zur<br />

Tumorentstehung. Eine Zelle ohne<br />

funktionierende DNA-Reparatur akkumuliert<br />

Mutationen, unter ande-<br />

Grafik 1<br />

Gesunde Frau<br />

Zwei intakte Allele von<br />

BRCA1 in allen Zellen.<br />

Anlageträgerin<br />

Ein intaktes und ein<br />

mutiertes Allel<br />

in allen Zellen.<br />

rem auch in Genen, die an der Regulation<br />

der Zellteilung beteiligt sind.<br />

Ein Ausfall dieser Regulation führt zu<br />

einer unkontrollierten Zellteilung<br />

und damit zur Tumorentstehung (13).<br />

Bei einer prädisponierenden Keimbahnmutation<br />

in einem DNA-Reparaturgen<br />

müssen zur Tumorentstehung<br />

noch das zweite Allel <strong>des</strong> DNA-<br />

Reparaturgens sowie beide Allele eines<br />

Regulationsgens eine Mutation<br />

erfahren. Tritt die prädisponierende<br />

Keimbahnmutation jedoch in einem<br />

Regulationsgen auf, kann bereits eine<br />

zweite Mutation zur Tumorentstehung<br />

führen. Aufgrund <strong>des</strong> komplexeren<br />

Mutationsweges sind Keimbahnmutationen<br />

in Reparaturgenen<br />

vermutlich mit einer geringeren Erkrankungswahrscheinlichkeitassozi-<br />

M E D I Z I N<br />

DIE ÜBERSICHT<br />

iert als Keimbahnmutationen in Regulationsgenen.<br />

Denn selbst vor dem<br />

Hintergrund eines defekten DNA-<br />

Reparatursystems ist das Ereignis von<br />

drei zusätzlichen Mutationen in einer<br />

Zelle unwahrscheinlicher als das Ereignis<br />

nur einer zusätzlichen Mutation<br />

(Tabelle 1).<br />

Die Genese sporadischer und<br />

hereditärer Tumorerkrankungen läßt<br />

sich jedoch nicht streng trennen. Ei-<br />

Grafik 2<br />

BRCA1-Gen:<br />

BRCA2-Gen:<br />

Erkrankte Frau<br />

Trägerin einer Keimbahnmutation<br />

in allen Zellen.<br />

Zusätzlich ist eine somatische<br />

Mutation in einer Zelle<br />

<strong>des</strong> Brustgewebes aufgetreten.<br />

BC = Mammakarzinom; OC = Ovarialkarzinom<br />

Gayther (Gayther et et al, al., 1995 1995)<br />

nerseits findet man Keimbahnmutationen<br />

in Proto-Onkogenen auch bei<br />

den <strong>erblichen</strong> Tumorerkrankungen,<br />

wie beispielsweise in RET-Proto-Onkogenen<br />

bei der multiplen endokrinen<br />

Neoplasie (Tabelle 1). Andererseits<br />

führen somatische Mutationen in beiden<br />

Allelen eines Tumorsuppressorgens<br />

zum Beispiel bei Neurofibromatose<br />

zum Auftreten einer sporadischen<br />

Tumorerkrankung (Tabelle 1).<br />

BRCA1 und BRCA2 sind<br />

Tumorsuppressorgene<br />

Auch wenn in allen Zellen die<br />

prädisponierende Keimbahnmutation<br />

in einem der beiden Allele der Tumorsuppressorgene<br />

BRCA1 oder<br />

BRCA2 vorhanden ist, werden Tumoren<br />

nur in ganz bestimmten Geweben<br />

beobachtet. Mutationen im BRCA1-<br />

Gen führen zu einem gegenüber der<br />

Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhten<br />

Risiko für ein Mamma- beziehungsweise<br />

Ovarialkarzinom und zu<br />

einer geringen Risikoerhöhung für<br />

ein Kolonkarzinom und ein Prostatakarzinom.<br />

Ein statistisch signifikant gehäuftes<br />

Auftreten von Tumoren in anderen<br />

Geweben wird nicht beobachtet.<br />

Mutationen im BRCA2-Gen scheinen<br />

mit einem breiteren Tumorspektrum<br />

assoziiert zu sein. Hierzu<br />

gehören neben dem Mamma- und<br />

Ovarialkarzinom vor allem Pankreaskarzinome,<br />

Tumoren <strong>des</strong> Oro-<br />

BRCA BRCA1/2-Mutationen: 1/2-Mutationen: Genotyp Genotyp/Phänotyp-Korrelation<br />

– Phänotyp Korrelation<br />

Exon 1–10 Exon 11 Exon 12–24<br />

Exon 1–9 Exon 10 Exon 11 Exon 12–27<br />

Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998 (45)<br />

OC<br />

BC<br />

OC<br />

BC<br />

A-601


pharynx, Kolonkarzinome und Lymphome<br />

(8). Bei Männern mit Mutationen<br />

im BRCA2-Gen ist das Auftreten<br />

von Mammakarzinomen gehäuft,<br />

neue Untersuchungen zeigen dies jedoch<br />

auch in Familien mit Mutationen<br />

im BRCA1-Gen (18).<br />

Insgesamt sind für die BRCA1beziehungsweise<br />

BRCA2-Gene bislang<br />

über 100 verschiedene Mutationen<br />

beschrieben worden. Eine Zu-<br />

A-602<br />

(46) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998<br />

M E D I Z I N<br />

DIE ÜBERSICHT<br />

sammenfassung der Daten erfolgt<br />

weltweit in der BIC-Datenbank unter<br />

http://www.nchgr.nih.gov/dir/lab<br />

BRCA1 und BRCA2 haben<br />

Reparatur- und<br />

Regulationsfunktion<br />

Für Gene wie BRCA1 und<br />

BRCA2, die sehr groß sind (7 800 be-<br />

Tabelle 1<br />

Beteiligung von Tumorsuppressorgenen und Onkogenen an der Entstehung erblicher Tumorerkrankungen<br />

ziehungsweise 11 300 Nukleotide und<br />

1 863 beziehungsweise 3 418 Aminosäuren)<br />

(14, 22) und vermutlich über<br />

mehrere funktionelle Domänen verfügen,<br />

ist es kompliziert, die für die<br />

Tumorentstehung relevanten Funktionen<br />

herauszuarbeiten, zumal sie<br />

hinsichtlich ihrer Nukleotidabfolge<br />

weder zueinander noch zu anderen<br />

Genen eine deutliche Ähnlichkeit zeigen.<br />

In jüngsten Arbeiten konnte je-<br />

Tumorerkrankung Mutationstyp Erkrankung Genfunktion<br />

Reparaturgene:<br />

Erbgang Betroffene<br />

Organe<br />

Erblich KM, 1. SM, 2. SM, 3. SM Familiäres nicht-poly- hMLH1, hMSH2, AD Kolon, Uterus<br />

pöses Kolonkarzinom PMS1, PMS2<br />

Muir-Torre Syndrom hMSH2 AD Kolon, Haut<br />

Mammakarzinom BRCA1, BRCA2 AD Brust, Ovarien<br />

Ataxia teleangiectasia ATM AR Lymphatisches<br />

Organ, Brust<br />

Xeroderma pigmentsum ERCC1-6, XPA,<br />

XPC, XPE,<br />

HHR23A,<br />

HHR23B<br />

Regulationsgene:<br />

AR Haut<br />

Erblich KM, 1. SM Li-Fraumeni-Syndrom p53 AD Blutbild,<br />

Organe,<br />

Brust, Bindegewebe,<br />

Knochen<br />

Familiäre adenomatöse<br />

Polyposis Coli<br />

APC AD Kolon<br />

Retinoblastom RB-1 AD Retina<br />

von Hippel-Lindau VHL AD Niere, ZNS,<br />

Retina<br />

Wilms-Tumor WT-1 AD Niere<br />

Neurofibromatose Typ 1 NF1 AD peripheres NS<br />

Neurofibromatose Typ 2 NF2 AD ZNS<br />

Tuberöse Sklerose TSC1, TSC2 AD Haut, ZNS<br />

Familiäres Melanom CDKN2A AD Haut<br />

Cowden-Syndrom PTEN<br />

Onkogene:<br />

AD Brust, Haut,<br />

Schilddrüse<br />

Erblich KM Multiple endokrine RET AD Schilddrüse,<br />

Neoplasie Typ IIa Nebenniere,<br />

Nebenschilddrüse<br />

Familiäres medulläres<br />

Schilddrüsenkarzinom<br />

RET AD Schilddrüse<br />

Gorlin-Syndrom PTC<br />

Regulationsgene:<br />

AD Haut<br />

Nicht erblich 1. SM, 2. SM Verschiedene Tumoren p53 Neumu- verschiedene<br />

tation Gewebe<br />

Neurofibromatose Typ1 NF1 Neumutation<br />

peripheres NS<br />

Tuberöse Sklerose TCS1, TSC2 Neumutation<br />

Haut, ZNS<br />

KM: Keimbahnmutation; SM: Somatische Mutation; AD: Autosomal dominant; AR: Autosomal rezessiv<br />

(Kinzler und Vogelstein, 1997; Hunter, 1997)


doch für die Genprodukte von<br />

BRCA1 und BRCA2 in zwei Funktionen<br />

eine Verwandschaft gezeigt werden.<br />

Die erste funktionelle Verwandtschaft<br />

bezieht sich auf ihre Reparatureigenschaft.<br />

BRCA1- und BR-<br />

CA2-Proteine können an Rad51, einem<br />

Protein, das an der Reparatur<br />

von Brüchen im DNA-Doppelstrang<br />

beteiligt ist, binden (17, 19). Diese<br />

Tabelle 2<br />

Familiärer Brustkrebs – BRCA-Gene – Kopplungsdaten<br />

Wechselwirkung scheint die Reparaturfunktion<br />

von Rad51 zu unterstützen.<br />

Die zweite funktionelle Verwandschaft<br />

von BRCA1 und BRCA2<br />

bezieht sich auf ihre Regulationseigenschaft<br />

(2, 15). Für beide Genprodukte<br />

konnten transkriptionsaktivierende<br />

Domänen nachgewiesen werden.<br />

Bei solchen Transkriptionsfaktoren<br />

handelt es sich um Proteine, die<br />

positiv oder negativ regulierend auf<br />

die Transkription eines oder mehrerer<br />

Gene wirken. Das BRCA1-Protein<br />

beeinflußt vermutlich Gene, die<br />

an der Zellteilung beteiligt sind, denn<br />

eine zelluläre Überexpression von<br />

BRCA1-Protein in vitro führt zu einer<br />

Drosselung der Zellteilung (10).<br />

Mutationen, die zu einem Funktionsverlust<br />

dieser transkriptionsaktivierenden<br />

Domänen führen, konnten<br />

für beide Gene bei Mammakarzinompatientinnen<br />

nachgewiesen werden.<br />

In welchem Umfang diese beiden<br />

Funktionen an der Tumorentstehung<br />

beteiligt sind, muß noch geklärt<br />

werden.<br />

M E D I Z I N<br />

DIE ÜBERSICHT<br />

Mutationen im BRCA1-Gen<br />

sind in etwa 80 Prozent<br />

krankheitsverursachend<br />

Erste Studien zur Häufigkeit von<br />

BRCA1- und BRCA2-Mutationen<br />

wurden in Form von Kopplungsanalysen<br />

durchgeführt. Hierbei wurde die<br />

Vererbung <strong>des</strong> BRCA1-Gens innerhalb<br />

von Familien mit min<strong>des</strong>tens vier<br />

Familien BRCA1 BRCA2 BRCAX<br />

4–6 BC<br />

vor dem 60. Lebensjahr<br />

32 9 59<br />

mehr als 6 BC<br />

vor dem 60. Lebensjahr<br />

19 66 15<br />

4 oder mehr BC<br />

vor dem 60. Lebensjahr<br />

und ein OC<br />

80 15 5<br />

4 oder mehr BC<br />

vor dem 60. Lebensjahr<br />

und 2 oder mehr OC<br />

88 12 0<br />

3 oder mehr OC 50 0 50<br />

BC: Mammakarzinom, OC: Ovarialkarzinom; Häufigkeiten der nachgewiesenen Kopplungen<br />

in %(Easton, 1996)<br />

Betroffenen mit Mamma- und/oder<br />

Ovarialkarzinom analysiert (5). Haben<br />

alle Betroffenen einer Familie das<br />

gleiche Allel geerbt, deutet dies auf<br />

die ursächliche Beteiligung <strong>des</strong> Gens<br />

am Krankheitsgeschehen.<br />

Tabelle 3<br />

Wahrscheinlichkeit für BRCA1-Mutationen in Mammakarzinomfamilien<br />

Differenziert man die in der<br />

Kopplungsanalyse untersuchten Familien<br />

hinsichtlich ihrer Klinik, so erkennt<br />

man, daß bei etwa 80 Prozent<br />

der Familien mit Mamma- und Ovarialkarzinom<br />

der BRCA1-Genort involviert<br />

ist. In Familien, in denen mehr als<br />

sechs Mammakarzinome aufgetreten<br />

sind, ist das BRCA2-Gen in zirka 66<br />

Prozent der Fälle involviert. Bei 59<br />

Prozent der Familien, in denen nur<br />

Mammakarzinome, und bei 50 Prozent<br />

der Familien, in denen nur Ovarialkarzinome<br />

aufgetreten sind, konnte<br />

keine Kopplung zu BRCA1 oder<br />

BRCA2 nachgewiesen werden, so daß<br />

vor allem an Hand dieser Familien<br />

nach den Genorten von anderen Tumorsuppressorgenen<br />

(BRCAX) gesucht<br />

werden muß (Tabelle 2) (8).<br />

Man sollte aber auch Familien<br />

mit nur zwei betroffenen Frauen<br />

berücksichtigen. In diesen Familien<br />

ist eine genetische Prädisposition<br />

zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber<br />

auch nicht ausgeschlossen. Mit den<br />

Daten einer BRCA1-Mutationsanalyse<br />

in 169 Familien mit zwei oder<br />

mehr Betroffenen wurde berechnet,<br />

mit welcher Wahrscheinlichkeit bei einer<br />

bestimmten familiären Belastung<br />

in Abhängigkeit vom durchschnittlichen<br />

Diagnosealter der Probandin eine<br />

Mutation im BRCA1-Gen gefunden<br />

wird (Tabelle 3) (4).<br />

Im Rahmen solcher Analysen<br />

wurden eine Vielzahl verschiedener<br />

Mutationen gefunden. Der prozen-<br />

Diagnosealter Vorhergesagte Wahrscheinlichkeit für eine<br />

für BC BRCA1-Mutation (in Prozent)<br />

Familien mit Familien mit Familien mit Familien mit<br />

isoliertem BC und OC BC und OC mehreren<br />

BC bei einer BC und OC<br />

Person eine Person<br />

mit beiden<br />

Tumoren<br />

< 35 17,4 55,1 77,1 96,6<br />

35–39 11,7 43,5 67,8 92,4<br />

40–44 7,7 32,5 57,1 88,5<br />

45–49 5,1 23,4 54,5 82,9<br />

50–54 3,2 16,2 34,6 75,4<br />

55–59 2,1 10,8 25,1 65,9<br />

> 59 1,3 7,1 17,3 54,9<br />

BC: Mammakarzinom, OC: Ovarialkarzinom (Couch et al., 1997)<br />

Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998 (47)<br />

A-603


tuale Anteil der einzelnen Mutationen<br />

schwankt in den verschiedenen<br />

Populationen jedoch erheblich, wie<br />

zum Beispiel bei den Askenasim, wo<br />

im wesentlichen nur zwei Mutationen<br />

gefunden werden, BRCA1-185del-<br />

AG und BRCA2-6174delT (16). Dies<br />

läßt sich durch sogenannte „founder“-<br />

Mutationen erklären, die unter Umständen<br />

vor mehreren hundert Jahren<br />

aufgetreten sind, seither über viele<br />

Generationen weitervererbt wurden<br />

und daher für viele familiär gehäuft<br />

auftretende Mammakarzinomfälle in<br />

einer Population verantwortlich sind.<br />

Jede Population hat vermutlich ihr<br />

spezifisches „Mutationsprofil“ für die<br />

BRCA1- und BRCA2-Gene. Neumutationen<br />

in Form von Keimbahnmutationen<br />

sind selten.<br />

Unterschiedliches<br />

Erkrankungsrisiko bei<br />

einzelnen Mutationen<br />

Verschiedene Mutationen führen<br />

vermutlich zu einer unterschiedlich<br />

starken Funktionseinschränkung beispielsweise<br />

<strong>des</strong> BRCA1-Proteins. Es<br />

ist anzunehmen, daß eine bestimmte<br />

Restfunktion mit einer bestimmten<br />

Penetranz und damit mit einer spezifischen<br />

Erkrankungswahrscheinlichkeit<br />

assoziiert ist. Zu diesem Aspekt liegen<br />

erste Ergebnisse wiederum von den<br />

Askenasim vor. Ein Prozent der Bevölkerung<br />

trägt die Mutation BRCA1-<br />

Grafik 4<br />

Familie 43 Familie 71<br />

I<br />

I<br />

1 2 BC 57<br />

II<br />

III<br />

IV<br />

V<br />

A-604<br />

1<br />

2 3 4<br />

1 2<br />

1 2 BC 31<br />

1<br />

(48) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998<br />

M E D I Z I N<br />

DIE ÜBERSICHT<br />

185delAG, 1,5 Prozent trägt die Mutation<br />

BRCA2-6174delT (16). 43 Prozent<br />

der familiären Mammakarzinomerkrankungen<br />

werden durch die<br />

Mutation BRCA1-185delAG verursacht,<br />

wohingegen nur 13 Prozent<br />

durch BRCA2-6174delT zu erklären<br />

sind. Rechnerisch ergibt sich für<br />

die Mutation BRCA1-185delAG ein<br />

etwa fünffach höheres Erkrankungsri-<br />

Grafik 3<br />

100<br />

50<br />

10<br />

Familien mit BRCA1-Mutation<br />

II<br />

III<br />

IV<br />

siko als für die Mutation BRCA2-<br />

6174delT. Einzelne Mutationen scheinen<br />

nicht nur mit einem spezifischen<br />

Erkrankungsrisiko, sondern auch mit<br />

einem spezifischen Turmorspektrum<br />

Erkrankungswahrscheinlichkeit<br />

Risiko % Mammakarzinom Risiko % Ovarialkarzinom<br />

assoziiert zu sein. Die Erhebung der<br />

Familienanamnese zeigt in betroffenen<br />

Familien eine relativ geringe intrafamiliäre<br />

Variabilität hinsichtlich<br />

<strong>des</strong> zusätzlichen Auftretens von Ovarialkarzinomen.<br />

Die Korrelation klinischer<br />

und molekulargenetischer Daten<br />

deutet darauf hin, daß Mutationen<br />

in den Exons 1 bis 11 <strong>des</strong> BRCA1-<br />

Gens mit abnehmender Häufigkeit<br />

100<br />

40 50 60 70 40 50 60 70<br />

50<br />

10<br />

Easton et al., 1993 Whittemore et al., 1997<br />

Die Risikoziffern nach Easton et al. gelten für Familien, in denen nur Mammakarzinome aufgetreten sind. Die Zahlen<br />

nach Whittemore et al. wurden für Familien, in denen Mamma- und Ovarialkarzinome aufgetreten sind, erhoben.<br />

1 2<br />

1 2 OC 67 3 BC 45 4 OC 52/BC 32<br />

1 2 BC 28 3 BC 71 4<br />

1 2<br />

Betroffene Familienmitglieder sind dunkelgrau schattiert, obligate Überträger sind mit einem Punkt gekennzeichnet.<br />

BC: Mammakarzinom, OC: Ovarialkarzinom. In Familie 43 treten relativ wenige Tumorerkrankungen<br />

auf, da die Mutation zweimal über männliche Familienmitglieder vererbt wurde.<br />

und im Exon 11 <strong>des</strong> BRCA2-Gens<br />

vermehrt mit Ovarialkarzinomen assoziiert<br />

sind (Grafik 2) (9).<br />

Solche mutationsspezifischen Daten<br />

liegen bislang nur für wenige Mutationen<br />

vor. Für die genetische Beratung<br />

von Familien, bei denen nur<br />

Mammakarzinome aufgetreten sind,<br />

müssen auch weiterhin die kumulativen<br />

Risikoziffern entsprechend den<br />

Daten von Easton et al. 1995 (7) in<br />

Grafik 3 verwendet werden. Für deren<br />

Erhebung sind nur Familien mit vier<br />

oder mehr betroffenen Frauen berücksichtigt<br />

worden. Es handelt sich<br />

also um Mutationen mit einer relativ<br />

hohen Penetranz, die zu entsprechend<br />

hohen Risikoziffern führen.<br />

Differenziertere kumulative Risikoziffern<br />

liegen für Familien vor, in denen<br />

Mamma- und Ovarialkarzinome<br />

aufgetreten sind. Um in diesen Familien<br />

auch Mutationen mit einer niedrigen<br />

Penetranz zu erfassen, sind auch<br />

Familien mit nur zwei Fällen berücksichtigt<br />

worden. Dies führt zu einer<br />

Korrektur der kumulativen Risikozif-


fern für diese Familien entsprechend<br />

Whittemore et al. (21) in Grafik 3. Die<br />

Auswertung von über 900 Familien ergab<br />

für BRCA1-Gendefektträger bis<br />

zum 70. Lebensjahr ein Risiko von 68,6<br />

Prozent (vorher 82 Prozent) für ein<br />

Tabelle 4<br />

Indikation für eine BRCA1- und BRCA2-Mutationsanalyse<br />

Mammakarzinom und ein Risiko von<br />

zirka 22,5 Prozent (vorher 44 Prozent)<br />

für ein Ovarialkarzinom (20).<br />

Häufigkeit von BRCA1und<br />

BRCA2-Mutationen<br />

in Deutschland<br />

Nach epidemiologischen Studien<br />

trägt 1 von 250 bis 1 von 1 000 Frauen<br />

in den USA eine Mutation im BR-<br />

CA1- oder BRCA2-Gen (6). Da es für<br />

die Bun<strong>des</strong>republik Deutschland bisher<br />

keine entsprechenden Daten gibt,<br />

scheint es sinnvoll, für Familien entsprechend<br />

der Tabelle 4 molekulargenetische<br />

Untersuchungen durchzuführen.<br />

Nach diesem Indikationsschema<br />

sind wir in unserer Arbeitsgruppe<br />

vorgegangen.<br />

Mutationen im BRCA1- und BR-<br />

CA2-Gen wurden bisher nur in den<br />

Gruppen 1 und 2 gefunden. Innerhalb<br />

der Gruppe 1 findet man die meisten<br />

Mutationen in Familien mit drei oder<br />

mehr Betroffenen. Es werden aber<br />

auch Mutationen in Familien mit nur<br />

zwei betroffenen Familienmitgliedern<br />

gefunden (Grafik 4). Daraus ergibt<br />

sich, daß die Indikation für die Durchführung<br />

einer molekulargenetischen<br />

Analyse der BRCA1- und BRCA2-<br />

Gene auch für Familien mit zwei Betroffenen<br />

und nur einem prämenopausalen<br />

Tumor gestellt werden sollte.<br />

Über die prozentuale Häufigkeit von<br />

M E D I Z I N<br />

DIE ÜBERSICHT<br />

bestimmten BRCA1- oder BRCA2-<br />

Mutationen in der europäischen Bevölkerung<br />

und in Familien mit gehäuftem<br />

Auftreten von Mamma- und/oder<br />

Ovarialkarzinomen kann beim derzeitigen<br />

Stand der Untersuchungen noch<br />

Gruppe Familienanamnese<br />

1 Min<strong>des</strong>tens zwei Frauen in der Familie mit BC oder<br />

OC, wobei eine Frau vor dem 50. Lebensjahr erkrankt ist.<br />

2 Eine Frau mit einem beidseitigen BC, wobei die<br />

Erkrankung vor dem 40. Lebensjahr aufgetreten ist.<br />

3 Eine Frau mit einem BC vor dem 30. Lebensjahr, oder einem<br />

OC vor dem 40. Lebensjahr.<br />

4 Ein BC und zwei weitere, andere<br />

Karzinomerkrankungen in der Familie, unabhängig vom Alter.<br />

BC: Mammakarzinom, OC: Ovarialkarzinom<br />

keine Aussage gemacht werden. Es<br />

zeigt sich aber bereits jetzt, daß es<br />

auch in unserer Population zumin<strong>des</strong>t<br />

eine häufiger auftretende Mutation –<br />

BRCA1-5382insC – gibt, so daß man<br />

bei der Durchführung der molekulargenetischen<br />

Analyse zuerst nach dieser<br />

Mutation suchen sollte (20).<br />

Patientenversorgung<br />

und Forschung sollte<br />

vereinbar sein<br />

Erste Ergebnisse aus Untersuchungen<br />

an Familien in Deutschland<br />

weisen darauf hin, daß ein Teil der familiär<br />

gehäuft auftretenden Mammakarzinome<br />

durch Mutationen im BR-<br />

CA1- oder BRCA2-Gen verursacht<br />

werden. Aufgrund <strong>des</strong> geringen Anteils<br />

an Neumutationen sollte es möglich<br />

sein – durch Untersuchung einer<br />

großen Anzahl von Familien –, für unsere<br />

Bevölkerung erstens die tatsächliche<br />

prozentuale Beteiligung dieser Gene,<br />

zweitens das Mutationsspektrum<br />

und drittens das mit diesen Mutationen<br />

assoziierte klinische Bild zu erfassen.<br />

Unter Berücksichtigung aller Daten<br />

muß versucht werden, differenziertere<br />

Risikoziffern und individuelle Vorsorge-<br />

und Therapiekonzepte zu erarbeiten.<br />

An Hand der bisherigen Ergebnisse<br />

kann man eine vorläufige Indikationsstellung<br />

für eine molekulargenetische<br />

Untersuchung aussprechen. Um<br />

auch Mutationen mit niedriger Penetranz<br />

und einem breiten Tumorspektrum<br />

zu erfassen, sollte Familien entsprechend<br />

der Tabelle 4 weiterhin eine<br />

Mutationsanalyse angeboten werden.<br />

Wie bei jeder anderen genetischen<br />

Erkrankung sollte auch bei <strong>erblichen</strong><br />

Tumorerkrankungen eine ausführliche<br />

humangenetische Beratung<br />

erfolgen. Wesentliche Inhalte der Beratung<br />

sind die Abschätzung <strong>des</strong> Erkrankungsrisikos<br />

für nicht betroffene<br />

Ratsuchende, die Erläuterung eines<br />

autosomal dominanten Erbgangs und<br />

die Vorgehensweise bei einer molekulargenetischen<br />

Untersuchung. Alle<br />

Betroffenen oder Ratsuchenden sollten<br />

immer über den Stand der wissenschaftlichen<br />

Erkenntnisse aufgeklärt<br />

werden, denn die letzte Entscheidung<br />

bezüglich einer molekulargenetischen<br />

Untersuchung muß immer bei dem<br />

Ratsuchenden bleiben. Eine falsche Sicherheit<br />

aufgrund eines negativen Testergebnisses<br />

muß ausgeschlossen sein.<br />

Um eine optimale Beratung und<br />

Versorgung zu gewährleisten, sollten<br />

die humangenetische Beratung, die<br />

molekulargenetische Diagnostik, die<br />

klinische und die psychoonkologische<br />

Betreuung sowie die umfangreiche<br />

Datenerfassung interdisziplinär an<br />

dafür spezialisierten Zentren durchgeführt<br />

werden. In diesem Sinne werden<br />

seit Oktober 1996 im Rahmen <strong>des</strong><br />

Förderungsprogrammes „Familiärer<br />

Brustkrebs“ bun<strong>des</strong>weit zehn Zentren<br />

von der Deutschen Krebshilfe finanziell<br />

unterstützt (12). Nur auf diesem<br />

Wege wird den beiden wesentlichen<br />

Zielen Rechnung getragen, der<br />

richtigen Patientenversorgung und<br />

der Erlangung neuer Erkenntnisse.<br />

Zitierweise dieses Beitrags:<br />

Dt Ärztebl 1998; 95: A-600–605<br />

[Heft 11]<br />

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf<br />

das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck<br />

beim Verfasser und über die Internetseiten<br />

(unter http: /www.aerzteblatt.de)<br />

erhältlich ist.<br />

Anschrift für die Verfasser<br />

Dr. med. Dipl.-Chem.<br />

Elke Holinski-Feder<br />

Abteilung Medizinische <strong>Genetik</strong><br />

Ludwig-Maximilians-Universität<br />

Goethestraße 29 · 80336 München<br />

Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998 (49)<br />

A-605

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