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Jubiläen 2006 - Universitätsarchiv Leipzig - Universität Leipzig

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<strong>Jubiläen</strong> <strong>2006</strong><br />

Personen | Ereignisse


<strong>Jubiläen</strong> <strong>2006</strong><br />

Personen | Ereignisse


Impressum<br />

Herausgeber: Rektor der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong><br />

Redaktion: Volker Schulte, Pressestelle<br />

Satz: Anja Landsmann, Öffentlichkeitsarbeit<br />

ISBN 3-934178-58-8<br />

Redaktionsschluss: 01.02.<strong>2006</strong><br />

Preis: 2,00 €<br />

Kontakt<br />

Pressestelle<br />

Ritterstraße 26, 04109 <strong>Leipzig</strong><br />

Telefon 0341 97-35020<br />

E-Mail presse@uni-leipzig.de<br />

www.uni-leipzig.de/presse


Inhalt<br />

Geleitwort 7<br />

Erich Kähler 9<br />

Zum 100. Geburtstag am 16. Januar <strong>2006</strong><br />

Hermann Brockhaus 15<br />

Zum 200. Geburtstag am 28. Januar <strong>2006</strong><br />

Eva Lips 21<br />

Zum 100. Geburtstag am 6. Februar <strong>2006</strong><br />

Hans Otto de Boor 27<br />

Zum 50. Todestag am 10. Februar <strong>2006</strong><br />

Karl Lamprecht 31<br />

Zum 150. Geburtstag am 25. Februar <strong>2006</strong><br />

Emil Adolf Roßmäßler 39<br />

Zum 200. Geburtstag am 3. März <strong>2006</strong><br />

Eduard Friedrich Weber 45<br />

Zum 200. Geburtstag am 6. März <strong>2006</strong><br />

Karl-Sudhoff-Institut 49<br />

Zum 100. Jahrestag der Gründung am 1. April <strong>2006</strong><br />

Friedrich Wilhelm Ritschl 55<br />

Zum 200. Geburtstag am 6. April <strong>2006</strong><br />

Albrecht Alt 61<br />

Zum 50. Todestag am 24. April <strong>2006</strong><br />

Institut für Pathologie 67<br />

Zum 100. Jahrestag der Eröffnung am 5. Mai <strong>2006</strong>


Oskar von Gebhardt 73<br />

Zum 100. Todestag am 9. Mai <strong>2006</strong><br />

Karl Ferdinand Hommel 79<br />

Zum 225. Todestag am 16. Mai <strong>2006</strong><br />

Psychiatrische Lehre 83<br />

Vor 200 Jahren begann der kontinuierliche Vorlesungsbetrieb<br />

zur Seelen- und Nervenheilkunde<br />

Paul Drude 89<br />

Zum 100. Todestag am 5. Juli <strong>2006</strong><br />

Robert Schumann 93<br />

Zum 150. Todestag am 29. Juli <strong>2006</strong><br />

Wegbereiter der Chemie 99<br />

Zum 300. Todestag Johann Christian Schambergs am<br />

4. August <strong>2006</strong> und 325. Todestag von Michael Heinrich Horn<br />

am 16. Oktober <strong>2006</strong><br />

Institut für Ausländerstudium 105<br />

Zum 50. Jahrestag der Gündung am 1. September <strong>2006</strong><br />

Johann Friedrich Christ 109<br />

Zum 250. Todestag am 2. September <strong>2006</strong><br />

Ludwig Boltzmann 115<br />

Zum 100. Todestag am 5. September <strong>2006</strong><br />

Johann Christoph Adelung 121<br />

Zum 200. Todestag am 10. September <strong>2006</strong><br />

Johann Christian Gottfried Jörg und<br />

das „Triersche Institut“ 125<br />

Zum 150. Todestag am 20. September <strong>2006</strong> und<br />

zum 200. Jubiläum der Trierschen Stiftung<br />

Christian Samuel Weiss 131<br />

Zum 150. Todestag am 1. Oktober <strong>2006</strong><br />

Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde 137<br />

Zum 100. Jahrestag der Gründung am 1. Oktober <strong>2006</strong><br />

Friedrich Louis Hesse 143<br />

Zum 100. Todestag am 22. Oktober <strong>2006</strong>


Forschungsreise durch Afrika 149<br />

Zum 275. Jahrestag des Beginns der sächsischen Afrika-Expedition<br />

am 30. Oktober <strong>2006</strong><br />

Thomas Müntzer 155<br />

Vor 500 Jahren begann der Theologe sein Studium in <strong>Leipzig</strong><br />

Das Augusteum 161<br />

Zum 175. Jahrestag der Grundsteinlegung für das Hauptgebäude<br />

der <strong>Universität</strong><br />

Academiae Musicus Werner Fabricius 167<br />

Vor 350 Jahren Bestallung des <strong>Leipzig</strong>er <strong>Universität</strong>smusikdirektors<br />

Frauenstudium an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> 171<br />

Von den Anfängen vor 100 Jahren<br />

Die ersten Promotionen 175<br />

Zum 575. Jahrestag der Verleihung akademischer Grade<br />

an der Medizinischen Fakultät<br />

Autorenverzeichnis 181<br />

Bildnachweise 185


Geleitwort<br />

Nachdem die Broschüren „<strong>Jubiläen</strong> 2004“ und „<strong>Jubiläen</strong> 2005“ eine gute Aufnahme<br />

innerhalb und außerhalb der <strong>Universität</strong> gefunden haben, wünsche ich<br />

Gleiches den „<strong>Jubiläen</strong> <strong>2006</strong>“, die gegenüber ihren Vorgängerinnen noch einmal<br />

nach Umfang und Vielfalt kräftig zugelegt haben.<br />

Diesmal sind es 31 Kalenderblätter, die den „runden“ <strong>Jubiläen</strong> von bedeutenden<br />

Personen, Einrichtungen und Ereignissen der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> im Jahre <strong>2006</strong><br />

gewidmet sind. Geschrieben sind sie für Mitglieder und Freunde unserer <strong>Universität</strong><br />

und natürlich auch für jenen größeren Kreis von Menschen, die sich für<br />

Themen der <strong>Universität</strong>s- und Wissenschaftsgeschichte interessieren.<br />

Dass sich auch diese Broschüre dem großen Jubiläum von 2009, der Gründung<br />

der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> vor 600 Jahren, verdankt und verpflichtet weiß, liegt auf<br />

der Hand. Und es ist zu wünschen, dass in den weiteren Jahren bis dahin jeweils<br />

ein solches oder ähnliches universitätsgeschichtliches Mosaik vorgelegt werden<br />

kann.<br />

Neben Redaktion und Herstellung möchte ich insbesondere den Autoren meinen<br />

Dank sagen, ermöglichen sie doch erst durch ihr Mitdenken und Mittun das Erscheinen<br />

einer solchen Publikation. Möge dieses Engagement erhalten bleiben<br />

und möge auch der Band „<strong>Jubiläen</strong> <strong>2006</strong>“ eine interessierte Leserschaft finden!<br />

Prof. Dr. iur. Franz Häuser<br />

Rektor der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong><br />

7


Erich Kähler<br />

Zum 100. Geburtstag am 16. Januar <strong>2006</strong><br />

Erich Kähler wurde 1906 in <strong>Leipzig</strong> geboren und studierte dort Mathematik,<br />

Astronomie und Physik, es folgten die Promotion1928 in <strong>Leipzig</strong> und<br />

die Habilitation 1930 in Hamburg. Er lehrte in Königsberg, Hamburg, <strong>Leipzig</strong><br />

und Berlin. Seine mathematischen Leistungen, die ein ungewöhnliches<br />

breites Feld überdecken, sichern Kähler, der gleicherweise Mathematiker,<br />

Astronom und mathematischer Physiker war, einen Platz in der Geschichte<br />

dieser Wissenschaften.<br />

9


„Mein <strong>Leipzig</strong> lob’ ich mir“, so pries der Dichter Johann Wolfgang Goethe<br />

(1749 – 1832) seinen Studienort, und dass die <strong>Leipzig</strong>er Jahre zu seinen schönsten<br />

und erfolgreichsten gehört haben, bekannte gleichfalls der gebürtige <strong>Leipzig</strong>er<br />

Mathematiker Erich Kähler.<br />

Geboren ist Kähler in <strong>Leipzig</strong> als Sohn eines Telegrapheninspektors, und er hat<br />

die Schule und danach ein Mathematikstudium in seiner Heimatstadt absolviert.<br />

Dabei hat er dank verständiger Lehrer in den letzten Jahren der Oberrealschule<br />

gar nicht mehr am Mathematikunterricht teilgenommen, sondern die ihm vom<br />

Schuldirektor überlassenen Mitschriften Weierstraßscher Mathematikvorlesungen<br />

durchgearbeitet, sodass der Abiturient bereits bestens mit elliptischen und<br />

abelschen Funktionen vertraut war, die seinerzeit noch ein wesentliches mathematisches<br />

Forschungsgebiet ausmachten. Schließlich verfasste der 17-Jährige<br />

eine etwa 50-seitige Abhandlung, die er dem <strong>Leipzig</strong>er Professor Otto Hölder<br />

(1859 – 1937) vorlegte, um damit promoviert zu werden. Kähler wurde darauf<br />

hingewiesen, dass dazu ein Mathematikstudium erforderlich sei, und er studierte<br />

daraufhin sechs Semester in <strong>Leipzig</strong>, insbesondere bei Leon Lichtenstein<br />

(1878 – 1933) und konnte dann 1928 mit dem selbst gestellten Thema „Über die<br />

Existenz von Gleichgewichtsfiguren“ aus der Himmelsmechanik promovieren.<br />

Ein Stipendium der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft ermöglichte<br />

ihm zunächst weitere wissenschaftliche Arbeit.<br />

Auf dem Weg in den Urlaub führte er an der <strong>Universität</strong> Hamburg ein folgenreiches<br />

Gespräch mit Emil Artin (1898 – 1962), das in Hamburg zu einer<br />

Assistentenstelle bei Wilhelm Blaschke (1885 – 1962) führte. Bereits 1930<br />

habilitierte sich Kähler mit der Arbeit „Über die Integrale algebraischer Differentialgleichungen“<br />

und wurde Privatdozent in Hamburg, eine Stellung, die er<br />

bis 1935 beibehielt und nur durch einen einjährigen Studienaufenthalt als Rockefellerstipendiat<br />

in Rom (1931 – 1932) unterbrach. In Rom lernte Kähler die<br />

führenden italienischen algebraischen Geometer kennen, aber auch André Weil<br />

(1906 – 1998), mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte.<br />

Blaschke hatte versucht, dem begabten jungen Mathematiker eine Professur zu<br />

verschaffen, wobei ihm im Hinblick auf weitere Kontakte Rostock der geographischen<br />

Nähe wegen besonders geeignet erschien. Aber Kähler war die außerordentlich<br />

anregende Hamburger Atmosphäre, die durch Mathematiker wie Emil<br />

Artin, Wilhelm Blaschke und Erich Hecke (1887 – 1947) sowie durch den Physiker<br />

Wilhelm Lenz (1888 – 1957) und die späteren Nobelpreisträger für Physik<br />

Wolfgang Pauli (1900 – 1958), Otto Stern (1888 – 1969) und Johannes Jensen<br />

(1907 – 1973) geprägt wurde, wichtiger als eine schnelle berufliche Karriere.<br />

10


Zeitweilig studierten auch nachmalig weltbekannte Mathematiker wie Bartel van<br />

der Waerden (1903 – 1996) und Shiing-Shen Chern (geb. 1911) in Hamburg.<br />

Ein Ergebnis zeigte sich bald, nämlich eine bahnbrechende Arbeit über Hermitesche<br />

Metrik (1933), in der eine gewisse metrische Differentialform behandelt<br />

und als alternierende Differentialform geschrieben wurde, von der Geschlossenheit<br />

verlangt wurde. Die hierdurch ausgezeichnete Klasse der Metriken führt zu<br />

dem, was heute als Kählersche Mannigfaltigkeit bezeichnet wird und ein fruchtbarer<br />

Forschungsgegenstand ist. Die Liebe zu dem Kalkül der alternierenden<br />

Differentialformen und die weite Sicht dieser Rechnungsart, die sich schon in<br />

der gerade erwähnten Arbeit zeigte, findet ihren vollen Niederschlag in der eleganten<br />

Behandlung der „Theorie der Systeme von Differentialgleichungen“, eine<br />

Monographie, die letztlich auf eine teilweise mit dem Schöpfer des Differentialkalküls<br />

Elie Cartan (1869 – 1951) zurückgelegte Zugreise Kählers nach Moskau<br />

zurückgeht, wohin ihn Blaschke mitnahm, damit Kähler dort über diesen<br />

Gegenstand vortrage. Cartan hat später die glückliche Bezeichnung der äußeren<br />

Ableitung dω einer Differentialform ω von Kähler übernommen; die sog. Kählermetrik<br />

verlangt Geschlossenheit der Form ω bzw. annuliert ihr Differential.<br />

Die nächsten Jahre bringen Kähler nach Königsberg, wo er zunächst eine Vertretungsprofessur<br />

(1935) und schließlich eine ordentliche Professur (1936) inne<br />

hat. 1938 hat Erich Kähler die Ärztin Luise Günther geheiratet, aber 1939 kurz<br />

nach der Geburt des ersten Sohnes Helmuth (geb. 1939) wurde er als Freiwilliger<br />

zur Marine eingezogen. Das Kriegsende erlebte Kähler an der Atlantikküste, er<br />

war dann zwei Jahre Kriegsgefangener auf der Ile de Ré, wobei die alten wissenschaftlichen<br />

Kontakte dem ehemaligen Offizier einen Sonderstatus verschafften,<br />

der es ihm erlaubte, mathematisch zu arbeiten. Die Familie fand sich bei Hamburg<br />

wieder, und einer kurze Spanne als Diätendozent in Hamburg folgte der Ruf<br />

der <strong>Leipzig</strong>er <strong>Universität</strong> auf den Lehrstuhl von Paul Koebe (1882 – 1945), der<br />

nach dem Kriegsende gestorben war. Koebe war ein renommierter Funktionentheoretiker<br />

gewesen, dessen Arbeiten den algebraischen Kern der analytischen<br />

Sachverhalte herausschälten, und das entsprach ganz dem Denken Kählers, der<br />

auch in der Funktionentheorie und zwar bereits in den 20er Jahren grundlegende<br />

Ergebnisse erzielt hatte, sodass er in der Tat einen geeigneten Nachfolger Koebes<br />

darstellte und darüber hinaus auch fest in der <strong>Leipzig</strong>er Tradition (etwa bei<br />

den automorphen Funktionen) stand, die letztlich in Felix Klein (1849 – 1925)<br />

wurzelt. Kählers Interessen waren freilich weiter gespannt als die eines reinen<br />

Funktionentheoretikers, bereits in seiner Königsberger Antrittsvorlesung von<br />

1939 hat er sein Verhältnis zur Physik, den Naturwissenschaften und der Philo-<br />

11


sophie klar umrissen, das er in einer Abhandlung anlässlich des 100. Todestages<br />

von Carl Friedrich Gauß (1777 – 1855) vertieft hat.<br />

Die <strong>Leipzig</strong>er Zeit umfasst die wissenschaftlich ertragreichsten Jahre Kählers.<br />

Obwohl der eigenständig Denkende und Handelnde den politischen Spannungen<br />

nicht mehr widerstehen mochte und schließlich 1957 <strong>Leipzig</strong> verließ, um an der<br />

TU Berlin tätig zu sein, wirkte er durch seinen Schülerkreis nachhaltig weiter<br />

in der Messestadt. Relegierte Studenten hatten in seiner Wohnung Privatissima<br />

erhalten, für die Freilassung des inhaftierten Studentenpfarrers Schmutzler hatte<br />

er sich eingesetzt, sodass der Druck auf ihn unerträglich geworden war. 1980<br />

hat er <strong>Leipzig</strong> noch einmal besucht, und in den 90er Jahren im hohen Alter noch<br />

einen beeindruckenden Vortrag im Mathematischen Institut gehalten. In <strong>Leipzig</strong><br />

ist auch sein italienisch geschriebenes Hauptwerk „Geometria aritmetica“ (1958)<br />

entstanden, das viele Jahre im Mittelpunkt seiner Seminare stand und Arithmetik,<br />

algebraische Geometrie und Funktionentheorie verbindet. Schließlich soll<br />

noch erwähnt werden, dass er in <strong>Leipzig</strong> begonnen hatte, Russisch, Sanskrit und<br />

Chinesisch zu erlernen.<br />

An die Berliner Jahre (1958 – 1964) schloss sich eine Lehrtätigkeit als Nachfolger<br />

Artins in Hamburg an; 1974 wurde Kähler in Hamburg emeritiert. In diese<br />

Hamburger Zeit fallen gehäuft Schicksalsschläge, die Kählers Leben veränderten:<br />

Kurz nach dem Wechsel nach Hamburg verunglückte sein zweiter Sohn<br />

Reinhard (1948 – 1966) tödlich, bald danach seine Frau und schließlich einige<br />

Jahre später seine Tochter (1942 – 1988). Solche tragischen Ereignisse ändern<br />

zwangsläufig die Lebensweise, und das persönliche Leid schlug sich zweifelsohne<br />

auch in Kählers philosophischem Denken nieder, dem Plato (427 – 347 v. Chr.),<br />

Arthur Schopenhauer (1788 – 1860), Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) und<br />

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) sehr vertraut waren und das in seinem<br />

Leben stets eine große Rolle gespielt hatte. Er bemühte sich jetzt, Philosophie,<br />

Mathematik und Naturwissenschaften mathematisch – in more geometrico – zu<br />

erfassen. „Welchen naturwissenschaftlichen Sinn haben die in Arithmetik und<br />

Algebra angesammelten Reserven der reinen Mathematik?“, fragte er bereits<br />

1955, und diese Sicht, insbesondere mathematische Deutungsweisen philosophischer<br />

Sachverhalte, zeigen sich immer betonter in den seit 1978 veröffentlichten<br />

Schriften zur Monadologie. Nicht alle sind ihm hier gefolgt.<br />

1974 wurde Kähler emeritiert, zwei Jahre zuvor hat er nochmals geheiratet.<br />

Im Jahr der Emeritierung siedelten die Kählers nach Wedel bei Hamburg um,<br />

aber er nahm am wissenschaftlichen Leben des Instituts weiter teil und lud im<br />

Anschluss an Kolloquia oder Ähnliches gern Gäste in sein Wedeler Heim ein.<br />

12


Der polnische Mathematiker Krzystof Maurin (geb. 1923) berichtete über die<br />

angenehme Atmosphäre im Hause Kählers und insbesondere in dessen großzügigem<br />

Arbeitszimmer, das zahllose Bücher aller Art enthielt und in dem der Hausherr<br />

eine Ecke für große Porträts von Carl Friedrich Gauß und Henri Poincaré<br />

(1854 – 1912) reserviert hatte, auf die er lächelnd mit der Bemerkung hinwies,<br />

dass dies sein liebster Platz mit seinen Ikonen sei.<br />

Am 21. Mai 2000 ist Erich Kähler im Alter von 94 Jahren in Wedel gestorben.<br />

Sein Wirken ist vielfach geehrt worden, er war Mitglied der Sächsischen Akademie<br />

in <strong>Leipzig</strong> (1949), der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin<br />

(1955), der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle (1962)<br />

und der Accademia Nazionale dei Lincei in Rom (1962), der Accademia di<br />

Scienze e Lettere in Mailand (1992). Sein Wirken ist vor allem mit wichtigen<br />

geometrischen Begriffen verbunden (Kählermetrik, Kählermannigfaltigkeiten<br />

und Kählergruppen), die bereits 1932 geprägt wurden. Kählers Bestreben ging<br />

darauf hinaus, Arithmetik, algebraische Geometrie und Funktionentheorie zu<br />

vereinen, ein wirkungsvolles Hilfsmittel war dabei der Kalkül der Differentialformen,<br />

den er maßgeblich mitgestaltet hat. Mathematische Bemühungen<br />

waren für Kähler immer dann unwirksam, „wenn sie die gegenwärtigen mathematischen<br />

Bestrebungen nicht in das Kraftfeld jener Ziele hineinzuziehen versuchen“.<br />

Einen schnellen Überblick über die Breite seines Schaffens ermöglichen<br />

die von Rolf Berndt (geb. 1940) und Oswald Riemenschneider (geb. 1941)<br />

herausgegebenen „Mathematischen Werke“ (2003); es sind dies vor allem die<br />

folgenden Bereiche, die in den 47 Titeln seines Werkverzeichnisses behandelt<br />

werden: das n-Körper-Problem, die Verbindung komplexer Funktionen zur Topologie<br />

und Geometrie, Differentiale, Differentialoperatoren, der Differentialkalkül,<br />

Differentialgleichungen, arithmetische Geometrie sowie Philosophie der<br />

Mathematik. Bekannt ist seine 1941 getroffenen Feststellung: „Die Mathematik<br />

ist ein Organ der Erkenntnis und eine unendliche Verfeinerung der Sprache und<br />

Vorstellungswelt. … Wir können nicht ahnen, in welche Ferne und Tiefe dieses<br />

geistige Auge Mathematik den Menschen noch blicken läßt.“<br />

Rüdiger Thiele<br />

13


Hermann Brockhaus<br />

Zum 200. Geburtstag am 28. Januar <strong>2006</strong><br />

Hermann Brockhaus, geboren am 28. Januar 1806 in Amsterdam, gestorben<br />

am 5. Januar 1877 in <strong>Leipzig</strong>, war einer der herausragenden Indologen<br />

und Orientalisten seiner Generation. 1841 an die <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong><br />

berufen, seit 1848 ordentlicher Professor für „ostasiatische Sprachen“,<br />

lehrte er hier bis zu seinem Tode.<br />

15


Hermann Brockhaus wurde am 28. Januar 1806 in Amsterdam geboren. Sein<br />

Vater, Friedrich Arnold Brockhaus, hatte hier 1805 den berühmten Verlagsbuchhandel<br />

gegründet. 1810 starb die Mutter und der Verlag wurde in Altenburg/<br />

Sachsen neu gegründet. 1817 übersiedelte das Verlagsgeschäft, das einen großen<br />

Aufschwung genommen hatte, nach <strong>Leipzig</strong>, der Metropole des deutschen<br />

Buchhandels. Hermann Brockhaus wurde der Pensions- und Erziehungsanstalt<br />

Wackerbartsruhe bei Dresden als Schüler anvertraut. Ostern 1820 setzte er<br />

seine Ausbildung im Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin fort, das er bis<br />

Michaelis des Jahres 1821 besuchte. Danach war er für kurze Zeit Lehrling im<br />

Verlagsgeschäft. Zu Ostern 1823 wurde er in das renommierte Gymnasium zu<br />

Altenburg aufgenommen. In den folgenden Jahren durchlief er die Selekta und<br />

konnte Ostern 1825 das Studium an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> beginnen.<br />

Auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft vollzogen sich damals große Wandlungsprozesse.<br />

1807 erschien in Friedrich von Schlegels Über die Sprache und<br />

Weisheit der Inder zum ersten Mal der Ausdruck „vergleichende Grammatik“.<br />

Bereits 1816 hatte Franz Bopp das erste Werk der modernen Sprachwissenschaft<br />

verfasst: Das Konjugationssystem der Sanskritsprache im Vergleich mit jenem<br />

der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache, und 1818<br />

wurde August Wilhelm v. Schlegel an der neu gegründeten <strong>Universität</strong> Bonn als<br />

Professor für Sanskrit berufen.<br />

Die schnell wachsende Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiet der<br />

Sanskritgrammatik, der vergleichenden Sprachwissenschaft sowie der indischen<br />

Kultur (Bopp übersetzte auch die berühmte Erzählung von Nala und Damayantī<br />

aus dem Epos Mahābhārata, mit der Generationen von Sanskritisten bis zur Gegenwart<br />

ihre Sanskrit-Lektüre beginnen) hatte den deutschen Philologenkreisen<br />

außerordentlich wichtige Anregungen gegeben und ihren Blick auf dieses noch<br />

völlig neue Arbeitsgebiet gerichtet. Auch Hermann Brockhaus fühlte sich zu ihm<br />

hingezogen. Da aber in <strong>Leipzig</strong> noch kein Sanskritstudium angeboten wurde,<br />

wandte er sich zunächst den semitischen Sprachen zu, insbesondere dem Hebräischen.<br />

Zu Ostern 1826 setzte er in Göttingen das Studium der orientalischen<br />

Sprachen fort. Um tiefer in das Sanskrit und ins Persische eindringen zu können,<br />

ging er im Herbst 1827 nach Bonn, wo August Wilhelm v. Schlegel und Christian<br />

Lassen wirkten. Die deutschen <strong>Universität</strong>en hatten damals im Bereich der<br />

Indologie jedoch vergleichsweise wenig anzubieten. Zu Michaelis des Jahres<br />

1828 verließ Brockhaus Bonn für eine mehrjährige Studienreise ins Ausland,<br />

die ihn zuerst nach Kopenhagen (1829 – 1830), dann nach Paris, London und<br />

Oxford führte. In Paris arbeitete er eng mit dem brillanten Eugène Burnouf<br />

zusammen, der ihn in die Zendsprache (die heilige Sprache der zoroastrischen<br />

16


Schriften) einführte. In Oxford entwickelte sich eine enge Beziehung zum Pionier<br />

der europäischen Sanskrit-Studien Horace Hayman Wilson, dem wir das<br />

erste Sanskrit-Englisch-Wörterbuch verdanken. Als Brockhaus 1835 in seine<br />

Heimat zurückkehrte, war ihm kein deutscher Gelehrter an Kenntnissen in der<br />

Sanskrit-Philologie überlegen. Schon damals meinte er, „die wahre Bedeutung<br />

und Würde“ der orientalischen Studien zu erkennen, nämlich: „dem erstarrenden<br />

Morgenlande neues Leben einzuhauchen“ (so sein Schüler Hermann Camillo<br />

Kellner). Damit der Orient nicht bloß eine schale Kopie des Okzidents werde,<br />

müsse er aus seinen Quellen erforscht werden.<br />

Nach einem kurzen Aufenthalt in <strong>Leipzig</strong> ließ sich Brockhaus als Privatgelehrter<br />

in Dresden nieder. Schon in London hatte er die Arbeit an seinem Lebenswerk<br />

begonnen, einer Ausgabe der umfangreichen, 45 000 Strophen umfassenden altindischen<br />

Märchensammlung Kathāsaritsāgra („Der Ozean der Erzählungsströme“)<br />

des kaschmirischen Autors Somadeva (11. Jh.), eine der größten Sammlungen<br />

indischer Fabeln, Märchen und Erzählungen in Gedichtform. Brockhaus’<br />

erste Veröffentlichung, Gründung der Stadt Pataliputra und Geschichte der<br />

Upakosa, beinhaltet die Sanskrit-Erstausgabe und deutsche Übersetzung einer<br />

Episode dieses Werkes. Sie brachte ihm 1838 die philosophische Doktorwürde<br />

der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> ein. Die vollständige Ausgabe erfolgte in drei Bänden in<br />

den Jahren 1832 (mit Übersetzung), 1862 und 1866. Gleichzeitig mit seinen Somadeva-Studien<br />

bereitete er die Erstausgabe des originellen allegorisch-philosophischen<br />

Sanskritdramas Prabodhacandrodaya („Mondaufgang der Erkenntnis“)<br />

vor, in welcher personifizierte Begriffe wie die Weisheit, das Ego, die Scheinheiligkeit<br />

usw. als Handelnde auftreten (etwa wie im Everyman von Anonymus).<br />

Im Frühjahr 1836 heiratete Brockhaus Ottilie Wagner (1811 – 1833), die jüngste<br />

der fünf Schwestern Richard Wagners. Zwei Söhne und zwei Töchter gingen aus<br />

dieser Ehe hervor. Der älteste Sohn, Friedrich Clemens, wurde <strong>Universität</strong>slehrer<br />

und Pastor an der Johanniskirche in <strong>Leipzig</strong>, der jüngere wirkte als Professor<br />

der Rechtswissenschaft an der <strong>Universität</strong> Jena.<br />

Im Jahr 1839 wurde Brockhaus als außerordentlicher Professor der orientalischen<br />

Sprachen an die <strong>Universität</strong> Jena berufen. Ab Wintersemester 1840/41<br />

unterrichtete er dort Hebräisch und Sanskrit; er selbst studierte Gälisch und Finnisch.<br />

1841 erhielt er den Ruf an die <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong>, wo er 35 Jahre lang, bis<br />

zu seinem Tode, lehrte. Brockhaus war ein beliebter Lehrer. Einer seiner ersten<br />

Schüler war Friedrich Max Müller; ein anderer war Ernst Windisch, der sein<br />

Nachfolger wurde.<br />

17


Zusammen mit seinen Hallenser Kollegen Pott und Rödiger organisierte Brockhaus<br />

1844 das erste gemeinsame Auftreten der deutschen Orientalisten. 1845<br />

folgte die Gründung der „Deutschen Morgenländischen Gesellschaft“. Von 1846<br />

an und bis in die heutige Zeit erscheint das Organ dieser Gesellschaft mit dem<br />

Titel Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft.<br />

Neben Drama und Märchen, die sein besonderes Arbeitsgebiet ausmachten,<br />

hatte Brockhaus auch ein starkes Interesse für die indischen einheimischen<br />

Wissenschaften wie Mathematik, Grammatik, Philosophie und Rechtswissenschaft.<br />

Zwei seiner kleineren Arbeiten beziehen sich auf die indische Arithmetik<br />

und eine auf die Metrik: „Zur Geschichte des indischen Ziffersystems“ (1842),<br />

„Über die Algebra des Bhāskara“ (1852) und „Über die Chandomañjarī (der<br />

Blüthenzweig der Metra) von Gangādāsa“. ˙<br />

In der Abhandlung über die Algebra<br />

Bhāskaras bemerkte er: „Die Zeit des Dilettantismus, der sich ausschließlich an<br />

indischer Poesie ergötzte, ist vorbei, die strenge Wissenschaft macht ihr Recht<br />

geltend …“.<br />

Brockhaus war darüber hinaus im Bereich des Neupersischen tätig. 1845 erschien<br />

seine Übersetzung „Die sieben weisen Meister von Nachschebi“. Gleichzeitig<br />

trieb er seine Zendstudien weiter, als deren Ergebnis er Venidad Sad. Die<br />

heiligen Schriften Zoroasters, Yaçna, Vispered und Venidad. Nach den lithographischen<br />

Ausgaben von Paris und Bombay mit Index und Glossar (<strong>Leipzig</strong> 1850)<br />

publizierte. Auch über die Grammatik der hindustanischen, chinesischen und<br />

armenischen Sprachen hielt er regelmäßig Vorträge. Im Jahr 1846 wurde Brockhaus<br />

zu einem der ersten Mitglieder der Königlich-Sächsischen Gesellschaft der<br />

Wissenschaften gewählt. 1848 wurde er schließlich zum ordentlichen Professor<br />

der „ostasiatischen Sprachen“ ernannt.<br />

1850, mit 44 Jahren, fing Brockhaus an, Türkisch zu erlernen, um den Kommentar<br />

von Sudi zu den Dichtungen des persischen Mystikers Hafiz lesen zu<br />

können. Drei Bände der kritischen Ausgabe der Lieder von Hafiz mit dem<br />

türkischen Kommentar Sudis erschienen in den Jahren 1854 – 1860. 1853 übernahm<br />

Brockhaus die Redaktion der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen<br />

Gesellschaft, die er bis 1864 führte, 1856 auch die Redaktion der Allgemeinen<br />

Enzyklopädie von Ersch und Gruber. Ab 1860 war er Mitglied der Münchner<br />

Akademie, ab 1868 auch der Berliner Akademie. 1872 wurde er zum Rektor der<br />

<strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> gewählt, und 1873 folgte seine Ernennung zum Geheimen<br />

Hofrat.<br />

18


Hauptpublikationen:<br />

Dissertation: Gründung der Stadt Pataliputra und Geschichte der Upakosa.<br />

Fragmente aus dem Katha Sarit Sagara des Somadeva. Sanskrit und Deutsch.<br />

16 + 16 S. <strong>Leipzig</strong>. 1835.<br />

Ausgabe und lateinische Übersetzung: Prabodha Chandrodaya Krishna Misri<br />

Comoedia edidit scholiisque instruxit. 8 + 118 + 136 S. <strong>Leipzig</strong>. 1835 – 1845.<br />

Ausgabe und Übersetzung: Katha Sarit Sagara. Die Märchensammlung des Sri<br />

Somadeva Bhatta aus Kaschmir. Erstes bis fünftes Buch. 469 + 157 S. <strong>Leipzig</strong><br />

1839 (Übersetzung auch separat, <strong>Leipzig</strong> 1843); Bücher 6 – 18 in AKM 2 & 4,<br />

1862 – 1866 ohne Übersetzung.<br />

Über den Druck sanskritischer Werke mit lateinischen Buchstaben. 92 S. <strong>Leipzig</strong>.<br />

1841.<br />

Ausgabe: Vendidad Sade. 1850; Lieder des Hafis. 1 – 3. 1854 – 1860.<br />

Quellen:<br />

Karttunen, Klaus, Who was Who in Indology. Unveröffenliches Manuskript.<br />

Kellner, Hermann Camillo (1903), „Brockhaus, Hermann“ in Allgemeine Deutsche<br />

Biographie. Siebenundvierzigster Band. Nachträge bis 1899.<br />

Stache-Rosen, Valentina (1990), German Indologists. Biographies of Scholars<br />

in Indian Studies Writing in German. New Delhi.<br />

Windisch, Ernst (1917), Geschichte der Sanskrit-Philologie und indischen<br />

Altertumskunde. Strassburg (S. 211 – 214).<br />

Eliahu Franco<br />

19


Eva Lips<br />

Zum 100. Geburtstag am 6. Februar <strong>2006</strong><br />

Eva Lips geb. Wiegandt, Dr. phil. habil., Professorin für Ethnologie und<br />

Vergleichende Rechtssoziologie (06.02.1906 – 24.06.1988), war Direktorin<br />

des Julius-Lips-Instituts für Ethnologie und Vergleichende Rechtsoziologie<br />

von 1951 bis 1969. Gestützt auf Feldforschungen gemeinsam mit<br />

ihrem Mann Julius Lips in Nordamerika setzte sich Eva Lips nach der Rückkehr<br />

aus der Emigration vorrangig für die Vermittlung eines realistischeren<br />

Indianerbildes ein.<br />

21


Eva Lips geborene Wiegandt wurde am 06.02.1906 als zweites Kind in die Familie<br />

des Verlagsbuchhändlers Dr. h. c. Ernst Wiegandt geboren. Der Vater, einer<br />

der bekanntesten Verleger in der Buch-, Musik- und <strong>Universität</strong>sstadt <strong>Leipzig</strong>,<br />

führte den bereits von seinem Großvater gegründeten Verlag in der Tradition des<br />

bürgerlichen tätigen Liberalismus. Gäste im Hause waren regelmäßig Autoren,<br />

gelegentlich Künstler, seltener auch bekannte Juristen von der <strong>Universität</strong> oder<br />

dem benachbarten Reichsgericht.<br />

Als Schülerin las sie Manuskripte, die ihrem Vater eingereicht wurden, lernte<br />

Korrektur lesen und übte sich im Schreiben eigener Texte. Als erster Titel ihres<br />

Schrifttumsverzeichnisses findet sich, gedruckt am 07.01.1923 im <strong>Leipzig</strong>er Tageblatt,<br />

„Die Seele der Kakteen“, Pflanzen, die sie ihr ganzes Leben lang pflegte,<br />

zog und kaufte. Sie wurden in großer Zahl bis zum hohen Alter zum Schmuck<br />

ihres häuslichen Arbeitszimmers.<br />

1923 schloss sie die höhere Mädchenschule mit der Obersekundarreife ab. Dort<br />

standen Deutsch/Literatur, die musischen Fächer und moderne Fremdsprachen<br />

auf dem Stundenplan. Doch gab es auch „Realienkunde“, zu deren Bestand Zoologie<br />

und nicht zuletzt Botanik gehörten. Von großer Bedeutung wurde später für<br />

sie der Unterricht in Französisch, sie gehörte noch zu einer Generation, in der,<br />

zumindest in den Geisteswissenschaften und der Belletristik, Französisch die<br />

erste Fremdsprache war. Am 15. September 1924 heiratete sie Julius Lips, der<br />

in <strong>Leipzig</strong> Psychologie bei Wilhelm Wundt, Völkerkunde bei Karl Weule und<br />

Rechtswissenschaft u. a. bei Erwin Jacobi studiert hatte. Bei den beiden Erstgenannten<br />

war er zeitweilig Famulus, promovierte 1919 im Fach Psychologie<br />

und 1925 zum Doktor beider Rechte mit einer Arbeit über Hobbes. Es war ein<br />

wissenschaftlicher Einstieg in die Rechtswissenschaft und Soziologie, der auch<br />

für Eva Lips von Bedeutung werden sollte.<br />

Das Paar ließ sich für kurze Zeit in Frankfurt am Main nieder, was beiden die unvergessene<br />

Bekanntschaft von Leo Frobenius einbrachte. Sie siedelten bald nach<br />

Köln über, wo Julius Lips 1926 am Rautenstrauch-Joest-Museum – bei dessen<br />

Direktor Fritz Gräbner er sich bald danach habilitierte – eine Anstellung erhielt.<br />

Er bearbeitete Sammlungen, so zum Beispiel über die Fallensysteme der Naturvölker,<br />

gestaltete Ausstellungen über Masken, vermittelte Wissen über Theater<br />

und szenische Darstellungen in außereuropäischen Kulturen und stellte ein<br />

umfangreiches Material darüber zusammen, wie die weißen Europäer seit dem<br />

17. Jahrhundert mit den Augen der „Farbigen“ gesehen werden. Eva Lips – das<br />

Paar blieb kinderlos – wurde jetzt zur Mitarbeiterin, die fasziniert wurde von der<br />

22


Besonderheit und Außergewöhnlichkeit fremder Kulturen. Die Beschäftigung<br />

damit wurde wesentlicher Teil ihres ganzen Lebens.<br />

1930 wurde Julius Lips in Köln zum Direktor des Rautenstrauch-Joest-Museums<br />

und außerordentlichen Professor für Völkerkunde und Soziologie ernannt.<br />

1933 wurde Julius Lips entlassen. Seit drei Jahren war er Mitglied der SPD und<br />

Jahre vorher aktives Mitglied linksgerichteter studentischer Initiativen gewesen.<br />

Er ging im Februar 1934 nach Frankreich. Seine Frau verfolgte das politische<br />

Geschehen aus der Perspektive ihres <strong>Leipzig</strong>er Elternhauses sowie der Stadt<br />

Köln und folgte ihm bald nach.<br />

Im Mai des gleichen Jahres kam das Schiff mit dem Ehepaar in New York an.<br />

Initiativen französischer Freunde und eigene Bemühungen führten mit der Unterstützung<br />

von Franz Boas zu Lehraufträgen an der Columbia University und<br />

zeitweiliger Anstellung an der New School of Social Research. Bereits 1935 erfolgte<br />

beider erste Feldforschung bei den Montagnais-Naskapi im Süden Labradors.<br />

Eva Lips lernte zum ersten Mal eine nordamerikanische indianische Kultur<br />

kennen, und fortan wurden diese und andere Kulturen eines ihrer wesentlichen<br />

Arbeitsgebiete.<br />

Eine erste Dokumentation in Form von 700 Diapositiven über die Naskapi zeigt<br />

die Art ihres Herangehens. Sie war seitdem auf keiner Reise ohne ihre Leica<br />

unterwegs. Bei den Naskapi fassten Julius und Eva Lips eine große Zuneigung<br />

zu den Bären, „denn bei ihnen ist jeder ein Häuptling, nicht wie bei den anderen<br />

Tieren“. Die längste Feldforschung 1947, die beide zu den Ojibwa-Indianern in<br />

Minnesota führte, wurde die folgenreichste für ihr weiteres Leben.<br />

Eine völlig neue Sphäre erschloss sich ihr, als Julius Lips 1937 – 1939 an der<br />

Howard-University, „der größten Negeruniversität der Welt“, eine Abteilung<br />

für Anthropology übernahm. In der Emigration verfasste Julius Lips „The Origin<br />

of Things – Der Ursprung der Dinge“ – seinen populärwissenschaftlichen<br />

Welterfolg. Das Werk erlebte in zehn Jahren wenigstens zehn Übersetzungen, in<br />

der Erinnerung war ihre Mitarbeit unter anderem als Zeichnerin sehr vieler Gegenstände<br />

immer lebendig. Anknüpfend an die Kölner Museumszeit floss diese<br />

Arbeit in ihre spätere Lehrtätigkeit ein.<br />

In den ersten Jahren der Emigration erwarben Julius und Eva Lips die amerikanische<br />

Staatsbürgerschaft. Er nahm teil an der Tätigkeit von Emigrantenorganisationen<br />

und war Mitbegründer des Council for a Democratic Germany. In diesem<br />

23


Umfeld entwickelte Eva Lips ein ganz eigenständiges Profil. 1938 erschien „Savage<br />

Symphony, A Personal Record of the Third Reich“. Die englische Ausgabe<br />

hat den Titel „What Hitler Did to Us“. 1942 folgte „Rebirth in Liberty“. Wird<br />

in dem ersten Buch das Geschehen nach Hitlers Machtergreifung in der Kölner<br />

Umgebung beschrieben, wird in dem zweiten das neue Leben in Amerika geschildert.<br />

Beide Bücher werden nie in die deutsche Sprache übertragen. Es sind<br />

Schilderungen ganz für den US-amerikanischen Leser in der Ära Roosevelt und<br />

verdeutlichen im Nachhinein die Problematik einer spezifischen Emigrantenliteratur.<br />

Eva Lips hielt auch Vorträge über das Hitlerregime vor zivilen Hörern und<br />

US-amerikanischen Soldaten.<br />

Die Emigration führte unter anderem zu Bekanntschaften mit Heinrich und Thomas<br />

Mann, deren unterschiedliche Persönlichkeiten prononciert wahrgenommen<br />

wurden. Eva Lips wechselte Briefe mit ihnen bis zu deren Todesjahren und hielt<br />

später in <strong>Leipzig</strong> Vorträge, gespeist aus persönlichen Erinnerungen an beide.<br />

1948 kehrte Eva Lips an der Seite ihres Ehemannes, der die Berufung auf den<br />

Lehrstuhl für Ethnologie erhielt, nach <strong>Leipzig</strong> zurück. Ihr Vater war während des<br />

Krieges gestorben, die Mutter wurde Opfer eines Bombenangriffes, der Bruder<br />

fiel an der Front.<br />

Im Jahre 1949 wurde Julius Lips zum Rektor der <strong>Universität</strong> gewählt und trat<br />

im Oktober sein Amt an. Am 21. Januar 1950 erlag er plötzlich und unerwartet<br />

einem schweren Leiden.<br />

Eva Lips suchte und fand Unterstützung bei der Leitung der <strong>Universität</strong> für die<br />

Fortsetzung seiner und ihrer Arbeit. Nach Unterbreitung der Unterlagen über ihren<br />

bisherigen Bildungsweg genehmigte die zuständige Fakultät die Promotion,<br />

und sie wurde mit der Geschäftsführung des Ethnologischen Instituts betraut,<br />

dessen Leitung für kurze Zeit der in Jena lehrende Ferdinand Hestermann wahrnahm.<br />

Eva Lips promovierte am 3. März 1951 mit der Dissertation „Wanderungen<br />

und Wirtschaftsformen der Ojibwa-Indianer“, die in der Wissenschaftlichen<br />

Zeitschrift der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> veröffentlicht wurde. Im Mai des gleichen<br />

Jahres wurde sie zum kommissarischen Direktor des Instituts ernannt. Ihre Lehrtätigkeit<br />

begann noch vor der Promotion mit der Vorlesung zu Wirtschaft und<br />

Recht, die sie von Julius Lips übernahm.<br />

Sehr bald wurde es notwendig, außer ihren jungen Assistenten ausgewiesene<br />

Wissenschaftler in die Ausbildung einzubeziehen. So hielten Hans Damm (Ozeanien)<br />

und Paul Platen (Geographie/Länderkunde) einige Male Vorlesungszy-<br />

24


klen, die jeweils drei Semester umfassten. Hans Grimm vertrat die physische<br />

Anthropologie. Sie selbst hielt die Vorlesungen Wirtschaft und Recht; Magie,<br />

Mythos und Religion der Naturvölker; Ethnologie der Indianer Nordamerikas<br />

und Ethnologie der Indianer Südamerikas außer der Andenregion. Es waren<br />

Überblicke, die in einigen Gebieten Vertiefungen erfuhren. Über mehrere<br />

Semester lief ein Rechtsseminar, in dem Studierende eine große Anzahl von<br />

Rechtsfällen aus der Literatur über einige nordamerikanische Indianerstämme<br />

und die Ureinwohner Australiens sammelten. Doch kam es zu keiner Auswertung<br />

und Bearbeitung. Die Einleitung in die Wissenschaft und die Geschichte<br />

der Völkerkunde, die über zwei Semester hinweg lief, enthielt viele Angaben<br />

zur Entdeckungsgeschichte, einiges wurde zur Ethnologie des 19. Jahrhunderts<br />

vermittelt. Theoretische Auffassungen und Ansichten von Ethnologen aus den<br />

ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden nur ansatzweise oder nicht vorgetragen.<br />

1954 erfolgte die Habilitation, Eva Lips erhielt 1955 die Dozentur und wurde<br />

Direktorin des Instituts. Ihre 1956 erschienene Habilitationsschrift hat den Titel<br />

„Die Reisernte der Ojibwa-Indianer. Wirtschaft und Recht eines Erntevolkes“.<br />

Sie unterbreitete damit die Ergebnisse der Feldforschung von 1947, die Julius<br />

Lips bearbeiten und publizieren wollte. Die Arbeit sollte ein Beitrag zur Erntevölkertheorie<br />

sein, deren Begründung Julius Lips als wesentliches Anliegen gesehen<br />

hatte. Das Stadium der Erntevölker folgt historisch dem der Sammler und<br />

Jäger. Die Sesshaftigkeit der Erntevölker ist die Voraussetzung für den Anbau<br />

von Pflanzen. In Anlehnung und Präzisierung der von Julius Lips gefundenen<br />

Formulierung definiert Eva Lips: „Ihre Nahrungsbeschaffung beruht auf dem<br />

systematischen Einernten einer oder weniger Wildpflanzen, die saisongebunden<br />

vorkommen. Durch die Menge ihres Vorhandenseins regen sie zur Konservierung<br />

an und führen zu einer relativen Sesshaftigkeit ihrer Nutzer.“ Neu bei ihr<br />

ist der Gedanke des tierischen Erntegutes, der aber nicht viel weiter entwickelt<br />

wurde.<br />

Drei Jahre nach der Habilitation erhielt Eva Lips die Professur und 1960 die Professur<br />

mit vollem Lehrauftrag. Der Lehrstuhl wurde ihr zu Beginn der 60er Jahre<br />

verweigert. Sie erhielt ihn erst 1966 vor der Emeritierung.<br />

In <strong>Leipzig</strong> war Eva Lips seit ihrer Promotion eine stadtbekannte Persönlichkeit.<br />

Dazu trugen eigene Vorträge, aber vor allem eine Vortragsreihe bei, für die sie<br />

in jedem Winterhalbjahr interessante Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland<br />

einlud. Der Hörsaal war fast immer überfüllt.<br />

25


Ein wesentliches Anliegen, das sie von Beginn an verfolgte, waren der Erhalt<br />

und Ausbau der nunmehr als Julius Lips-Institut für Ethnologie und Vergleichende<br />

Rechtssoziologie benannten Einrichtung für die Ausbildung im Hauptfach.<br />

Ein solches Unterfangen war keineswegs selbstverständlich, gab es doch<br />

an der Humboldt-<strong>Universität</strong> eine entsprechende Neugründung, und in Jena war<br />

über die Fortführung der Ethnologie noch nicht entschieden. Ende der 50er Jahre<br />

und zu Beginn der 60er Jahre stellte sie sich vehement dagegen, am Julius Lips-<br />

Institut auch die Deutsche Volkskunde unter der gemeinsamen Bezeichnung<br />

Ethnologie oder Ethnographie zu etablieren – was auch die gemeinsame oder<br />

alternierende Leitung durch einen Professor der Volkskunde bedeutet hätte.<br />

Mit der Entkolonialisierung und Bildung neuer Staaten gewannen auch „farbige“<br />

ethnische Minderheiten, die keinen eigenen Staat hatten, an kultureller, sozialer<br />

und politischer Bedeutung. Eva Lips fand und suchte dazu kaum einen Zugang.<br />

Nach eigenem Zeugnis sah Eva Lips seit der zweiten Hälfte der 50er Jahre ihre<br />

Aufgabe darin, den Menschen ein realistischeres Indianerbild zu vermitteln. Das<br />

von Karl May gezeichnete sollte gelöscht werden. Alle ihre Bücher über die Indianer,<br />

auch die in zweiter Auflage erschienenen, fanden schnellen Absatz. Das<br />

reale Leben in einer US-amerikanischen Indianerreservation – die ethnische,<br />

soziale und kulturelle Problematik – war aber nicht Gegenstand ihrer Darstellungen.<br />

Mit der Realisierung der dritten Hochschulreform zu Beginn der 70er Jahre fühlte<br />

sich Eva Lips noch einmal außerordentlich gefordert. In enger Zusammenarbeit<br />

mit Dietrich Treide gelang es ihr, die Bibliothek, das Dia-Archiv und andere<br />

Materialien des Julius Lips-Instituts vor der Auflösung und Liquidierung zu bewahren.<br />

Diese Bestände gehören heute zum Fundus des Instituts für Ethnologie<br />

der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong>. Mit ihrem Werk über Julius Lips „Zwischen Lehrstuhl<br />

und Indianerzelt“ (1965 und 1986) wollte sie, wie es in den persönlichen Widmungen<br />

heißt, erreichen, dass er nie vergessen wird.<br />

Die Darstellung des Wirkens von Julius Lips seit dem Beginn der 30er Jahre<br />

durch Eva Lips war vor Überhöhung seiner Persönlichkeit nicht frei und verband<br />

sich durchaus mit eigener Selbstdarstellung. Dies führte früher und in der<br />

jüngeren Vergangenheit zu kritischen Äußerungen, die aber beider Leben und<br />

Lebenswerk nicht beeinträchtigen. Eva Lips wurde an der Seite ihres Mannes auf<br />

dem Südfriedhof im „Professoreneck“ bestattet. Beider Grabstein wird von zwei<br />

Bärenköpfen im Profil eingerahmt.<br />

Wolfgang Liedtke<br />

26


Hans Otto de Boor<br />

Zum 50. Todestag am 10. Februar <strong>2006</strong><br />

Der Rechtswissenschaftler Hans Otto de Boor, der von 1935 bis 1950<br />

an der <strong>Leipzig</strong>er Juristenfakultät wirkte, ist als einer der bedeutendsten<br />

Zivilprozess- und Urheberrechtler des 20. Jahrhunderts anzusehen. Seine<br />

Bedeutung wäre sicherlich noch größer, wenn er nicht wertvolle Schaffensjahre<br />

unter politischen Systemen hätte zubringen müssen, die seinen<br />

liberalen Vorstellungen diametral gegenüberstanden.<br />

27


Hans Otto de Boor kam am 9. September 1886 in Schleswig zur Welt. Seine<br />

Mutter entstammte der Familie Mommsen. In seiner Geburtsstadt erfuhr er auch<br />

die übliche Schulausbildung. 1904 verließ er das Domgymnasium mit dem Reifezeugnis.<br />

De Boor studierte zunächst mehrere Semester Geschichte und Kunstgeschichte,<br />

bevor er sich 1907 dem Studium der Rechtswissenschaft zuwandte. Die erste<br />

Staatsprüfung legte er 1910 in Berlin ab. Im selben Jahr wurde er in Heidelberg<br />

promoviert. Nach kurzem Kriegsdienst legte er 1915 das zweite Staatsexamen<br />

ab.<br />

Im Anschluss daran trat de Boor in den Justizdienst ein, habilitierte sich aber<br />

bereits im Wintersemester 1916/17 in Greifswald mit einer urheberrechtlichen<br />

Arbeit. Im selben Semester nahm er als Privatdozent seine Vorlesungstätigkeit<br />

auf. Parallel dazu las er auch in Göttingen.<br />

Zum Wintersemester 1921/22 wurde de Boor nach Frankfurt am Main auf einen<br />

Lehrstuhl für Römisches und Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Urheberrecht<br />

berufen. In Frankfurt widmete er sich zunächst schwerpunktmäßig dem<br />

Zivilprozessrecht. Im Vorlesungsbetrieb vertrat er aber auch die historischen<br />

Fächer.<br />

1933 war de Boor der letzte gewählte Dekan der Frankfurter Fakultät. Er setzte<br />

sich nachhaltig für die verfolgten Kollegen ein. So gewährte er beispielsweise<br />

dem auf Betreiben von Franz Beyerle aus der Schutzhaft entlassenen Kurt<br />

Rheindorfer in seinem Feriendomizil im Schwarzwald Unterkunft. 1934 wurde<br />

de Boor – obwohl er in einigen NS-Untergliederungen Mitglied war – mit anderen<br />

nicht regimekonformen Hochschullehrern vorübergehend von Frankfurt<br />

nach Marburg versetzt.<br />

1935 erhielt de Boor einen Ruf an die Juristenfakultät der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong>,<br />

den er zum 1. Oktober annahm. Seine Lehrstuhlbeschreibung enthielt neben dem<br />

Bürgerlichen Recht das Zivilprozessrecht, die Rechtsvergleichung und das Urheberrecht.<br />

Den Schwerpunkt seiner Vorlesungstätigkeit bildeten das Urheber-<br />

und das Zivilprozessrecht. Von seinen Studenten wurde er – seines vornehmzurückhaltenden<br />

Vortragsstils und seiner gepflegten Erscheinung wegen – nur<br />

der „müde Lord“ genannt. Sein <strong>Leipzig</strong>er und Göttinger Fakultätskollege Karl<br />

Michaelis bestätigte, dass sein Vortrag „nichts Hinreißendes“ hatte.<br />

28


Schriftstellerisch wandte er sich in der <strong>Leipzig</strong>er Zeit insbesondere dem Zivilprozessrecht<br />

zu, ohne das Urheberrecht zu vernachlässigen. Zeitweilig übte er das<br />

Amt des Direktors des Juristischen Seminars aus.<br />

Da de Boor nie der NSDAP beigetreten war, konnte er auch nach 1945 in der<br />

Juristenfakultät lehren. Da die Fakultät personell schwach besetzt war, widmete<br />

er sich verstärkt dem Bürgerlichen Recht. In der Wiederaufbauphase der Fakultät<br />

übte er von 1945 bis 1947 das Amt des Dekans und von 1947 bis 1950 das des<br />

Prodekans aus. Als konservativ bürgerlicher Professor unterstützte er tatkräftig<br />

den ersten Nachkriegsrektor Bernhard Schweitzer als sein Hauptberater. Im<br />

Senat zählte er zu den entschiedenen Gegnern der Einrichtung einer Gesellschaftswissenschaftlichen<br />

Fakultät, deren Gründung er für politisch, nicht aber<br />

wissenschaftlich bedingt ansah. 1947 beteiligte er sich an den Marburger Hochschulgesprächen.<br />

Schon zu dieser Zeit äußerte er sich sehr hoffnungslos über<br />

die <strong>Leipzig</strong>er Verhältnisse. Da sich in ihm immer stärker das Bewusstsein der<br />

politischen Ausweglosigkeit festsetzte, verließ er 1950 <strong>Leipzig</strong>.<br />

Schon im Wintersemester 1950/51 nahm er seine Vorlesungstätigkeit in Göttingen<br />

auf, das in dieser Zeit vielen ehemaligen <strong>Leipzig</strong>er Professoren eine Zuflucht bot.<br />

Im April 1955 wurde er emeritiert, vertrat aber seinen Lehrstuhl bis zu seinem<br />

Tode. Er starb nach kurzer schwerer Krankheit am 10. Februar 1956. In Göttingen<br />

trat wieder die Beschäftigung mit dem Urheberrecht in den Vordergrund.<br />

Seit 1951 gehörte er dem Urheberrechtsausschuss des Bundesjustizministeriums<br />

an, in dem er an dem Referentenentwurf von 1954 mitwirkte, den er wesentlich<br />

mitgestaltete und der noch 1965 das neue Urheberrechtsgesetz maßgeblich beeinflusste.<br />

De Boors wissenschaftliche Bedeutung liegt auf den Gebieten des Zivilprozessrechts<br />

und mehr noch des Urheberrechts. Im Urheberrecht fand er weit über die<br />

Grenzen Deutschlands hinaus Anerkennung.<br />

Diesem Rechtsgebiet entnahm er schon das Thema seiner Habilitationsschrift<br />

„Urheber- und Verlagsrecht“ (1917). Der erste Teil der Arbeit untersucht die<br />

Frage nach dem Charakter des Urheberrechts: Vermögensrecht oder Persönlichkeitsrecht?<br />

De Boor kommt mit der vordringenden Meinung seiner Zeit zu dem<br />

Ergebnis, dass es sich allein um ein Vermögensrecht handele. Das gelte auch<br />

für das Verlagsrecht. Der selben Problematik nahm sich de Boor 1932 nochmals<br />

an, als er den Entwurf des Reichsjustizministeriums für ein Urhebergesetz<br />

seiner Kritik unterzog. Mit dem Entwurf erkannte er nunmehr allerdings das<br />

Urheberpersönlichkeitsrecht an. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang noch<br />

29


seine Lettres d‘Allemagne, die er in den Jahren 1929 bis 1955 für die Schweizer<br />

Zeitschrift „Le droit d‘auteur“ verfasste, um über die Entwicklung des Urheberrechts<br />

in Deutschland zu berichten.<br />

Auch mit seinen prozessrechtlichen Veröffentlichungen griff de Boor zunächst<br />

in die Reformdebatte ein. 1924 schrieb er einen „Beitrag zur Lehre von der<br />

Schriftlichkeit im neuen Zivilprozeß“, dessen Haupttitel „Die Entscheidung nach<br />

Lage der Akten“ lautete. 1938 äußerte er sich zur „Reform des Zivilprozesses.<br />

Vom Sinn staatlicher und ständischer Gerichtsbarkeit.“ 1939 behandelte de Boor<br />

„Die Auflockerung des Zivilprozesses. Ein Beitrag zur Prozessreform“. Auch<br />

seine zivilprozessualen Aufsätze galten überwiegend der Prozessrechtsreform.<br />

Abermals ein Jahr später veröffentlichte er sein erstes Lehrbuch unter dem Titel<br />

„Rechtsstreit einschließlich Zwangsvollstreckung“. Das Werk erschien nach dem<br />

2. Weltkrieg unter einem anderen Titel (Zivilprozeßrecht, 1951) in 2. Auflage.<br />

Einige Aufsatztitel deuten eine Annäherung an das nationalsozialistische Rechtsdenken<br />

an: „Die Funktion des Zivilprozesses in der völkischen Rechtsordnung“<br />

und „Funktion des Zivilrechtes in der völkischen Rechtsordnung“ (beide 1938).<br />

Das bedeutet aber keinesfalls, dass de Boor nicht kritische Distanz gegenüber<br />

dem Nationalsozialismus gehalten hätte. Auch sein Lehrbuch zum Zivilprozess<br />

nimmt die Fachbezeichnung auf, die die Studienreform von 1935 mit sich gebracht<br />

hatte (Rechtsstreit einschließlich Zwangsvollstreckung). Dennoch versucht<br />

de Boor gerade hier, aber nicht nur hier, unter Anerkennung der politischen<br />

Gegebenheiten („Lebensordnung des Volkes“) möglichst viele liberale Verfahrensgrundsätze<br />

zu bewahren. Insbesondere verteidigt er energisch die richterliche<br />

Unabhängigkeit gegen das Führerprinzip: „Wenn auch die völlig gleichmäßige<br />

Anwendung“ des Rechts „ein unerreichbares Ziel ist, …, so dürfte doch die<br />

Rechtsprechung unabhängiger Gerichte die bestmögliche Annäherung an dieses<br />

Ziel schaffen. So gesehen ist also die sog. Unabhängigkeit der Gerichte, die ja<br />

zugleich strenge Bindung an die Rechtsordnung ist, das der Rechtspflege angemessene<br />

Mittel, dem Willen der politischen Führung Geltung zu verschaffen.“<br />

Bernd-Rüdiger Kern<br />

30


Karl Lamprecht<br />

Zum 150. Geburtstag am 25. Februar <strong>2006</strong><br />

Karl Lamprecht, der von 1891 bis zu seinem Tod 1915 in <strong>Leipzig</strong> lehrte,<br />

war einer der profiliertesten deutschen Kulturhistoriker und begründete mit<br />

seinem 1909 eröffneten Institut für Kultur- und Universalgeschichte eine auf<br />

Interdisziplinarität und internationale Kooperation setzende Tradition der<br />

Weltgeschichtsforschung in <strong>Leipzig</strong>. Als Rektor entwickelte er zahlreiche<br />

Initiativen zur Hochschulreform am Beginn des 20. Jahrhunderts.<br />

31


Die hochschulpolitischen Umstände, unter denen der 1856 in Jessen an der Elster<br />

geborene Pfarrerssohn Karl Lamprecht als Professor zurück in seine Studienstadt<br />

<strong>Leipzig</strong> kam, waren durchaus ungewöhnlich. Nach einer Dissertation in mittelalterlicher<br />

Geschichte 1878 in <strong>Leipzig</strong> hatte er sich der vergleichenden Sozial- und<br />

Wirtschaftsgeschichte im Grenzraum zwischen Frankreich und Deutschland zugewandt.<br />

Doch die erfolgreiche Habilitation 1883 in Bonn brachte ihm zunächst<br />

nicht den ersehnten Ruf auf einen Lehrstuhl, sodass er mit dem Angebot des<br />

Kölner Industriellen und Mäzenaten Gustav Mevissen vorlieb nehmen musste,<br />

sich für einige Jahre in die Geschichte der Rheinprovinz einzuarbeiten und eine<br />

Geschichte des deutschen Wirtschaftslebens im Mittelalter zu verfassen, deren<br />

erster Band 1885 erschien.<br />

Während er kaum Unterstützung bei seinen Kollegen fand, hatte die lenkende<br />

Hand der preußischen Kultusbehörde, Friedrich Althoff, den ehrgeizigen und mit<br />

reichlich Organisationstalent ausgestatteten Lamprecht fest für die Erneuerung<br />

der deutschen Hochschullandschaft eingeplant. Ihm verdankte Lamprecht 1889<br />

ein Extraordinariat mit festem Gehalt in Bonn und die reguläre Lehrtätigkeit in<br />

Kultur- und Wirtschaftsgeschichte. 1890 bot sich dem Ministerialdirektor eine<br />

Gelegenheit, Lamprecht nach Marburg zu lenken, aber bevor er noch den Lehrstuhl<br />

einnehmen konnte, folgte eine ebenfalls von Althoff empfohlene Berufung<br />

nach <strong>Leipzig</strong>.<br />

Lamprechts Dienstantritt erfolgte zu einem Zeitpunkt, da die <strong>Leipzig</strong>er Alma<br />

mater rasch wuchs, wenn auch nicht mehr so schnell wie in den 1870er Jahren,<br />

als selbst Berlin von ihr überflügelt wurde. Franz Eulenburg drückt in seiner<br />

Untersuchung der studentischen Nachfrage das Gefühl der Krise aus, nachdem<br />

der zweite Platz unter den deutschen <strong>Universität</strong>en eben an München verloren<br />

gegangen war: „Es [<strong>Leipzig</strong>] muß sich mit dem dritten Platze begnügen und<br />

nimmt nicht mehr mit dem Wachstum der Gesamtheit zu: <strong>Leipzig</strong> scheint in ein<br />

Stadium der Stagnation eingetreten.“ Gleichzeitig sprachen umfangreiche Neubauten<br />

und zahlreiche exzellente Berufungen für ein Vertrauen in die Zukunft,<br />

dem der neu bestallte Professor für mittlere und neuere Geschichte durch besondere<br />

Dynamik gerecht zu werden suchte.<br />

Rasch gelang es ihm durch nachhaltige Intervention beim Dresdener Ministerium,<br />

den Bücheretat des Historischen Seminars aufstocken zu lassen und den<br />

Ausbau der Räumlichkeiten zu erreichen. Auf weniger Gegenliebe bei seinen<br />

Kollegen traf dagegen das Bemühen, durch öffentliche und durchaus polemische<br />

Diskussionsveranstaltungen den Studenten die Attraktivität des Faches<br />

deutlich zu machen. Die enge Kooperation mit Vertretern anderer Disziplinen<br />

32


entfremdete Lamprecht seinen Kollegen bald noch mehr, die mit Sorge seinen<br />

Unternehmergeist und die methodologischen Streitigkeiten sahen, in die er sich<br />

nicht ohne Vergnügen stürzte.<br />

Etwa Mitte der 1890er Jahre hatte Lamprecht seinen Einfluss auf die strategische<br />

Ausrichtung des Historischen Seminars ausgedehnt, wozu der Erfolg des von<br />

ihm orchestrierten 2. Historikertages 1894 in der Messestadt nicht unerheblich<br />

beitrug. Eines der Ergebnisse dieses ersten veritablen Treffens der maßgeblichen<br />

Vertreter des Faches im deutschsprachigen Raum (mit Ausnahme der Berliner<br />

Geschichtswissenschaft, die sich vorläufig noch vornehm abseits hielt) war die<br />

Gründung einer koordinierenden Arbeitsgemeinschaft der landesgeschichtlichen<br />

Forschungsinstitute. Diese diente Lamprecht wiederum als Argument für den<br />

Ausbau eines solchen Institutes in Sachsen, das die bis dahin vor allem vereinsförmig<br />

organisierte Befassung mit der Landesgeschichte professionalisieren<br />

sollte. Mit königlicher Unterstützung und dem Einverständnis der Dresdener<br />

Archivverwalter schuf er 1896 die Historische Kommission der Sächsischen<br />

Akademie und machte sie rasch zu einem Ort weit ausgreifender Forschungs-<br />

und Editionsprojekte, von denen einige bis auf die heutige Zeit ihren Abschluss<br />

suchen.<br />

Doch er begnügte sich nicht mit einer außeruniversitären Forschungsstelle, sondern<br />

unternahm rasch die nächsten Schritte für die Verankerung in der <strong>Universität</strong><br />

selbst. Über die Zwischenstufe eines Historisch-Geographischen Seminars, in<br />

dessen Kartographierungsunternehmen Rudolf Kötzschke als Hilfsbibliothekar<br />

seine ersten Sporen verdiente und Zeit für die nötige Habilitation gewann, wurde<br />

das Seminar für sächsische Landesgeschichte ins Auge gefasst, das 1906 aus<br />

der Taufe gehoben werden konnte. Methodisch grundlegend für diese regionalgeschichtlichen<br />

Aktivitäten war Lamprechts Idee, durch die systematische<br />

Erfassung siedlungsgeschichtlicher Befunde (von der Anlage der Dörfer bis<br />

zur Verteilung der Eigennamen) und deren Darstellung in Karten ließen sich<br />

geschichtliche Regelmäßigkeiten ermitteln, die einer Verwissenschaftlichung<br />

der Aussagen als Basis dienen würden. Auch dies brachte ihn in heftige Auseinandersetzungen<br />

mit seinen Kollegen, unter denen vor allem der inzwischen nach<br />

<strong>Leipzig</strong> berufene Mediävist Gerhard Seeliger nicht zögerte, seine Einwände<br />

öffentlich zu machen.<br />

Damit zerfiel auch mehr und mehr die Grundlage für eine gemeinsame Politik<br />

bei der Herausgabe der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ und einer zugeordneten<br />

Buchreihe, mit der das <strong>Leipzig</strong>er Historische Seminar seine Stellung<br />

auf einem expandierenden Markt historischer Publikationen behaupten wollte,<br />

33


nachdem Lamprechts Versuch, die renommierte „Historische Zeitschrift“ zu<br />

übernehmen, am Einspruch Friedrich Meineckes bei der Verlegerfamilie gescheitert<br />

war.<br />

Spätestens seit der Jahrhundertwende war das Klima im Historischen Seminar<br />

selbst frostig geworden. Dies hatte neben minderen Ursachen vor Ort vor allem<br />

mit einer jahrelangen Kontroverse zu tun, die sich an Lamprechts Hauptwerk,<br />

der 12-bändigen „Deutschen Geschichte“, entzündete. Die einen meinten dabei,<br />

ein vernichtendes Urteil über die fachliche Integrität des Autors und seine methodischen<br />

Vorannahmen gefällt zu haben, für die anderen wurde Lamprecht<br />

zum schulebildenden Vorreiter einer neuen Art Geschichte zu schreiben, dessen<br />

Wirkungen international größer als in seinem Heimatland waren. Während die<br />

letzteren auf die Ansprüche verwiesen, die er seinem riesigen Manuskript (das<br />

im übrigen ein Bestseller wurde und bald trotz – oder wegen – seines Umfangs<br />

in vielen bildungsbürgerlichen Haushalten als Prunkstück im Wohnzimmer<br />

aufgereiht stand) zugrunde gelegt hatte, betonten die ersteren eine fehlerhafte<br />

Durchführung, mit der sich auch die überzogenen Ambitionen erledigt hätten. Im<br />

Kern ging es um die Frage, ob es die Vielgestaltigkeit des historischen Verlaufes<br />

ermöglichen würde, Regelhaftigkeiten zu erkennen, die schließlich einem Vergleich<br />

geschichtlicher Pfade zugrunde gelegt werden könnten. Dies hing unmittelbar<br />

mit der Frage zusammen, ob der Gegenstand der Geschichtswissenschaft<br />

allein die Betrachtung des Staates und der Politik im engeren Sinne sein sollte, wo<br />

die subjektive Intention und Handlungsweise der großen Akteure vorzugsweise<br />

Individuelles hervorbrachte, dem sich der Historiker in einfühlend-erzählender<br />

Weise zu nähern habe, oder ob kulturelle und soziale Phänomene sowie deren<br />

wirtschaftliche Verankerung in der Verfügung über Ressourcen und technologische<br />

Kenntnisse gleichfalls in den Kanon des Faches aufzunehmen seien. Hatte<br />

sich Lamprecht zunächst mit seinen siedlungsgeschichtlichen Analysen und mit<br />

der Untersuchung der wirtschaftlichen Verflechtungen vor allem auf die sozialen<br />

Strukturen konzentriert, so vollzog er mit der „Deutschen Geschichte“ einen<br />

Schwenk hin zu den kulturellen (oder „sozialpsychologischen“) Ausdrucksformen<br />

als zentralem Beobachtungsgegenstand, an dem er das Entwicklungsstadium<br />

einer Gesellschaft ablesen zu können glaubte. Dies hinderte seine Gegner,<br />

die reflexartig auf die Idee von Regelhaftigkeiten mit dem exkommunizierenden<br />

Vorwurf der Nähe zum Marxismus reagierten, nicht, ihm ökonomischen Determinismus<br />

zu unterstellen. Die Schwachstelle des Lamprechtschen Versuchs lag<br />

dagegen viel weniger in einer naiven Verabsolutierung eines einzelnen Faktors<br />

im Gestrüpp gesellschaftlicher Wirkungsbedingungen – gerade dieses Problem<br />

hoffte er mit der Fokussierung auf die kulturellen Ausdrucksformen zu bewältigen<br />

–, sondern in der geringen Erfahrung mit der Serialisierung von Quellen in<br />

34


der Kulturgeschichte. Alle Disziplinen, die seinem Vorhaben hätten zuliefern<br />

können, steckten noch in den Kinderschuhen, die Anthropologie ebenso wie<br />

die Soziolinguistik und die Kunstgeschichte der populären kulturellen Hervorbringungen.<br />

So experimentierte Lamprecht, der sich einmal auf das Verfassen<br />

einer umfassenden Kulturgeschichte seiner eigenen Gesellschaft eingelassen<br />

hatte, an manchen Stellen mit durchaus noch ungesicherten Ergebnissen der<br />

Nachbarfächer (so etwa mit der Interpretation massenhaft zusammengetragener<br />

Kinderzeichnungen aus verschiedenen Kulturkreisen). An anderen setzte<br />

er intuitiv-hermeneutische Verfahren der Interpretation von epochemachenden<br />

Kunstwerken an die Stelle der eigentlich notwendigen zeitaufwendigeren quantifizierenden<br />

Auswertungen kultureller Artefakte, und in vielen Passagen zog er<br />

sich auf konventionelle Darstellungsformen zurück.<br />

Befeuert durch die heftigen Anwürfe seiner Gegner, die die Auseinandersetzung<br />

schon bald als einen Vernichtungsfeldzug gegen ein gefährliches Paradigma<br />

verstanden, verlies Lamprecht bald die Ebene der Einzelkritik und konzentrierte<br />

sich auf die manifestartige Ausarbeitung einer „neuen Geschichtswissenschaft“,<br />

die er der traditionellen Politikzentriertheit entgegenhielt. Historiker in West-<br />

und Osteuropa, Nordamerika und selbst in Japan und China, die sich in ähnlicher<br />

Weise für eine Erneuerung der Geschichtswissenschaft einsetzten, verwiesen<br />

auf Lamprecht als einen erfolgreichen, wenn auch angefeindeten Verbündeten;<br />

<strong>Leipzig</strong> entwickelte sich nach der Jahrhundertwende dank des Lamprechtschen<br />

Engagements zu einem symbolischen Ort der internationalen Reformbewegung<br />

in der Historiographie.<br />

Und Lamprecht wusste diese Unterstützung zu nutzen, um der drohenden Isolation<br />

in der deutschen Geschichtswissenschaft zu entgehen. Zunächst konnte er<br />

sich auf eine breite Front von Kollegen aus benachbarten Fächern stützen, die<br />

seinem Ansatz interdisziplinären Rückhalt boten: Neben den Geographen Ratzel<br />

und Berger waren dies vor allem der Ökonom Roscher, der Psychologe Wundt,<br />

der Chemiker Ostwald und der Zeitungswissenschaftler Bücher. Mit ihnen bildete<br />

Lamprecht das auch außerhalb <strong>Leipzig</strong>s bemerkte Positivistenkränzchen, das<br />

der sächsischen Landesuniversität eine intellektuelle Öffnung nach Westeuropa<br />

verschaffte, die sie klar unterscheidbar machte von den eher individualistischhermeneutisch<br />

verankerten Methoden vieler Zentren deutscher Geisteswissenschaft<br />

und auch von Max Webers Begründung einer historischen Soziologie.<br />

Hatte ihn zunächst die Landesgeschichte, später die Nationalgeschichte zu innovativen<br />

Deutungsversuchen gereizt, so erklärte Lamprecht dies nun zu Vorstufen<br />

einer neuartigen Komparatistik, die ihn nach der Rolle von Internationalisierung<br />

35


und kulturellen Kontakten fragen ließ. Eine Reise zur Weltausstellung nach<br />

St. Louis und durch den Mittleren Westen der USA inspirierten ihn, ein Programm<br />

auszuarbeiten, das er zuerst den Studierenden der Columbia University<br />

während einer Serie von Gastvorlesungen darbot: Der künftige Wettbewerb der<br />

Staaten werde nicht mehr vorrangig mit militärischen Waffen, sondern mit der<br />

kulturellen Fähigkeit geführt, sich die besten Ideen anderer Gesellschaften produktiv<br />

anzueignen. Im Zeitalter zunehmender globaler Verflechtungen hatte die<br />

von Lamprecht hartnäckig vertretene Kulturgeschichte damit als Weltgeschichte<br />

wieder eine patriotische Aufgabe gewonnen, die das Engagement der Vorgängergeneration<br />

für die nationale Einigung ablösen würde.<br />

Wiederum setzte der <strong>Leipzig</strong>er Ordinarius sein Organisationstalent dafür ein,<br />

dem neu gewonnenen Ansatz günstige Entwicklungsmöglichkeiten zu schaffen:<br />

Als er mit seinen Kollegen Brandenburg und Seeliger nicht einig werden konnte<br />

über die radikale Gegenstandserweiterung der Geschichtswissenschaft, betrieb er<br />

die Trennung seines Instituts vom Historischen Seminar und stützte sich vorrangig<br />

auf die Kooperation mit Kollegen aus anderen Disziplinen, vorzugsweise den<br />

Spezialisten der verschiedenen Weltregionen in Sinologie, Japanologie, Afrikanistik<br />

und Nordeuropakunde, Völkerkunde und Geographie. Den Internationalen<br />

Historikerkongress 1908 in Berlin machte er zur Bühne seiner Pläne, und nur ein<br />

Jahr später folgte die Gründung des Instituts für Kultur- und Universalgeschichte<br />

mit einer (u. a. aus dem kaiserlichen Dispositionsfonds) reich ausgestatteten<br />

Bibliothek und Forschungsmöglichkeiten für Nachwuchswissenschaftler. Mit<br />

seinem systematisch modularisierten Lehrbetrieb zog es schon bald über 300<br />

Studierende an und trug damit tatsächlich dazu bei, die Nachfrage nach historischem<br />

Wissen in <strong>Leipzig</strong> gegenüber den 1890er Jahren zu vervielfachen.<br />

Lamprecht wusste insbesondere <strong>Leipzig</strong>s Verleger zu begeistern, und mit deren<br />

Spenden machte er sich während seines Rektorates 1910/11 an die Gründung<br />

der König-Friedrich-August-Stiftung, die in wichtigen Punkten in direkter Gegenüberstellung<br />

zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft konzipiert war: Statt einer<br />

utilitaristischen Ausrichtung auf industrielle Verwertbarkeit der Naturwissenschaften<br />

hatten hier die Geistes- und Sozialwissenschaften den zentralen Platz;<br />

statt einer Abtrennung der Forschung von der <strong>Universität</strong> verblieben die Forschungsinstitute<br />

der Stiftung direkt bei der Hochschule (und Lamprecht träumte<br />

gar von einem gemeinsamen Campus für Lehre und Forschung in Probstheida).<br />

Mit Geschick wusste der rastlose Antreiber das sächsische Selbstbewusstsein<br />

in Monarchie und Parlament sowie bei den Mäzenaten für die Planungen einer<br />

drittmittelgestützten <strong>Universität</strong>sentwicklung zu mobilisieren und die vielfachen<br />

internationalen Kontakte einzusetzen.<br />

36


Der Erste Weltkrieg und die Zurückhaltung der Kollegen, die das eingeworbene<br />

Geld für patriotische Zwecke zu spenden beabsichtigten, warfen den Plan weit<br />

zurück, und erst nach Kriegsende konnte das Vorhaben wieder aufgegriffen<br />

werden.<br />

Dies erlebte allerdings Lamprecht nicht mehr. Er starb nach einem Truppenbesuch<br />

in Belgien, den er aufgrund völliger Erschöpfung abbrechen musste, am<br />

10. Mai 1915 in <strong>Leipzig</strong> und wurde in Schulpforta beigesetzt, wo er 1874 sein<br />

Abitur abgelegt hatte.<br />

Matthias Middell<br />

37


Emil Adolf Roßmäßler<br />

Zum 200. Geburtstag am 3. März <strong>2006</strong><br />

Emil Adolf Roßmäßler gehört zu den bedeutenden Persönlichkeiten der<br />

Stadt <strong>Leipzig</strong>. Sein kurzes Studium an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> vertiefte er als<br />

Autodidakt, kam an der Königlichen Sächsischen Akademie für Forst- und<br />

Landwirte in Tharandt als Professor für Zoologie zu akademischen Ehren,<br />

wurde 1848 in das erste deutsche Parlament gewählt und war als Volksschriftsteller<br />

und Pädagoge überzeugt, dass die Freiheit aller Stände durch<br />

naturwissenschaftliche Bildung erreicht werden könnte.<br />

39


Angeregt von seinem Vater, dem Kupferstecher Johann Adolf Roßmäßler, entwickelte<br />

der am 3. März 1806 in <strong>Leipzig</strong> als zweites Kind geborene Emil Adolf<br />

schon im Knabenalter großes Interesse an der Natur. Auch seine Begabung, Naturgegenstände<br />

zeichnerisch exakt abzubilden, zeigte sich schon frühzeitig. Die<br />

gymnasialen Lehrinhalte der Nicolai-Schule prägten bei dem jungen Roßmäßler<br />

ein humanistisches Weltbild, das ihm zeitlebens Maßstab, Kraftquell und auch<br />

Trostanker blieb. Seine Neigung zur Naturgeschichte fand in einem kleinen<br />

Kreis gleichgesinnter Mitschüler vielseitige Anregung. Besonders sein Freund<br />

Theodor Klatt, Sohn eines wohlhabenden Kaufmannes, lieferte dazu die neueste<br />

Literatur und mit seinen Sammlungen das notwendige Anschauungsmaterial.<br />

Das 1. Heft der “Iconographia botanica“ von Reichenbach löste bei den Jünglingen<br />

begeisterte botanische Exkursionen, Pfeiffers 1. Band “Systematische<br />

Anordnung und Beschreibung deutscher Land- und Wasserschnecken“ Sammelleidenschaften<br />

aus.<br />

Nach dem Verlust der Eltern war Roßmäßler von den finanziellen Möglichkeiten<br />

seines Oheims abhängig und schrieb sich deshalb, sein Wunschfach Arzneikunde<br />

zurückstellend, Ostern 1825 an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> für das wesentlich<br />

billigere Studienfach Theologie ein. Die beiden einzigen von ihm besuchten<br />

Kollegien, Kirchengeschichte und Dogmengeschichte, hielt er dazu angetan, die<br />

Theologie einem jungen Mann zu verleiden, der „… zunächst zu nichts anderem<br />

Beruf und Neigung fühlte, als selbständig zu denken und zu urtheilen, …“. Auch<br />

eine Vorlesung Philosophie hielt er für ungenießbar: „... und nach Verlauf eines<br />

Monats war ich für mein ganzes Leben zum letztenmale in einer philosophischen<br />

Vorlesung gewesen.“ Regelmäßiger besuchte er die Vorlesungen Medizinische<br />

Botanik und Kryptogamische Gewächse, für die ihm Gustav Kunze die Gebühren<br />

erlassen hatte. Auch berichtet er in seiner Selbstbiographie, dass ihm für ein<br />

Jahr der botanische Unterricht für die Apothekerlehrlinge ganz <strong>Leipzig</strong>s übertragen<br />

worden sei, den er als Exkursionen durchführte, der aber wenig Erfolg<br />

brachte.<br />

Als er nach zwei Jahren die <strong>Universität</strong> verließ und sich 1827 um die Lehrerstelle<br />

an einer Schola collecta in dem kleinen thüringischen Städtchen Weida bewarb<br />

und diese erhielt, gestand er sich ein: „Freilich hatte ich hierauf schon deshalb<br />

keinen Anspruch, weil ich seit der Abgangsprüfung [Abitur; St.] keinerlei <strong>Universität</strong>sprüfung<br />

gemacht, und in keinem Fach die vorgeschriebenen, bei den<br />

Prüfungen zu belegenden Vorlesungen vollständig gehört hatte.“ In dieser Situation<br />

wurde zum ersten Mal sein etwas trotziges Pflichtgefühl deutlich. Er begann<br />

mit Feuereifer ein Selbststudium, das bei seiner Begabung schnell zu Erfolgen<br />

als Lehrer und auch in der wissenschaftlichen Botanik führte.<br />

40


1929 wurde Roßmäßler von der Anregung überrascht, sich um die vakante Professur<br />

für Zoologie an der Königlichen Sächsischen Akademie für Forst- und<br />

Landwirte zu bewerben. Der Vorschlag kommt von Hofrat Prof. Reichenbach<br />

in Dresden, dem er mehrfach Herbarmaterial relativ seltener Pflanzen geschickt<br />

hatte. Sinngemäß habe ihm sein Förderer, annehmend, er sei inzwischen promoviert,<br />

geschrieben: „…ich weiß recht wol, dass Sie nicht Zoolog sind; wer<br />

sich aber so gründlich und so wissenschaftlich mit der Botanik beschäftigt hat,<br />

der arbeitet sich schnell so weit in die Zoologie hinein, als es für den Unterricht<br />

auf der Anstalt erforderlich ist.“ Bei der Vorstellung in Dresden verweigerte<br />

der zuständige Minister, Graf Einsiedel, in Anbetracht des ausstehenden Hochschulabschlusses<br />

und der fehlenden Promotion vorerst den Titel Professor und<br />

reduzierte die bisherige Besoldung der Stelle erheblich. Aber Roßmäßler nahm<br />

die Einschränkungen in Kauf, die Berufung an die Akademie erreichte ihn kurz<br />

vor Ostern 1830 in Weida, anschließend verlobte er sich in <strong>Leipzig</strong> mit Emilie<br />

Neubert, seiner späteren Frau, und trat Mitte Juni 1830 sein neues Amt in Tharandt<br />

an.<br />

Da einschlägige Fachliteratur für Studierende der Forst- und Landwirtschaft damals<br />

fast vollständig fehlte, erarbeitete er, gefördert von dem Gründer und ersten<br />

Direktor der Akademie, Oberforstrat Heinrich Cotta, zunächst Lehrmaterialien<br />

für seine Vorlesungen. Schon 1832 erschien das Lehrbuch „Systematische Übersicht<br />

des Thierreichs“ mit 12 selbstgezeichneten Atlastafeln. 1834 folgte das<br />

Fachbuch „Forstinsekten, Naturgeschichte derjenigen Insekten, welche den bei<br />

uns angebauten Holzarten am meisten schädlich werden“. Die Übernahme der<br />

pflanzenphysiologischen Vorlesungen gab die Anregung für das Kompendium<br />

„Das Wichtigste vom Bau und Leben der Gewächse, für den praktischen Landwirt<br />

faßlich dargestellt“ mit 4 Steindrucktafeln (1843) und schließlich das forstwirtschaftlich<br />

orientierte Buch „Charakteristik des Holzkörpers der wichtigeren<br />

deutschen Bäume und Sträucher“ (1847).<br />

Aber all diese Publikationen berührten nicht eigentlich sein zoologisches Hauptinteresse,<br />

die Mollusken. Erst während einer 7-wöchigen Reise nach Wien<br />

(1832), wo er die großen Conchyliensammlungen von Ziegler und Mühlfeldt und<br />

mit Hilfe von Partsch die Bestände des Hofnaturalienkabinetts sichten konnte<br />

und wo er neue und besonders interessante Arten zeichnete, wurde die Begeisterung<br />

für die Malakozoologie zur Faszination. Nun musste er seine Vision von einem<br />

großen Tafelwerk realisieren. Das 1. Heft der „Iconographie der Land- und<br />

Süßwasser-Mollusken, mit vorzüglicher Berücksichtigung der europäischen,<br />

noch nicht abgebildeten Arten“ erschien im Großquart-Format im April 1835.<br />

Schon mit der letzten Tafel des Heftes wurde deutlich, dass er seine Zeichnungen<br />

41


auch selbst lithographieren will. Bei der Steinzeichnung erreichte er schließlich<br />

eine Perfektion, die sein Werk in die Reihe der schönsten einschlägigen Fachbücher<br />

stellt. Bis 1840 publizierte er jährlich 2 Hefte mit jeweils 5 Tafeln, dann<br />

sporadisch die Hefte 11 – 16, und 1859 schloss er mit den Heften 17 und 18 den<br />

3. Band ab. In einigen Heften spiegelt sich seine Sammeltätigkeit im Ausland<br />

wider, so z. B. die Ausbeute der dreimonatigen Studienreise im südlichen Spanien<br />

im 13. und 14. Heft. Nach Roßmäßler bemühten sich W. Kobelt und viele<br />

weitere Malakologen um die Fortsetzung des Werkes.<br />

Der so erfolgreiche, inzwischen mit zahlreichen Gelehrten korrespondierende<br />

Roßmäßler konnte sich aber trotz aller Erfolge etwa ab 1840 mit den akademischen<br />

Aufgaben allein nicht mehr abfinden. Auch mag er um diese Zeit erkannt<br />

haben, dass die wissenschaftlichen Fortschritte in den von ihm vertretenen Disziplinen<br />

wohl im schulischen, aber nicht mehr im akademischen Bereich von einer<br />

einzelnen Person vermittelt werden können. In dieser Situation drängt ihn sein<br />

Gewissen, sich in den Dienst des sozialen Fortschritts zu stellen. Auch will er<br />

nicht mehr „… einer Kirche … äußerlich angehören, von der er innerlich längst<br />

abgefallen war“ und schloss sich 1846 mit seiner Frau der Deutsch-katholischen<br />

Religionsgemeinschaft an. Nach der Märzrevolution 1848 wurde er zu einer<br />

Bewerbung um einen Sitz in der Frankfurter Nationalversammlung gedrängt<br />

und am 15. Mai zum Abgeordneten des 22. sächsischen Wahlbezirkes (Pirna)<br />

gewählt. Schon am 20. Mai traf er in der Frankfurter Paulskirche ein, wurde in<br />

der 34. Sitzung des Parlaments dem Schulausschuss zugeordnet und hielt am<br />

18. September 1848 eine leidenschaftliche Rede, die mit dem Aufruf endete:<br />

„Ich bitte Sie, meine Herren, nehmen Sie sich der Volksbildung an, nehmen Sie<br />

sich der Volkslehrer an. Wenn Sie dies nicht tun, begehen Sie einen Verrat an<br />

der Zukunft Deutschlands.“<br />

Nach dem Zerfall der Nationalversammlung ging er mit dem Rumpfparlament<br />

am 06.06.1849 nach Stuttgart, „… wo die Erhebung zur Freiheit in 12 Tagen ihr<br />

trauriges Ende fand“. Schon im August kehrte er allein nach Tharandt zurück,<br />

wurde suspendiert und des Hochverrats angeklagt. In allen Instanzen freigesprochen,<br />

beantragte er seine Entpflichtung und verließ, mit weniger als der Hälfte<br />

seiner Bezüge abgetan, Tharandt. Im März 1850 zog die Familie Roßmäßler nach<br />

<strong>Leipzig</strong>. Für die Volksschriftstellerei ohne saft- und kraftlose Naturschwärmerei<br />

hatte er sich schon vordem entschieden. 1850 bis 1867 schrieb er 15 Bücher,<br />

viele davon mehrbändig, die meisten sehr gut illustriert; nur einige können hier<br />

erwähnt werden: „Der Mensch im Spiegel der Natur“ (1850 – 1853), 5 kleine<br />

Bände, in denen Roßmäßler seine naturphilosophischen, pädagogischen und politischen<br />

Überzeugungen verdeutlicht; „Das Süßwasser-Aquarium“ (1857), eine<br />

42


elativ kleine Publikation, die den Namen Roßmäßler bei den Naturfreunden bis<br />

heute lebendig erhalten hat. Der dem Namen oft nachgestellte Satz: “Vater der<br />

Aquaristik“ kann wohl für Deutschland gelten, bedingt aber auch, dass seine<br />

großen Leistungen für die Pädagogik, die Malakologie, den Landschafts- und<br />

Naturschutz übersehen werden. Einige weitere Titel: „Das Wasser“ (1858), ein<br />

Meisterwerk, das sich auf seine Studien in der Schweiz stützt, 2. Auflage 1860,<br />

außerdem Übersetzungen ins Holländische und Russische; „Der Wald“ (1862),<br />

eine noch heute interessante Monographie, in der die botanischen und forstwirtschaftlichen<br />

Aspekte von Wald und Forst erschöpfend behandelt werden; Nachauflagen<br />

1870 und 1881, ergänzt und verbessert von M. Willkomm; „Die Tiere<br />

des Waldes“ (1867), mit E. A. Brehm ediertes zweibändiges Fachbuch, im 1.<br />

Bd. die Wirbeltiere von Brehm, im 2. Bd. die wirbellosen Tiere von Roßmäßler;<br />

„Mein Leben und Streben im Verkehr mit der Natur und dem Volke“ (1874),<br />

posthum von K. Ruß herausgegebene Selbstbiographie.<br />

Ungewöhnlich vielseitig waren aber auch Roßmäßlers Aktivitäten für Zeitschriften.<br />

In der Wochenzeitung „Die Natur“ erschienen 1852 bis 58 etwa 22<br />

Beiträge. In seinem eigenen, von E. A. Brehm unterstützten, vor allem auf<br />

die Bildung der einfachen Stände orientierten Volksblatt „Aus der Heimat“<br />

(1859 – 1866) schrieb er die meisten Beiträge selbst. Auch für das Familienblatt<br />

„Die Gartenlaube“ lieferte er Artikel, von denen „Der See im Glase“ bis heute<br />

als Vorläufer des Buches „Das Süßwasser-Aquarium“ erwähnt wird. Insgesamt<br />

sind Roßmäßlers populärwissenschaftliche Schriften eine großartige pädagogische<br />

Leistung. Niemand hat dies besser verdeutlicht als Gustav Schneider mit<br />

seiner Dissertation: „Emil Adolf Roßmäßler als Pädagog“, eingereicht 1902<br />

an der philosophischen Fakultät der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong>. Schneider stellt Roßmäßler<br />

in die Reihe der großen deutschen Pädagogen, die bemüht waren, die<br />

Anregung des Bildungsreformators J.H. Pestalozzi (1746 – 1827) im deutschen<br />

Schulwesen zu verwirklichen. Roßmäßler forderte dazu, ähnlich wie F. A. W.<br />

Diesterweg (1790 – 1866), eine einheitliche Schulorganisation und Lehrerbildung<br />

sowie die staatliche Fachaufsicht statt kirchlicher Schulaufsicht. Im Gegensatz<br />

zu Diesterweg versteifte er sich jedoch auf die Vorstellung, dass bei der<br />

Förderung der Volksbildung die naturgeschichtliche Bildung eine Schlüsselrolle<br />

einnehmen müsse, eine Forderung, die in seiner Zeit utopisch erscheinen musste.<br />

Aber auch dort, wo Bereitschaft zur Unterstützung seiner Vorstellungen gegeben<br />

war, haben seine öfter auffallend polemischen Äußerungen und auch seine politischen<br />

Aktivitäten kritischer Distanz bis rigoroser Ablehnung Vorschub geleistet.<br />

Noch verstehen könnte man seine abwertenden Äußerungen über die Lehre und<br />

Bildung an den Hochschulen, schließlich hatte er selbst schlechte Erfahrungen<br />

gemacht, auch seine unsachlichen Bemerkungen über die Naturphilosophie<br />

43


von L. Oken (1779 – 1851) kann man überlesen, völlig unverständlich bleiben<br />

jedoch seine abfälligen Bemerkungen über den Chemiker Justus Freiherr von<br />

Liebig (1808 – 1873). Auch ist kaum zu verstehen, dass er, wieder in <strong>Leipzig</strong><br />

wohnend, kaum Kontakte zu Fachkollegen der <strong>Universität</strong> pflegte.<br />

Politisch war Roßmäßler ein unbeugsamer Demokrat des linken Spektrums.<br />

Wegen Aktivitäten in bürgerlich-demokratischen und Arbeiter-Vereinen stand<br />

er zeitweise unter polizeilicher Überwachung. Seine Vorträge wurden in einigen<br />

Städten untersagt, er selbst ausgewiesen. Ein ausführliches Aktenstück der<br />

Königlichen Kreisdirektion <strong>Leipzig</strong> des Innenministeriums über seine strafbaren<br />

Handlungen befindet sich im sächsischen Staatsarchiv. Franz Mehring schrieb<br />

in seiner „Geschichte der Sozialdemokratie“: „Er … hatte viel echtere Begriffe<br />

von Volksbildung als die sogenannte gebildete Bourgeoisie, war auch politisch<br />

radikaler als das banale Fortschrittlertum, blieb aber bei alledem in bürgerlichen<br />

Anschauungen befangen“. Dem Gedankengut von Karl Marx konnte Roßmäßler<br />

nicht folgen und äußerte sich dazu warnend gegenüber August Bebel.<br />

Emil Adolf Roßmäßler starb nach längerem Nieren- und Blasenleiden am<br />

8. April 1867 in <strong>Leipzig</strong>. Auf seinem letzten Weg zum neuen Johannisfriedhof<br />

begleiteten ihn in Liebe, Verehrung und Dankbarkeit hunderte <strong>Leipzig</strong>er Bürger.<br />

Viele seiner visionären Ziele sind heute Wirklichkeit, z. B. die Emanzipation der<br />

Arbeiter und Frauen, andere noch immer Probleme der internationalen Politik.<br />

Das nachfolgende Zitat von 1853 ist ein Beispiel dafür:<br />

44<br />

Die Behandlung der Waldungen schließt eine furchtbare Verantwortlichkeit<br />

in sich. Sie kann zum allergrößten Verbrechen an den kommenden<br />

Geschlechtern werden; denn sie kann diesen das Leben unmöglich machen.<br />

Günther H. W. Sterba


Eduard Friedrich Weber<br />

Zum 200. Geburtstag am 6. März <strong>2006</strong><br />

Eduard Friedrich Weber (1806 – 1871), einer der berühmten drei Weber-<br />

Brüder, war von 1836 bis zu seinem Tode Prosektor an der von seinem<br />

Bruder Ernst Heinrich Weber (1795 – 1878) geleiteten Anatomischen<br />

Anstalt der <strong>Leipzig</strong>er <strong>Universität</strong>.<br />

45


Eduard Friedrich Wilhelm Weber erblickte am 6. März 1806 in Wittenberg<br />

als Sohn des Theologieprofessors Michael Weber und seiner Frau Christiane,<br />

geb. Lippold, das Licht der Welt. Von den 13 Kindern des Ehepaares Weber<br />

wurden später die drei Söhne Ernst Heinrich (1795 – 1878), Wilhelm Eduard<br />

(1804 – 1891) und Eduard Friedrich Wilhelm bedeutende Gelehrte.<br />

Eduard Weber studierte Naturwissenschaften und Medizin zuerst in <strong>Leipzig</strong><br />

und dann in Halle, wo er 1829 zum Doktor der Medizin promoviert wurde und<br />

nach Ablegen der Staatsprüfung ein Jahr als Assistent an der Klinischen Anstalt<br />

arbeitete. In Göttingen und Halle bereitete er sich darauf vor, Lehraufgaben in<br />

Anatomie und Physiologie übernehmen zu können. Das königlich-preußische<br />

Ministerium sicherte ihm aufgrund seiner wissenschaftlichen Befähigung und<br />

Strebsamkeit sogar ein jährliches Salär zu, wenn er in Halle die Venia legendi<br />

für Anatomie erwerben würde. Eduard Weber ließ daraufhin seine Habilitationsschrift<br />

„Quaestiones physiologicae de phaenomenis galvano-magneticis in<br />

corpore humano observatis“ drucken, ging aber dann doch vor Aufnahme einer<br />

Vorlesungstätigkeit in Halle 1836 als Prosektor an die Anatomische Anstalt der<br />

<strong>Leipzig</strong>er <strong>Universität</strong>.<br />

In <strong>Leipzig</strong> hatte sein Bruder Ernst Heinrich im Jahr 1821, noch nicht 26 Jahre alt,<br />

in der Nachfolge von Johann Christian Rosenmüller die ordentliche Professur<br />

für Anatomie übernommen. Mit seinem Bruder Wilhelm, der später als einer der<br />

„Göttinger Sieben“ seinen Physik-Lehrstuhl verlieren sollte, hatte Ernst Heinrich<br />

bereits seine „Wellenlehre, auf Experimente gegründet oder über die Wellen<br />

tropfbarer Flüssigkeiten mit Anwendung auf die Schall- und Lichtwellen“ (<strong>Leipzig</strong><br />

1825) verfasst, in weiteren Arbeiten funktionelle Anatomie und Physiologie<br />

verbunden und als einer der ersten kausalanalytisches Denken und experimentelles<br />

Forschen an der <strong>Leipzig</strong>er Medizinischen Fakultät eingeführt.<br />

1833 starb der Prosektor Carl Bock sen., und nachdem verschiedene Bewerber<br />

um die Stelle eines Prosektors den Ansprüchen nicht genügt hatten bzw. durch<br />

Krankheit ausfielen, empfahl die Fakultät, dem Vorschlag von Ernst Heinrich<br />

Weber folgend, dessen Bruder Eduard einzustellen. Die bei dem Vorschlag<br />

ausgesprochene Hoffnung, dass aus diesem Zusammenwirken „Vorteil für die<br />

anatomische Anstalt und die Wissenschaft“ erwachsen würde, sollte sich auf<br />

hervorragende Weise erfüllen.<br />

Am 30. Mai 1836 wurde Eduard Friedrich Weber mit einem Jahresgehalt von<br />

200 Talern nebst einer persönlichen Zulage von 50 Talern zunächst für drei Jahre<br />

zum Prosektor an der Anatomischen Anstalt ernannt. 1839 und 1842 erneuerte<br />

46


man den Vertrag, wonach die Anstellung dauerhaft blieb, und 1846 wurde Eduard<br />

Friedrich Weber zum außerordentlichen Professor ernannt. In dieser Stellung<br />

blieb er bis zu seinem Tode am 18. Mai 1871.<br />

Sofort nach dem Dienstantritt in <strong>Leipzig</strong> übernahm Eduard Friedrich Weber<br />

einen Teil der Lehraufgaben; so leitete er gemeinsam mit seinem Bruder die<br />

Sezierübungen der Studenten, las im Winter über Knochen und Bänder und<br />

im Sommer über Anatomie und Physiologie des Nervensystems. Das war eine<br />

höchst erwünschte Entlastung für seinen Bruder Ernst Heinrich, der neben dem<br />

Direktorat der Anatomischen Anstalt und zusätzlichem Engagement als Kommunalpolitiker<br />

sowie als einer der Gründer der Polytechnischen Gesellschaft,<br />

der Gesellschaft der Wissenschaften und des sogenannten Professoriums im Jahr<br />

1840 zusätzlich noch den Lehrstuhl für Physiologie ohne Honorar übernommen<br />

hatte. Es ist auch davon auszugehen, dass beide Brüder gemeinsam die Pläne<br />

zum dringend nötigen Umbau bzw. des seit 1830 diskutierten Neubaus eines<br />

Anatomischen Institutes besprachen, wobei letzterer erst unter Webers Nachfolger<br />

Wilhelm His sen. realisiert wurde.<br />

Die Zusammenarbeit der Weber-Brüder wurde besonders fruchtbar, als Wilhelm<br />

Eduard Weber, berühmt durch seine Forschungen zur Akustik sowie die mit Carl<br />

Friedrich Gauß realisierte erste elektrische Telegrafen-Verbindung der Welt,<br />

im Jahr 1843 in <strong>Leipzig</strong> die Nachfolge des Physikprofessors Gustav Theodor<br />

Fechner antrat. Bereits 1836 hatte er gemeinsam mit Eduard eine Abhandlung<br />

über die „Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge“ verfasst, in der die Autoren<br />

mit einfachen physikalischen Mitteln, nämlich Tertienuhr und Fernrohr,<br />

die physiologischen Bewegungsabläufe beim Gehen und Laufen des Menschen<br />

registrierten und analysierten. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse bereicherten<br />

sowohl die Anatomie als auch die Kunst, und das „Lebensrad“, mit dem eine<br />

schnelle Folge von Phasenbildern eine Bewegung simulieren konnte, war eines<br />

der Grundelemente für die spätere Kinematographie. Die Idee des „Stemm- und<br />

Pendelbeins“ ist im wesentlichen bis heute gültig, wenn wir auch von „Stütz-<br />

und Spielbein“ sprechen.<br />

Wilhelm regte Eduard auch an, einen „magnetelektrischen Rotationsapparat“<br />

für die Versuche zur Muskelreizung zu verwenden. In seiner 1846 entworfenen<br />

„Muskelmechanik“ stellte Eduard fest, dass sich die Muskeln bei Reizung bis auf<br />

vier Fünftel ihrer Länge verkürzen. Der „magnetelektrische Rotationsapparat“<br />

diente den Anatomen-Brüdern Ernst Heinrich und Eduard Friedrich auch bei<br />

Untersuchungen zur Nervenphysiologie. Den Ruf als Pioniere einer „physikalischen<br />

Physiologie“ erwarben sich die Brüder aber vor allem auf der italienischen<br />

47


Naturforscherversammlung im Jahr 1845, als sie ihre Ergebnisse zur Steuerung<br />

der Herzaktion vortrugen, was damals als sensationell aufgenommen wurde.<br />

In einem Porträt von J. Kayser (der 1850 auch Ernst Heinrich Weber zeichnete)<br />

ist die Persönlichkeit von Eduard Friedrich Weber sehr schön erfasst. Der damals<br />

44-jährige Anatom ähnelt mit gelocktem Haar, Backenbart und modischer Halsbinde<br />

eher einem Künstler, und mit seinem wissenden, leicht amüsierten Lächeln<br />

hat er nichts gemein mit einer trockenen Gelehrtennatur. So tritt er uns auch auf<br />

der hier gezeigten Abbildung entgegen.<br />

Ingrid Kästner<br />

48


Karl-Sudhoff-Institut<br />

Zum 100. Jahrestag der Gründung am 1. April <strong>2006</strong><br />

Das 1906 aus privaten Stiftungsmitteln gegründete und 1938 nach seinem<br />

Gründer benannte Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der<br />

Naturwissenschaften ist das älteste medizinhistorische Institut der Welt.<br />

Es ist an der Medizinischen Fakultät angesiedelt und vermittelt dort den<br />

Studierenden die geisteswissenschaftlichen Aspekte der Medizin (medical<br />

humanities).<br />

49


Die Geschichte des <strong>Leipzig</strong>er Instituts für Geschichte der Medizin beginnt<br />

mit dem Nachlass Marie Caroline Cäcilie Puschmanns (1845 – 1901), der<br />

wohlhabenden Witwe des Wiener Medizinhistorikers Theodor Puschmann<br />

(1849 – 1899). Nach einem längeren Rechtsstreit mit der Familie der Erblasserin<br />

fielen im Mai 1903 schließlich 500.000 Mark an die <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong>, und<br />

zwar speziell zur „Förderung wissenschaftlicher Arbeiten auf dem Gebiete der<br />

Geschichte der Medizin“. Durch einiges universitätsinternes Hin und Her bezüglich<br />

der Frage, an welcher Fakultät die Medizingeschichte verankert werden<br />

sollte, dauerte es über ein Jahr, bis am 21. Dezember 1904 vom akademischen<br />

Senat die relativ allgemein gehaltenen „Vorschriften für die Puschmann-Stiftung<br />

bei der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong>“ beschlossen wurden: Ein interdisziplinäres Kuratorium<br />

sollte die Zinsen aus dem Stiftungskapital zweckgebunden verwalten. Nunmehr<br />

ergriff die Medizinische Fakultät die Initiative. Der amtierende Dekan, der<br />

Internist Heinrich Curschmann (1846 – 1910), nahm im Frühjahr 1905 zunächst<br />

inoffiziellen Kontakt mit Karl Sudhoff (1853 – 1938) auf, dem damals renommiertesten<br />

Medizinhistoriker.<br />

Sudhoff war zu dieser Zeit erfolgreich als niedergelassener Arzt in Hochdahl bei<br />

Düsseldorf tätig und erledigte seine medizinhistorischen Forschungen „nebenbei“<br />

in den frühen Morgenstunden. Er war ausgewiesener Paracelsus-Spezialist<br />

und hatte neben einer ansehnlichen Fachbibliothek auch eine umfangreiche<br />

private Sammlung von medizinischen Handschriften und Frühdrucken zusammengetragen.<br />

Obwohl die Professur mit erheblichen finanziellen Einbußen<br />

verbunden war, ergriff Sudhoff die Gelegenheit, die Medizingeschichte zu<br />

seinem Beruf zu machen und höchstpersönlich an der <strong>Universität</strong> zu etablieren;<br />

er begann im April 1906 seine Tätigkeit als „etatmäßiger außerordentlicher Professor“<br />

und erhielt erst 1919 das ersehnte Ordinariat. Sudhoffs medizinhistorische<br />

Forschungen in seinen <strong>Leipzig</strong>er Jahren waren philologisch orientiert, mit<br />

einem Schwerpunkt auf Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Er setzte auch<br />

nach seiner Emeritierung 1925 unermüdlich seine Arbeit fort, übernahm sogar<br />

1932 – 1934 noch einmal interimistisch die Leitung des Instituts. Außerdem begann<br />

Sudhoff mit dem Aufbau einer medizinhistorischen Sammlung, die bis heute<br />

ein besonderer Schatz des Instituts ist. Die Stiftungsmittel ermöglichten ferner<br />

den systematischen Ankauf der gesamten einschlägigen Fachliteratur, sodass in<br />

der Bibliothek auch relativ seltene ältere Titel zu finden sind.<br />

Sudhoffs Nachfolger war Henry Ernest Sigerist (1891 – 1957), ein polyglotter<br />

und weltgewandter Schweizer, der sich mit einem ihm von Sudhoff überlassenen<br />

Thema in Zürich habilitiert hatte. Er interessierte sich besonders für den<br />

gesellschaftlichen und kulturellen Kontext der Medizin und öffnete das Institut<br />

50


für interdisziplinäre Veranstaltungen, die ein großes Publikum anzogen. Nach<br />

mehreren Umzügen standen seit 1916 in der Talstraße 38 ansehnliche Räumlichkeiten<br />

zur Verfügung, die sich nunmehr mit akademischem Leben füllten.<br />

Eine Studienreise in die USA 1931/32 führte Sigerist auch an das Institute of the<br />

History of Medicine an der Johns Hopkins University in Baltimore, wo er einen<br />

so positiven Eindruck hinterließ, dass ihn die dortige Fakultät einstimmig als<br />

Nachfolger des damals bereits 82-jährigen William H. Welch vorschlug. Sigerist<br />

erkannte das Wetterleuchten der sich ändernden politischen Verhältnisse in<br />

Deutschland und nahm den ehrenvollen Ruf nach Amerika an.<br />

Nach einem zweijährigen Vakuum, in dem die Verwaltungsaufgaben nahezu<br />

unerledigt geblieben waren, wurde im Oktober 1934 Walter von Brunn<br />

(1876 – 1952) auf den Lehrstuhl für Medizingeschichte berufen. Von Brunn hatte<br />

nach einer Armamputation im Ersten Weltkrieg seinen Beruf als Chirurg aufgeben<br />

müssen, sich der Medizingeschichte zugewandt und sich 1919 unter der<br />

Anleitung Sudhoffs gründlich in die Materie eingearbeitet; als „Brotberuf“ bis<br />

zur Berufung nach <strong>Leipzig</strong> diente ihm eine Stelle als Stadtschularzt in Rostock.<br />

Zunächst musste von Brunn die chaotischen Verhältnisse im Institut ordnen,<br />

1936 einen Umzug (in die Talstraße 33) organisieren und trotz gesundheitlicher<br />

Probleme und materieller Einschränkungen den Lehr- und Forschungsbetrieb<br />

neu aufbauen und unterhalten. 1938 wurde das Institut für Geschichte der<br />

Medizin nach seinem Gründer benannt, gedacht als Ehrung Sudhoffs zu seinem<br />

85. Geburtstag, den er allerdings nicht mehr erlebte. Der Zusatz „und der<br />

Naturwissenschaften“ sollte in Sudhoffs (und auch in Sigerists) Sinn die enge<br />

Verknüpfung von Medizin- und Wissenschaftsgeschichte signalisieren. Während<br />

der verheerende Luftangriff vom 4. Dezember 1943 das Institutsgebäude<br />

fast unversehrt gelassen hatte, gingen die nach Schloss Mutzschen ausgelagerten<br />

wertvollsten Bestände, darunter das durch von Brunn vorbildlich geordnete Archiv<br />

der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte, in den Nachkriegswirren<br />

verloren. Es gelang von Brunn jedoch unter großem persönlichem Einsatz bis<br />

zu seiner Emeritierung 1950 (also mit 74 Jahren!), das Institut erfolgreich durch<br />

die schwierige Zeit zu lotsen und seinen nationalen und internationalen Ruf zu<br />

festigen.<br />

Nachfolger wurde der Direktor des Medizinisch-Poliklinischen Instituts, Felix<br />

Boenheim (1890 – 1960), der die Leitung zunächst für fünf Jahre kommissarisch<br />

innehatte und dann von 1955 – 1957 das Direktorat übernahm. Auf seine<br />

Initiative geht die Etablierung regelmäßiger Kolloquien zu wissenschaftshistorischen<br />

und -theoretischen Themen zurück, die dem internen Gedankenaustausch<br />

dienen, aber auch das Institut für Kontakte nach außen öffnen sollten, außerdem<br />

51


egann die Arbeit an einem neuen Lehrbuch zur Geschichte der Medizin. Der<br />

1. März 1957 bedeutete in der Institutsgeschichte insofern einen Einschnitt, als<br />

es seitdem zwei Abteilungen unter einem Dach gab, eine für Geschichte der Medizin<br />

und eine für Geschichte der Naturwissenschaften. Diese Umstrukturierung<br />

ging im Wesentlichen auf Gerhard Harig (1899 – 1966) zurück, der – 1951 bis<br />

1957 als Staatssekretär für Hochschulwesen beurlaubt – von 1957 bis 1966 die<br />

Leitung des Instituts innehatte.<br />

In den folgenden Jahrzehnten erwarb sich das Sudhoff-Institut internationales<br />

Ansehen durch seine fast schon legendäre Organisation von Arbeitskreisen,<br />

Kolloquien und Tagungen, durch wissenschaftliche Schriftenreihen (z. B. die<br />

‚Biografien bedeutender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner‘) und<br />

zahlreiche Lehrbücher (so zur Geschichte der Mathematik, Physik und Chemie)<br />

sowie durch die maßgebliche Beteiligung an der Herausgabe der wissenschaftshistorischen<br />

Zeitschrift ‚Naturwissenschaft, Technik und Medizin‘ (NTM). Mit<br />

Hans Wußing (geb. 1927, Institutsdirektor 1977 – 1982), der die Abteilung für<br />

Geschichte der Naturwissenschaften von 1969 – 1992 leitete, wurde vor allem<br />

die Mathematikgeschichte als Forschungsschwerpunkt ausgebaut. In der medizinhistorischen<br />

Abteilung, der von 1977 – 1996 Achim Thom (geb. 1935,<br />

Institutsdirektor 1982 – 1996) vorstand, wurde den Gebieten Geschichte der<br />

Arbeitsmedizin, Geschichte der Psychiatrie und Medizin im Nationalsozialismus<br />

besondere Beachtung geschenkt. Die Aufgaben in der Lehre waren – der<br />

gesellschaftlich-politischen Rolle der Geisteswissenschaften in der DDR<br />

entsprechend – vielfältig: Größtenteils als Pflichtveranstaltungen wurden Geschichte<br />

der Medizin und Zahnmedizin sowie Geschichte der Biologie, Chemie,<br />

Physik und Mathematik gelesen.<br />

In den letzten Jahren verschwand die traditionsreiche <strong>Leipzig</strong>er Wissenschaftsgeschichte<br />

nach und nach, nur ein Mathematikhistoriker ist von der ehemals<br />

großen Abteilung am Sudhoff-Institut übrig geblieben. In der Medizingeschichte<br />

sind in den letzten Jahren die Lehraufgaben gewachsen: Neben dem Terminologie-Kurs<br />

für Human-, Zahn- und Veterinärmedizin sind noch Geschichte der<br />

Veterinärmedizin sowie die Medizinethik dazu gekommen. Die Forschungthemen<br />

haben sich auf Fakultätsgeschichte, Gender Studies und mittelalterliche<br />

Medizin verlagert; die Schriftleitung der Zeitschrift ‚Das Mittelalter‘ hat hier<br />

ihren Sitz. Außerdem läuft ein erfolgreiches DFG-Projekt zu deutsch-russischen<br />

Wissenschaftsbeziehungen im 18. und 19. Jahrhundert. Nachdem die medizinhistorische<br />

Sammlung bereits 2003 mit einer umfangreichen Präsentation zum<br />

150. Geburtstag von Karl Sudhoff an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> in Erscheinung<br />

52


trat, ist für das vierte Quartal <strong>2006</strong> eine Ausstellung zur Institutsgeschichte in der<br />

<strong>Universität</strong>sbibliothek Albertina geplant.<br />

Ortrun Riha<br />

53


Friedrich Wilhelm Ritschl<br />

Zum 200. Geburtstag am 6. April <strong>2006</strong><br />

Der Klassische Philologe Friedrich Ritschl wirkte nach seinem Studium in<br />

<strong>Leipzig</strong> und Halle und nach Professuren in Breslau und Bonn in seinem<br />

letzten Lebensjahrzehnt (1865 – 1876) als Ordinarius an der <strong>Universität</strong><br />

<strong>Leipzig</strong>. Seine Studien zu dem römischen Komödiendichter Plautus und<br />

zum Altlatein sichern ihm einen dauerhaften Platz in der Geschichte der<br />

Klassischen Philologie. Darüber hinaus war Ritschl der wohl einflussreichste<br />

akademische Lehrer seines Fachs im 19. Jahrhundert.<br />

55


56<br />

Was mit ihm, abgesehen von allem persönlichen Verluste, überhaupt verloren<br />

gegangen ist, ob nicht in ihm der letzte große Philologe zu Grabe<br />

getragen wurde – das weiß ich nicht mit Sicherheit zu beantworten. Aber<br />

ob die Antwort so oder ganz anders ausfalle – daß in seinen Schülern eine<br />

nie erhörte Fruchtbarkeit seiner Wissenschaft verbürgt sei –, jede Antwort<br />

fällt zu seiner Ehre aus: es ist ein gleich großer Ruhm, der letzte der<br />

Großen oder der Vater einer ganzen großen Periode zu heißen.<br />

Mit diesen Worten gedenkt Friedrich Nietzsche seines am 9. November 1876 in<br />

<strong>Leipzig</strong> verstorbenen Lehrers Friedrich Ritschl in einem Brief an dessen Witwe<br />

Sophie vom Januar 1877.<br />

Geboren wurde Friedrich Ritschl am 6. April 1806 im thüringischen Groß-Vargula<br />

bei Erfurt als Sohn eines Pfarrers. Er studierte Philologie in <strong>Leipzig</strong> bei<br />

Gottfried Hermann und in Halle bei Karl Christian Reisig, wo er sich 1829 als<br />

Vierundzwanzigjähriger habilitierte und 1832 zum Extraordinarius ernannt wurde.<br />

1833 folgte er einem Ruf an die <strong>Universität</strong> Breslau. Dort heiratete er 1838<br />

Sophie Guttentag; die beiden hatten zwei Töchter und einen Sohn. Im Jahr 1839<br />

wechselte Ritschl an die <strong>Universität</strong> Bonn, wo er bis 1865 als Ordinarius wirkte.<br />

Nach Konflikten mit seinem dortigen Kollegen Otto Jahn folgte er 1865 einem<br />

Ruf nach <strong>Leipzig</strong>. Dort lehrte Ritschl bis zu seinem Tod am 9. November 1876.<br />

Obwohl Ritschls wissenschaftlicher Ruhm vor allem auf seinen Forschungen<br />

in der lateinischen Philologie, insbesondere zu Plautus und zum Altlateinischen<br />

beruht, sind seine frühesten wissenschaftlichen Arbeiten dem Griechischen gewidmet:<br />

Bis heute nicht ersetzt ist Ritschls Ausgabe der Ecloga vocum Atticarum<br />

des Thomas Magister (Halle 1832), eines attizistischen Lexikons aus dem frühen<br />

14. Jahrhundert. 1838 erschien dann in Breslau seine Arbeit über „Die Alexandrinischen<br />

Bibliotheken und die Sammlung der Homerischen Gedichte durch<br />

Pisistratus“, die Karl Lehrs, einer der besten Kenner der antiken Homerphilologie<br />

im 19. Jahrhundert, als „goldenes Büchlein“ gepriesen hat. Ausgangspunkt<br />

ist ein neues Zeugnis zur antiken Philologiegeschichte, welches Ritschl in dieser<br />

Arbeit erstmals vollständig aus einer römischen Handschrift mitteilte und welches<br />

ihn veranlasste, auf die Geschichte der Bibliothek von Alexandria und das<br />

Zustandekommen des Homertextes einzugehen.<br />

Seit der Bonner Zeit steht jedoch der altlateinische Komödiendichter Plautus<br />

(ca. 250 – 180 v. Chr.) im Zentrum von Ritschls wissenschaftlichem Schaffen.<br />

Den entscheidenden Impuls zu einer lebenslangen Beschäftigung mit diesem<br />

Dichter hatte eine Italienreise in den Jahren 1836 bis 1837 gegeben: In Mailand


kollationierte Ritschl die umfangreichen Reste einer bislang für die Forschung<br />

nur höchst unzureichend erschlossenen antiken Plautushandschrift, die zu einem<br />

späteren Zeitpunkt palimpsestiert, d. h. mit einem anderen Text überschrieben<br />

worden war. Ritschl erkannte sofort, dass der Text des Mailänder Palimpsests<br />

für die Überlieferung des Plautus den gleichen Wert besaß wie die gesamte<br />

übrige Überlieferung des Mittelalters und dass die vielen neuen Lesarten dieser<br />

Handschrift eine grundsätzlich kritischere, strenge metrische Gesetzmäßigkeit<br />

voraussetzende Konstitution des Komödientextes erforderlich machte. Der Vorbereitung<br />

dieser Ausgabe galt fortan die ganze Kraft des Forschers Ritschl: 1845<br />

erschienen als wichtigste Vorarbeit seine ‚Parerga Plautina et Terentiana‘, die<br />

bis heute nichts von ihrer Frische eingebüßt haben und noch 1965 nachgedruckt<br />

worden sind. Ihre literatur- und überlieferungsgeschichtlichen Ergebnisse sind<br />

längst Allgemeingut der Latinistik geworden. 1848 veröffentlichte Ritschl als<br />

erste plautinische Komödie den Trinummus mit den berühmten ‚Prolegomena‘,<br />

einem 330 Seiten umfassenden editorischen Vorwort: Zum ersten Mal ist<br />

in dieser Ausgabe mit der Jahrhunderte alten Vulgata gebrochen und der Text<br />

auf der methodisch einzig statthaften Grundlage, nämlich dem exakt erfassten<br />

Zeugnis der relevanten handschriftlichen Überlieferung, errichtet. Auf den<br />

Trinummus folgten bis 1858 acht weitere Komödien; nach einer längeren Unterbrechung<br />

setzte Ritschl die Gesamtausgabe 1871 mit drei <strong>Leipzig</strong>er Schülern,<br />

Georg Goetz, Gustav Löwe und Friedrich Schöll, fort, welche diese 1894 zum<br />

Abschluss brachten. In der Zwischenzeit hatte Ritschl versucht, seinen Plautusstudien<br />

eine noch breitere Grundlage zu geben, indem er zur Sicherung der plautinischen<br />

Sprache weitere Zeugnisse des Altlateins heranzog. Auch wenn sich<br />

der Gewinn für Plautus im Nachhinein als geringer erweisen sollte, als Ritschl<br />

gehofft hatte, bedeutete die Erschließung des altlateinischen Sprachmaterials<br />

durch Ritschls Sammlung der lateinischen Inschriften aus republikanischer Zeit<br />

in seinem monumentalen, 1862 erschienenen und 1968 nachgedruckten Werk<br />

‚Priscae latinitatis monumenta epigraphica‘ einen Meilenstein für die lateinische<br />

Epigraphik und die Erforschung der lateinischen Sprachgeschichte. Zwar hat<br />

Ritschl den Abschluss seiner großen Plautus-Ausgabe nicht mehr erlebt; der Ehrentitel<br />

des ‚sospitator Plauti‘, des „Retters des Plautus“, den ihm seine ‚Parerga‘<br />

einbrachten, steht ihm dennoch zu: Seine Arbeiten haben dazu geführt, dass in<br />

der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Plautus im Zentrum der lateinischen<br />

Philologie gestanden hat. Dank der weiteren Arbeiten seiner Schüler ebenso<br />

wie seiner Gegner war um 1900 ein Kenntnisstand der plautinischen Metrik und<br />

Sprache erreicht, über den das 20. Jahrhundert nur wenig hinausgelangt ist.<br />

Noch wirkungsreicher als seine Forschung und seine Publikationen ist Ritschls<br />

Tätigkeit als akademischer Lehrer gewesen, der er im übrigen auch selbst die<br />

57


größere Bedeutung zugewiesen hat: „In erster Linie steht, für Schule wie für<br />

<strong>Universität</strong>, daß einer Lehrer sei, erst in zweiter, daß Gelehrter.“ Der Einfluss<br />

seiner Lehre liegt wenigstens teilweise in Ritschls wissenschaftlicher Methode<br />

begründet, die nicht nur seine Publikationen, sondern auch seine Seminare prägte<br />

und später als „Bonner Schule“ bekannt geworden ist. Ritschls Methode fußt<br />

auf einer sorgfältigen Feststellung und kritischen Prüfung der Überlieferung,<br />

zieht im Gegensatz zu bloßer Wortphilologie immer auch inschriftliches Material<br />

und archäologische Funde heran und zielt letztlich auf eine „Reproduction des<br />

classischen Alterthums durch Anschauung und Erkenntniß aller seiner Aeußerungen“.<br />

Diese Gesamtsicht der antiken Zeugnisse vermittelte Ritschl jedoch in<br />

seinen Publikationen und Seminaren nicht bloß als ein Ergebnis, sondern er war<br />

stets bemüht, seine Leser und Zuhörer gleichsam seinen eigenen Erkenntnisweg<br />

nachschreiten zu lassen und sie dadurch zur eigenen, kritischen Analyse anzuregen.<br />

Zu dieser Lehrmethode, die für die Studenten in den Vorlesungen und mehr<br />

noch in den berühmten Seminaren Forschung erlebbar und lebendig machte, trat<br />

das große Charisma des Philologen hinzu, das auf seine Schüler geradezu elektrisierend<br />

wirkte und das seinen wohl bekanntesten Schüler, Friedrich Nietzsche, in<br />

Ecce homo zu der Aussage veranlasste, Ritschl sei „der einzige geniale Gelehrte,<br />

den ich bis heute zu Gesicht bekommen habe“.<br />

Ritschl verstand es jedoch nicht nur, „den eigenen Geistesfunken auf andere zu<br />

übertragen“ (so die Beschreibung seines Schülers Otto Ribbeck, dem wir eine<br />

bis heute grundlegende zweibändige Ritschl-Biographie verdanken), sondern<br />

es gelang ihm auch, früh die Neigungen und Fähigkeiten seiner Studenten zu<br />

erkennen, zu lenken und zu fördern. Mit großer Umsicht und gutem Gespür<br />

setzte er sie auf besondere Desiderata der Wissenschaft an, so z. B. Vahlen auf<br />

die Fragmente des Ennius, Ribbeck auf die Fragmente des frühen römischen<br />

Dramas, Schöll auf das 12-Tafel-Gesetz, Wilmanns auf die grammatischen Fragmente<br />

Varros und Reifferscheid auf die Reste der verlorenen Schriften Suetons.<br />

Die daraus hervorgegangenen Arbeiten waren lange Standardwerke der Klassischen<br />

Philologie, und einige von ihnen sind sogar bis heute nicht ersetzt (so<br />

z. B. die Ausgaben Ribbecks und Reifferscheids). Dank der großen Zahl seiner<br />

Schüler – an den Symbola Philologorum Bonnensium (1864), einer Festschrift<br />

zu Ehren der 25jährigen Lehrtätigkeit Ritschls in Bonn, waren schon 43 ehemalige<br />

Schüler, in der Mehrzahl <strong>Universität</strong>sprofessoren, beteiligt! – wurde Ritschl<br />

automatisch zu einem der wichtigsten Wissenschaftsorganisatoren des 19. Jahrhunderts<br />

in Deutschland. Diese Rolle spielte er auch außerhalb seines Schülerkreises,<br />

indem er mehrere altertumswissenschaftliche Großprojekte anstieß oder<br />

förderte. Als Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften setzte sich<br />

Ritschl zusammen mit Theodor Mommsen erfolgreich für die Veröffentlichung<br />

58


der lateinischen Inschriften im Corpus Inscriptionum Latinarum ein, einem bis<br />

heute weitergeführten Standardwerk der gesamten Altertumswissenschaft. Ähnliche<br />

Verdienste erwarb sich Ritschl um das Wiener Corpus der Kirchenväter<br />

und um die in <strong>Leipzig</strong> angesiedelte Reihe der Bibliotheca Scriptorum Graecorum<br />

et Romanorum Teubneriana.<br />

Marcus Deufert, Jan Felix Gaertner<br />

59


Albrecht Alt<br />

Zum 50. Todestag am 24. April <strong>2006</strong><br />

Albrecht Alt (1883 – 1956) war ein bedeutender Alttestamentler und Orientalist,<br />

der von 1923 bis zu seinem Tode an der <strong>Leipzig</strong>er Theologischen<br />

Fakultät lehrte. Er war Ehrendoktor mehrerer Fakultäten, Mitglied des<br />

Deutschen Archäologischen Instituts und Ehrenmitglied der amerikanischen<br />

Society of Biblical Literature and Exegesis. Durch die Einführung der territorialgeschichtlichen<br />

Betrachtungsweise in die Palästinakunde hat er wesentliche<br />

Beiträge zum Verständnis der Geschichte Israels geleistet.<br />

61


Der 50. Todestag von Albrecht Alt (20. September 1883 – 24. April 1956) gibt<br />

Gelegenheit, eines Mannes zu gedenken, der zu den prägenden Gestalten der<br />

alttestamentlichen Wissenschaft des 20. Jahrhunderts in Deutschland gehörte<br />

und weit über die Grenzen seines Faches und Heimatlandes als Lehrer und Wissenschaftler<br />

geachtet und verehrt wurde. In den 33 Jahren seines Wirkens an der<br />

<strong>Leipzig</strong>er Theologischen Fakultät war er ein Magnet, der viele Studierende in die<br />

Hörsäle lockte. In seinen letzten Lebensjahren opferte er seine Semesterferien<br />

und las viermal ein volles Semesterprogramm in Tübingen, zweimal außerdem<br />

noch in Göttingen und Heidelberg, indem er in der Woche mit der Bahn hin- und<br />

zurückfuhr. Nicht nur Studierende der Theologie und Orientalistik füllten die<br />

Bänke, sondern auch Kollegen und Freunde, „um ihn zu hören, wie er es sagte“<br />

(S. Herrmann). Die Faszination, die von seiner Person ausging, wird von seinen<br />

Schülern und Kollegen eindrücklich beschrieben. Persönlich anspruchslos, war<br />

er ein Mann von „unbedingter Lauterkeit und Wahrhaftigkeit“, der „gerecht<br />

und fair“ (R. Smend) urteilte und dessen Verhältnis zur Lehre und Forschung<br />

mit dem Wort „Hingabe“ (W. F. Albright) charakterisiert werden kann. Für die<br />

Lehre bedeutete das zunächst, dass er ein hohes Maß an Lehrveranstaltungen<br />

wahrnahm. Er hielt regelmäßig zwei vierstündige Hauptvorlesungen, oft auch<br />

noch eine Spezialvorlesung zu einem Thema außerhalb des Curriculums, dazu<br />

ein Hauptseminar und eine Übung an der biblisch-archäologischen Sammlung.<br />

Von 1941 – 1947 musste er die alttestamentliche Wissenschaft einschließlich<br />

des Hebräischunterrichts allein vertreten und hat durchschnittlich 20, nach eigenen<br />

Angaben gelegentlich sogar 29 Wochenstunden gehalten. Sowohl sein<br />

jüngerer Kollege, der Extraordinarius Joachim Begrich, als auch sein Assistent<br />

Werner Müller waren zum Heeresdienst eingezogen worden. Beide sind gefallen,<br />

und erst zum Sommersemester 1948 erhielt Alt mit Hans Bardtke wieder<br />

Unterstützung. Eindrucksvoll war aber auch die Art, wie Alt lehrte. Er „las“ nicht<br />

nur, sondern gestaltete die Vorlesungen mit vollem stimmlichem Einsatz und<br />

einem gewissen schauspielerischen Talent. Für Rat und Hilfe stand er stets zur<br />

Verfügung. Zu seinem 70. Geburtstag lohnten die Studenten sein Engagement<br />

mit einem Fackelzug, während Kollegen und Schüler in Ost und West den Wissenschaftler<br />

mit zwei Festschriften ehrten.<br />

Die außerordentlichen Lehrerfolge Alts wären ohne seine Hingabe an die Forschung<br />

undenkbar gewesen. Alt entsagte aller Ablenkung und widmete sich<br />

einem Thema, das man mit Fug und Recht als sein Thema bezeichnen kann: die<br />

Palästinawissenschaft in umfassendem Sinn, aber nicht um ihrer selbst willen,<br />

sondern in steter Beziehung auf das Alte Testament. Für dieses Thema war er,<br />

als er 1923 seine Lehrtätigkeit in <strong>Leipzig</strong> begann, glänzend vorbereitet. Der in<br />

Stübach in Mittelfranken geborene Pfarrerssohn hatte eine solide humanistische<br />

62


Ausbildung am Progymnasium in Neustadt an der Aisch und am Gymnasium in<br />

Ansbach erhalten und anschließend von 1902 – 1906 in Erlangen und <strong>Leipzig</strong><br />

evangelische Theologie und orientalische Philologie studiert. Danach besuchte<br />

er von 1906 – 1908 das Predigerseminar in München. Als Stipendiat seiner<br />

bayrischen Landeskirche wurde der Predigtamtskandidat 1908 für fünf Monate<br />

zu einem Lehrkurs des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft<br />

des Heiligen Landes in Jerusalem entsandt. Die Grunderfahrung des<br />

Landes Palästina sollte ihn hinfort nicht mehr loslassen. Der dort unter Leitung<br />

von Gustaf Dalman empfangene Anschauungsunterricht über Aufgaben und<br />

Methoden der Erforschung des Alten Orients wurde für sein weiteres Leben<br />

entscheidend. Er beschloss, sich „ganz der wissenschaftlichen Arbeit am Alten<br />

Testament und an den orientalischen Nachbarfächern (besonders Ägyptologie,<br />

Assyriologie und altorientalische Archäologie) zu widmen“ (Alt).<br />

Der Entschluss fiel in eine Zeit, in der die noch junge Assyriologie beachtliche<br />

Erfolge erzielte und der Streit um die Abhängigkeit des Alten Testaments von<br />

der literarischen Hinterlassenschaft des Zweistromlandes (sog. Babel-Bibel-<br />

Streit) voll entbrannte. Dieser Streit stieß Alt ab. Er ging daher nach seiner<br />

Rückkehr aus Palästina, wo er auch Arabisch gelernt hatte, und nachdem er eine<br />

Anstellung als Inspektor des Theologischen Studienhauses in Greifswald angetreten<br />

hatte, sogleich an die Ausarbeitung einer Promotionsschrift, die sich den<br />

politischen Beziehungen zwischen Israel und Ägypten widmete. 1909 erwarb<br />

er mit dieser Dissertation, die ihn auch als kundigen Ägyptologen auswies, die<br />

theologische Licentiatenwürde der <strong>Universität</strong> Greifswald. Zugleich habilitierte<br />

er sich dort als Privatdozent. 1912 wurde er zum planmäßigen außerordentlichen<br />

Professor ernannt. Im Winter 1912 – 1913 weilte er – nunmehr als Mitarbeiter<br />

Dalmans – wieder am Jerusalemer Institut. 1914 verlieh ihm die Greifswalder<br />

Fakultät den theologischen Ehrendoktor. Im gleichen Jahr erfolgte seine Berufung<br />

als ordentlicher Professor nach Basel. Die Baseler haben ihn aber sogleich<br />

wieder entbehren müssen, da er als deutscher Staatsbürger von 1914 – 1918 zum<br />

Kriegsdienst eingezogen wurde, zunächst ein Jahr lang in der Heimat als Sanitätsunteroffizier,<br />

dann 1916 – 1918 bei den der türkischen Armee unterstellten<br />

deutschen Truppen in Syrien und Palästina, wo er zuletzt in Nazareth als wissenschaftlicher<br />

Beamter für kartographische Arbeiten zuständig war. 1921 erreichte<br />

ihn in Basel ein Ruf als Ordinarius an die Theologische Fakultät in Halle (Saale),<br />

die ihn aber nur im Sommersemester 1921 sah, denn in demselben Jahr erhielt er<br />

auch die Berufung nach <strong>Leipzig</strong>, die er annahm, da ihm die <strong>Leipzig</strong>er Orientalistik<br />

ein günstiger Rahmen für die eigene Arbeit zu sein schien.<br />

63


Alt trat die <strong>Leipzig</strong>er Professur jedoch nicht sofort an, sondern ließ sich zunächst<br />

von 1921 – 1923 nach Jerusalem beurlauben, um dort als Direktor des Deutschen<br />

Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes und als<br />

Propst der deutschen evangelischen Gemeinde der Erlöserkirche die deutschen<br />

kirchlichen und wissenschaftlichen Beziehungen auszubauen. Damit war das<br />

Fundament für die äußerst fruchtbare Verbindung von Lehre und Forschung<br />

gelegt, die seine Tätigkeit ab 1923 in <strong>Leipzig</strong> auszeichnen sollte. Jeweils in den<br />

Sommerferien veranstaltete Alt von 1924 bis 1933 Lehrkurse des Jerusalemer<br />

Instituts, über die er im Palästinajahrbuch zu berichten pflegte, und trieb eigene<br />

territorialgeschichtliche und topographische Studien. Seine Lehrkurse genossen<br />

legendären Ruf. Vorwiegend jüngere deutsche Gelehrte, aber auch solche aus der<br />

Schweiz, den Niederlanden, aus Dänemark, Finnland und Amerika wurden von<br />

ihm in die Palästinawissenschaft eingeführt. Die Vielseitigkeit der Institutsarbeit<br />

war wiederum Gewinn aus einem Verzicht. Alt hat selbst keine Ausgrabungen<br />

vorgenommen oder sich daran beteiligt. Die archäologische Arbeit beschränkte<br />

sich auf die Oberflächenforschung in Form der Auswertung der Keramik. Seit<br />

1925 war Alt Vorsitzender des Deutschen Vereins zur Erforschung Palästinas<br />

und von 1927 bis 1941 Herausgeber des Palästinajahrbuches. Die deutschen Verhältnisse<br />

seit 1934 verhinderten die Fortsetzung der Lehrkurse. Nur 1935 weilte<br />

Alt noch einmal zu einer Forschungsaufgabe in Palästina, danach bis zu seinem<br />

Tode nicht mehr. Aber auch als der Weg nach Palästina verschlossen blieb, hat<br />

er, nun auf literarische Art, an der Palästinaforschung weiterhin maßgeblich<br />

teilgehabt.<br />

In das Jahrzehnt nach seinem Beginn in <strong>Leipzig</strong> fallen die wichtigsten und<br />

grundlegendsten Arbeiten Alts. Es sind zum ganz überwiegenden Teil Arbeiten<br />

zur Geschichte Israels. In ihnen gelangte er zu fundamentalen Thesen über die<br />

Entstehung und Struktur des alten Israel und seines Rechts. Religionsgeschichtliche<br />

Arbeiten sind in der Minderzahl, aber auch dort hat er eine Diskussion<br />

angestoßen, die bis heute fortdauert. Alt war in erster Linie Historiker, freilich<br />

„theologischer Historiker“, wie er sich gern selbst genannt haben soll, denn<br />

er blieb immer auch Exeget des Alten Testaments. Zwei seiner wichtigsten<br />

Arbeiten analysieren Prophetentexte (Jesaja 8,23-9,6 und Hosea 5,8-6,6) und<br />

versuchen, sie von einem möglichen historischen Hintergrund her zu verstehen.<br />

Er arbeitete mit an der dritten Auflage der „Biblia Hebraica“ von Rudolf<br />

Kittel, einer textkritischen Ausgabe des Alten Testaments, und deren weiteren<br />

Auflagen. Zu Recht gilt Alt aber als Klassiker der Geschichte des Volkes Israel<br />

und seiner Nachbarn, ohne freilich je ein zusammenfassendes Werk dieses Titels<br />

geschrieben zu haben. Es gibt keine dickleibigen Bücher aus seiner Feder. Er bevorzugte<br />

die kleine Form des Aufsatzes, war „seinem Wesen nach Essayist“ (M.<br />

64


Weippert). Ein häufig überliefertes Bonmot von ihm lautet: „Was man nicht auf<br />

hundert Seiten sagen kann, läßt sich überhaupt nicht sagen!“ (S. Herrmann) Seine<br />

Publikationsform war daher nicht auf eine breite Öffentlichkeit ausgerichtet:<br />

Reformationsprogramme der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong>, Akademieberichte, Beiträge<br />

in Festschriften und Fachzeitschriften. Erst spät entschloss er sich, eine Auswahl<br />

seiner wichtigsten Aufsätze in einer dreibändigen Ausgabe („Kleine Schriften<br />

zur Geschichte des Volkes Israel“, 1953 – 1959), deren dritter Band erst nach<br />

seinem Tode erschien, einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen.<br />

Wenn seine Gedanken und mit Phantasie entwickelten Hypothesen dennoch nicht<br />

nur einem engen Kreis von Fachgelehrten bekannt wurden, so liegt das wohl daran,<br />

dass er seine Studenten und Assistenten an der Entwicklung seiner Gedanken<br />

teilhaben ließ. Vor allem durch seine hervorragende Kenntnis der Landschaft<br />

gelang es ihm, das Land sprechen zu lassen. Seine „territorialgeschichtliche<br />

Betrachtungsweise“ ging davon aus, dass „die einmal geschaffenen territorialen<br />

Ordnungen in aller Welt sehr zäh an ihrem Boden zu haften pflegen und in der<br />

Regel auch bei scheinbar tiefgreifenden Umgestaltungen sozusagen unter der<br />

Decke noch fortbestehen“ (Kleine Schriften II, 440). Die Gesamtdarstellungen<br />

der Geschichte Israels schrieben seine Schüler Martin Noth, Siegfried Herrmann<br />

und Herbert Donner, eine Theologie der Überlieferungen Israels Gerhard von<br />

Rad. Beim Ausbau der Thesen Alts zeigte es sich, dass nicht alles der Kritik<br />

gewachsener Kenntnisse standhalten konnte. Alt war sich der „engen Grenzen<br />

des wissenschaftlich Erreichbaren“ durchaus bewusst. Doch seine Arbeiten sind<br />

von bleibendem heuristischem Wert und Musterbeispiele für den sorgfältigen<br />

Umgang mit den Quellen geblieben. Das Wegweisende dieser Arbeiten zeigt<br />

sich nicht zuletzt darin, dass zwei philosophische (<strong>Leipzig</strong>, Tübingen) und eine<br />

juristische Fakultät (Frankfurt/Main) ihn zu ihrem Ehrendoktor machten.<br />

Dietmar Mathias<br />

65


Institut für Pathologie<br />

Zum 100. Jahrestag der Eröffnung am 5. Mai <strong>2006</strong><br />

Das Pathologische Institut der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> an der Ecke Liebigstraße/<br />

Johannisallee begeht <strong>2006</strong> das Jubiläum seines 100-jährigen Bestehens.<br />

Das Jugendstilgebäude gehört funktionell und architektonisch zu den bedeutenden<br />

Einrichtungen im <strong>Leipzig</strong>er Medizinischen Viertel.<br />

67


Was geht uns durch den Kopf, wenn wir das Wort Pathologie hören? Dem<br />

Begriff haftet etwas unbestimmt Gruseliges an, verbunden mit Krankheit, Tod,<br />

Endgültigkeit. Daran werden viele Menschen nicht gern erinnert. Dennoch ist<br />

die Pathologie, abgeleitet von Pathos und Logos, als Lehre von den Krankheiten<br />

aus unserem Leben nicht wegzudenken. Sie nimmt zu Recht einen hohen Stellenwert<br />

innerhalb der medizinischen Wissenschaft ein.<br />

Das erste Pathologische Institut wurde 1871, zeitgleich mit der Eröffnung des<br />

neuen „Städtischen Krankenhauses zu St. Jakob“ an der Waisenhausstraße, der<br />

heutigen Liebigstraße, eingeweiht. Die als gemeinsame Einrichtung von Stadt<br />

und <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> betriebene sogenannte „Anlage im Barackenstil“ bildete<br />

den Ausgangspunkt für den Hauptstandort der <strong>Leipzig</strong>er <strong>Universität</strong>smedizin.<br />

Zum Jakobshospital gehörten ein Zentralgebäude, in dem die Verwaltung und<br />

die Privatstationen untergebracht waren, und die eigentlichen Baracken, in denen<br />

sich die Stationen für Innere Medizin und Chirurgie befanden. Diese waren untereinander<br />

und mit dem Zentralgebäude durch ein überdachtes Korridorsystem<br />

verbunden und gruppierten sich um eine Gartenanlage. Unter funktionellen Aspekten<br />

war das weitläufige Barackensystem zur damaligen Zeit höchst sinnvoll.<br />

Wenn man bedenkt, dass die von dem ungarischen Arzt Ignatz Semmelweis<br />

(1818 – 1865) eingeführte Methode des Händewaschens vor chirurgischen<br />

bzw. geburtshilflichen Eingriffen erst seit 1847 Verbreitung fand und dass das<br />

Carbol-Spray erstmals 1868 durch Joseph Lister (1827 – 1912) in Glasgow zur<br />

Anwendung gebracht wurde, lässt sich leicht schlussfolgern, dass Antisepsis und<br />

erst recht Asepsis zum Zeitpunkt der Erbauung des neuen Jakobshospitals kaum<br />

bzw. noch gar nicht bekannt waren und sich erst in der Folgezeit durchsetzten.<br />

Die Ansteckungsgefahr versuchte man zu verringern, indem man Patienten mit<br />

verschiedenen Krankheitsbildern durch separate Unterbringung voneinander<br />

trennte. Da der Luftbehandlung ebenfalls eine große Bedeutung beigemessen<br />

wurde, führte von jeder Baracke eine Veranda in den Park. Als zentraler Punkt<br />

des Parks und als Schnittpunkt der Hauptwege wurde der noch heute existierende<br />

Springbrunnen angelegt. Wirtschaftsgebäude wie die Wäscherei, die Schlosserei<br />

und das Heizhaus ergänzten die Anlage.<br />

In unmittelbarer Nachbarschaft des Jakobshospitals befanden sich an der Liebigstraße<br />

außerdem bereits die Physiologische Anstalt (1869 eröffnet), das nicht zur<br />

Medizinischen Fakultät gehörende Chemische Institut (ebenfalls 1869 eröffnet)<br />

und das bereits erwähnte Pathologische Institut. Den Baugrund, auf dem das<br />

zweistöckige Gebäude errichtet worden war, hatte die Stadt <strong>Leipzig</strong> unentgeltlich<br />

zur Verfügung gestellt. Die Gesamtbaukosten beliefen sich auf 36.380 Taler<br />

(etwa 110.000 Mark). Nur wenige Jahre nach seiner Einweihung wurde das<br />

68


Gebäude mehrfach umgebaut. Die größte Veränderung betraf den Aufbau eines<br />

weiteren Stockwerkes, der das 1878 neu gegründete Hygieneinstitut aufnahm,<br />

sowie den Anbau eines großen Hörsaals an der Rückfront des Gebäudes. Da<br />

beide Institute qualitativ und quantitativ immer mehr Aufgaben zu bewältigen<br />

hatten, erwiesen sich die Umbauten jedoch als unzureichend. Forderungen nach<br />

räumlicher Trennung von Pathologie und Hygiene wurden an der Wende vom<br />

19. zum 20. Jahrhundert deshalb immer dringlicher. Unter Berücksichtigung der<br />

konkreten Vorschläge des seit 1900 im Amt befindlichen Direktors des Pathologischen<br />

Instituts Felix Marchand (1846 – 1928), dessen Büste noch heute im<br />

Treppenhaus des Instituts steht, bewilligte das Königliche Ministerium in Dresden<br />

im Mai 1903 schließlich die Mittel für den Neubau eines Pathologischen Instituts.<br />

Das bisherige Gebäude wurde durch das Hygieneinstitut genutzt. Für den<br />

Neubau des Pathologischen Instituts stellte die Stadt <strong>Leipzig</strong> das Grundstück an<br />

der Ecke Johannisallee/Liebigstraße gegen eine jährliche Abfindung von 3.000<br />

Mark zur Verfügung. Die Baukosten wurden auf 800.000 Mark festgesetzt. Nach<br />

den Bauzeichnungen des <strong>Leipzig</strong>er Architekten Theodor Kösser (1854 – 1926),<br />

von dem u. a. auch das Messehaus Mädlerpassage stammt, entstand in kurzer<br />

Zeit ein moderner und formschöner Jugendstilbau. Dieser wurde etappenweise<br />

in Betrieb genommen.<br />

Das Richtfest fand am 20.07.1904 statt. Die Sektionsräume und die beiden<br />

Hörsäle konnten am 01.11.1905 zur Benutzung freigegeben werden. Der erste<br />

Hörsaal, in dem die Vorlesungen für pathologische Anatomie abgehalten wurden,<br />

befand sich im Ostflügel des Instituts und reichte bis ins Dachgeschoss.<br />

Der zweite Hörsaal lag im Mittelbau des Instituts und diente zur Durchführung<br />

klinischer Demonstrationskurse. Die feierliche Einweihung des gesamtem Gebäudes<br />

fand am 5. Mai 1906 statt. Neben den Funktions- und Unterrichtsräumen<br />

konnten nun auch die wertvolle Sammlung und die Bibliothek sachgerecht<br />

untergebracht und deren Bestände in ansprechenden Räumen aufgestellt werden.<br />

Weiterhin gab es einen großen Mikroskopiersaal, Arbeitszimmer für die<br />

Mitarbeiter, verschiedene Tierställe sowie Vorrats-, Wirtschafts- und Wohnräume.<br />

In den Neubau des Instituts für Pathologie sollte eigentlich auch das 1900<br />

gegründete Institut für Gerichtsmedizin als gleichberechtigter Untermieter mit<br />

einziehen. Aus Kostengründen erhielt es zunächst aber nur einige Zimmer im<br />

Erdgeschoss des Westflügels. Für die spätere Erweiterung wurde eine Baulücke<br />

an der Johannisallee frei gelassen. Die endgültige Fertigstellung des Gebäudekomplexes<br />

Pathologie/Gerichtsmedizin gelang erst 1934.<br />

Was geschah nun in dem neu erbauten Institut? Marchand umschrieb die<br />

Aufgaben folgendermaßen: „Das pathologische Institut hat verschiedenen<br />

69


Zwecken zu dienen: 1. als Anstalt der <strong>Universität</strong>, zum Unterricht und zur<br />

Forschung in der pathologischen Anatomie und der allgemeinen Pathologie;<br />

2. als Leichenschauhaus für das städtische Krankenhaus …“<br />

Hinter dieser sachlich nüchternen Beschreibung zu einem nach wie vor sensiblen<br />

Thema verbirgt sich allerdings ein sehr komplexes Tätigkeitsfeld. Zu den Hauptaufgaben<br />

gehört eben nicht nur die Klärung der Todesursache durch Obduktion,<br />

sondern, in enger Zusammenarbeit mit der klinischen Medizin, auch die Prüfung<br />

von Organveränderungen durch Gewebe- und Blutuntersuchungen. Die Analyse<br />

makroskopischer und mikroskopischer Befunde dient in jedem Fall dazu, krankhafte<br />

Veränderungen zu erkennen, die gestörte Funktion zu verstehen und ein<br />

fundiertes Verständnis klinischer Krankheitsbilder zu ermöglichen.<br />

Die für Außenstehende nicht vermutete Nähe der Pathologie zur klinischen<br />

Medizin zeigte sich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vor allem in<br />

den vielfältigen Beziehungen zu anderen medizinischen Fachgebieten. Um 1900<br />

hatten sich aus den klassischen Fachgebieten Anatomie, Physiologie, Pathologie,<br />

Innere Medizin, Chirurgie und Entbindungskunst weitere Lehrgebiete entwickelt.<br />

Als Folge davon siedelten sich innerhalb kürzester Zeit weitere Instituts- und<br />

Klinikneubauten an der Liebigstraße an. Bis 1912 eröffneten das Anatomische<br />

Institut (1875), der Klinische Hörsaal (1879), die Augenklinik (1883), das Pharmakologische<br />

Institut und die Medizinischen und Chirurgischen Polikliniken<br />

(1883), das Rote Haus, als Medizinische Klinik genutzt (1889), die alte Frauenklinik<br />

(1892), die Chirurgische Klinik (1900), die Zahnklinik (1910) und die<br />

HNO-Klinik (1912). In dieser Zeit entstand der Name <strong>Leipzig</strong>er Medizinisches<br />

Viertel. Er wurde als Hinweis auf die Funktion des Stadtteils geprägt, bezog sich<br />

aber auch auf die beachtliche Anzahl weltbekannter Ärzte und Wissenschaftler,<br />

die in den Instituten und Kliniken arbeiteten. An der Wende vom 19. zum<br />

20. Jahrhundert erlebte die <strong>Leipzig</strong>er <strong>Universität</strong>smedizin ihre Blütezeit.<br />

Das Medizinische Viertel wurde im Zweiten Weltkrieg, vor allem bei dem<br />

schweren Bombenangriff in der Nacht des 4. Dezember 1943, schwer zerstört.<br />

Auch das Pathologische Institut blieb davon nicht verschont. Der Hörsaal im<br />

Ostflügel und das Dachgeschoss der Institute für Pathologie und für Gerichtsmedizin<br />

brannten vollständig aus. Die wertvolle Präparatesammlung und die<br />

Bibliothek des Pathologischen Instituts konnten glücklicherweise zum überwiegenden<br />

Teil gerettet werden. Auch der im Mittelbau gelegene Hörsaal für die<br />

klinischen Demonstrationskurse blieb unversehrt. Mit seinen amphitheatralisch<br />

angeordneten Sitzplätzen bietet er ausgezeichnete Sichtverhältnisse und wird<br />

deshalb noch immer für den Unterricht genutzt.<br />

70


Die Schäden am Pathologischen Institut wurden nach 1945 mit bescheidenen<br />

Mitteln zunächst provisorisch beseitigt. In den Jahren 1952/53 wurden zudem<br />

erste Pläne zum weitreichenden Umbau und zur Erweiterung des Institutes erarbeitet.<br />

In mehreren Bauabschnitten sollte zunächst der ausgebrannte theoretische<br />

Hörsaal abgerissen, der Ostflügel verlängert und der Gebäudekomplex durch einen<br />

rechtwinklig zur Johannisallee verlaufenden Querriegel geschlossen werden.<br />

Anschließend sollte ein von Klinikern und Theoretikern gemeinsam nutzbarer<br />

neuer großer Hörsaal als Verbindungsbau zwischen dem Institut für Pathologie<br />

und der Medizinischen Klinik entstehen. Die Ausführungen wurden jedoch<br />

mehrfach verschoben und schließlich nicht realisiert. Die Kriegsfolgen sind am<br />

Institut für Pathologie deshalb teilweise bis in die Gegenwart sichtbar geblieben.<br />

Dies betrifft vor allem das vollkommen verändert aufgebaute Dachgeschoss<br />

und den Ostflügel. Dieser konnte erst 2000 durch Sanierung und Umbau wieder<br />

vollständig genutzt werden, verlor dabei aber seine Zuordnung zum Institut für<br />

Pathologie. Er beherbergt nun das Medizinisch-Experimentelle Zentrum und<br />

bildet mit dem Neubau des Max-Bürger-Forschungszentrums eine funktionale<br />

Einheit. Optisch reizvoll ist dabei die Einbindung zeitgenössischer Architektur<br />

in die historische Bausubstanz.<br />

Bis zum Jahr 2010 sollen das Institut für Pathologie und das Institut für Rechtsmedizin<br />

grundlegend rekonstruiert und modernisiert werden. Seit August 2005<br />

werden Hörsaal- und Sektionstrakt bereits umgebaut. Die Arbeiten gehen<br />

während dieser Zeit in einem eigens dafür errichteten Interimsgebäude weiter.<br />

In einem weiteren Bauabschnitt wird das Institut für Rechtsmedizin saniert.<br />

Anschließend sollen die Arbeitsräume und Forschungslabore des Instituts für<br />

Pathologie und der selbstständigen Abteilung für Neuropathologie funktionell<br />

neu geordnet und mit moderner Technik ausgestattet werden. Die äußere Fassadenstruktur<br />

und die derzeitige Dachkonstruktion bleiben bei der Rekonstruktion<br />

aber erhalten und erinnern auch weiterhin an die wechselvolle Geschichte des<br />

Gebäudes.<br />

Cornelia Becker<br />

71


Oskar von Gebhardt<br />

Zum 100. Todestag am 9. Mai <strong>2006</strong><br />

Am 9. Mai 1906 verstarb Oskar von Gebhardt, der erste Direktor der<br />

<strong>Leipzig</strong>er <strong>Universität</strong>sbibliothek in ihrem neuen Gebäude in der Beethovenstraße.<br />

Gebhardt war aber nicht nur ein fachlich versierter Bibliothekar,<br />

sondern – von Hause aus Theologe – auch ein gelehrter Editor antiker<br />

christlicher Texte.<br />

73


„Gebhardts Leben floß wie ein breiter, stiller, von Bäumen beschatteter Strom<br />

dahin.“ Diese Charakterisierung, nicht etwa in einem Nachruf, sondern in einem<br />

kurz nach Gebhardts Tod über ihn verfassten Artikel in der „Protestantischen<br />

Realenzyklopädie für Theologie und Kirche“ zu finden, ist typisch für die Sicht<br />

der Zeitgenossen. Sie sagten ihm das „Gewissen eines Herrnhuters“, die „Ausdauer<br />

einer Maschine“, den Habitus eines „trocknen und nüchternen Gelehrten“,<br />

„Zurückhaltung“ oder „Vornehmheit der Denkart, gepaart mit einer großen persönlichen<br />

Anspruchslosigkeit“ nach und nannten ihn „gemessen und kühl“. Sein<br />

Freund Adolf von Harnack allerdings wusste auch von Gebhardts Phantasie,<br />

seinem Humor und seiner künstlerischen Natur zu berichten.<br />

Im Blick auf die <strong>Universität</strong>sgeschichte ist an Oskar von Gebhardt zu erinnern,<br />

weil er von 1893 bis zu seinem Tod im Jahre 1906 Leiter der <strong>Universität</strong>sbibliothek<br />

war (zuerst mit dem Titel eines Oberbibliothekars, dann eines Direktors).<br />

1891 war die Bibliothek in ihr neues Domizil in der Beethovenstraße umgezogen,<br />

und offensichtlich war Gebhardt nicht nur ein zurückgezogener Gelehrter,<br />

sondern auch ein guter Organisator, der die Bibliotheksverwaltung neu und<br />

benutzerfreundlich ordnete und sich überdies um die Katalogisierung der Handschriftenbestände<br />

kümmerte. Für seine Aufgabe war er durch eine stetige Karriere<br />

hervorragend qualifiziert. 1875 hatte er seine bibliothekarische Tätigkeit als<br />

Volontär an der Straßburger <strong>Universität</strong>sbibliothek begonnen, 1875/76 hatte er<br />

als Bibliotheksassistent an der <strong>Leipzig</strong>er <strong>Universität</strong>sbibliothek gearbeitet. Die<br />

weiteren Stationen waren Halle (als Kustos und Unterbibliothekar von 1876 bis<br />

1880), Göttingen (als Unterbibliothekar von 1880 bis 1884) und Berlin (als Bibliothekar<br />

und Direktor der Druckschriftenabteilung von 1884 bis 1893).<br />

Die Berufung nach <strong>Leipzig</strong> verlief dennoch nicht reibungslos, wofür ein im <strong><strong>Universität</strong>sarchiv</strong><br />

zu findender kurzer Briefwechsel zwischen dem Kultusministerium<br />

in Dresden und der Philosophischen Fakultät aus der Zeit vom Dezember<br />

1892 bis zum März 1893 zeugt. Das Amt des Leiters der <strong>Universität</strong>sbibliothek<br />

war zu dieser Zeit mit einer Honorarprofessur verbunden, und auch Gebhardt<br />

sollte auf eine solche ernannt werden. Die Stellungnahme der Philosophischen<br />

Fakultät fiel anders aus, als vom Ministerium erwartet. Die Fakultät verweigerte<br />

sich: „Soweit der Facultät bekannt ist, gehören die wissenschaftlichen Studien,<br />

die Herr von Gebhardt bisher neben seiner wesentlich ein reines Verwaltungsamt<br />

bildenden Bibliothekarsstellung privatim verfolgt hat, dem theologischen<br />

Gebiete an.“ Nach Rücksprache mit Gebhardt umschrieb das Ministerium das<br />

ins Auge gefasste Fachgebiet dann mit „Buch- und Schriftwesen“. Gebhardt<br />

teilte im Zuge der Verhandlungen mit, er gehe davon aus, „daß es sich bei seiner<br />

Ernennung zum Honorarprofessor nicht sowohl um eine Verpflichtung, als<br />

74


vielmehr die Berechtigung zum Halten von Vorlesungen handle“. Er war mit<br />

dem Bibliothekswesen vertraut genug, um zu ermessen, dass er, wie er ebenfalls<br />

dem Ministerium mitgeteilt hatte, wenigstens in den ersten Semestern nicht dazu<br />

kommen werde, Vorlesungen zu halten. Trotz dieses Entgegenkommens sperrte<br />

sich die Philosophische Fakultät aber immer noch; letztlich wurde sie vom<br />

Ministerium vor vollendete Tatsachen gestellt. Tatsächlich lehrte Gebhardt nie<br />

und konzentrierte sich ganz auf seine Verpflichtungen an der Bibliothek und auf<br />

seine wissenschaftlichen Interessen. 1896 wurde er in die Sächsische Akademie<br />

der Wissenschaften gewählt.<br />

Abgesehen von der <strong>Universität</strong>sgeschichte, ist Gebhardts Bedeutung für die<br />

Wissenschaftsgeschichte hervorzuheben. Sein Name findet sich über einer ansehnlichen<br />

Zahl gelegentlich noch heute in Gebrauch befindlicher Ausgaben<br />

christlicher Texte der Antike. Seine großen Leistungen liegen auf dem Gebiet<br />

der „Patristik“, die zu seiner Zeit die Königsdisziplin innerhalb des Faches war,<br />

das Gebhardt auch studiert hatte, der Theologie nämlich. Jene Disziplin widmete<br />

und widmet sich bis heute nicht nur den „Kirchenvätern“; vielmehr haben<br />

Gebhardt, Harnack und andere ohne Rücksicht auf die theologiegeschichtliche<br />

Bedeutung christliche antike Quellen ediert und untersucht und damit auf in der<br />

Rezeption eher randständige, aber in ihrer Entstehungszeit viel gelesene Texte<br />

hingewiesen. Gebhardt veröffentlichte zum Beispiel das Evangelium und die<br />

Apokalypse des Petrus, Schriften also, die fälschlich unter dem Namen dieses<br />

Apostels umliefen, ebenso einen Roman über Paulus und seine angebliche Gefährtin<br />

Thekla, der in der Spätantike populär war. Zwar lag manches schon in<br />

älteren Ausgaben vor (etwa die altkirchlichen Märtyrerakten und die Schriften<br />

der „Apostolischen Väter“ aus dem 2. Jahrhundert), doch war die Handschriftenbasis<br />

dieser Ausgaben schmal und die ihnen zugrundeliegende editorische<br />

Technik unzureichend.<br />

Seine editorische Tätigkeit hatte Gebhardt 1875 mit der Ausgabe einer griechischen<br />

Handschrift des Alten Testamentes aus der Bibliothek von San Marco in<br />

Venedig begonnen, und das dahinter stehende Interesse, nämlich die Erforschung<br />

der Geschichte von Bibelhandschriften, prägte seine Arbeit neben seinen patristischen<br />

Interessen nachhaltig. Das Interesse am Bibeltext hatten schon zu seinen<br />

Studienzeiten die <strong>Leipzig</strong>er Professoren Franz Delitzsch (im Blick auf das Alte<br />

Testament) und Konstantin von Tischendorf (im Blick auf das Neue Testament)<br />

bei ihm geweckt. Gebhardt machte sich denn auch um den Text des Neuen Testamentes<br />

verdient und bemühte sich um eine Verbesserung schon vorliegender<br />

Ausgaben, darunter auch der seines <strong>Leipzig</strong>er Lehrers Tischendorf.<br />

75


Der Gebhardt nachgesagte Habitus und sein Arbeitsstil bezogen sich also auf<br />

seine philologische Gelehrsamkeit, die sich mit einem kritischen historischen<br />

Bewusstsein paarte. Beides hatte er mit seinem Freund Adolf von Harnack gemeinsam,<br />

und beides machte die Exzellenz der Kirchengeschichtswissenschaft<br />

und der Evangelischen Theologie dieser Zeit aus. Anders als Harnack wendete<br />

Gebhardt das Bewusstsein des historischen Gewordenseins aller Dinge aber<br />

nicht in eine Kritik am Umgang der Evangelischen Kirche mit der christlichen<br />

Tradition.<br />

Herkunft und Lebensweg hätten Gebhardt eigentlich in eine Tätigkeit innerhalb<br />

der Kirche oder einer Theologischen Fakultät führen müssen. Am 22. Juni 1844<br />

in Wesenberg (heute: Rakvere) in Estland geboren und schon mit vier Jahren<br />

zum Vollwaisen geworden, wuchs er bei seinem Onkel, einem Pastor, auf. 1862<br />

nahm er das Studium der Theologie in Dorpat auf und setzte seine Studien dann,<br />

wie es üblich war, in Deutschland fort. 1867 ging er nach Tübingen, später studierte<br />

er in Erlangen, Göttingen und <strong>Leipzig</strong>. In <strong>Leipzig</strong>, wo er sich von 1872<br />

bis 1876 (mit einer kurzen Unterbrechung durch seine Straßburger Zeit) aufhielt,<br />

lernte er schon im ersten Jahr den um sieben Jahre jüngeren Adolf von Harnack<br />

kennen, gleich ihm aus einer deutschbaltischen Familie stammend. Dass Gebhardt<br />

die Theologie weder auf der Kanzel noch auf dem Katheder zur Profession<br />

machte, sondern sich dem Bibliothekswesen verschrieb, wurde von den Zeitgenossen<br />

mit seinem Streben nach Unabhängigkeit und mit seinen wissenschaftlichen<br />

Vorlieben erklärt. Zugleich wurde betont, Gebhardt sei der Kirche immer<br />

eng verbunden geblieben.<br />

Die Freundschaft mit Adolf von Harnack war überaus produktiv. Die „Texte<br />

und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur“, eine bis heute<br />

erscheinende Reihe für Editionen und literaturgeschichtliche Untersuchungen,<br />

wurden von beiden seit 1882 herausgegeben. Durch seine Editionen konnte Gebhardt<br />

seine bibliothekarischen Interessen mit den philologischen und – rechnet<br />

man die Edition christlich-antiker Quellen zur unabdingbaren Grundlagenforschung<br />

in seinem Studienfach – den theologischen verbinden. Die Auffindung<br />

von Handschriften erforderte bibliotheks- und kirchengeschichtliche Kenntnisse,<br />

die textgeschichtliche Zuordnung und Datierung verlangte nach fundiertem paläographischem<br />

Wissen. Gebhardt war ein intimer Kenner der Geschichte des<br />

italienischen Bibliothekswesens. Ein besonderer Fund gelang ihm 1879 zusammen<br />

mit Adolf von Harnack im kalabrischen Rossano, wo die beiden wissenschaftlichen<br />

Gefährten eine Handschrift des Matthäus- und des Markusevangeliums<br />

aus dem 6. Jahrhundert mit aufwendigen Illustrationen entdeckten. Durch<br />

die Publikation der Bildtafeln leisteten sie auch einen Beitrag zu der in dieser<br />

76


Zeit aufblühenden Christlichen Archäologie und Kunstgeschichte. Gleiches gilt<br />

für die Wiedergabe der Abbildungen aus dem so genannten Ashburnham-Pentateuch.<br />

In der Einführung zur Beschreibung des „Codex Rossanensis Purpureus“<br />

zeigt sich Gebhardt, der auf der Suche nach Handschriften viel reiste, auch einmal<br />

nicht nur als Gelehrter, sondern in seiner Beschreibung der Landschaft mit<br />

ihren „eichwaldgleichen Olivenpflanzungen“ zugleich als Liebhaber Italiens.<br />

Oskar von Gebhardt wurde 61 Jahre alt und verstarb nach längerer, schwerer<br />

Krankheit. Er hinterließ eine 24 Jahre jüngere Witwe (Jenny) und zwei Kinder,<br />

von denen der Sohn Peter dem Bibliothekswesen verbunden blieb. Der von seiner<br />

Witwe an die Königliche Bibliothek zu Berlin verkaufte Nachlass zeugt von<br />

der Vielzahl von Projekten, an deren Vollendung er noch arbeitete.<br />

Klaus Fitschen<br />

77


Karl Ferdinand Hommel<br />

Zum 225. Todestag am 16. Mai <strong>2006</strong><br />

Der <strong>Leipzig</strong>er Rechtslehrer Karl Ferdinand Hommel (1722 – 1781) gilt als<br />

erster bedeutender Strafrechtsreformer. Im Sinne der Humanisierung des<br />

Strafrechts sprach er sich gegen die Todesstrafe, Folter und Landesverweisung<br />

aus.<br />

79


Hommel wurde am 6. Januar 1722 in <strong>Leipzig</strong> als zweiter Sohn des Professors<br />

und Appellationsgerichtsrats Ferdinand August Hommel (1697 – 1765) geboren.<br />

Nach dem Besuch der Nikolaischule wechselte er 1738 an die <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong>,<br />

um hier die freien Künste zu studieren. In diesen Jahren zählte Gottsched zu<br />

seinen Lehrern in der Poesie.<br />

Hommels Wunsch, Medizin zu studieren, ließ sich nicht realisieren. Vielmehr<br />

bestimmte ihn sein Vater zum Jurastudium in seiner Heimatstadt. 1743 schloss<br />

er das Studium in Halle ab. Zu seinen Lehrern gehörte neben seinem Vater auch<br />

Johann Jacob Schmauss, beides Thomasiusschüler. Indirekt wurde so auch der<br />

jüngere Hommel Schüler von Thomasius, den er sein Leben lang verehrte. Äußeres<br />

Zeichen dafür war ein Denkmal, das Hommel zu Ehren von Thomasius in<br />

seinem Garten errichtete.<br />

Am 24. April 1744 wurde Hommel in <strong>Leipzig</strong> zum Doktor beider Rechte promoviert.<br />

Im selben Jahr erlangte er das Baccalaureat der Jurisprudenz, wurde<br />

Lizentiat, Advokat am <strong>Leipzig</strong>er Oberhofgericht und Magister der Philosophie.<br />

Nach Abschluss seiner Studien wollte Hommel sich der Philosophie zuwenden,<br />

jedoch blieb seinen Vorlesungen der Erfolg verwehrt. Demzufolge wandte er<br />

sich mit erheblich größerem Anklang der juristischen Lehre zu. Schnell durchlief<br />

er die üblichen Stationen eines <strong>Leipzig</strong>er juristischen Professors seiner Zeit.<br />

Seine <strong>Universität</strong>slaufbahn begann 1750 mit der außerordentlichen Professur für<br />

Staatsrecht. 1752 wurde er zum Professor für Lehnrecht ernannt. 1756 erlangte<br />

er den ersten wichtigen zivilistischen Lehrstuhl, den der Institutionen (Römische<br />

Rechtsgeschichte). 1763 gelang ihm dann der Sprung auf den vornehmsten Lehrstuhl<br />

der Juristenfakultät, den für Kirchenrecht (Dekretalen), der mit dem Ordinariat<br />

verbunden war. Die Zwischenstation einer Professur für Pandekten konnte<br />

er auslassen, weil sein Vater zu seinen Gunsten auf das Ordinariat verzichtet<br />

hatte. Noch im selben Jahr wurde er zum Rektor gewählt.<br />

In sein Ordinariat fällt der Kampf um den Erhalt des angestammten Grundstücks<br />

der Juristenfakultät und die Errichtung eines Neubaus (Petrinum), den er ohne<br />

Erlaubnis der zuständigen Behörden auf Kosten der Fakultät errichten ließ. Erst<br />

nachdem 1773 das Petrinum seiner Bestimmung übergeben worden war, erfolgte<br />

die Genehmigung des Dresdner Ober-Konsistoriums.<br />

Während seiner Zugehörigkeit zur Juristenfakultät war Hommel immer auch mit<br />

deren Spruchtätigkeit befasst. Als Ordinarius war er vielfach in die Rechtsprechung<br />

des <strong>Universität</strong>sgerichts eingebunden. Zudem wurde er 1760 zum Beisit-<br />

80


zer am <strong>Leipzig</strong>er Oberhofgericht ernannt. Hier wurde er 1763 erster Beisitzer der<br />

Gelehrtenbank.<br />

Hommel starb hochgeehrt am 16. Mai 1781 in seiner Vaterstadt und wurde in der<br />

Paulinerkirche beigesetzt.<br />

Hommel ist als erster bedeutender deutscher Strafrechtsreformer bekannt geworden<br />

und zehrt bis auf den heutigen Tag von seinem Ruf als „deutscher Beccaria“.<br />

Das wird aber der vollen Breite seines Wirkens nicht gerecht, das alle Themenbereiche<br />

umfasst, über die er auch Vorlesungen gehalten hat. In der Tradition<br />

seines Vorbilds Thomasius betonte er die Eigenständigkeit des deutschen<br />

gegenüber dem römischen Recht. Er forderte zudem, über deutschrechtliche<br />

Institute wie Erbverträge, Einkindschaft, Gerade und Hergewete, Leibgedinge<br />

und Gütergemeinschaft allein nach den Grundsätzen des unverfälscht deutschen<br />

Rechts zu entscheiden.<br />

Gleichfalls in Übereinstimmung mit Thomasius räumte er dem Naturrecht keinerlei<br />

praktische Bedeutung ein und arbeitete vielmehr in starkem Maße mit<br />

historischem Material. Lediglich im Strafrecht diente ihm das Naturrecht zur<br />

Abgrenzung von Recht und Moral. Insoweit gehört Hommel zu den frühen Utilitaristen.<br />

Seine Grundregel lautet: „Strebe soviel du vermagst, nach eigenem<br />

Nutzen, ohne dennoch dem anderen zu schaden; sondern nütze ihm, wenn du<br />

es ohne eigenen Schaden zu tun vermagst.“ Das Strafrecht sollte erst einsetzen<br />

dürfen, wenn der einzelne durch das Streben nach dem eigenen Nutzen andere<br />

Individuen schädigte. Hingegen ließ sich die angemessene Strafe nicht naturrechtlich<br />

ermitteln.<br />

Grundgedanken einer Strafrechtsreform entwickelte er erstmals 1765 in seiner<br />

Rede „Principis cura leges“ vor dem sächsischen Thronfolger Friedrich August<br />

III. (I.) und weiteren Angehörigen des regierenden Hauses. Bei diesem Werk<br />

handelt es sich letztlich um einen späten Fürstenspiegel der Aufklärungszeit,<br />

eine Gesetzgebungslehre. In dieser Rede nahm er schon Gedanken Beccarias<br />

vorweg, indem er sich gegen die Todesstrafe, die Gefängnisstrafe und die Landesverweisung<br />

aussprach.<br />

Seit 1766 veröffentlichte er in unregelmäßiger Folge seine „Rhapsodia quaestionum<br />

in foro quotidie obvenientium neque tamen legibus decisarum“, um seine<br />

Reformvorstellungen gegenüber der noch herrschenden „Practica nova Imperialis<br />

Saxonica rerum criminalium“ (1635, zuletzt 1652) des Benedikt Carpzov<br />

durchzusetzen. Im Jahre 1770 erschien unter dem Pseudonym Alexander v. Joch<br />

81


sein strafrechtsphilosophisches Hauptwerk „Über Belohnung und Strafe nach<br />

türkischen Gesetzen“. Unter der durchaus zeittypischen Verkleidung eines in<br />

den vorderen Orient verlegten Schauplatzes entwickelte Hommel die erste streng<br />

deterministische Begründung eines Strafrechtssystems.<br />

Die größte Bedeutung für die Verbreitung moderner, humaner Gedanken im<br />

Strafrecht kommt aber seiner Herausgabe der Übersetzung Phillip Jacob Flades<br />

von Cesare Bonesano de Beccarias „Dei delitti e delle pene“ unter dem Titel<br />

„Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk über Verbrechen und<br />

Strafen“ zu, die durch eigene Anmerkungen ergänzt ohne Jahresangabe 1778<br />

veröffentlicht wurde. 1784 stellte sein Schüler und Schwiegersohn Karl Gottlieb<br />

Rössig seine Schriften zur Strafrechtsreform in systematischem Zusammenhang<br />

dar und ließ sie drucken.<br />

Die kursächsische Strafrechtsreform der Jahre 1770/80, die die Folter sowie<br />

die Strafe der Landesverweisung abschaffte und die Zuchthausstrafe einführte,<br />

beruht nicht zuletzt auf Hommels Einfluss. Die Erfolge Hommels dürfen allerdings<br />

nicht darüber hinwegtäuschen, dass er letztlich keine zusammenhängende<br />

Strafrechtstheorie zu schaffen vermochte. Auch änderte er seine Anschauungen<br />

im Laufe seines Lebens häufig. In jüngster Zeit hat Hommel stärkere Kritik<br />

erfahren, die ihm eine unsystematische, zusammenhanglose und oberflächliche<br />

Arbeitsweise vorwirft.<br />

Von Bedeutung sind auch seine Ausführungen zu dem Verhältnis der Konfessionen<br />

vor dem Hintergrund eines evangelischen Landes, das von einem katholischen<br />

Herrscherhaus regiert wurde. In seiner schon genannten Rede „Principis<br />

cura leges“ forderte er die strikte Trennung von Staat und Kirche, einen Gedanken,<br />

den er 1768 in seiner Schrift „Epitome juris canonici“ näher begründete. In<br />

diesem Sinne wirkte er auch in der <strong>Universität</strong>. Unter seinem Vorsitz fanden in<br />

<strong>Leipzig</strong> die ersten Promotionen und Disputationen von Katholiken und Reformierten<br />

statt, ohne dass eine besondere Erlaubnis dazu eingeholt worden war.<br />

Gerühmt wurde Hommel für seinen Stil, der dazu führte, ihn als Vertreter<br />

der sogenannten „eleganten Jurisprudenz“ anzusehen. Zur Verbesserung des<br />

juristischen Stils in den deutschen Gerichten verfasste er mehrere literarische<br />

Werke. In diesem Zusammenhang ist vor allem sein „Teutscher Flavius, d. i.<br />

hinlängliche Anleitung sowohl bei bürgerlichen als peinlichen Fällen Urthel abzufassen“<br />

von 1763 zu nennen.<br />

Bernd-Rüdiger Kern<br />

82


Psychiatrische Lehre<br />

Vor 200 Jahren begann der kontinuierliche Vorlesungsbetrieb<br />

zur Seelen- und Nervenheilkunde<br />

Früh um 7:00 Uhr am 20. Mai 1806 trat Johann Christian August Heinroth<br />

im Keller der Pleißenburg zu seiner ersten Vorlesung an. Von da an wird<br />

der fünfeinhalb Jahre später an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> weltweit erste akademisch<br />

bestallte Professor für ein seelen- und nervenheilkundliches Fach in<br />

persona für über 37 Jahre psychiatrisch-psychotherapeutische Lehrveranstaltungen<br />

bürgen. Damit legte er den entscheidenden Grundstein für 200<br />

Jahre regelmäßige Kollegien in diesem Fach.<br />

83


Nachdem schon in den vorhergehenden Semestern immer wieder Lehrveranstaltungen<br />

über ‚Nerven‘, die Struktur der Nervenzellen, über die ‚Sittenlehre der<br />

Vernunft‘ oder die ‚Krankheiten von Gelehrten‘ abgehalten worden waren, kann<br />

in den <strong>Universität</strong>s-Verzeichnissen der zu haltenden Vorlesungen oder in den<br />

‚<strong>Leipzig</strong>er gelehrten Tagebüchern‘ mit den Lehrangeboten von Christian Friedrich<br />

Ludwig (1751 – 1823) und Ernst Gottlob Bose (1723 – 1788) eine gewisse<br />

Regelmäßigkeit von psychiatrischen oder neurologischen Themen ausgemacht<br />

werden. Der erste bietet zum Beispiel im Wintersemester 1784/85 ‚Die Lehre<br />

von den nervösen Krankheitszuständen nach Cullen(ius)‘, der zweite im Sommersemester<br />

1786 die ‚Therapie der die Nerven angreifenden Krankheiten‘ an. In<br />

den folgenden Semestern lesen vor allem Johannes Gottlob Haase (1739 – 1801)<br />

neurologische und Karl Friedrich Burdach (1776 – 1847) mit ‚Psychische Diätetik‘,<br />

‚Über Geisteskrankheiten‘ oder ‚Zur Pathologie der menschlichen Seele‘<br />

immer wieder psychiatrische Themen. Diese <strong>Leipzig</strong>er Vorlesungen zählen mit<br />

zu den ersten Lehrveranstaltungen auf dem Gebiete der Psycho- und Neurofächer<br />

im deutschsprachigen Raum überhaupt.<br />

Ab dem Sommersemester 1806 nimmt sich besonders Johann Christian August<br />

Heinroth (1773 – 1843) Fragen seelischer Gesundheit und Krankheit an. Bereits<br />

sein erstes Kolleg ‚Ueber das Bedürfnis des Studiums der medicinischen Anthropologie<br />

und ueber den Begriff dieser Wissenschaft‘ weist darauf hin, wenn man<br />

beachtet, dass den in <strong>Leipzig</strong> am 17. Januar 1773 Geborenen die medizinische Anthropologie<br />

in ihrer Anwendung auf die Seelenheilkunde interessiert hat. Genau<br />

dies legte er in seinem ersten akademischen Unterrichtszyklus dar, der früh um<br />

7:00 Uhr am 20. Mai 1806 begann und allem Anschein nach an vier aufeinander<br />

folgenden Tagen stattfand – und zwar im Auditorium des Professors für Chemie<br />

Christian Gotthold Eschenbach (1753 – 1831). Was tatsächlich heißt: in dem<br />

zwei Jahre zuvor im Keller der Pleißenburg aus Räumen einer Speisewirtschaft<br />

hergerichteten, feuchten, dunklen und meist nicht zu beheizenden chemischen<br />

Laboratorium. Es kann angenommen werden, dass auch die für das Sommerhalbjahr<br />

1807 angekündigte Vorlesung ‚Einleitung in die Heilung des Gemüths‘<br />

trotz des Einmarsches der napoleonischen Truppen 1806 in <strong>Leipzig</strong> zustande<br />

kam, denn Heinroth äußerste dies selbst, und die akademischen Lehrkataloge<br />

wiesen auch während der Zeit der Besatzung ungebrochen Lehrveranstaltungen<br />

aus. Wenngleich generell die ungünstigen äußeren Umstände sich der Förderung<br />

der Karriere des ehemaligen Nikolaischülers und Medizinstudenten der Alma<br />

mater Lipsiensis sicherlich als wenig zuträglich erwiesen. Obgleich er wenigstens<br />

1806/07 und 1813 in der Stadt in französischen Militärlazaretten Dienst<br />

tat, kam er von seinem eigentlichen Interesse an seelenheilkundlichen Fragen<br />

nicht ab. Schon während seines Studiums war er unter den Einfluss des Ersten<br />

84


Ordentlichen Professors der Medizinischen Fakultät und ständigen Dekans,<br />

des Physiologen und Philosophen Ernst Platner (1744 – 1818), geraten, und so<br />

wird er mit ihm die Schrift ‚De melancholia senili occvlta observatio‘ erarbeitet<br />

haben. Endgültig legte er sich spätestens mit seinem Büchlein ‚Beyträge zur<br />

Krankheitslehre‘ und seiner Entscheidung für ein psychiatrisches Thema seiner<br />

Antrittsvorlesung zur außerordentlichen Professur auf die Seelenheilkunde<br />

als Hauptarbeitsgebiet fest. Diese Professur, die noch ohne Lehrgebiet ausgeschrieben<br />

war, hatte ihm, dem Doktor der Medizin und Philosophie und auf dem<br />

Gebiet der Medizin Habilitierten, auf Antrag der sächsische König bewilligt.<br />

Weil er also besonders dazu prädestiniert schien und weil im sozial-ökonomisch<br />

vorangehenden Sachsen durch die Errichtung von Irrenanstalten rasch Bedarf<br />

an speziell für psychische Heilkunde ausgebildeten Ärzten entstand, wurde ihm<br />

im Zuge einer allgemeinen <strong>Universität</strong>sreform auf Weisung Friedrich August I.<br />

(1750 – 1827) 1811 eine außerordentliche Professur für ‚Psychische Therapie‘<br />

übertragen. War es doch die Bestimmung außerordentlicher Professoren ohne<br />

Lehramt, bei Bedarf und besonderer Befähigung entsprechend eingesetzt zu<br />

werden.<br />

Dieser Lehrstuhl an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> ist tatsächlich der erste eigens für<br />

ein seelenheilkundliches Fach eingerichtete und Heinroth der erste akademische<br />

Lehrer, der eigens für ein psychiatrisches Gebiet berufen worden ist. Gilt dies<br />

mit Gewissheit für das Abendland, besteht dieser Anspruch aber wohl auch<br />

angesichts von Definitionsproblemen im Vergleich mit den frühen islamischen<br />

Lehranstalten.<br />

Jedoch muss definitiv festgestellt werden, dass dieser Lehrstuhl trotz Heinroths<br />

ernsthaften Bemühungen zu seinen Lebzeiten nie in einen ordentlichen umgewandelt<br />

worden ist, die ‚Psychische Therapie‘ außerordentliches Lehrgebiet<br />

blieb, wenngleich er selbst als Hochschullehrer 1819 den Status eines ordentlichen<br />

Professors der Medizin erhielt.<br />

1813 gelangte Heinroth durch die Fürsprache der Medizinischen Fakultät zusätzlich<br />

in die Stellung als Hausarzt am Waisen-, Zucht- und Versorgungshaus<br />

St. Georg. In diese 1212 gegründete städtische Pflege- und Krankenanstalt sind<br />

zwar auch psychisch Kranke eingeliefert worden, aber doch längst nicht in der<br />

Anzahl und Verweildauer, als dass Heinroth hier unbeschränkt der Zugang zu<br />

seelenkranken Patienten ermöglicht worden wäre. So blieb er als psychiatrischer<br />

Arzt weitgehend Theoretiker, denn über eine eigene psychiatrische <strong>Universität</strong>sklinik<br />

konnte er schon gar nicht verfügen.<br />

85


Heinroth war von seiner ganzen Persönlichkeit her ein eminent stark vom<br />

protestantischen Christentum beeinflusster Mensch. Auch sein psychiatrisches<br />

Gesundheits- und Krankheitskonzept ist in hohem Maße davon geprägt. Die<br />

Ursache der Seelenstörungen – worunter er im engeren Sinne nur die endogenen<br />

Störungen begriff – sah er in einer vom Kranken selbst zu verantwortenden<br />

Schuld. Diese beruhe auf „Sünde“, darunter verstand er zum einen zwar auch im<br />

wortwörtlichen Sinne eine Abkehr von Gott, zum anderen vielmehr aber noch<br />

ein den christlich-ethischen Geboten widersprechendes Leben. Also sollte in<br />

seinem Sinne darunter ein insgesamt ‚falscher‘ Lebensstil des Menschen verstanden<br />

werden, nämlich wenn dessen Begierden überwiegend auf die Befriedigung<br />

irdischer Lebensbedürfnisse und Leidenschaften gerichtet seien. Gebe der<br />

Mensch diesen nach – und im Laufe der Zeit würden sie zwangsläufig stärker,<br />

bestimmender – führe dieser Befriedigungstrieb zur psychischen Krankheit.<br />

Grundsätzlich besitze der Mensch die Freiheit, sich für einen Lebensweg zu<br />

entscheiden, und damit letztendlich auch die Gewalt über die eigene Gesundheit<br />

oder Krankheit. Es wäre zu diskutieren, inwieweit für Heinroth bereits die auf<br />

die eigene Person gestützte Selbstverwirklichung eine Übertretung der christlichen<br />

Gebote darstellte.<br />

Diese Sünden- bzw. Eigenschuldtheorie legte Heinroth, zu dessen Oeuvre auch<br />

ein poetisches Schaffenswerk gehört und der vorübergehend auch mit Johann<br />

Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) in Kontakt stand, in zahlreichen, einem<br />

sehr romantisch-verschlungenen Duktus folgenden Büchern nieder. Das berühmteste<br />

dürfte das 1818 erschienene zweibändige ‚Lehrbuch der Störungen<br />

des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung‘ sein. Von<br />

Vertretern biologisch orientierter Konzepte wurde Heinroth im Nachhinein vorgeworfen,<br />

er habe die Entwicklung der Seelenheilkunde als medizinisches Fach<br />

behindert und sie in die Nähe mittelalterlich-neuzeitlicher Teufelsaustreibung<br />

geführt. In Wahrheit jedoch unterschied sich die von ihm theoretisch dargestellte<br />

„indirect-psychische Methode“ in keiner Weise von Therapieoptionen, die seine<br />

zeitgenössischen Kollegen in ihren Irrenanstalten viel ausgedehnter anwenden<br />

konnten und die uns erst in zunehmender Erkenntnis mit ihren mechanischen,<br />

pharmakologischen, Zwangs- oder mitunter sogar chirurgischen Erregungs- und<br />

Erschöpfungsmethoden martialisch und unwissenschaftlich anmuten. Heinroth<br />

propagiert sie immer erst als Mittel der zweiten Wahl. Und gerade sein vielschichtiger<br />

Begriff der ‚Person‘ weist weit über somatisch Beschränktes hinaus,<br />

auf heute moderne medizinische Denkhaltungen: „Die Person ist mehr als der<br />

bloße Körper, auch mehr als die bloße Seele: sie ist der ganze Mensch“. Insofern<br />

betont Heinroths Ansatz eben sehr wohl etwas Neues, Anderes, wenn er nämlich<br />

sein Augenmerk weniger auf die bloße Beseitigung von Krankheitssymptomen<br />

86


legt, als vielmehr auf den ganzen Menschen und er dessen gesamte Lebensumstände<br />

in die psychiatrische Therapie einbezieht. Somit gleichen seine Ideen zu<br />

einer „direct-psychischen Methode“, die er nämlich als sein Mittel der ersten<br />

Wahl anempfiehlt, Vorannahmen des heutigen Begriffs der Psychotherapie. Im<br />

Übrigen führte Heinroth auch den Begriff des „Psychosomatischen“ in die medizinische<br />

Weltliteratur ein und wird sogar als Schöpfer dieser gesamten Disziplin<br />

betrachtet. Zweifelsfrei darf bei all dem natürlich nicht übersehen werden, dass<br />

sich seine irrenärztliche Kunst ganz wesentlich auf prophylaktische Lebensratschläge<br />

verlegen muss und diese, genau wie sein verhaltenstherapeutischer<br />

Behandlungskatalog, auf theologischen, philosophischen, psychagogischen und<br />

ärztlich-patriarchalischen Überlegungen beruhen.<br />

Lehrveranstaltungen, die eben vornehmlich rein theoretische Lektionen gewesen<br />

sein müssen, wird Heinroth bis zu seinem Tode 1843 anbieten. Die Anzahl pro<br />

Semester schwankt, oft sind es zwei, manchmal drei oder eine. Die Themen variieren<br />

ebenfalls, meist wartet er mit zwei verschiedenen Wissenschaftsbereichen<br />

auf: zur Psychischen Heilkunde mit Semiotik, Pathologie, Therapie und Theorie,<br />

des Öfteren darüber hinaus Medizinische Anthropologie oder Kriminal-Psychologie<br />

bzw. Forensik. Gerade auch dem letzteren Gebiet wandte er sich zu, denn<br />

einige Jahre versah er zugleich das Amt des Arztes des <strong>Leipzig</strong>er Stockhauses.<br />

Als Gutachter der Medizinischen Fakultät während des berühmten Prozesses<br />

gegen Johann Christian Woyzeck (1780 – 1824) 1821 – 1824 wurde er entgegen<br />

verbreiteter Darstellung jedoch nicht bestellt, denn erst 1830 musste er gegen<br />

seinen Widerstand in die Fakultät eintreten, der er als Dekan turnusgemäß einmal,<br />

1842, vorstand. Immerhin lassen aber die Titel einiger seiner Kollegien das<br />

wirklich ernsthafte Bemühen erkennen, seine Tätigkeit als Hochschullehrer und<br />

sein Amt als Hausarzt zu verbinden, um den Medizinstudenten im Georgenhaus<br />

auch klinische Demonstrationen an Kranken ermöglichen zu können.<br />

Bereits am Tage nach Heinroths Ableben am 26. Oktober 1843 zeigt der Dekan<br />

der Medizinischen Fakultät, der viel gerühmte Anatom Ernst Heinrich Weber<br />

(1795 – 1878), dem vorgesetzten Ministerium für Cultus und öffentlichen Unterricht<br />

an, dass die Fakultät keinen Wert darauf lege, dass ein eigenständiger<br />

seelenheilkundlicher Lehrstuhl weiter bestehen bleibe und man vielmehr diesen<br />

mit anderen zusammenzulegen wünsche. Ohne Umschweife begründet man dies<br />

mit einer Erhöhung der Einkünfte der Professorenschaft. Und ebenfalls mit Hilfe<br />

einer deutlichen Gehaltsaufbesserung seinerseits kann dann tatsächlich der außerordentliche<br />

Professor für Hygiene und Allgemeine Pathologie Justus Radius<br />

(1797 – 1884) für einen psychiatrischen ‚Teillehrstuhl‘ und die Fortführung des<br />

Unterrichts in psychischer Heilkunde interessiert werden. Ab dem Winterse-<br />

87


mester 1844/45 ist es neben anderen vor allem er, der dann seelenheilkundliche<br />

Themen liest. Im Gegensatz zu den Lehrveranstaltungen, die wirklich fortgeführt<br />

werden, wird in den 1850er und 60er Jahren im Konglomerat der Verpflichtungen<br />

Radius‘, die immer wieder hin und her geschoben worden sind, bald keine<br />

bestimmte Rede mehr von einem psychiatrischen Lehrstuhl sein, er verschwindet<br />

im Laufe der Jahre stillschweigend ohne formellen Akt.<br />

An die Heinrothsche psychiatrische Professur wird sich erst wieder Mitte der<br />

1870er Jahre mangels vakanter anatomischer oder physiologischer Lehrkanzeln<br />

erinnert, als es vor allem Carl Ludwig (1816 – 1895) umtreibt, für seinen hirnforschenden<br />

Schützling und noch außerordentlichen Professor ohne Lehrzuweisung<br />

Paul Flechsig (1847 – 1929) ein gesichertes Unterkommen an der eigenen<br />

<strong>Universität</strong> zu finden. Flechsig wird für 1878 schließlich die außerordentliche<br />

Professur für Psychiatrie zugesprochen, und er erhält die Anwartschaft auf das<br />

Direktorat einer noch zu erbauenden <strong>Universität</strong>sirrenklinik. 1884 wird er dann<br />

die erste ordentliche Professur für Psychiatrie an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> erhalten.<br />

Hauptsächlich Flechsig, der seit dem Wintersemester 1874 noch ausschließlich<br />

mikroskopisch-anatomische und hirnanatomische Vorlesungen offeriert<br />

hatte, wird ab dem Sommersemester 1880, in dem er mit der ‚Speciellen Psycho-<br />

Pathologie mit klinischen Demonstrationen‘ psychiatrisches Lehrgebiet betritt,<br />

bis zu seiner Emeritierung 1920 die von Heinroth als Kontinuität begründete<br />

Tradition fortsetzen.<br />

Holger Steinberg<br />

88


Paul Drude<br />

Zum 100. Todestag am 5. Juli <strong>2006</strong><br />

Die Anfänge der Theoretischen Physik in Deutschland sind eng mit dem<br />

Namen von Paul Drude verbunden. In seinem Lebenswerk spiegelte sich,<br />

wie Max Planck schreibt, „die Geschichte der Physikalischen Optik seiner<br />

Zeit“ wider. Von seiner frühen Tätigkeit in <strong>Leipzig</strong>, 1894 – 1900, ist er als<br />

außergewöhnlich guter akademischer Lehrer bekannt. In Berlin leitete Drude<br />

ein Physikalisches Institut, das einst von Hermann Helmholtz begründet<br />

worden ist.<br />

89


Im Jahre 1894 erhielt das Physikalische Institut der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong>, in dem<br />

man sich vorrangig mit dem physikalischen Experiment als Grundlage des Faches<br />

befasste, eine Abteilung für theoretische Physik, die das Experiment mathematisch<br />

formulierte, ehe es erprobt wurde. 35 Jahre später erlangte sie – inzwischen<br />

ein selbstständiges Institut – Weltgeltung durch die Entwicklung<br />

der Quantenmechanik und ihre Anwendung auf die Struktur der Materie, die<br />

mit der Berufung Werner Heisenbergs auf den <strong>Leipzig</strong>er Lehrstuhl für theoretische<br />

Physik verbunden war.<br />

Bereits im Februar 1894 hatte die Philosophische Fakultät dem Kultusministerium<br />

dargelegt, „wie wichtig die Errichtung einer außerordentlichen Professur<br />

der theoretischen Physik für die Ausbildung der Studierenden der Physik“ sei.<br />

Das Ministerium schloss sich dieser Meinung an und berief Hermann Ebert,<br />

der aber nach nur wenigen Monaten einem Ruf an die Tierärztliche Hochschule<br />

in Hannover folgte.<br />

Über dem „Goldenen Zeitalter der Atomphysik“, wie Heisenberg die ersten<br />

Jahre seiner <strong>Leipzig</strong>er Tätigkeit genannt hat, kann jener hochbegabte Physiker<br />

in Vergessenheit geraten, mit dem das <strong>Leipzig</strong>er theoretisch-physikalische Institut<br />

eigentlich seinen Anfang nahm, Paul Drude. Er lehrte theoretische Physik<br />

vom Wintersemester 1894 an bis zu seinem Weggang nach Gießen im Jahre<br />

1900. Dem damaligen Rang seiner Abteilung gemäß, hatte er nur eine außerordentliche<br />

Professur inne und gehörte der Königlich Sächsischen Gesellschaft<br />

der Wissenschaften nur als außerordentliches Mitglied an, was besagt, dass er<br />

in der mathematisch-physischen Klasse zwar Vorträge halten und sie in den<br />

Akademieschriften publizieren durfte, bei Wahlen aber nicht stimmberechtigt<br />

war. Er stand in <strong>Leipzig</strong> immer im zweiten Glied und musste dem Aufstieg<br />

anderer zusehen, ohne selbst aufzurücken – ein Opfer der Prinzipienreiterei des<br />

damaligen Sächsischen Kultusministers, der jede Beförderung am Ort ablehnte<br />

und damit die <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> einer hervorragenden Kraft beraubte.<br />

1900 wurde Drude ordentlicher Professor der Physik in Gießen, 1905 ging er als<br />

Nachfolger von Hermann Helmholtz, August Kundt und Emil Warburg nach Berlin.<br />

Diesen Vorbildern wollte er nachstreben und sich an ihnen messen lassen.<br />

Am 28. Juni 1906 hielt er nach seiner Wahl zum ordentlichen Mitglied vor der<br />

Berliner Akademie seine Antrittsrede, dankbar für die Ehre und voller Zuversicht<br />

im Blick auf künftige wissenschaftliche Pläne, aber auch in Sorge, „dass<br />

die eigene Fähigkeit und Arbeitskraft“ nicht ausreichen könnte für die gestellten<br />

Aufgaben. Am 5. Juli 1906 setzte er, 43-jährig, seinem Leben ein Ende. Sein<br />

Tod erschütterte die gesamte physikalische Welt. Die ausführlichste und ergrei-<br />

90


fendste Gedächtnisrede hielt ihm Max Planck vor der Deutschen Physikalischen<br />

Gesellschaft, deren Zeitschrift, die Annalen der Physik, Paul Drude von 1900<br />

bis zu seinem Tode als Redakteur betreut hatte, unbestechlich und mit klarem<br />

Blick für neue, zukunftsweisende Gedanken.<br />

Postum wurden Stimmen laut, Drude wäre nicht so tragisch geendet, hätte<br />

er in <strong>Leipzig</strong> bleiben und kontinuierlich weiterarbeiten können. Oskar Drude,<br />

Professor der Botanik und drei Jahrzehnte lang Direktor des Dresdner Botanischen<br />

Gartens, bestätigte den Bruch im Leben seines Halbbruders, den der<br />

Wegzug aus <strong>Leipzig</strong> mit sich gebracht habe.<br />

Paul Drude hinterließ seine Frau Emilie, geb. Regelsberger, die fortan mit den<br />

Kindern Gisela (geb. 1900), Gerthe (1901) und Burkhard (1903) in Göttingen<br />

lebte. Burkhard studierte später Physik und gehörte zu den Göttinger Studienfreunden<br />

von Werner Heisenberg.<br />

Noch ein zweites Mal hatte Paul Drude auf der Vorschlagsliste der Philosophischen<br />

Fakultät der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> gestanden, 1902 in Nachfolge von Ludwig<br />

Boltzmann, an zweiter Stelle hinter Willy Wien. Beide lehnten ab. Drude blieb<br />

aus Pflichtgefühl in Gießen, wie er später aus Pflichtgefühl den größten deutschen<br />

Lehrstuhl für theoretische Physik in Berlin annahm. Zuvor hatte er ehrenvolle<br />

Rufe nach Marburg, Tübingen und Breslau abgelehnt. Welch hohen Stellenwert<br />

die theoretische Physik 1902 in <strong>Leipzig</strong> einnahm, bezeugt ein Gutachten von<br />

Heinrich Bruns (Mathematik, Astronomie), Otto Wiener (Physik) und Wilhelm<br />

Ostwald (Physikalische Chemie) für das Kultusministerium in Dresden: „Die<br />

Unterzeichneten fühlen sich zu persönlicher Anteilnahme verpflichtet; dass die<br />

Erziehung der Studierenden der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer in<br />

entscheidender Weise durch den Vertreter der theoretischen Physik beeinflusst<br />

wird, und dass daher vitale Interessen der ihnen anvertrauten Unterrichtsgebiete<br />

in Frage stehen“, falls das Fach unbesetzt bliebe.<br />

Dennoch waren die Fachkollegen einhellig der Ansicht, dass Paul Drude auf der<br />

Höhe seines Wirkens stand und mit Plänen aller Art für die nahe und fernere Zukunft<br />

beschäftigt war, als er seinem Leben plötzlich ein Ende setzte. Betrachtet<br />

man sein wissenschaftliches Werk als ein Ganzes, so kann man sagen, dass sich<br />

in ihm die Geschichte der physikalischen Optik seiner Zeit widerspiegelt. Drude<br />

begann mit theoretischen und anschließend experimentellen Untersuchungen<br />

über die Reflexion des Lichtes und wandte sich dann unter dem Eindruck der<br />

Entdeckungen von Heinrich Hertz den Eigenschaften des elektromagnetischen<br />

Feldes und ihrem Zusammenhang mit optischen Erscheinungen zu. Aus diesen<br />

91


Bemühungen entstand 1894 sein bekanntestes Werk, „Die Physik des Äthers<br />

auf elektromagnetischer Grundlage“, das den neuen Anschauungen den Weg<br />

bereitet hat. Neue von Drude entwickelte Ansätze, er stellte sogar die Annahme<br />

eines Äthers infrage, beeinflussten Einsteins spätere Arbeit zur speziellen Relativitätstheorie.<br />

Einen besonderen Ansporn für seine Arbeit über elektrische<br />

Wellen gaben Drude die technischen Aufgaben der drahtlosen Telegraphie,<br />

deren physikalische Seite ja in ganz enger Beziehung mit seinem Fachgebiet<br />

steht. Eben diesen und anderen Fragen wollte er in Zukunft all seine Kraft<br />

zuwenden. „Im Mittelpunkt seines Strebens“, schreibt Max (von) Laue, „stand<br />

die Optik.“ Die Hauptresultate seiner optischen Untersuchungen hat Drude 1900<br />

in seinem Lehrbuch der Optik vereinigt, das durch die klare und lebendige Sprache<br />

zur Einführung in das Studium der Optik wie kein zweites geeignet war. In<br />

seinem Todesjahr erschien bereits die zweite Auflage, und 1912 kam die 3. Auflage<br />

heraus. Seinen Namen trägt das sogenannte Drude-Sommerfeld-Modell<br />

zu Elektronentheorie der Metalle. Es wurde 1900 von Drude entwickelt und<br />

1933 auf der Grundlage von Debyes Quantentheorie der spezifischen Wärme<br />

von Sommerfeld und Hans Bethe vervollständigt. Eine weitere Ehrung folgte<br />

viele Jahrzehnte später: Seit 1992 heißt das Berliner Institut für Festkörper-<br />

elektronik „Paul-Drude-Institut“.<br />

Im Jahre 1900 hat Paul Drude <strong>Leipzig</strong> verlassen. Jede Geschichte der <strong>Leipzig</strong>er<br />

Physik wird ihn als genialen Theoretiker und exakten Experimentator nennen.<br />

Gerald Wiemers<br />

92


Robert Schumann<br />

Zum 150. Todestag am 29. Juli <strong>2006</strong><br />

Vor 150 Jahren, am 29. Juli 1856, ist Robert Schumann in Endenich bei<br />

Bonn gestorben. Der Mutter zuliebe hatte er sich in <strong>Leipzig</strong> zunächst an<br />

der Juristenfakultät eingeschrieben, bevor er sich ganz der Musik ergab. In<br />

<strong>Leipzig</strong> lebte er mit Unterbrechungen von 1828 bis 1844, hier fand er seine<br />

Bestimmung als Komponist und schuf viele seiner wichtigsten Werke.<br />

93


Am 29. Juli 1856 ist Robert Schumann in Endenich bei Bonn in einer Heilanstalt<br />

verstorben. Über zwei Jahre lang hatte er nach seinem Zusammenbruch<br />

im Februar 1854 in einer Heilanstalt unter der Aufsicht von Dr. Franz Richarz,<br />

ihrem Gründer und Leiter, leben müssen, zeitweise in geschlossenem Vollzug.<br />

Legenden spinnen sich um das traurige Schicksal des berühmten Komponisten<br />

und seine geheimnisvolle Krankheit. Clara Schumann, seit 1840 mit Robert verheiratet<br />

und Mutter acht gemeinsamer Kinder, besuchte ihren Gatten auf Anraten<br />

des Arztes nicht, erst zu seinem Tod wurde sie herbeigerufen. Aber Johannes<br />

Brahms und Joseph Joachim empfing Robert Schumann, auch Bettina Brentano<br />

(verheiratete von Arnim), die Clara ausdrücklich um die Erlaubnis gebeten hatte,<br />

den Kranken aufsuchen zu dürfen. Doch Bettina fand Robert anscheinend in<br />

einem günstigen Augenblick recht ausgeglichen vor und machte Clara anschließend<br />

heftige Vorwürfe wegen der Unterbringung in der elenden Irrenanstalt:<br />

Robert habe lediglich einen nervösen Anfall erlitten, der wahre Kranke sei sein<br />

Arzt, Dr. Richarz. Später kamen noch schlimmere Gerüchte auf, zumal der junge<br />

Johannes Brahms sich im selben Haus wie Clara in Düsseldorf einquartiert und<br />

ihr in der schweren Zeit beigestanden hatte. Sollte die berühmte Pianistin ihren<br />

zunehmend unfähigen Mann zugunsten eines vielversprechenden jungen Genies<br />

abserviert haben? War nicht Claras letztes Kind im Juni 1854 geboren worden,<br />

als Robert schon in der Heilanstalt eingesperrt war?<br />

Erst im Jahre 1994 wurden die Aufzeichnungen von Schumanns Arzt bekannt,<br />

Richarz hatte Schumanns Krankenakte in seinen persönlichen Besitz übernommen.<br />

Sie war im Familienbesitz geblieben und stets als tiefes Geheimnis bewahrt<br />

worden, bis Aribert Reimann sie der Akademie der Künste zu Berlin übergeben<br />

und bekannt gemacht hat. Aus den Aufzeichnungen geht hervor, dass Schumann<br />

mit Syphilis infiziert war und an progressiver Paralyse litt. Nichts ist wahr an<br />

den Verdächtigungen der Verschwörung und Intrige, sie belegen nur die Sensationsgier<br />

der Öffentlichkeit an einem hochberühmten Künstlerehepaar, dessen<br />

Verbindung in einem dramatischen Prozess erkämpft werden musste.<br />

Robert Schumann kam aus einem kunstsinnigen Haus in Zwickau: Sein Vater<br />

betätigte sich als Schriftsteller und betrieb erfolgreich einen Verlag, seine Mutter<br />

war musikalisch veranlagt und förderte sehr erfolgreich Roberts Begabungen.<br />

Dabei erwies sich der Knabe als außerordentlich talentiert für die Künste, er<br />

zeigte ausgezeichnete schriftstellerische Fähigkeiten und begeisterte sich für die<br />

Dichtkunst. Doch fesselte ihn die Musik nicht weniger, er bildete sich während<br />

seiner Schulzeit weiter, verzichtete aber auf Anraten der Mutter zunächst auf<br />

eine musikalische Laufbahn und ging 1828 zum Jurastudium nach <strong>Leipzig</strong>.<br />

Heimlich aber begann er eine musikalische Ausbildung, ein Studienaufenthalt in<br />

94


Heidelberg vertiefte Schumanns Überzeugung, die Musik zum Beruf zu wählen,<br />

zurück in <strong>Leipzig</strong> setzte er den Unterricht bei dem bekannten Lehrer Friedrich<br />

Wieck fort, der mit dem Lehrerfolg an seiner Tochter Clara zu überzeugen wusste.<br />

Bereits mit 9 Jahren gab Clara Wieck unter Anleitung ihres Vaters öffentliche<br />

Konzerte (1828) und unternahm seit 1831/1832 erfolgreich Konzertreisen durch<br />

ganz Europa. Friedrich Wieck schien der rechte Lehrer, auch Robert Schumann<br />

zum Klaviervirtuosen heranzubilden. Endlich gab die Mutter ihre Einwilligung,<br />

aber obwohl Robert sogar in das Haus seines Lehrers einzog und sich ernsthaft<br />

den Übungen unterwarf, wurde der pianistische Durchbruch nicht erreicht. Vor<br />

allem blieb Robert hinter den Fähigkeiten der neun Jahre jüngeren Clara zurück,<br />

die pianistische Aufgaben schneller und leichter bewältigte als Robert. Mit Fingerdehnungsapparaten<br />

suchte Robert den Erfolg zu erzwingen, aber er zog sich<br />

eine »Erlahmung« der rechten Hand zu, die sich seit Oktober 1831 bemerkbar<br />

und seine Absicht von einer Virtuosenkarriere zunichte machte. Nun warf er sich<br />

mit Macht auf das Komponieren, das er bislang zwar breit in allen Gattungen,<br />

aber eher nebenher, halbherzig betrieben hatte, und komponierte eine Symphonie<br />

g-Moll, auch »Jugendsymphonie« oder »Zwickauer« genannt. Der erste Satz<br />

der Symphonie wurde tatsächlich aufgeführt, er erklang am 18. November 1832<br />

im Saal des Gewandhauses zu Zwickau, eine zweite und dritte Fassung am 12.<br />

oder 18. Februar 1833 in Schneeberg und am 29. April 1833 in <strong>Leipzig</strong>. Doch<br />

auch hier gelang kein Durchbruch, der mangelnde Erfolg und die Kritik, etwa<br />

auch Friedrich Wiecks Anmerkung, die Symphonie sei „zu mager instrumentiert“,<br />

ließ Schumann an seiner Bestimmung als Komponist zweifeln. Ernüchtert<br />

wandte er sich seit Mitte 1833 verstärkt der Aufgabe eines Musikschriftstellers<br />

zu und hatte endlich Erfolg: 1834 gründete er die „Neue Zeitschrift für Musik“,<br />

sie erscheint bis heute.<br />

Wenn Schumann in der folgenden Zeit komponierte, so offenbar nicht zufällig<br />

und mit Absicht vor allem für das Klavier (andere Kompositionspläne wurden<br />

nicht fertig). Die ersten 23 seiner mit Opuszahlen versehenen Werke sind ausschließlich<br />

Klavierwerke, erst mit op. 24, dem Liederkreis nach Heinrich Heine<br />

für eine Singstimme und Klavier, durchbrach er die Selbstbeschränkung. Nun<br />

aber mit Macht: Es war das Jahr 1840, das als Schumanns „Liederjahr“ berühmt<br />

wurde. Allein die Menge der Liedkompositionen ist beeindruckend. Es entstanden<br />

in diesem Jahr: op. 25 Myrthen (26 Lieder), op. 30 Drei Gedichte nach Emanuel<br />

Geibel, op. 31 Drei Gesänge nach Adelbert von Chamisso, op. 35 Zwölf Lieder<br />

(Justinus Kerner), op. 36 Sechs Gedichte aus Robert Reinicks »Lieder eines<br />

Malers«, op. 39 Liederkreis nach Joseph Freiherrn von Eichendorff, op. 40 Fünf<br />

Lieder (vier nach Hans Christian Andersen), op. 42 Frauenliebe und Leben (acht<br />

Lieder nach Adelbert von Chamisso), op. 45 und 49 Romanzen und Balladen für<br />

95


eine Singstimme und Klavier, Heft I und II (sechs Lieder), op. 48 Dichterliebe.<br />

Liederkreis aus Heinrich Heines »Buch der Lieder« (16 Lieder) und noch zehn<br />

weitere Opuszahlen. Die Schaffensexplosion Schumanns wird sehr glaubhaft mit<br />

der großen Liebe zu Clara und der Eheschließung am 12. September 1840 in der<br />

Dorfkirche zu Schönefeld bei <strong>Leipzig</strong> in Verbindung gesetzt, und dies war eine<br />

wirklich hart erstrittene Familiengründung. Seit 1834 fühlte sich Robert unwiderstehlich<br />

zu Clara hingezogen, die seine Zuneigung erwiderte. Nach einem<br />

heimlichen Treffen hinter dem Rücken des Vaters kam es 1836 zum offenen<br />

Bruch mit Friedrich Wieck, der künftig mit allen Mitteln die Verbindung zu verhindern<br />

suchte. Er schickte Clara auf Konzertreisen und verbot brieflichen Verkehr,<br />

er schirmte Clara in <strong>Leipzig</strong> systematisch vor Robert ab und verunsicherte<br />

ihn durch Simulation anderer ernsthafter Bewerber um Clara. Doch der Kontakt<br />

riss nie ganz ab, fand vielmehr Ausdruck in „Brautbriefen“, die ob ihrer Innigkeit<br />

berühmt geworden sind. Wegen der Weigerung, der Hochzeit zuzustimmen und<br />

aufgrund der öffentlichen Verleumdung Roberts reichte das seit August 1837<br />

heimlich verlobte Paar 1839 eine Klage gegen Friedrich Wieck beim <strong>Leipzig</strong>er<br />

Appellationsgericht ein. Es wurde von zahlreichen Freunden und Verwandten<br />

unterstützt, natürlich erregte der Vorgang öffentliches Aufsehen. Der Ausgang<br />

war glücklich für das Paar, Friedrich Wieck wurde sogar wegen übler Nachrede<br />

zu 18 Tagen Gefängnis verurteilt.<br />

Eine glückliche Zeit begann, Robert Schumann etablierte sich als Komponist,<br />

indem er sein Schaffenspotential systematisch ausweitete: Auf das „Liederjahr“<br />

1840 folgten 1841 das „sinfonische Jahr“, 1842 das „kammermusikalische Jahr“,<br />

1843 das „Oratorienjahr“. Schumann schuf in dieser Zeit einige seiner bekanntesten<br />

Werke: 1841 op. 38 Symphonie Nr. 1 B-Dur (»Frühlingssymphonie«),<br />

op. 52 Ouvertüre, Scherzo und Finale für Orchester und den ersten Satz des<br />

Klavierkonzerts a-Moll op. 54; 1842 op. 41 Drei Streichquartette, op. 44 Klavierquintett<br />

Es-Dur und op. 47 Klavierquartett Es-Dur; 1843 op. 50 Das Paradies<br />

und die Peri. Dichtung aus »Lalla Rookh« von Thomas Moore für Soli, Chor<br />

und Orchester, ein „Oratorium, aber nicht für den Betsaal – sondern für heitre<br />

Menschen“, Schumanns Annäherung an die Oper. 1844 greift er zu Goethes<br />

„Faust“, aber eine große Krise holt ihn ein, die Krankheit wirft Robert nieder.<br />

Umstritten ist, inwieweit das Zusammenleben der zwei großen Künstler trotz<br />

der engen Verbundenheit durch äußere Umstände belastet wird, zumal Claras<br />

öffentliche Erfolge den Ruhm Roberts überstrahlen. Das Paar übersiedelt zur<br />

Genesung nach Dresden, aber trotz schöner Erfolge und wachsender Anerkennung<br />

bleibt Schumann ohne feste Anstellung, bis er 1850 als Musikdirektor zum<br />

Nachfolger seines Freundes Ferdinand Hiller nach Düsseldorf berufen wird. Wie<br />

exotisch dieser Schritt für den Sachsen war, geht aus seiner Bemerkung hervor,<br />

96


Düsseldorf liege doch etwas abseits vom Weg der Reisenden. Nach anfänglichen<br />

Erfolgen holte Schumann aber auch in Düsseldorf seine Krankheit wieder ein,<br />

so dass es zu dem endgültigen Zusammenbruch kam: Am Rosenmontag, dem<br />

27. Februar 1854, geht Schumann im Schlafrock mit Filzschuhen auf die nahe<br />

Rheinbrücke, wirft seinen Ehering ins Wasser und springt hinterher.<br />

Selbst in seinem verzweifelten Irrsinn entspricht Robert Schumann noch dem<br />

Ideal des romantischen Künstlers, bei dem Genie und Wahnsinn ineinander übergehen.<br />

Und welchen Stoff gibt die romantische Liebesgeschichte mit Clara ab!<br />

Vor allem seine frühen Kompositionen wurden fester Bestandteil des klassischromantischen<br />

Musikrepertoires. Sie vereinen nahezu alles, was als musikalische<br />

Romantik bezeichnet werden darf: kleine, poetische Klavierstücke an Stelle<br />

der klassischen großen Sonate, literarische Sujets phantastischer, exotischer<br />

oder folkloristischer Provenienz, subjektive Emphase großer Ausdrucksstärke,<br />

harmonische Experimente als Ausweitung des Klangspektrums, formale Gestaltung<br />

in der Spannung von Auflösung und Einfachheit, all dies ist in Schumanns<br />

frühen Werken zu finden. Problematisch wurde lange Zeit seine weitere kompositorische<br />

Entwicklung eingeschätzt: „Schumann hat sich vom Genie zum<br />

Talent heruntergearbeitet“, so lautete ein böses Wort von Felix Draeseke. Es war<br />

die Auseinandersetzung mit Schumanns Krankheit, die Vorbehalte provozierte,<br />

selbst bei Clara, Johannes Brahms und Joseph Joachim. Heute diagnostizieren<br />

Musikwissenschaftler im Spätwerk Schumanns eine Tendenz zum Realismus im<br />

Zusammenhang mit den revolutionären Bewegungen der Zeit um 1848. Aber so<br />

etwas Prosaisches läuft der Vorstellung vom idealen Romantiker natürlich direkt<br />

zuwider …<br />

Helmut Loos<br />

97


Wegbereiter der Chemie<br />

Zum 300. Todestag Johann Christian Schambergs am<br />

4. August <strong>2006</strong> und 325. Todestag von Michael Heinrich<br />

Horn am 16. Oktober <strong>2006</strong><br />

Am 4. August 1706 – vor 300 Jahren – starb Johann Christian Schamberg<br />

(Abb.). Der zweite Extraordinarius für Chymie war Professor für Anatomie,<br />

Chirurgie und Physiologie, Rektor 1702 und 1706, ein Wegbereiter<br />

der Chemie an der <strong>Universität</strong> und Erbauer des Anatomischen Theaters<br />

(1704). Er folgte Michael Heinrich Horn, dem ersten Chemieprofessor an<br />

der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong>, an dessen 325. Todestag zu erinnern ist.<br />

99


Die Chemie hat sich an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> im Schoße der Medizinischen Fakultät<br />

vor mehr als 300 Jahren entwickelt. Einer der ersten, der in <strong>Leipzig</strong> nachhaltig<br />

die Chymie beförderte, war Johann Christian Schamberg (1667 – 1706).<br />

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Zeit davor und gedenken Michael<br />

Heinrich Horns (1623 – 1681).<br />

In Johann Heinrich Zedlers Grosses Vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften<br />

und Künste (1735, 12. Band, S. 875) finden wir über ihn: Horn (Michael<br />

Henrich) aus Thüringen / war Philos. und Medicinae Doctor, Pathologiae<br />

Ordinarius und Chymiae Extraordinarius, Professor zu <strong>Leipzig</strong> /der Academiae<br />

Decemuir, wie auch des Churfürsten zu Sachsen / und Ertz-Bischoffs zu Magdeburg<br />

Leibmedicus, starb an 1681, den 16. Oct. im 58. Jahre / und hat verschiedene<br />

Disputationes Medicus gehalten. Michael Heinrich Horn, im Jahre 1668 zum<br />

Chymiae Extraordinarius ernannt, war begütert und einflussreich. Davon zeugt,<br />

dass er schon im Jahre 1659 das damalige Dorf „Gohlis“ und 1669 das Dorf<br />

„Möckern“ mit dem Sattelhof in Form eines Ritterguts erwarb (Stadtlexikon<br />

<strong>Leipzig</strong>, 2005) und das Erblehensrecht in Großlehna besaß. Auch die Errichtung<br />

eines großen Epitaphs in der Paulinerkirche für ihn, der im Jahre 1677 Rektor<br />

war, geschaffen 1686 von Johann Caspar Sandtmann (1642 – 1695), spricht<br />

dafür. Die originale Bildnisbüste Horns ist in der Kustodie, eine Replik davon<br />

seit 1999 im Neubau der Fakultät für Chemie und Mineralogie zu sehen. Sein<br />

Vorgänger im Ordinariat der Pathologie – eine der vier Professuren alter Stiftung<br />

der Medizin neben Chirurgie/Anatomie, Physiologie und Therapie – war Sigismund<br />

Rupert Sultzberger. Horn folgte ihm 1675 auf die Pathologie-Professur.<br />

Nach Horns Ableben im Jahre 1681 wurde Martin Friedrich Friese (Amtszeit<br />

1682 – 1700) darauf berufen. Darüber existiert im <strong><strong>Universität</strong>sarchiv</strong> eine interessante<br />

Acta mit einem Brief des Kurfürsten Johann Georg (Repert I./VIII.<br />

No. 20) und des Inhalts, dass das sowohl von Friese wie auch von Johann Bohn<br />

(1640 – 1718), einem der gelehrtesten Ärzte des 17. Jahrhunderts (1668 Professor<br />

für Anatomie und Chirurgie; Rektor 1693/94; Begründer der Medicina<br />

forensis), beanspruchte Hornsche Pathologie-Ordinariat an M. F. Friese mit der<br />

Auflage gegeben wird, sozusagen als Ausgleich an J. Bohn, den man besonders<br />

auch seiner Anatomie-Kunst und der Beliebtheit unter den Studenten wegen bei<br />

seiner bisherigen professio halten wollte, jährlich 40 Gulden aus den Einkünften<br />

der Collegiatur zu zahlen. Zur Nachfolge Horns bezüglich der Chemieprofessur<br />

ist darin nichts erwähnt. Im Zusammenhang mit den Pionieren der Chymie in<br />

<strong>Leipzig</strong> im 17. Jahrhundert sei auch Michael Ettmüller (1644 – 1683) genannt,<br />

der als Vertreter der Chemiatrie versuchte, deren Grundsätze auf Physiologie<br />

und Pathologie anzuwenden. Das von ihm verfasste Werk Chemia experimen-<br />

100


talis atque rationalis curiosa war über längere Zeit hinweg ein beachtetes Lehrbuch<br />

der Chemie und Pharmazie.<br />

Schamberg (Johann Christian). Ein Medicus, gebohren zu <strong>Leipzig</strong> 1667, den<br />

21. April, studirte daselbst, lernte hernach die Probir-Kunst zu Freyberg, gieng<br />

nach Altorff und Leiden, worauf er 1689 Doctor der Medicin wurde, und sich<br />

nachgehends, sonderlich durch seine Geschicklichkeit, die er bey harten Geburten<br />

gezeiget, berühmt machte. Im Jahre 1693 wurde er Assesor in der Medicinischen<br />

Facultät, hernach außerordentlicher Professor der Chymie, weiter<br />

ordentlicher Professor der Physiologie und endlich der Anatomie; schrieb 1) Lineamenta<br />

prima pharmaciae chymiae <strong>Leipzig</strong>; 2) Dissertationes de gustu; 3) de<br />

remediis stochachicis; 4) de respirationae laesa; trug viel dazu bey, dass das<br />

schöne Anatomische Theater zu <strong>Leipzig</strong> erbauet wurde, sammelte auch ein schön<br />

Cabinet von raren physicalischen Sachen, und that sich durch Experimental-Collegia<br />

herfür, starb endlich, als er zum andernmal Rector Magnificus war, 1706,<br />

den 4. Augusti im 40. Jahre, und war also der dritte, welcher in dieser Würde<br />

zu <strong>Leipzig</strong> verstorben. So aussagekräftig ist die Biografie von Johann Christian<br />

Schamberg im 34. Band von Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon, Anno<br />

1742, vermerkt. Zusätzlich kann man in Allgemeine Deutsche Biographie, 30.<br />

Band, <strong>Leipzig</strong> 1890 (S. 570) über ihn finden, dass er sich ganz besonders mit<br />

Geburtshülfe, prakt. Medicin und naturwissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt<br />

hat, und – in unserem Kontext wesentlich: S. war auch ein tüchtiger Chemiker.<br />

Naturwissenschaftlich interessierte Studenten haben sich zu jener Zeit gern in die<br />

Medizin begeben, weil sich dort, durch die Iatrochemie befördert, Möglichkeiten<br />

boten, ein Betätigungsfeld für experimentelle Neigungen zu finden. So ist folgerichtig,<br />

dass Johann Christian Schamberg in Freiberg anfangs Probier-Kunde<br />

studierte, worunter man damals die Vorprobenuntersuchung von Mineralien und<br />

Erzen verstand. Die Anwendung mineralischer Stoffe in der Medizin erlebte mit<br />

den der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> eng verbundenen Georgius Agricola (1494 – 1555)<br />

und Johannes Agricola (1590 – 1668) sowie mit Paracelsus (1493 – 1541) eine<br />

Renaissance. Sehr interessant ist, dass sich Schamberg dann zunächst an die<br />

<strong>Universität</strong> Altdorf bei Nürnberg begab. Wir wissen zwar (noch) nicht, welche<br />

Collegs er belegt hat. Fest steht aber, dass im Jahre 1683 dort ein Chemisches<br />

Laboratorium mit der Eröffnungsrede De necessitate et utilitate chemiae des<br />

Medizinprofessors Moritz Hoffmann (1621 – 1698) eingeweiht worden war,<br />

das unter der Leitung seines Sohnes und ab demselben Jahr tätigen ersten Chemieprofessors<br />

Johann Moritz Hoffmann (1653 – 1727) als exemplarisch und<br />

vorbildlich für die Frühzeit der universitär betriebenen Chemie in Deutschland<br />

angesehen werden kann. Es war vorzüglich mit Gerätschaften ausgestattet. Auf<br />

101


einem Medaillon stand geschrieben: Wer du auch seiest, der diesen Ort betritt,<br />

wisse, dass er arbeitsreiche Wonne, nicht faule Ruhe nährt …“. Beim Eintritt in<br />

das Labor „ist in der Mitte des Zimmers eine lange Tafel benebst einer Cathedra<br />

zu sehen, welche zu Dozierung und Anhörung der, von dem Herrn Chemiae<br />

Doctore vorhabenden Doctrin, worinnen er die Theoriam mit der Praxi zugleich<br />

zeiget“.<br />

Das alles war wohl eindrucksvoll für den jungen Studenten Schamberg, der dann<br />

an der bereits 1575 gegründeten, weitbekannten <strong>Universität</strong> Leiden seine Studien<br />

fortsetzte und schließlich zurück in seiner Geburtstadt <strong>Leipzig</strong> im Jahre 1689<br />

als Medicinae Baccal. seine Magister(Doktor)arbeit „Über den Geschmack“, betitelt<br />

DE GUSTU ex recentiorum philosophorum hypothesis einreichte und verteidigte.<br />

Diese Arbeit ist mit Datum 11. September 1689 gedruckt worden und<br />

besteht aus 18 Seiten mit 42 Thesen in lateinischer Sprache (<strong><strong>Universität</strong>sarchiv</strong><br />

<strong>Leipzig</strong>, Phil. Fac. C2, 1689, Nr. 19). Das terminbedingt zugegeben flüchtige<br />

Studium erhellt, dass Schamberg versucht, chemische Sachverhalte (§ 25: Säuren,<br />

Alkalien, gesättigte Salze, Mischungen …) mit dem „Geschmack“ (bitter,<br />

süß, …) in Beziehung zu setzen, und es werden u. a. Eigenschaften von Stoffen<br />

charakterisiert (§ 38: Vitriolum representabat rhomboideces figuras …, Sale marino<br />

in aqua simple dissolute …, Sal ammoniacum ramusculos arborum irregularibus<br />

foliis …). Natürlich hat Schamberg in diesen Jahren seine medizinischen<br />

Kenntnisse und Fertigkeiten vervollkommnet, denn sonst wäre wohl kaum sein<br />

akademischer Aufstieg im Jahre 1693 zum Assessor an der Medizinischen Fakultät<br />

erfolgt. Der Orientierung auf chemische Sachverhalte galt sein besonderes<br />

Interesse, was aus der im Jahre 1699 erfolgten Berufung auf das seit Michael<br />

Heinrich Horns Ableben vakante Extraordinariat für Chymie zu folgern ist.<br />

Immerhin blieb diese Stelle – im Gegensatz zur o. g. Pathologie-Professur – 18<br />

Jahre lang unbesetzt. Die Berufung bzw. Ernennung dazu in der Urkunde des<br />

Von Gottes gnaden, Friedrich August König in Pohlen & Hertzog zu Sachßen,<br />

Julich, Clev Berg, Engern und Westphalen Churfürst, datiert Dressden am 19.ten<br />

May ad 1699 und unterzeichnet von Gottfried Hermann von Bruhlingen, lautet<br />

(<strong><strong>Universität</strong>sarchiv</strong> <strong>Leipzig</strong>, Mediz. Fak. A IV.4, S. 1 – 2):<br />

102<br />

Hochgelehrte und lieben getreuer, Demnach die Professio extraordinaria<br />

Chymia, welche hirbei von Dr. Michael Heinrich Hornen aufgetragen gewesen,<br />

Zeitherr erlediget gewesen und Wiro der nothdurfft befinden solche<br />

vorirzo wiederumb ersezen zulassen, auch solche D. Johann Christian<br />

Schambergern auff dessen Geschehens unterthänigste ansuchen und ohne<br />

einzige Besoldung auffzutragen entschlossen, gestalt Wiro in Krafft dieß<br />

dazu confirmiren und bestetigen. Daß ist hiermit unser Begehren ihr wol-


let ihm bewilte Professionem extraordinariam, wie dieselbe obbesagter<br />

Doct. Horn vormahls gehabt gebührend anweisen nach ernennung Daran<br />

gescheht Unserer meinung.<br />

So wurde J. S. Schamberg im jugendlichen Alter von 32 Jahren Professor der<br />

Chemie. Kurz darauf folgten noch die Ordinariate für Physiologie und schließlich<br />

Anatomie. Mit seiner Wahl zum Rektor im Sommersemester 1702 und der<br />

Errichtung des Anatomischen Theaters im Jahre 1704 unter seiner Leitung hatte<br />

er in kurzer zeitlicher Abfolge eine bedeutende Stellung in der <strong>Universität</strong>shierarchie<br />

eingenommen, die mit der zweiten Wahl zum Rector Magnificus am 23.<br />

April 1706 kulminierte. Der Tod beendete jäh am 4. August 1706 nach gerade<br />

3 Monaten im Amt diese hoffnungsvolle Karriere im 39. Lebensjahr. Johann<br />

Christian Schamberg ist es, wenn man aus gehörigem zeitlichem Abstand sein<br />

Wirken für die Chemie einschätzt, wesentlich zu verdanken, dass sich diese<br />

Wissenschaft an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> in der Medizinischen Fakultät etablierte<br />

und sie über sein Ableben hinaus ununterbrochen in Form von Chemieprofessuren<br />

erhalten blieb. Im Jahre 1707 wurde das Extraordinariat für Chymie mit<br />

Martin Naboth (1675 – 1721; Funktionszeit bis zu seinem Lebensende) besetzt.<br />

Bereits 1710 berief man auf die erste ordentliche Professur für Chemie Johann<br />

Christoph Scheider (1681 – 1713), der aber wegen der Widerstände, die sich<br />

ihm bei der Errichtung eines Chemischen Laboratoriums stellten, schon nach<br />

zwei Jahren entnervt die <strong>Universität</strong> verließ. Auf M. Naboth folgten (Amtszeiten<br />

in Klammern) als ordentliche Professoren für Chemie Adam Friedrich Petzold<br />

(1722 – 1761), Anton Riediger (1762 – 1783) und schließlich Christian Gotthold<br />

Eschenbach (1784 – 1830). Letzerem gelang es, das erste Chemische <strong>Universität</strong>slaboratorium<br />

im Jahre 1805 in der Pleißenburg einzurichten.<br />

Glücklichen Umständen verdankt es die <strong>Universität</strong>, dass trotz des Verlustes<br />

eines wertvollen Porträtbildnisses Schambergs von David Hoyer (1670 – 1728)<br />

durch die Zerstörung des Augusteums am 3. Dezember 1943 ein danach angefertigter<br />

Kupferstich des Künstlers Martin Bernigeroth (1670 – 1733) erhalten<br />

geblieben ist. Das hier abgebildete Gemälde aus der Werkstatt von David Hoyer<br />

zeigt Johann Christian Schamberg mit dem Rektormantel, einem purpurfarbenen<br />

Umhang mit teilweisem Hermelinbesatz. Es gehört zum historischen Besitz der<br />

<strong>Universität</strong> und befindet sich im Anatomischen Institut.<br />

Lothar Beyer<br />

103


Institut für Ausländerstudium<br />

Zum 50. Jahrestag der Gündung am 1. September <strong>2006</strong><br />

Als 1956 das Institut für Ausländerstudium als Vorläufer des Herder-Instituts<br />

per Ministerbeschluss gegründet wurde, waren im Rahmen der Arbeiter-<br />

und Bauernfakultät seit 1951 bereits über tausend Studentinnen und Studenten<br />

aus 24 Ländern sprachlich und fachlich auf ein Studium in der DDR<br />

vorbereitet worden. Am Herder-Institut sollten es dann bis 1989 jährlich bis<br />

zu 500 Studierende sein.<br />

105


Der eigentliche Beginn des Ausländerunterrichts in <strong>Leipzig</strong> wird – fast schon legendenhaft<br />

– mit elf Nigerianern in Verbindung gebracht. Die noch junge DDR<br />

hatte sich mit Erfolg für den Sommer 1951 um die Ausrichtung der III. Weltfestspiele<br />

der Jugend und Studenten in Berlin /Ost beim Weltbund der demokratischen<br />

Jugend beworben. Die Idee, den Nigerianern ein kostenloses Studium<br />

an der <strong>Leipzig</strong>er <strong>Universität</strong> zu ermöglichen, sollte als Akt der Solidarität mit<br />

nigerianischen Bergarbeitern gewertet werden, deren Aufstand 1949 in Enugu<br />

durch die britische Kolonialmacht niedergeschlagen worden war. Es war Signal<br />

dafür, dass ein internationales Projekt einem wirtschaftlich schwachen Land<br />

Bildungshilfe gewährt. Die elf nigerianischen Studenten, zehn Männer und eine<br />

Frau im Alter von 13/14 bis 28 Jahren, wurden in der damaligen Arbeiter- und<br />

Bauernfakultät (ABF) <strong>Leipzig</strong> eingeschrieben. Wegen der äußerst unterschiedlichen<br />

Bildungsvoraussetzungen war der Nachweis eines deutschen Abiturs<br />

Zulassungsvoraussetzung. Ein „Sonderlehrgang zur Erlernung der deutschen<br />

Sprache“ wurde eingerichtet. Die Ausbildung umfasste zwei Jahre. Zu diesen elf<br />

Nigerianern kamen 1951 noch vier bulgarische Studenten dazu. Im Studienjahr<br />

1952/1953 entsandte die Koreanische Volksdemokratische Republik, schon auf<br />

der Grundlage eines Regierungsabkommens, 102 Studenten. Es war die Zeit des<br />

Krieges in Korea. Weitere ausländische Studenten folgten.<br />

Die Gründung des Instituts für Ausländerstudium am 1. September 1956 war<br />

lediglich ein Verwaltungsakt, dem gewachsenen Ansehen geschuldet. Die Abteilung<br />

Ausländerstudium wurde aus der ABF herausgenommen. Amtierender<br />

Direktor blieb noch bis 1958 Paul Leonhardt.<br />

1958 übernahm eine Frau das Direktorenamt: Katharina Harig. Sie wurde mit<br />

einer Professur für Erziehungswissenschaft an das Institut berufen. Mit ihr begann<br />

das besondere pädagogische Bemühen im Unterrichtsprozess der sprachlichen<br />

und fachlichen Vorbereitung auf ein Hoch- bzw. Fachschulstudium in<br />

der DDR, die Entwicklung von Lehrmaterialien und Lehrmethoden und die<br />

Anleitung der Sprachabteilungen der <strong>Universität</strong>en, die schon seit 1954 studienbegleitenden<br />

Deutschunterricht erteilten. Der Deutsch- und Fachunterricht für<br />

Ausländer war in den Anfangsjahren für die Lehrenden Neuland. Nicht nur die<br />

deutsche Sprache war an Ausländer zu vermitteln, sondern auch ein natur- und<br />

geisteswissenschaftlicher, biologischer und medizinischer Fachwortschatz. Die<br />

moderne Fremdsprachenvermittlung steckte noch in den Kinderschuhen. Auch<br />

Russischlehrer, oft selbst gerade als Neulehrer mit der Ausbildung fertig geworden,<br />

nahmen das in die Hand. Das erste „Lehrbuch der deutschen Sprache für<br />

Ausländer“ (Teil 1 – 4) von Wolfgang Böttcher, Gertraud Hennlich, Karl-Heinz<br />

Nentwig erschien 1954.<br />

106


Ab 1960 hatte das Institut schon eine beachtliche internationale Bekanntheit erreicht.<br />

Ein neuer Name sollte der Unterscheidung vom Goethe-Institut München<br />

dienen. Die Wahl fiel auf den „Prediger der Humanität“, den Schriftsteller und<br />

Philosophen der Weimarer Klassik Johann Gottfried Herder. Ein Brief an den<br />

Rektor der damaligen Karl-Marx-<strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> vom 21.02.1961 hob zur<br />

Begründung der Wahl, entgegen anderen Behauptungen, hervor: „Es waren vor<br />

allen Dingen Herders humanistisches Ideengut […], seine Theorien über die<br />

Sprache und sein großes Verständnis für die Literatur anderer Völker, die uns zu<br />

dem vorgenannten Vorschlag führten“.<br />

Der neue Name entsprach neuen Aufgaben und Plänen des Instituts: „Herder-<br />

Institut-Vorstudienanstalt für ausländische Studierende in der DDR und Stätte<br />

zur Förderung deutscher Sprachkenntnisse im Ausland“.<br />

Auf Antrag der Direktorin an den Oberbürgermeister der Stadt <strong>Leipzig</strong> wurde<br />

eine Änderung der Anschrift vorgenommen. Die Döllnitzer Straße im Stadtteil<br />

Gohlis erhielt den Namen Lumumbastraße. Aller Welt sollte deutlich gemacht<br />

werden, dass die weltberühmte Messestadt und die Karl-Marx-<strong>Universität</strong> den<br />

Freiheitshelden Afrikas Patrice Lumumba ehrten. Am 12. Juni 1961 fand der<br />

Gründungsakt des Herder-Instituts statt. Mit neuer außenpolitischer Orientierung<br />

der DDR auf weltweite diplomatische Anerkennung erfuhr das Herder-Institut in<br />

den sechziger Jahre eine beträchtliche Ausweitung seiner Wirkung.<br />

Im Jahre 1964 wurde der neue Direktor des Herder-Instituts, Johannes Rößler,<br />

vormals Wirtschaftsprofessor an der Hochschule für Ökonomie Berlin, in sein<br />

Amt berufen. Die neue Leitungsstruktur mit drei funktional abgegrenzten Stellvertreterposten<br />

für Unterricht und Erziehung, für Kader und Studienangelegenheiten<br />

und für Forschung wurde bis 1990 beibehalten. Die Studienvorbereitung<br />

umfasste drei Bereiche: die einjährige Vorbereitung für naturwissenschaftlichtechnische,<br />

für medizinisch-landwirtschaftliche und für gesellschaftswissenschaftliche<br />

Fachrichtungen. Hinzu kam eine zweijährige Vorbereitung für Studierende,<br />

die nach einem Jahr das Ausbildungsziel nicht erreicht hatten, sowie<br />

eine Vorbereitung von Aspiranten. Eine Arbeitsgruppe für den landeskundlichen<br />

Unterricht und für den studienbegleitenden Unterricht der ausländischen Germanistikstudenten<br />

ergänzten das Programm. Zunehmend verlangte das Ministerium<br />

für Hoch- und Fachschulwesen Lektoren für einen mehrjährigen Einsatz im<br />

Ausland. Eine „Leitstelle“ koordinierte die Vorbereitung der Lektoren für die<br />

nun jährlich stattfindenden Lektorentagungen.<br />

107


Ständig steigende Lehrverpflichtungen und knappes Personal auch infolge der<br />

Auslandsverpflichtungen führten häufig zu einer angespannten Situation.<br />

Die Forschungsarbeit am Herder-Institut begann Mitte der sechziger Jahre mit<br />

zunächst zwei Mitarbeitern in der Fremdsprachenmethodik. Einen Aufschwung<br />

erlebte die Forschungsabteilung im Jahre 1969, als der Linguist und Grammatiker<br />

Gerhard Helbig den ersten Lehrstuhl für Deutsch als Fremdsprache im<br />

gesamten deutschsprachigen Raum erhielt. Mit seiner Berufung beginnt in der<br />

DaF-Forschung die linguistische Durchdringung der Wissenschaftsdisziplin und<br />

die Anwendung der Ergebnisse auf die Unterrichtspraxis. In der Folge wurde<br />

Forschungsarbeit für das Fach Deutsch als Fremdsprache in der Linguistik<br />

(insbesondere Grammatik und Wortschatz der deutschen Gegenwartssprache<br />

mit konfrontativ-kontrastiven Untersuchungen), in der Fremdsprachendidaktik<br />

und der Methodik des Deutschen als Fremdsprache, in der Phonologie und Phonetik<br />

des Deutschen (auch in Konfrontation zu anderen Sprachen), später in der<br />

Fremdsprachenpsychologie sowie beim Einsatz von Computern und modernen<br />

Medien im Fremdsprachenunterricht und in der Arbeit mit Literatur im Fremdsprachenunterricht<br />

sowie der Landeskunde DDR geleistet. Veröffentlichungen<br />

der Forschungsabteilung haben das Herder-Institut in der Welt bekannt gemacht.<br />

Margit Ebersbach<br />

108


Johann Friedrich Christ<br />

Zum 250. Todestag am 2. September <strong>2006</strong><br />

Als vielseitiger Historiker und Philologe machte Johann Friedrich Christ<br />

(1701 – 1756) an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> erstmals antike Kunstwerke<br />

zum Gegenstand der akademischen Lehre. Er gilt damit als Begründer<br />

des Studiums der antiken Kunst an deutschsprachigen Hochschulen und<br />

Wegbereiter bei der Herausbildung der Klassischen Archäologie zu einem<br />

selbstständigen Lehr- und Forschungsgebiet.<br />

109


Johann Friedrich Christ wurde am 26. (?) April 1701 in Coburg geboren. Er<br />

stammte aus einer begüterten und angesehenen Familie des höheren Beamtentums,<br />

die ihm eine für seinen Stand typische und vielseitige Ausbildung ermöglichte.<br />

Da er seinem Vater in den Staatsdienst folgen sollte, begann Christ 1720<br />

in Jena Recht und Philosophie zu studieren. Seine Vorliebe für antiquarische<br />

Studien und die bildende Kunst weckten in ihm jedoch den Wunsch, eine akademische<br />

Laufbahn einzuschlagen. Doch erhielt er 1726 zunächst eine Anstellung<br />

als Hofmeister und begleitete die beiden jüngeren Söhne des Staats- und Premierministers<br />

von Sachsen-Coburg-Meinigen, Johann Christoph von Wolzogen,<br />

als „Instruktor“ an die <strong>Universität</strong> Halle. Obwohl Christ noch keinen akademischen<br />

Titel besaß, erhielt er dort mit Zustimmung der Philosophischen Fakultät<br />

die Erlaubnis, privat Vorlesungen zu halten.<br />

Erste wissenschaftliche Abhandlungen und der große Zuspruch, den seine Vorlesungen<br />

fanden, verschafften Christ in akademischen Kreisen schnell einen<br />

guten Namen. Sein Ruf drang in das benachbarte <strong>Leipzig</strong>, wo ihm die Philosophische<br />

Fakultät aufgrund seines Ansehens (propter viri famam) Anfang 1728<br />

in Abwesenheit die Magisterwürde erteilte. Zur Ostermesse 1729 siedelte Christ<br />

nach <strong>Leipzig</strong> über und nahm zur Erziehung des zweiten Sohnes des kurfürstlichsächsischen<br />

und königlich-polnischen Kanzlers Graf Heinrich von Bünau erneut<br />

die Stelle eines Hofmeisters an. Nachdem er am 8. Juni 1729 promoviert worden<br />

war und am 26. August des darauf folgenden Jahres sich zum Privatdozenten<br />

habilitiert hatte, erhielt Christ am 11. April 1731 eine von August dem Starken<br />

neu eingerichtete und mit einem kleinen Jahresgehalt versehene außerordentliche<br />

Professur für Geschichte. Im Frühjahr 1733 unterbrach er seine akademische<br />

Tätigkeit, um seinen Zögling, den jungen Adligen Rudolf von Bünau, auf dessen<br />

standesgemäßer Reise an die europäischen Höfe zu begleiten. Die grand tour<br />

führte sie durch Deutschland, Holland und England bis nach Oberitalien.<br />

Im Mai 1735 setzte Christ seine Lehrtätigkeit in <strong>Leipzig</strong> fort und rückte am 11.<br />

März 1739 in der Artistenfakultät in eine ordentliche Professur für Dichtkunst<br />

auf. Während seines langjährigen Wirkens an der <strong>Universität</strong> zeichnete er sich<br />

als ein vielseitiger Akademiker und bei den Studenten beliebter <strong>Universität</strong>sprofessor<br />

aus, der über die gesamten Gebiete der Altertumswissenschaften hinaus<br />

eine breite Kenntnis in der neueren Kunstgeschichte hatte, selbst Gedichte<br />

verfasste und als Radierer ausgebildet war. Da die Disziplinen der insgesamt<br />

neun Professuren an der Artistenfakultät in der Tradition scholastischer Gelehrsamkeit<br />

nicht scharf abgegrenzt waren, behandelte Christ in seinen Vorlesungen<br />

die unterschiedlichsten Gegenstände. Er gab Stilübungen in Latein, hielt Vorlesungen<br />

zur Literatur, über Universalgeschichte und zum Natur- und Völkerrecht<br />

110


und interpretierte epigraphisches Material. Entsprechend vielseitig waren auch<br />

seine zahlreichen Veröffentlichungen. Er schrieb über die Doktrin Machiavellis,<br />

forschte über antike Gemmen, die Geschichte der Langobarden, die deutsche<br />

Graphik und Malerei und verfasste eine Monogrammkunde. Mehrfach bekleidete<br />

Christ akademische Ämter, darunter viermal das Amt des Rektors (1744,<br />

1748, 1752, 1756), in das ihn die Bayerische Nation wählte. Außerdem besaß<br />

er eine umfangreiche Bücher- und Handschriftensammlung, ein Kabinett von<br />

Münzen, Gemmen, Vasen, antikem Hausgerät und Antiquitäten aller Art sowie<br />

wertvolle Kupferstiche. Den Grundstock hierfür legte er auf seiner Reise durch<br />

Europa, auf der er als gebildeter Liebhaber antike und neuere Kunstwerke nicht<br />

nur eingehend studieren, sondern dank des väterlichen Vermögens erwerben<br />

konnte. Am 2. September 1756 starb Christ infolge eines Lungenleidens. Sein<br />

Leichnam wurde in die Paulinerkirche überführt und dort beigesetzt.<br />

Christ hinterließ kein größeres Werk, das Erfolg und breite Wirkung gehabt hätte.<br />

In Erinnerung geblieben ist er vor allem als Lehrer Gotthold Ephraim Lessings<br />

(1729 – 1781) und Mitbegründer des von Johann August Ernesti (1707 – 1781)<br />

und dessen Schülern in <strong>Leipzig</strong> ausgegangenen Neuhumanismus. Sein Verdienst<br />

für die Altertumswissenschaften besteht darin, dass er die Klassische Archäologie<br />

zum <strong>Universität</strong>slehrfach erhob, lange bevor es andernorts in Deutschland<br />

und in <strong>Leipzig</strong> selbst zu einer institutionellen Organisation kam. Ab dem Sommersemester<br />

1735 las Christ in den unter res litteraria angekündigten Vorlesungen<br />

erstmals in Deutschland über antike Kunstwerke. Als bisher unbeachtete<br />

Gegenstände der Wissenschaft sollten sie nicht nur aus ästhetischem Vergnügen<br />

oder in Hinblick auf die antiken Autoren behandelt, sondern auf der Grundlage<br />

systematischer Beschreibung besprochen und erklärt werden. Einer Denkschrift<br />

für Christ zufolge gehörten dazu „viel Uebung des Auges, große antiquarische<br />

Gelehrsamkeit, einige technische Fertigkeit, wenigstens im Zeichnen, endlich<br />

eine unermüdliche Beharrlichkeit im Beschauen und Wiederbeschauen der<br />

Kunstwerke“. Da dies anhand graphischer Reproduktionen nur eingeschränkt<br />

möglich war, erkannte Christ die Notwendigkeit der direkten Anschauung antiker<br />

Kunstwerke im akademischen Unterricht. Seine in städtisch-bürgerlichem<br />

Kontext aus privater Leidenschaft und als Privileg der Oberschicht zusammengetragene<br />

Sammlung führte er daher einer neuen Bestimmung zu. Sie diente ihm<br />

nicht mehr nur der Repräsentation, dem persönlichen Kunstgenuss und eigenen<br />

wissenschaftlichen Studien Vielmehr stellte er sie in der <strong>Universität</strong>slehre für<br />

jene zur Verfügung, die antike Originale nicht wie er selbst auf Reisen durch<br />

Europa sehen konnten. Indem Christ antike Sachzeugnisse in die Lehre einbezog,<br />

bot er seinen Schülern zugleich eine neue, lebendige Art von Unterricht.<br />

Aus Büchern übernommene Urteile konnten durch Autopsie der Denkmäler auf<br />

111


der Stelle diskutiert, berichtigt und verbessert werden. Dies brachte eine dem<br />

Seminar ähnliche Unterrichtsform hervor, die eine unmittelbarere Beziehung<br />

zwischen Studierenden und Lehrenden herstellte.<br />

Durch seine archäologischen Vorlesungen bereitete Christ als einer der Vorläufer<br />

Johann Joachim Winckelmanns (1717 – 1768) eine neue Sicht auf die<br />

Antike vor. Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts war die Beschäftigung mit der<br />

bildenden Kunst des Altertums vernachlässigt worden oder gänzlich unbekannt<br />

gewesen. Es gab zwar viele Schriften antiquarischen Inhalts, aber noch keine<br />

wissenschaftliche Beschäftigung mit der Kunst der Antike. Ihre Kenntnis war<br />

auf das beschränkt, was zum unmittelbaren Verständnis der Schriftdenkmäler<br />

des Altertums erforderlich war. Antike Kunstwerke galten hierin, anderen Sachaltertümern<br />

gleichgestellt, als antiquarische Belege zur Erläuterung philologischer,<br />

technischer oder ästhetischer Standpunkte, nicht als eigenständige, auf<br />

ihre künstlerische Form hin zu untersuchende Denkmäler. Vor der Mitte des<br />

18. Jahrhunderts begannen Anne Claude Philippe de Tubières, Comte de Caylus<br />

(1692 – 1765), Johann Friedrich Christ und andere Gelehrte, die bildende Kunst<br />

der Antike innerhalb der antiquarisch-philologischen Studien als selbstständigen<br />

Gegenstand der Betrachtung abzugrenzen. Dabei handelte es sich noch nicht um<br />

Archäologie im heutigen Sinne. Die Bemühungen können aber als Ausgangspunkte<br />

dafür angesehen werden, die antiquarisch-philologische Betrachtungsweise<br />

zu überwinden und antiken Kunstwerken einen eigenen Wert beizumessen.<br />

Die Grundlagen für eine Wissenschaft von der antiken Kunst waren gelegt<br />

und innerhalb der Altertumskunde die Verselbstständigung der „Archäologie der<br />

Kunst“ als Forschungs- und Lehrgebiet eingeleitet. Das Verdienst, die künstlerische<br />

Form zum Gegenstand wissenschaftlicher Kunstbetrachtung gemacht und<br />

auf ihrer Grundlage ein chronologisches Gerüst für die Entwicklung der griechischen<br />

Plastik entworfen zu haben, gebührt Winckelmann, dessen „Geschichte<br />

der Kunst des Alterthums“ wenige Jahre nach Christs Tod erschien.<br />

Die Manuskripte seiner archäologischen Vorlesungen hat Christ nie veröffentlicht.<br />

Es existierten jedoch Mitschriften, die 1776 posthum unter dem Titel „Supra<br />

re litteraria. Abhandlungen über die Litteratur und Kunstwerke vornehmlich<br />

des Alterthums“ in einer stark überarbeiteten Redaktion von Johann Karl Zeune<br />

(1736 – 1788) erschienen. Zu sehr noch dem antiquarischen Standpunkt der<br />

ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verhaftet, war diese Schrift durch die Veröffentlichungen<br />

Winckelmanns im Grunde bereits überholt. Christs Verdienst<br />

bleibt aber, mit seinen Vorlesungen viele Gelehrte während ihres Studiums zu<br />

einer intensiven Beschäftigung mit der antiken Kunst hingeführt zu haben. Neben<br />

Lessing zählte der Altphilologe und Archäologe Christian Gottlob Heyne<br />

112


(1729 – 1812) zu seinen wichtigsten Schülern. Er führte die neue Wissenschaft<br />

in Göttingen ein und hielt dort als eigentlicher Begründer der Archäologie an<br />

deutschen <strong>Universität</strong>en regelmäßig archäologische Vorlesungen. Heyne war es<br />

auch, der über die antiken Originale hinaus die Bedeutung von Gipsabgüssen<br />

als Anschauungsmittel für den akademischen Unterricht erkannte und 1767 in<br />

Göttingen den Grundstock der weltweit ältesten universitären Abgusssammlung<br />

legte, die Vorbild vieler späterer <strong>Universität</strong>ssammlungen wurde.<br />

Von Christs Antikenkabinett und dessen Schicksal ist kein klares Bild mehr zu<br />

gewinnen. Auch gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass es in <strong>Universität</strong>sbesitz<br />

übergegangen wäre und die Keimzelle des heutigen Antikenmuseums gebildet<br />

hätte. Indes besaß nicht jeder Gelehrte, der nach Christ in <strong>Leipzig</strong> Archäologie<br />

lehrte, eine private Sammlung, um den Studierenden antike Denkmäler vor Augen<br />

zu führen. So lässt sich eine universitätseigene Kunstsammlung erstmals zu<br />

Beginn des 19. Jahrhunderts nachweisen. Bei dem in der <strong>Universität</strong>sbibliothek<br />

untergebrachten „Kabinett für Archäologie und Kunst“ dürfte es sich allerdings<br />

eher um ein „Raritätenkabinett“ gehandelt haben, das ohne einheitlichen Plan<br />

angelegt wurde. Als sich an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> die archäologische Lehrtätigkeit<br />

immer mehr spezialisierte, wurde die Gründung einer tatsächlich dem<br />

Studium dienenden Antikensammlung umso dringlicher. Nach der Bereitstellung<br />

erster Gelder und eines Ortes zur Aufstellung von Gipsabgüssen und antiken<br />

Originalen im Mittelpaulinum begann ab 1840 der systematische Aufbau<br />

einer schnell wachsenden Lehr- und Studiensammlung.<br />

Die institutionelle Organisation der Klassischen Archäologie als akademische<br />

Lehreinrichtung und ihre fachspezifische Abgrenzung von anderen <strong>Universität</strong>sinstituten<br />

erfolgten in <strong>Leipzig</strong> erst viel später. Im Jahre 1874 ging aus einer<br />

älteren und im Wesentlichen aus privaten Mitteln der <strong>Leipzig</strong>er Bürgerschaft<br />

bestrittenen „antiquarischen Gesellschaft“ das Archäologische Seminar bzw. Institut<br />

der <strong>Universität</strong> hervor. Der erste Lehrstuhlinhaber, zu dessen Lehraufgaben<br />

die Archäologie innerhalb dieses Seminars ausdrücklich gehörte, war Johannes<br />

Overbeck (1826 – 1895). Als nunmehr offizielle Einrichtung wurde es vom<br />

sächsischen Kultusministerium mit finanziellen Mitteln nicht nur für Stipendien,<br />

sondern auch zur „Vervollständigung des Interpretations-Apparates“ ausgestattet.<br />

Sie waren die Voraussetzung dafür, dass am Ende des 19. und zu Beginn des<br />

20. Jahrhunderts das <strong>Leipzig</strong>er Archäologische Institut und das ihm angeschlossene<br />

Antikenmuseum mit Unterstützung privater Stiftungen <strong>Leipzig</strong>er Bürger<br />

und durch Schenkungen auswärtiger Mäzene planmäßig und großzügig ausgebaut<br />

werden konnten. Nach wechselvoller Geschichte ist das Antikenmuseum<br />

seit 1994 im historischen Gebäude der Alten Nikolaischule untergebracht. Was<br />

113


Christ aus gelehrter Liebhaberei und mit seiner privaten Kunstsammlung begonnen<br />

hat, findet hier auf zeitgemäßem Niveau seine Fortsetzung: den Studierenden<br />

der Klassischen Archäologie eine direkte Anschauung und einen ausreichenden<br />

Überblick von der antiken Kunst des Mittelmeergebietes zu ermöglichen und<br />

ihnen die Gelegenheit zu geben, anhand von Originalwerken und Gipsabgüssen<br />

die Grundlagen des Faches zu erlernen und zu üben.<br />

Hans-Peter Müller


Ludwig Boltzmann<br />

Zum 100. Todestag am 5. September <strong>2006</strong><br />

Ludwig Boltzmann ist einer der bedeutendsten Physiker des 19. Jahrhunderts<br />

und Hauptvertreter der mechanischen Wärmetheorie, die Wärmephänomene<br />

durch die ungeordnete Bewegung von Atomen erklärt. Herauszuheben<br />

ist seine atomistische Begründung des Entropiebegriffs und sind seine<br />

Ideen, wie irreversible, d. h. nur in eine Richtung ablaufende,Vorgänge<br />

aus reversiblen, d. h. zeitumkehrinvarianten Naturgesetzen entstehen.<br />

115


Geboren am 20. Februar 1844 in Wien, war Boltzmann zeit seines Lebens auf<br />

Wanderschaft: nach seiner Promotion 1866 an der <strong>Universität</strong> Wien und der<br />

Habilitation 1867 dort Assistent, 1869 Ordinarius für Mathematische Physik<br />

in Graz, 1873 für Mathematik in Wien, 1876 für Experimentalphysik in Graz,<br />

dann für Theoretische Physik ab 1889 in München, ab 1894 in Wien, ab 1900 in<br />

<strong>Leipzig</strong>, ab1902 wieder in Wien.<br />

Boltzmann war ein sehr vielseitiger Wissenschaftler, unter anderem auch ein<br />

hervorragender Experimentator. Zum Zeitpunkt seiner Berufung nach <strong>Leipzig</strong><br />

war Boltzmann der führende theoretische Physiker im deutschen Sprachraum,<br />

und der Lehrstuhl für Theoretische Physik wurde auf Initiative Ostwalds eigens<br />

für ihn geschaffen. Obwohl Ostwald wissenschaftlich die Energetik, einen zu<br />

Boltzmanns Ideen völlig gegensätzlichen (und falschen) Ansatz vertrat, war das<br />

persönliche Klima in <strong>Leipzig</strong> gut. Boltzmanns Aufenthalt in <strong>Leipzig</strong> stand aber<br />

bereits unter dem Schatten seiner wachsenden Selbstzweifel und Depressionen,<br />

die schließlich dazu führten, dass er sich 1906 das Leben nahm.<br />

Nachdem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkannt worden war, dass<br />

Wärme kein unzerstörbarer Stoff, sondern eine Form der Energie ist, also insbesondere<br />

mechanische Arbeit in Wärme umgewandelt werden kann, versuchten<br />

die Atomisten, die Wärmeerscheinungen durch die ungeordnete Bewegung<br />

der Atome zu erklären. Arbeiten von Clausius 1857/58 folgend, führte Maxwell<br />

1860 den Begriff der Verteilungsfunktion für die Geschwindigkeiten von<br />

Gasteilchen ein und leitete für ein räumlich homogenes Gas aus allgemeinen<br />

Symmetrieüberlegungen deren Form im thermodynamischen Gleichgewicht<br />

ab – die Maxwellverteilung. Boltzmann verallgemeinerte sie 1871 auf Situationen,<br />

in denen die Verteilung auch vom Ort abhängt. Sein Resultat, die Maxwell-Boltzmann-Verteilung,<br />

gibt ihr auch die physikalisch natürliche Form: Die<br />

Verteilungsfunktion nimmt mit der Energie des Zustandes exponentiell ab. Die<br />

wahrscheinlichkeitstheoretische Beschreibung durch die Verteilungsfunktion<br />

war eine wesentliche Wende in den Grundkonzepten.<br />

1872 leitete Boltzmann die nach ihm benannte Transportgleichung für die zeitliche<br />

Entwicklung der Verteilungsfunktion eines verdünnten Gases abseits des<br />

Gleichgewichts, aus der Mechanik ab. Er zeigte, dass ihre einzige zeitunabhängige<br />

Lösung die Maxwell-Boltzmann-Verteilung ist und dass unter der durch die<br />

Boltzmanngleichung gegebenen Zeitentwicklung eine von ihm definierte Funktion<br />

H niemals zunimmt (H-Theorem), sodass S = – H als Entropie interpretiert<br />

werden kann. Die H-Funktion Boltzmanns ist (bis auf das Vorzeichen) nichts<br />

anderes als die der Verteilungsfunktion zugeordnete Informationsentropie (die<br />

116


unter diesem Namen allerdings erst etwa 70 Jahre später von Shannon eingeführt<br />

wurde). Damit schien der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, der Satz von<br />

der Zunahme der Entropie, mechanisch begründet.<br />

Boltzmanns Freund Josef Loschmidt brachte jedoch 1876 den schwerwiegenden<br />

Umkehreinwand gegen die Gültigkeit der Boltzmanngleichung vor: Die Gesetze<br />

der Mechanik sind reversibel, d. h. die Umkehrung der Bahnen von Teilchen sind<br />

ebenfalls Lösung der Newtonschen Gleichungen (ein Film über Bewegung der<br />

Planeten um die Sonne zeigt auch, wenn er rückwärts läuft, mechanisch erlaubte<br />

Planetenbahnen). Gibt man jedoch einen Tropfen Tinte in ein Glas Wasser, so<br />

breitet sie sich aus, bis sie gleichmäßig verteilt ist. Wenn dieser Vorgang, wie<br />

von Boltzmann behauptet, ebenfalls aus der Newtonschen Mechanik erklärbar<br />

sein sollte, wäre der umgekehrte Vorgang der spontanen Entmischung ebenfalls<br />

möglich, wird aber nie beobachtet. Boltzmanns Antwort ist einfach: Die Entmischung<br />

ist tatsächlich möglich, aber nur dann, wenn die Anfangsbedingung für<br />

die Orte und Geschwindigkeiten der einzelnen Tintenpartikel perfekt eingestellt<br />

wird. Dies ist aber nicht machbar, und die geringste Abweichung von der perfekten<br />

Einstellung führt bereits nicht mehr zu einer Entmischung. – Ein späterer<br />

Einwand von Zermelo basiert auf dem Wiederkehrsatz Poincarés: Die mechanische<br />

Bewegung im endlichen Volumen ist quasiperiodisch und kommt somit<br />

jeder Anfangsbedingung nach ausreichend langer Zeit wieder beliebig nahe.<br />

Demnach müssten sich Wasser und Tinte nach der Wiederkehrzeit von selbst<br />

wieder entmischen. Boltzmann argumentierte dagegen, indem er eine Schätzung<br />

für die Wiederkehrzeit gab – für den Tintentropfen im Wasserglas wäre diese<br />

Zeit um Größenordnungen länger als das Alter des Universums.<br />

Diese Einwände führten dazu, dass Boltzmann sich wieder mit der Entropie<br />

beschäftigte. 1877 zeigte er, dass die Entropie S eines thermodynamischen<br />

Gleichgewichtszustands mit seiner thermodynamischen Wahrscheinlichkeit W<br />

anwächst. Dies gibt dem Gesetz der Zunahme der Entropie die einfache Bedeutung,<br />

dass thermodynamische Prozesse in ihrer überwiegenden Mehrheit in<br />

Richtung eines wahrscheinlicheren Endzustands verlaufen. In ihrer Kombination<br />

aus Prägnanz und Bedeutung ist Boltzmanns Formel S = k log W vergleichbar<br />

mit Einsteins E = m c 2 . Boltzmann betonte danach in seinen Arbeiten immer wieder,<br />

dass der zweite Hauptsatz ein Wahrscheinlichkeitssatz ist: Eine Abnahme<br />

der Entropie ist möglich, aber für Systeme sehr vieler Teilchen sehr unwahrscheinlich,<br />

ebenso wie die spontane Entmischung von Tinte und Wasser prinzipiell<br />

möglich, aber extrem unwahrscheinlich ist. Für kleinere Teilchenzahlen<br />

sind Schwankungen beobachtbar, und Boltzmann erwähnte bereits 1896, dass sie<br />

117


die Brownschen Bewegung erklären. Er führte diese Idee jedoch nie quantitativ<br />

durch; dies tat erst Einstein im Jahr 1905.<br />

Heute sind Boltzmanns Resultate und Ideen ein zentraler Teil des Lehrgebäudes<br />

der Physik. Zu seiner Zeit waren sie vor allem in Deutschland äußerst kontrovers.<br />

Der zweite Hauptsatz galt als Grundgesetz der Physik, und im 19. Jahrhundert<br />

schien es undenkbar, dass ein solches nur im probabilistischen Sinn gelten<br />

könnte. Dazu kamen die Gegner des Atomismus insgesamt, an ihrer Spitze Ernst<br />

Mach, nach dessen positivistischer Auffassung Atome – da (damals) unbeobachtbar<br />

– in der Begriffsbildung der Naturwissenschaft keinen Platz hatten. Aus<br />

heutiger Sicht mag dieser Einwand lächerlich erscheinen, damals jedoch erlaubte<br />

er den Gegnern der Atomistik die unkritische Ablehnung der kinetischen Theorie<br />

insgesamt.<br />

Dazu kam, dass Boltzmanns Argumente zwar intuitiv überzeugend, aber technisch<br />

gesehen nicht immer streng waren. Seine Erwiderungen auf die oben<br />

genannten ernsthaften Einwände ließen z. B. offen, welchen Status seine „Ableitung“<br />

des H-Theorems aus dem Jahr 1872 hatte. Die British Association for<br />

the Advancement of Science hielt 1894 eine Konferenz mit dem Zweck ab, das<br />

H-Theorem besser zu verstehen. Boltzmann wurde eingeladen und beteiligte<br />

sich an der Diskussion, und seine daraus resultierende Arbeit 1895 ist eine seiner<br />

klarsten zur Entropie und zum H-Theorem. Im Laufe der Konferenz erklärte<br />

Bryan, dass die Ableitung der Boltzmanngleichung aus der Mechanik eine zusätzliche<br />

Annahme (den Stoßzahlansatz) enthält, die die Zeitumkehrinvarianz<br />

der mechanischen Gleichungen verletzt. Obwohl dieser Ansatz im Kontext, in<br />

dem Boltzmann ihn verwendete, in der Tat beinahe selbverständlich erscheint,<br />

ist seine strenge Rechtfertigung ein sehr schwieriges, großteils offenes Problem.<br />

Erst 1976 bewies Lanford die Gültigkeit der Boltzmanngleichung auf einer gewissen<br />

Zeitskala für typische Anfangsbedingungen; für lange Zeitskalen ist das<br />

Problem mathematisch offen.<br />

Trotz seines berühmten Ausspruchs „Eleganz ist für Schneider und Schuster“<br />

zum Thema Eleganz wissenschaftlicher Argumente hatte Boltzmann eine Neigung<br />

zur Ästhetik, spielte selbst gut Klavier und liebte Theater und Literatur.<br />

Er war bekannt für seinen Humor, seine Menschenfreundlichkeit und Offenheit.<br />

Auch mit Größen wie Clausius ging er ohne falschen Respekt um. Ebenso behandelte<br />

er seine Studenten immer als gleichberechtigte Kollegen. Er war ein<br />

hervorragender Lehrer. Lise Meitner, die Boltzmann 1902 – 1905 als Dozenten<br />

erlebte, schreibt:<br />

118


Er war ein guter Vortragender, in meiner Erinnerung sind seine Vorlesungen<br />

die schönsten und anregendsten, die ich jemals gehört habe. […] Er<br />

war selbst von allem, was er uns lehrte, so begeistert, dass man aus jeder<br />

Vorlesung mit dem Gefühl wegging, es werde einem eine ganz neue und<br />

wunderbare Welt eröffnet.<br />

Die scharfe Kritik an seinen Ideen, die er als feindselig empfand, machte ihm<br />

sehr zu schaffen. Ob dies wirklich der Hauptgrund für seine Depression und sein<br />

tragisches Ende war, wird unklar bleiben.<br />

Boltzmanns Einfluss auf nachfolgende Generationen war groß. Max Planck verwendete<br />

seine Methode, den Phasenraum in Zellen zu unterteilen und die wahrscheinlichste<br />

Verteilung zu suchen, zur Ableitung der Strahlungsformel, die am<br />

Anfang der Quantentheorie stand. Seine Einsichten zur Frage, wie Irreversibilität<br />

aus reversiblen Grundgesetzen entsteht, sind weit über die klassische Mechanik<br />

hinaus von Bedeutung, und die Beschreibung von deterministischem, aber<br />

chaotischem Verhalten mit wahrscheinlichkeitstheoretischen Konzepten und<br />

Methoden, begonnen von Maxwell und Boltzmann, ist heute in der Theorie der<br />

dynamischen Systeme selbstverständlich. Boltzmanns Ideen haben die Physik<br />

geprägt, und sie bleiben bis heute faszinierend und fruchtbar für die physikalische,<br />

mathematische und philosophische Forschung.<br />

Manfred Salmhofer<br />

119


Johann Christoph Adelung<br />

Zum 200. Todestag am 10. September <strong>2006</strong><br />

Wann beginnt die moderne Sprachwissenschaft? Mit den Brüdern Grimm<br />

um 1850? Mit den sogenannten „Junggrammatikern“ um 1900? Oder gar<br />

erst mit den Strukturalisten des 20. Jahrhunderts? Es spricht einiges dafür,<br />

dass das Datum weiter vorzuverlegen ist. Denn von 1774 bis 1786 erschien<br />

in <strong>Leipzig</strong> in fünf Bänden der Versuch eines vollständig-kritischen Wörterbuchs<br />

der hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der oberdeutschen.<br />

Der Name des Verfassers – Johann Christoph Adelung.<br />

121


Wer war Johann Christoph Adelung, der Verfasser dieses lexikographischen<br />

Monumentalwerks? Der Pfarrerssohn wurde am 8. August 1732 in dem Ort<br />

Spantekow bei Anklam in Pommern geboren, besuchte Schulen in Anklam und<br />

Klosterbergen bei Magdeburg, studierte von 1752 bis 1758 Theologie in Halle<br />

und war danach (1759) als Gymnasiallehrer in Erfurt und herzoglicher Bibliothekar<br />

in Gotha (1762) tätig. 1765 zog er nach <strong>Leipzig</strong> und entfaltete hier vielfältige<br />

Aktivitäten als Schriftsteller, Übersetzer, Journalist (von 1769 bis 1787 hatte er<br />

die Schriftleitung bei den „<strong>Leipzig</strong>er Zeitungen“ inne), Korrektor, Historiker,<br />

Privatgelehrter und Lexikograph. 1787 avancierte er zum Hofrat und Kurfürstlichen<br />

Oberbibliothekar in Dresden, wo er bis zu seinem Tode am 10. September<br />

1806 tätig blieb.<br />

Adelungs wissenschaftliche Interessen und publizistische Aktivitäten waren<br />

vielfältig. Heraus ragen allerdings seine sprachwissenschaftlichen Arbeiten, die<br />

das Fundament bildeten für nachfolgende Generationen von Gelehrten. Wichtige<br />

Werke neben dem erwähnten groß angelegten Wörterbuch waren die Deutsche<br />

Sprachlehre. Zum Gebrauch der Schulen in den Königlichen Preußischen Landen,<br />

Berlin 1781 (mit 14 Neuauflagen bis 1828 und sogar Übersetzungen ins Lateinische,<br />

Französische und Englische) und eine Art Kurzversion mit dem Titel<br />

Auszug aus der Deutschen Sprachlehre für Schulen, Berlin 1781, die es bis 1818<br />

auf immerhin acht Neuauflagen brachte. Adelungs zweites Monumentalwerk<br />

neben dem Wörterbuch ist das 1782 in <strong>Leipzig</strong> erschienene zweibändige Umständliche<br />

Lehrgebäude der Deutschen Sprache, zur Erläuterung der Deutschen<br />

Sprachlehre für Schulen. Das Wort umständlich bedeutet im Sprachgebrauch<br />

der Zeit ‚ausführlich‘, nicht etwa ‚kompliziert und langatmig‘. Dieses Werk<br />

ist so etwas wie eine erweiterte wissenschaftliche Version der erwähnten Deutschen<br />

Sprachlehre. Für die Praxis verfasst ist die Vollständige Anweisung zur<br />

Deutschen Orthographie nebst einem kleinen Wörterbuche für die Aussprache,<br />

Orthographie, Biegung und Ableitung, <strong>Leipzig</strong> 1788 (mit 13 Neuauflagen bis<br />

1838).<br />

Worin besteht nun das Novum in Adelungs Arbeiten? Seine praktischen Schriften,<br />

also die Sprachlehre und die Orthographie, gehen weit über bisherige<br />

traditionelle Versuche zahlreicher Schulmeister hinaus, die überkommene Lateingrammatik<br />

auf das Deutsche zu applizieren. Adelung begibt sich z. B. nicht<br />

auf die (vergebliche) Suche nach dem deutschen Ablativ, sondern erkennt in den<br />

vier Kasus des Deutschen ein eigenständiges, voll funktionsfähiges und nicht gegenüber<br />

den sechs Kasus des Lateinischen defizitäres Inventar. Er differenziert<br />

zwischen Tempus und Modus als grammatischen Kategorien und Gegenwart/<br />

Vergangenheit/Zukunft bzw. Faktizität/Möglichkeit/Irrealität als semantischen<br />

122


Aussagewerten und erkennt damit die Deckungsungleichheit von morphologischer<br />

Kategorie und außersprachlicher Referenz. Parallel dazu ist bei Adelung<br />

in Ansätzen auch schon die Vorstellung vom semantischen Kasus ausgeprägt,<br />

denn er formuliert bereits die Einsicht, dass jeder morphologische Kasus, also<br />

Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, ganz unterschiedliche inhaltliche Relationen<br />

auszudrücken vermag. Die Orthographie reflektiert bereits das phonetische,<br />

morphologische und etymologische Prinzip, also inkongruente orthographierelevante<br />

Aspekte, die in der deutschen Rechtschreibung teils zusammen-, teils<br />

gegeneinander wirken (und in unserer heute gültigen reformierten Orthographie<br />

vielleicht nicht immer glücklich aufeinander bezogen und gegeneinander abgewogen<br />

worden sind).<br />

Im 18. Jahrhundert begann nicht nur die Sprachwissenschaft sich als junge Wissenschaftsdisziplin<br />

herauszubilden. Es war auch eine entscheidende Etappe auf<br />

dem Weg zur Etablierung einer überregionalen und überkonfessionellen deutschen<br />

Standard- und Literatursprache. Anders als in Frankreich und England gab<br />

es in Deutschland kein höfisches Machtzentrum, das gleichzeitig als kulturelles<br />

Prestigezentrum anerkannt gewesen wäre. Dementsprechend wurde die gelehrte<br />

Debatte darüber, was „grundrichtiges“ und „kunstrichtiges“ Deutsch sei, von<br />

regionalen, häufig auch konfessionellen Standpunkten aus geführt. Im Vergleich<br />

zu manchen Zeitgenossen (wie etwa dem ostmitteldeutsch-meißnischen Hardliner<br />

Gottsched) vertrat Adelung in seinem „Lehrgebäude“ eine tolerante Auffassung:<br />

Der Sprachlehrer sei, so schreibt er, nicht Gesetzgeber der Nation, sondern<br />

nur Sammler und Herausgeber der von ihr gemachten Gesetze, ihr Sprecher und<br />

der Dollmetscher ihrer Gesinnungen. Er entscheidet nie, sondern sammelt nur<br />

die entscheidenden Stimmen der meisten. Nie läßt er sich durch Vorurtheil oder<br />

Eigenliebe verleiten, die Gesetze der Nation zu verfälschen, oder ihr seine Meinungen<br />

unterzuschieben. Ausschlaggebend bei der Entscheidung, welcher von<br />

mehreren konkurrierenden Formen- oder Aussprachevarianten im Zweifelsfalle<br />

der Vorzug zu geben sei, war für Adelung demnach also das Majoritätskriterium,<br />

wenn man so will also ein demokratisches Prinzip. Natürlich stand für den Bildungsbürger<br />

des 18. Jahrhunderts außer Frage, dass nur diejenigen Varietäten,<br />

die eine höhere Gesellschaftssprache repräsentierten, überhaupt den Anspruch<br />

erheben durften, als Grundlage für eine künftige einheitliche deutsche Nationalsprache<br />

in Betracht zu kommen.<br />

Ein abschließender Blick auf den exemplarisch ausgewählten Wortartikel Abtritt<br />

aus dem vollständig-kritischen Wörterbuch der hochdeutschen Mundart mag das<br />

Gesagte verdeutlichen.<br />

123


Dem graphisch herausgehobenen Stichwort folgen grammatische Angaben,<br />

und zwar in alter schulgrammatischer Tradition, so wie man es heute noch<br />

im Lateinunterricht lernt, Genitiv Singular und Nominativ Plural. Es werden<br />

Bedeutungen und Unterbedeutungen differenziert. Unter einer Hauptbedeutung<br />

Die Handlung des Abtretens subsumiert Adelung 1. Die Einkehr auf der<br />

Reise, 2. Die Verfügung an einen sehr nahe gelegenen Ort, 3. Die Begebung<br />

eines Rechtes, 4. Die Verlassung einer Parthey oder Sache, am meisten in<br />

Oberdeutschland. Dieser letztgenannte Gliederungspunkt dokumentiert die im<br />

Werkstitel angekündigte Rücksicht auf oberdeutsche Wortverwendungen. Von<br />

dieser an 1 gesetzten abstrakten Verwendungsweise werden unter 2 bis 4 drei<br />

weitere – konkrete – Bedeutungen dokumentiert: 2. Ein Ort, an welchem man<br />

von einem höhern niedertritt, Absatz, 3. Ein Ort, an welchem man sich bey Seite<br />

begiebt, 4. Dasjenige, was abgetreten worden. Diese letzte Bedeutung ist fach-,<br />

genauer gesagt jägersprachlich, ebenso wie Bedeutung 3 (1), die eine bergmannsprachliche<br />

Verwendungsweise dokumentiert. Zu allen Bedeutungen werden<br />

Beispiele gegeben, die Adelung entweder selbst formuliert (so in 2: Falle nicht,<br />

hier ist ein Abtritt) oder literarischen Werken entnommen hat. Stilistisch-pragmatische,<br />

sachbezogene Ausführungen und Angaben von Synonymen vermischen<br />

sich in 3 (2): Im gemeinen Leben, ein abgesonderter Ort zur Erleichterung<br />

des Leibes. Da es der Wohlstand nothwendig gemacht hat, manche Dinge nicht<br />

bey ihrem rechten Namen zu nennen, so hat auch diesem Orte schon in den mittleren<br />

Zeiten verschiedene theils allgemeine, theils mildere Namen gegeben, den<br />

damit verbundenen schmutzigen Begriff zu verstecken. So nannte man ihn z. B.<br />

ehedem das Läublein, von Laube, den Gang, Ausgang, das Sprachhaus u. s. f.<br />

Dann formuliert Adelung eine geradezu moderne sprachwandeltheoretische<br />

Einsicht, nämlich die, dass das Wort Abtritt … durch den immer gemeiner gewordenen<br />

Gebrauch auch schon niedrig zu werden anfängt, daher man sich statt<br />

derselben lieber des Ausdruckes heimliches Gemach bedienet. Die Erkenntnis,<br />

dass ursprünglich höher bewertete Begriffe durch häufigen Gebrauch ohne (oder<br />

sogar gegen) die Absicht der Sprecher „pejorisiert“ werden, ist vor nicht allzu<br />

langer Zeit zur Theorie der „Unsichtbaren Hand“ ausgebaut worden. Gewusst<br />

hat’s freilich schon Adelung!<br />

Hans Ulrich Schmid<br />

124


Johann Christian Gottfried Jörg und das<br />

„Triersche Institut“<br />

Zum 150. Todestag am 20. September <strong>2006</strong> und zum<br />

200. Jubiläum der Trierschen Stiftung<br />

<strong>2006</strong> jährt sich der Todestag von Johann Christian Gottfried Jörg zum 150.<br />

Mal. Jörg war der erste Ordinarius für Frauenheilkunde an der <strong>Universität</strong><br />

<strong>Leipzig</strong> und der erste Direktor des „Trierschen Instituts“. 1806 erfolgte die<br />

testamentarische Stiftung der Familie Trier, auf deren Grundlage die <strong>Universität</strong><br />

ein Grundstück zur Errichtung eines Hebammeninstituts erhielt. So<br />

kann <strong>2006</strong> das 200. Jubiläum dieser Ereignisse begangen werden.<br />

125


Johann Christoph Gottfried Jörg wurde am 24.12.1779 in Predel bei Zeitz<br />

geboren. 1800 begann er ein Studium der Naturwissenschaft in <strong>Leipzig</strong> und<br />

wandte sich dann der praktischen Medizin zu. 1802 erhielt er bei dem <strong>Leipzig</strong>er<br />

Geburtshelfer Dr. Carl Christian Friedrich Menz eine Assistentenstelle, die<br />

ihm Gelegenheit bot, sich in der Geburtshilfe auszubilden. Bei Menz konnte er<br />

viele geburtshilfliche Operationen ausführen, aber keine einzige normale Geburt<br />

beobachten. 1804 ging er für sechs Monate nach Wien zu Johann Lukas Boer<br />

(1751 – 1835), einem konservativen Geburtshelfer, der der Natur in allem den<br />

Vorrang ließ und jede chirurgische Maßnahme in seinem Fach nach Möglichkeit<br />

vermied. Boer hatte auf Jörg großen Einfluss. Wieder in <strong>Leipzig</strong>, wurde Jörg am<br />

23.12.1804 zum Dr. phil. promoviert, am 23.08.1805 zum Doktor der Medizin<br />

und Chirurgie.<br />

1810 erhielt Jörg als erster Ordinarius den Lehrstuhl für Geburtshilfe und übernahm<br />

die Leitung der Entbindungsschule in <strong>Leipzig</strong>. Dafür hatte er einen Ruf<br />

nach Königsberg abgelehnt.<br />

Bevor im Jahre 1806 die Grundsteinlegung für eine Entbindungsschule erfolgte,<br />

hatte es verschiedene Versuche zur Schaffung einer Spezialeinrichtung für werdende<br />

Mütter gegeben. Geburtshilfe wurde in <strong>Leipzig</strong> durch C. Chr. F. Menz,<br />

einen bei der Stadt angestellten Accoucheur, betrieben, das Fach Geburtshilfe an<br />

der <strong>Universität</strong> von verschiedenen Professoren gelesen, da es noch kein Ordinariat<br />

für Geburtshilfe gab. 1803 bewilligte der Landrat ein Hebammeninstitut, das<br />

auf einem Gartengrundstück errichtet werden sollte. Vorgeschlagen waren ein<br />

Anbau an das vorhandene Jacobs-Hospital im Rosental, die Anmietung von Zimmern<br />

bei der <strong>Universität</strong> oder der Ankauf des Winklerschen Gartens für 150.000<br />

Taler. 1803 starb der Buchhändler und Gutsbesitzer Christian Andreas Leich<br />

und hinterließ für das zu gründende Institut 20.000 Taler. Schon 1799 waren<br />

von Hofrat und Prokonsul Johann Wilhelm Richter 1.333 Taler für das Institut<br />

vererbt worden, sodass eine Summe von 21.333 Talern bereitstand.<br />

Großen Anteil an der Gründung des Hebammeninstituts hatte Prof. Dr. Johann<br />

Carl Gehler (1732 – 1796), ordentlicher Professor und von 1789 bis 1796 Dekan<br />

der Medizinischen Fakultät, der seine kinderlosen Verwandten, Appellationsrat<br />

Dr. Carl Friedrich Trier (gest. 1794) und seine Frau, für eine Anstalt zum<br />

praktischen Unterricht für Ärzte und Hebammen begeistern konnte. Rahel<br />

Amalia Auguste Trier (1731 – 1806) vermachte im gemeinsamen Testament<br />

der Eheleute ihren Garten „vor dem Petersthore am Ende des Glitschergäßchens<br />

sub No: 804 an der alten Pleiße“ der <strong>Universität</strong> zur Errichtung einer Geburtshilfeschule.<br />

Dabei handelte es sich um einen ca. 11 ha großen Acker zwischen<br />

126


der heutigen Karl-Tauchnitz- und Beethovenstraße mit einem Gartenhaus, das<br />

sich an Schwägrichens Garten anschloss. Bis 1909 entstanden an dieser Stelle<br />

das Reichsgerichtsgebäude, die <strong>Universität</strong>sbibliothek, das Konservatorium, die<br />

Kunstakademie, eine Gewerbeschule und Privatvillen.<br />

Testamentarisch legte Auguste Trier fest, dass die <strong>Universität</strong> mit ihrem Vermächtnis<br />

ein von der Medizinischen Fakultät zu entwerfendes und unter besonderer<br />

Aufsicht der Fakultät stehendes Hebammeninstitut schaffen sollte, in dem<br />

„schickliche und fleißige Weiber“ unentgeltlichen Unterricht in „Allem, was<br />

ihnen bei einer natürlich erfolgenden Geburt und Entbindung einer kreißenden<br />

Person zu thun“ sei, erhalten sollten. Dazu gehöre auch die Versorgung der<br />

Wöchnerinnen und des Kindes. Auch junge Ärzte und „Chyrurgi“, die sich der<br />

Geburtshilfe zuwenden wollten, sollten angeleitet werden und praktische Kenntnisse<br />

erwerben. Das Institut solle „das Triersche Institut“ benannt werden. Am<br />

22.05.1806, drei Wochen nach dem Tod der Stifterin, erfolgte die Übergabe des<br />

Grundstücks an die <strong>Universität</strong>.<br />

Ernst Platner (1744 – 1818), als Nachfolger von Gehler von 1796 bis 1810 Dekan<br />

der Medizinischen Fakultät, hatte präzise Vorstellungen zur Tätigkeit eines<br />

Hebammeninstituts, das gleichermaßen für die Ausbildung der Hebammen als<br />

auch der Geburtshelfer zuständig sein sollte. Schwangere in allen Phasen der<br />

Schwangerschaft konnten sich einfinden, der Unterricht sollte durch einen Professor<br />

der Entbindungskunst und durch einen Unterlehrer versehen werden. Die<br />

Ausbildung der Hebammen war in halbjährigem Zyklus vorgesehen. Ziel war<br />

es, Kenntnisse bei der Behandlung der natürlichen und der unnatürlichen Geburt<br />

zu erwerben. Der Unterricht der Studenten sollte ganzjährig erfolgen, und zwar<br />

sowohl als Vermittlung von theoretischem Wissen als auch zum Erlernen praktischer<br />

Fähigkeiten. Vorgesehen waren überdies Übungen am Phantom und die<br />

selbstständige Leitung von Geburten.<br />

1810 forderte Landesfürst Friedrich August I. eine „Obergeburtshelferstelle“<br />

an der Entbindungsanstalt. Der Stelleninhaber sollte der Medizinischen Fakultät<br />

als Professor ordinarius angehören. Vorgeschlagen und mit dieser Aufgabe<br />

betraut wurde Johann Christoph Gottfried Jörg. Als die Entbindungsanstalt am<br />

07.10.1810 eröffnet wurde, hatte sie eine Kapazität von sechs Betten. Am 08.10.<br />

erfolgte die feierliche Einweihung des „Trierschen Instituts“ in den Räumen am<br />

Peterstor an der alten Pleiße. Das erste Kind wurde am 10.10.1810 geboren.<br />

Eine erste Verlegung der Trierschen Instituts erfolgte 1828, da der Garten, in<br />

dem das Gebäude stand, sumpfig war und nach damaligen Vorstellungen Aus-<br />

127


dünstungen als Ursache für Erkrankungen galten. Im September 1828 konnte<br />

das „zweite Triersche Institut“ in einem Gebäude am Grimmaischen Steinweg<br />

No. 1294, in dem sich vorher Privatwohnungen befanden, eröffnet werden. Im<br />

Erdgeschoss waren ein Auditorium und die Wohnung für den Hausmeister<br />

eingerichtet; in der ersten Etage befanden sich Betten für Wöchnerinnen und<br />

Schwangere, die Wohnung der Hebamme, die Küche und die Speisekammer.<br />

Die zweite Etage war als Wohnung des Direktors hergerichtet. In der dritten<br />

Etage gab es Wohnungen für die Lehrtöchter, Zimmer für wohlhabende zahlende<br />

Schwangere und Wöchnerinnen, die nicht für den Unterricht zur Verfügung<br />

standen, und eine kleine Wohnung für den Assistenzarzt. Insgesamt standen nun<br />

12 Betten zur Verfügung. Laut Jörg konnten in der Anstalt die Wöchnerinnen<br />

vor dem Eindringen des Puerperalfiebers geschützt werden, die Verluste waren<br />

wesentlich geringer als im Dresdner Gebärhaus. Am 28.10.1828 wurde der Hörsaal<br />

eingeweiht.<br />

Mit der Zunahme der Bevölkerung in <strong>Leipzig</strong> stieg auch die Anzahl der Schwangeren,<br />

die wegen Raummangel nicht alle aufgenommen werden konnten. So<br />

plante man einen Anbau. Es entstanden ein Quergebäude mit der Front zur Johannisgasse<br />

und ein Hörsaal; beide Gebäudeteile wurden am 01.08.1853 eröffnet.<br />

Die Bettenzahl hatte sich verdoppelt. Vom 29.12.1853 bis zum 29.06.1854<br />

zählte man 134 aufgenommene und behandelte Mütter. Von Vorteil war auch,<br />

dass nun das Jacobsspital seine Einrichtung zur Aufnahme und Behandlung von<br />

Schwangeren aufheben konnte. Dort wurden nur noch kranke Schwangere bis<br />

zur Geburt betreut, gesunde Schwangere konnten gleich an das Hebammeninstitut<br />

verwiesen werden.<br />

Jörg vertrat als Schüler Boers eine abwartende, genau nach Indikationen vorgehende<br />

Geburtshilfe. Unter seiner Leitung trennte man die Entbindungsschule<br />

von der Hebammenschule. In letzterer wurden „Hebammen in dem unterrichtet,<br />

was sie als solche zu wissen und zu thun nötig haben“. Ein Arzt aber musste<br />

größere Kenntnisse und Fertigkeiten besitzen. In der Geburtshilfeschule erfuhren<br />

junge Ärzte alles über die Natur des Weibes und des Kindes im Allgemeinen und<br />

über die Funktionen des Schwangerseins und Gebärens im Besonderen.<br />

Hebammen und Ärzte erhielten „wissenschaftlichen, technischen und moralischen“<br />

Unterricht. Die Hebammenausbildung umfasste wöchentlich 4 Stunden<br />

Unterricht in Hebammenkunst, 24 Stunden lang Aufsicht in den Zimmern der<br />

Schwangeren und Wöchnerinnen, einmal in der Woche Untersuchung von<br />

schwangeren Frauen, Anwesenheit und Pflege der Kinder und Wöchnerinnen<br />

und Gebärenden. 1820 gab Jörg für die Ausbildung der Hebammen ein „Lehr-<br />

128


uch der Hebammenkunst“ heraus, in dem er den regelmäßigen und regelwidrigen<br />

Verlauf der Schwangerschaft, die Geburt, das Wochenbett und die jeweilige<br />

Behandlung der Wöchnerinnen durch die Hebamme sowie die Pflichten der Hebamme<br />

in kirchlichen (Nottaufe und Taufe zur regulären Zeit) und gerichtlichen<br />

Angelegenheiten (Feststellung einer Schwangerschaft, die Fähigkeit zu erkennen,<br />

ob eine Frau vor kurzem ein Kind geboren hat) abhandelte. Hebammen waren<br />

verpflichtet, unehelich Schwangere sowie Frauen, die eine Schwangerschaft<br />

verbargen, anzuzeigen.<br />

Der Unterricht der Studenten fand im Auditorium, im Zimmer der Schwangeren,<br />

am Geburts- und Wochenbett und bei Sektionen von Frauen- und Kinderleichen<br />

statt. Studenten mussten Übungen an verstorbenen Frauen und Kindern, an<br />

Phantomen und an lebenden Personen durchführen. Zur Ausbildung gehörte<br />

auch das Vorführen von Präparaten, von Wachsnachbildungen und von Instrumenten.<br />

Einmal pro Woche erfolgten 4 Stunden Vorlesung, wobei die Vorstellung<br />

von Schwangeren, Gebärenden, Wöchnerinnen und Neugeborenen und die<br />

Verwendung von Phantomen, Leichen, Trocken-, Feucht- und Wachspräparaten,<br />

Kupferstichen und Holzschnitten den theoretischen Stoff illustrierten. Auch geburtshilfliche<br />

und chirurgische Instrumente wurden vorgestellt und ihr Einsatz<br />

erklärt. Bei geburtshilflichen Operationen sah Jörg zwei Arten: vorbereitende<br />

Eingriffe wie die Wendung und Operationen, die zur Herausbeförderung des<br />

Kindes gedacht waren wie Kaiserschnitt, Benutzung der Zange und des Perforatoriums.<br />

Um 1850 war die geburtshilfliche Ausbildung in den Studienablauf integriert.<br />

Die Vorlesung fand im 6. Semester statt, im 8. Semester folgten Auskultieren<br />

und Übungen in der medizinischen, chirurgischen und geburtshilflichen Klinik<br />

sowie Vorlesungen über „Weiberkrankheiten“. Weitere klinische Praktika lagen<br />

im 9. Semester. Um als Geburtshelfer tätig sein zu können, musste die Ausbildung<br />

in einer mit einem Entbindungsinstitut verbundenen, unter öffentlicher<br />

Autorität bestehenden Lehranstalt nachgewiesen werden.<br />

In den Jahren 1841/42, 1849/50 und 1852/53 wirkte Jörg als Dekan der Medizinischen<br />

Fakultät der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong>. Er starb am 20.09.1856 kurz vor seiner<br />

Emeritierung.<br />

Zu seinen bedeutenden Schülern zählen Carl Gustav Carus (1789 – 1869), Professor<br />

der Entbindungskunst an der medizinisch-chirurgischen Akademie und<br />

Direktor der königlichen Hebammenschule in Dresden, Friedrich Ludwig Meissner<br />

(1795 – 1860), der eine geburtshilfliche Poliklinik in <strong>Leipzig</strong> errichtete;<br />

129


Woldemar Ludwig Grensner (1812 – 1872), Professor an der medizinisch-chirurgischen<br />

Akademie und Direktor des Entbindungsinstituts in Dresden, sowie<br />

Carl Hennig (1825 – 1911), Leiter der pädiatrischen Poliklinik und Direktor der<br />

von ihm gegründeten Kinderheilanstalt, die mit einer gynäkologischen Privatklinik<br />

in <strong>Leipzig</strong> verbunden war.<br />

Jörg machte sich nicht nur als Geburtshelfer einen Namen, sondern befasste<br />

sich auch mit Kinderheilkunde und setzte sich für die Verselbstständigung der<br />

Orthopädie ein. Davon zeugt nicht zuletzt seine umfangreiche publizistische<br />

Tätigkeit.<br />

Sabine Fahrenbach<br />

130


Christian Samuel Weiss<br />

Zum 150. Todestag am 1. Oktober <strong>2006</strong><br />

Christian Samuel Weiss studierte an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> von<br />

1796 – 1800. Hier habilitierte er sich auch und war von 1808 – 1810<br />

Inhaber einer Professur für Physik. Er gilt als ein Begründer der modernen<br />

mathematisch fundierten Kristallographie und der kristallographischen<br />

Lehre und Forschung in Deutschland. Die hier abgebildete Medaille wurde<br />

anlässlich seines 200. Geburtstages am 26. Februar 1980 von der Vereinigung<br />

für Kristallographie gestiftet.<br />

131


Christian Samuel Weiss wurde am 26. Februar 1780 in <strong>Leipzig</strong> als Sohn des Archidiakonus<br />

an der Nikolaikirche geboren. Bereits mit 16 Jahren begann Weiss<br />

an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> zunächst Medizin zu studieren, wandte sich jedoch<br />

bald naturwissenschaftlichen Fächern wie Physik, Chemie, Mineralogie und Mathematik<br />

zu. Speziell die Physik gewann zu dieser Zeit enorm an Wertschätzung<br />

und Eigenständigkeit als Wissenschaftsdisziplin. Bereits 1785 hatte man im<br />

„Paulinum“ ehemalige Klosterzellen in ein universitätseigenes Physikalisches<br />

Kabinett umgestaltet, wodurch es möglich geworden war, das Experiment als<br />

neues didaktisches Mittel in die Ausbildung einzubeziehen. Die Durchführung<br />

eigener Versuche und die anschließende Auswertung der Ergebnisse konnten<br />

eine völlig neue Lehrmethode begründen und von der bis dahin praktizierten<br />

bloßen Interpretation physikalischer Texte aus der Literatur wegführen.<br />

1800 erwarb Weiss den Magistergrad der Philosophischen Fakultät, der dem<br />

heutigen Dr. phil. entspricht und habilitierte sich bereits ein Jahr später am<br />

23.09.1801 im Fach Physik. In seiner Habilitationsschrift, in der die Wurzeln für<br />

seine eigenen Ideen zur dynamischen Theorie der Kristallisation und zur Klassifikation<br />

der Kristalle nach Haupt- und Nebenachsen zu suchen sind, beschäftigte<br />

er sich mit den Begriffen des festen und des kristallinen Zustands, die in der damaligen<br />

Zeit sehr umstrittenen waren. Dadurch erkannte Weiss sein eigentliches<br />

für künftige Jahre wichtiges Interessengebiet.<br />

1801/02 weilte Weiss an der 1770 durch Friedrich II. gegründeten Bergakademie<br />

Berlin, um seine naturwissenschaftlichen Studien bei dem berühmten Chemiker<br />

Heinrich Klaproth, dem Geologen Leopold von Buch und dem Mineralogen<br />

Dietrich L. G. Karsten zu vervollkommnen. Von Buch und Karsten waren<br />

Schüler Abraham Gottlob Werners an der Bergakademie Freiberg gewesen und<br />

machten Weiss mit Mineralogie und Geologie unter dem Aspekt der praktischen<br />

Bedürfnisse des Bergbaus vertraut. Karsten erkannte sehr bald die Begabung<br />

von Weiss für mineralogische und kristallographische Probleme und beauftragte<br />

ihn mit der Übersetzung von René Just Haüys Lehrbuch der Mineralogie aus<br />

dem Französischen. Während der mehrjährigen Übersetzungsarbeiten studierte<br />

Weiss auf Anraten von Buchs 1802/03 in Freiberg bei Abraham Gottlob Werner<br />

Mineralogie.<br />

In Werner und von Buch hatte Weiss zwei Vertreter gegensätzlicher Theorien<br />

über die Gesteinsentstehung kennen gelernt: Die Neptunisten mit Werner als<br />

Hauptvertreter, zu denen sich auch Goethe bekannte, glaubten, dass die Gesteine<br />

überwiegend aus dem Wasser entstehen. Hingegen vertraten die Plutonisten,<br />

deren berühmtester deutscher Vertreter von Buch war, die Meinung, dass deren<br />

132


Abscheidung überwiegend aus dem magmatischen Schmelzfluss erfolgt. Weiss,<br />

der sich bei späteren Studienreisen in die Vulkangegend der Auvergne von der<br />

Unhaltbarkeit des Neptunismus überzeugen musste, hat sich aber zu dieser Zeit<br />

nie öffentlich zu diesem Streit geäußert. Die Freundschaft zu Werner, der ihn<br />

selbst als seinen besten Schüler bezeichnet hatte, hat ihn offenbar davon abgehalten,<br />

was später dazu geführt hat, dass man Weiss vorgehalten hat, Werners Lehre<br />

unkritisch an die Studenten weiterzugeben.<br />

Der damals ungelöste Streit zwischen Neptunisten und Plutonisten mag auch<br />

einer von vielen Gründen gewesen sein, dass sich Weiss lieber kristallographischen<br />

Problemen zugewandt hat. Die Wernersche Lehre von den Kristallformen<br />

als äußeres Kennzeichen der Minerale war hierbei ein wesentlicher Ansatzpunkt.<br />

Ein weiterer ergab sich aus seiner Übersetzungstätigkeit von Haüys Lehrbuch<br />

der Mineralogie, durch die er sich nicht nur profunde Kenntnisse in Mineralogie<br />

und Kristallographie aneignete, sondern auch bis dahin bestehende Unstimmigkeiten<br />

in Haüys Kristallstrukturlehre erkannte. Von Ostern 1803 bis zum Herbst<br />

1805 hielt Weiss als Privatdozent an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> Vorlesungen über<br />

Mineralogie, Geologie, Chemie und Physik. Bereits hier entwickelte er seine<br />

kristallographische Grundauffassung, die er Haüys Kristallstrukturlehre entgegensetzte<br />

und 1804 in seiner Schrift „Dynamische Ansicht der Krystallisation“<br />

als Anhang zur deutschen Übersetzung des ersten Bandes von Haüys Lehrbuch<br />

der Mineralogie veröffentlichte.<br />

Im Herbst 1805 ließ sich Weiss für eine längere Studienreise von der <strong>Universität</strong><br />

<strong>Leipzig</strong> beurlauben und wandte sich zunächst nach Berlin, 1806 dann nach Wien.<br />

Von da an erhielt er auf ein Gesuch hin vom Sächsischen Kurfürsten Friedrich<br />

August III. 200 Taler pro Jahr Unterstützung, um seine geplanten Reiseziele<br />

Steiermark, Salzburg, Bayern, Tirol, Oberitalien, die Schweiz und Frankreich<br />

realisieren zu können. Als Gegenleistung forderte der Kurfürst einen Bericht<br />

über alle neuartigen Geräte, Vorrichtungen und Versuche, die Weiss auf seiner<br />

Reise an wissenschaftlichen Einrichtungen kennenlernte. Während dieser Reise<br />

machte sich Weiss eingehend mit den geologischen Verhältnissen der besuchten<br />

Länder vertraut und besichtigte die bereits damals bedeutenden Mineraliensammlungen<br />

in Wien und Paris. Hier traf Weiss auch auf Haüy, der dem jungen<br />

Gelehrten zunächst sehr zugetan war, sein Interesse aber in schroffe Abneigung<br />

wandelte, als er von den entgegengesetzten Ansichten seines Gesprächspartners<br />

über die Kristallisation erfuhr.<br />

Am 01.08.1808 wurde der noch in Paris weilende Weiss auf eine ordentliche<br />

Professur für Physik an die <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> berufen. Am 08.03.1809 hielt<br />

133


er seine Antrittsvorlesung. In dieser und in einer drei Tage später vorgetragenen<br />

Dissertation gab er einen Überblick über seine dynamische Theorie zur Kristallisation<br />

und vorliegende kristallographische Beobachtungen an Mineralen.<br />

Weiss blieb jedoch nicht lange in <strong>Leipzig</strong>. Die neu gegründete <strong>Universität</strong><br />

Berlin machte talentierten Wissenschaftlern der alten <strong>Universität</strong>en günstige<br />

Angebote, und es verwundert nicht, dass Weiss unter ihnen war. Am Ende des<br />

Sommersemesters 1810 verließ Weiss seine Heimatstadt, um einem Ruf nach<br />

Berlin als ordentlicher Professor für Mineralogie, Aufseher des Königlichen<br />

Mineralienkabinetts und Assessor in der Bergbau-Direktion zu folgen. An der<br />

Berliner <strong>Universität</strong>, der Weiss zeit seines Lebens die Treue hielt, zählte er bald<br />

zu den angesehensten Professoren, was sich unter anderem darin äußerte, dass<br />

er fünfmal zum Dekan der philosophischen Fakultät und zweimal zum Rektor<br />

gewählt wurde. Seine Leistungen wurden auch durch zahlreiche Mitgliedschaften<br />

in wissenschaftlichen Vereinigungen gewürdigt. So war Weiss bereits 1803<br />

Mitglied der Münchener Akademie der Wissenschaften geworden, weil er deren<br />

Preisaufgabe gelöst hatte. 1815 wurde er Mitglied der Königlichen Akademie<br />

der Wissenschaften in Berlin und 1816 ordentliches Mitglied der Gesellschaft<br />

der naturforschenden Freunde zu Berlin.<br />

Weiss gilt als Begründer der modernen mathematisch fundierten Kristallographie.<br />

Er entdeckte bereits 1804, dass die am Kristall auftretenden Flächen im<br />

Zonenverband vorliegen. In einer Zone liegende Flächen sind dadurch charakterisiert,<br />

dass sie parallel zueinander verlaufende Kanten besitzen. Aus drei<br />

Flächen, die nicht in einer Zone liegen, leitete Weiss als erster sämtliche am<br />

Kristall möglichen Flächen ab (Zonenverbandsgesetz). Zur mathematischen<br />

Beschreibung der Flächen führte Weiss kristallographische Achsensysteme ein<br />

und charakterisierte die räumliche Lage einer Kristallfläche durch ihre Achsenabschnitte.<br />

Er erkannte weiterhin, dass am Kristall nur solche Flächen auftreten<br />

können, deren Achsenabschnitte rationale Vielfache der Achsenabschnitte einer<br />

Grundfläche verkörpern (Rationalitätsgesetz). Bei der Aufstellung der kristallographischen<br />

Achsensysteme unterschied Weiss nur fünf verschiedene Fälle, weil<br />

er die schiefwinkligen (monoklin und triklin) noch nicht berücksichtigte. Dies<br />

korrigierte 1822 sein Schüler Friedrich Mohs. Mit diesen Erkenntnissen war es<br />

Weiss möglich, eine mathematisch fundierte Theorie der Kristallmorphologie<br />

auszuarbeiten, die lehrbar, erlernbar und praktisch anwendbar war. Er schuf<br />

damit wesentliche Voraussetzungen für die Entwicklung der Kristallographie zu<br />

einer selbstständigen naturwissenschaftlichen Disziplin. Die Jahre, die Christian<br />

Samuel Weiss an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> verbrachte, setzten dafür wichtige Meilensteine:<br />

Hier bekam er eine breite naturwissenschaftliche Grundausbildung<br />

134


geboten, hier konnte er sich zielstrebig und schnell zum Hochschullehrer entwickeln,<br />

und der geistige Austausch mit hiesigen und während seiner Studienreisen<br />

an anderen Hochschulen besuchten Wissenschaftlern lieferte den Nährboden für<br />

seine hervorragenden Leistungen auf dem Gebiet der Kristallographie.<br />

Weiss war bis in seine letzten Lebensjahre rüstig und gesund. Er starb am<br />

01.10.1856 während einer Bade- und Erholungsreise in Eger, wo er auch seine<br />

letzte Ruhestätte fand.<br />

Hans-Joachim Höbler<br />

135


Seminar für Landesgeschichte und<br />

Siedlungskunde<br />

Zum 100. Jahrestag der Gründung am 1. Oktober <strong>2006</strong><br />

Das 1906 begründete „Seminar für Landesgeschichte und Siedelungskunde“<br />

der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> war das erste landesgeschichtliche Forschungsinstitut<br />

in Deutschland. Mit der Bestellung Rudolf Kötzschkes (Abb.) zum<br />

Direktor dieser Einrichtung am 1. Oktober 1906 begann eine mehrere<br />

Jahrzehnte währende fruchtbare Phase der <strong>Leipzig</strong>er Landesgeschichte in<br />

Forschung und Lehre.<br />

137


Kötzschke, am 8. Juli 1867 in Dresden geboren, hatte in <strong>Leipzig</strong> die Hauptfächer<br />

Latein und Geschichte und die Nebenfächer Deutsch, Geographie und<br />

Griechisch studiert. Nichts deutete in seinem Studium darauf hin, dass er zu<br />

einem der innovativsten Historiker des beginnenden 20. Jahrhunderts werden<br />

sollte, dessen Name bis heute Fachleuten auch außerhalb Sachsens geläufig ist.<br />

Wesentliche Impulse hat Kötzschke allerdings auch nicht von der damaligen<br />

Geschichtswissenschaft erhalten, die vorrangig an der großen Politikgeschichte<br />

interessiert war.<br />

Nach Staatsprüfung und Promotion 1890 war Kötzschke zunächst als Lehrer an<br />

einer Dresdner Privatschule tätig, bis ihn 1894 der Historiker Karl Lamprecht<br />

(1856 – 1915) nach <strong>Leipzig</strong> holte. Dessen Betonung der Kulturgeschichte im<br />

weitesten Sinne zielte auf eine konzeptionelle Neuausrichtung der Geschichtswissenschaft.<br />

Lamprecht hatte sich durch sein bahnbrechendes Buch „Deutsches<br />

Wirtschaftsleben im Mittelalter“ über die Entwicklung der materiellen Kultur<br />

des Mosellandes (1885/1886) einen Namen gemacht. Diese Forschungen gedachte<br />

er in <strong>Leipzig</strong> fortzusetzen und gewann Kötzschke für die Herausgabe der<br />

Urbare der Abtei Werden an der Ruhr. Mit Studien zur Verwaltungsgeschichte<br />

dieser Grundherrschaft hat sich Kötzschke 1899 in <strong>Leipzig</strong> für „mittlere und neuere<br />

Geschichte, im besonderen für sächsische Landesgeschichte“ habilitiert. Die<br />

Beschäftigung mit wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Quellen hat Kötzschke<br />

den Zugang zur allgemeinen Wirtschaftsgeschichte eröffnet, die zeitlebens ein<br />

wichtiges Arbeitsfeld bleiben sollte, wie an seinen großen Handbuchdarstellungen<br />

der Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters (1908, 1924) ablesbar ist.<br />

Ein Schüler Lamprechts im eigentlichen Sinne ist Kötzschke zwar nicht gewesen,<br />

doch ließ er sich von ihm für landesgeschichtliche Forschungen gewinnen,<br />

für die mit der Sächsischen Kommission für Geschichte 1896 ein erster organisatorischer<br />

Rahmen geschaffen worden war. Mit Hilfe Kötzschkes gelang<br />

es Lamprecht, die Landesgeschichte an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> zu etablieren.<br />

Allerdings gestaltete sich die akademische Laufbahn Kötzschkes angesichts<br />

des sogenannten „Methodenstreits“, der in <strong>Leipzig</strong> um Lamprecht entbrannt<br />

war, schwierig. 1905 wurde Kötzschke Extraordinarius, seit 1917 Inhaber einer<br />

Professur für sächsische Geschichte, doch erst 1930 sollte er ein persönliches<br />

Ordinariat erhalten.<br />

Ein Meilenstein auf dem Weg zur Institutionalisierung des Faches war das<br />

1906 begründete Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde, nach<br />

dessen Vorbild später an weiteren <strong>Universität</strong>en landesgeschichtliche Institute<br />

gegründet worden sind. Schon an der Bezeichnung ist der prägende Einfluss der<br />

138


Geographie ablesbar. Für Lamprecht und Kötzschke war nämlich in <strong>Leipzig</strong> die<br />

Begegnung mit Friedrich Ratzel (1844 – 1904) von Bedeutung geworden, der<br />

zu den Begründern einer modernen Geographie gehörte. Sowohl die von Ratzel<br />

entwickelten Ansätze der Anthropogeographie, die auf die Wechselwirkungen<br />

zwischen Mensch und Erdoberfläche zielten, als auch die damit verbundene<br />

politische Geographie sind prägend für die <strong>Leipzig</strong>er Landesgeschichte gewesen.<br />

Ratzels programmatisches Diktum „Im Raum lesen wir die Zeit“ wurde<br />

von Kötzschke aufgegriffen und führte zu methodischen Neuansätzen, die weit<br />

über Sachsen hinaus gewirkt haben. Bereits 1898 war es auf Anregung Ratzels<br />

im Geographischen Seminar zur Gründung eines Historisch-geographischen<br />

Instituts gekommen. Aus der von Karl Lamprecht geleiteten Abteilung für historische<br />

Geographie mittlerer und neuerer Zeiten, an der Kötzschke als Assistent<br />

beschäftigt war, ist das Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde hervorgegangen.<br />

Hier entwickelte Rudolf Kötzschke die methodischen Neuansätze und Arbeitsvorhaben,<br />

die ihn zeitlebens beschäftigen sollten. Wenn für Kötzschke seit etwa<br />

1900 Landesgeschichte ganz wesentlich zur Siedlungsgeschichte wurde, dann<br />

ist dafür allerdings nicht nur der allgemeine Einfluss von Ratzel verantwortlich<br />

gewesen. Entscheidende methodische Anstöße hatte er auch August Meitzens<br />

Buch „Siedlung und Agrarwesen der Westgermanen und Ostgermanen, der Kelten,<br />

Römer, Finnen und Slawen“ (1895) und der darin angewandten kartographischen<br />

Methodik zu verdanken. Siedlungsgeschichte im Sinne Kötzschkes zielte<br />

auf größere Zusammenhänge der Agrar-, Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte.<br />

Die Kartographie wurde durch ihn zu einer konsequent angewendeten<br />

historischen Methodik und mündete in zwei große landesgeschichtliche Arbeitsvorhaben<br />

ein: Den „Atlas typischer Flurkarten zur Geschichte der Agrarverfassung“<br />

konnte Kötzschke zwar fertigstellen, doch verbrannten bei einem Luftangriff<br />

auf <strong>Leipzig</strong> 1943 alle Vorarbeiten. Weniger weit gediehen waren damals<br />

die Arbeiten am „Historischen Atlas von Sachsen“, der aber seit 1998 als „Atlas<br />

zur Geschichte und Landeskunde von Sachsen“ unter der Herausgeberschaft des<br />

Kötzschke-Schülers Karlheinz Blaschke veröffentlicht wird.<br />

Sowohl auf dem Gebiet der Siedlungsgeschichte als auch der Landesgeschichte<br />

hat Kötzschke schulebildend gewirkt. In seinem Seminar sind von 1906 bis zu<br />

seiner Emeritierung 1935 über 100 Dissertationen zu Themen der allgemeinen<br />

Siedlungs- und Agrargeschichte wie auch zur sächsischen Landesgeschichte<br />

entstanden. Als seine bedeutendsten Schüler sind Karlheinz Blaschke, Heinz<br />

Quirin, Herbert Helbig und Walter Schlesinger zu nennen. Schlesinger hat als<br />

Ordinarius in Berlin, Frankfurt und Marburg die westdeutsche Mittelalterfor-<br />

139


schung der Nachkriegszeit bis in die 70er Jahre maßgeblich geprägt und ihr<br />

durch die Verbindung von mittelalterlicher Verfassungs- und Landesgeschichte<br />

nachhaltige Impulse gegeben.<br />

Kötzschkes innovativer Paradigmenwechsel hatte sich allerdings schon seit den<br />

20er Jahren mit völkischen Vorstellungen verbunden. Die Schockerfahrung des<br />

Ersten Weltkrieges und Grenzverschiebungen im Osten lenkten den Blick auf<br />

„deutsches Land und deutsches Volkstum“ jenseits der Reichsgrenze und damit<br />

auf die Erforschung der deutschen Ostsiedlung des Mittelalters. Die neuen<br />

landesgeschichtlichen Ansätze mündeten in den 30er Jahren in die sogenannte<br />

Volks- und Kulturbodenforschung, als deren maßgeblicher Vertreter neben<br />

Kötzschke der Bonner Landeshistoriker Hermann Aubin (1885 – 1969) zu nennen<br />

ist. Wie in Bonn resultierte daraus in <strong>Leipzig</strong> eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit<br />

mit der Sprachgeschichte und Volkskunde, die sich in dem Werk<br />

„Kulturräume und Kulturströmungen im mitteldeutschen Osten“ (1936) manifestierte.<br />

Gemeinsam mit seinem Schüler Wolfgang Ebert veröffentlichte Kötzschke<br />

1937 eine „Geschichte der ostdeutschen Kolonisation“, die erste umfassende<br />

Synthese dieses für Sachsen und Mitteldeutschland wie für den gesamten<br />

ostdeutschen und ostmitteleuropäischen Raum bedeutenden Umbruchprozesses.<br />

1935, im Jahr seiner Emeritierung, hat Kötzschke gemeinsam mit dem Dresdner<br />

Archivar Hellmut Kretzschmar die „Geschichte Sachsens“ veröffentlicht. Das<br />

Buch stellt eine bis heute unübertroffene Synthese dar, die durch die vorbildliche<br />

Berücksichtigung der Wirtschafts-, Sozial-, Verfassungs- und Kulturgeschichte<br />

im Kontext der Landes- und Reichsgeschichte noch immer besticht.<br />

Als Nachfolger Kötzschkes wurde 1935 der Österreicher Adolf Helbok berufen,<br />

der durch Arbeiten zur Siedlungsgeschichte für die Fortführung der<br />

<strong>Leipzig</strong>er Neuansätze in der Landesgeschichte geeignet erschien. Allerdings<br />

hatte sich Helbok nicht nur frühzeitig der Volksgeschichte zugewandt, sondern<br />

gefordert, die „Rassekunde“ als neue geschichtswissenschaftliche Methodik zu<br />

berücksichtigen, während sich Kötzschke schon 1927 gegen die Verwendung<br />

des Begriffs „Rasse“ in der Geschichtswissenschaft verwahrt hatte. Nach der<br />

Machtergreifung Hitlers 1933 enthalten zwar manche Veröffentlichungen<br />

Kötzschkes regimekonforme Äußerungen, doch bleibt festzuhalten, dass er sich<br />

langfristig weder weltanschaulich angepasst noch für die NS-Bewegung engagiert<br />

hat. Zu den Protagonisten einer nationalsozialistisch geprägten Volks- und<br />

Kulturraumforschung hat er nicht gehört. Ganz anders sein Nachfolger Adolf<br />

Helbok, dessen <strong>Leipzig</strong>er Antrittsvorlesung über „Die Aufgaben der deutschen<br />

Landes- und Volkstumsgeschichte“ 1935 deutlich machte, dass mit seiner Berufung<br />

eine Neuausrichtung der Landesgeschichte und damit auch des Seminars<br />

140


für Landesgeschichte und Siedlungskunde verbunden war, das in Institut für<br />

Deutsche Landes- und Volksgeschichte umbenannt wurde. Die Kötzschke-<br />

Schüler Schlesinger und Helbig schieden im Streit aus dem Institut aus, weil<br />

sie wie ihr Lehrer Helboks Volkstumsgeschichte auf rassischer Grundlage als<br />

unwissenschaftlich ablehnten. Hinzu kam der berechtigte Vorwurf, dass Helbok<br />

an Fragen der sächsischen Geschichte uninteressiert war; entsprechend erfolglos<br />

blieb er als akademischer Lehrer in <strong>Leipzig</strong>. Zum 1. Mai 1941 ist Adolf Helbok<br />

deshalb einem Ruf an die <strong>Universität</strong> Innsbruck gefolgt. Währenddessen liefen<br />

mit tätiger Förderung Kötzschkes schon Bemühungen, seinen 1940 habilitierten<br />

Schüler Walter Schlesinger als Professor für Landesgeschichte nach <strong>Leipzig</strong> zu<br />

berufen. Schlesinger konnte allerdings erst im Juli 1944, nach einer schweren<br />

Kriegsverwundung, seine Tätigkeit in <strong>Leipzig</strong> aufnehmen. Das landesgeschichtliche<br />

Institut war bereits im Dezember 1943 durch einen Luftangriff total zerstört<br />

worden.<br />

Die landesgeschichtliche Arbeit in <strong>Leipzig</strong> musste deshalb nach Kriegsende aus<br />

dem Nichts wiederbegründet werden. Schlesinger war, obschon nie NS-Aktivist,<br />

aufgrund seiner formellen NSDAP-Mitgliedschaft 1945 entlassen worden. Deshalb<br />

wurde der hochbetagte Kötzschke neuerlich mit der Leitung des früheren<br />

Seminars, des Instituts für deutsche Landes- und Volksgeschichte betraut, das<br />

am 7. Oktober 1946 wiedereröffnet wurde. Kötzschke hat noch bis kurz vor<br />

seinem Tod am 3. August 1949 an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> gelehrt und sich<br />

um den Wiederaufbau der vernichteten Seminarbibliothek bemüht. Kötzschkes<br />

Institut für Deutsche Landes- und Volksgeschichte wurde 1951 als Abteilung<br />

Landesgeschichte dem Institut für Deutsche Geschichte der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong><br />

angegliedert. Unter den wissenschaftlichen Rahmenbedingungen der DDR war<br />

es der <strong>Leipzig</strong>er Landesgeschichte nicht mehr möglich, ihre frühere Bedeutung<br />

zurückzuerlangen, zumal die Professur für sächsische Landesgeschichte nicht<br />

wieder besetzt wurde. Seit den 50er Jahren hat Karlheinz Blaschke zunächst als<br />

Archivar im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden, nach seinem erzwungenen<br />

Ausscheiden aus dem Staatsdienst 1968 als Dozent am außeruniversitären Theologischen<br />

Seminar in <strong>Leipzig</strong> die Ansätze seines Lehrers Kötzschke fortgeführt<br />

und nach der Wiedervereinigung Deutschlands als Professor für Landesgeschichte<br />

an der TU Dresden auch an eine jüngere Historikergeneration weitergegeben.<br />

Die interdisziplinäre Siedlungsforschung Kötzschkes ist bis in die Gegenwart<br />

im Rahmen der deutsch-slavischen Namenforschung in <strong>Leipzig</strong> (Ernst Eichler,<br />

Hans Walther) von großer Bedeutung. Die landesgeschichtliche Arbeit an der<br />

<strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> konnte hingegen als „marxistische Regionalgeschichte“ unter<br />

den schwierigen ideologischen Rahmenbedingungen seit den 60er Jahren zunächst<br />

von Karl Czok, dann von Helmut Bräuer mit neuen Ansätzen fortgesetzt<br />

141


werden. Nach der Wiedervereinigung erhielt 1992 Wieland Held (1939 – 2003)<br />

die Professur für sächsische Landesgeschichte. Dabei hat Held ebenso wie sein<br />

2001 berufener Nachfolger eigene thematische Akzente gesetzt.<br />

Das 1906 begründete Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde<br />

markiert im Rückblick eine wichtige Etappe auf dem Weg der Verwissenschaftlichung<br />

der Landesgeschichte. Die von Rudolf Kötzschke entwickelten<br />

siedlungsgeschichtlichen Methoden sind keineswegs überholt, doch gehört die<br />

Siedlungsgeschichte heute nicht mehr zu den vorherrschenden Arbeitsfeldern<br />

der Landesgeschichte. Wichtig und zukunftsweisend bleibt jedoch ein anderes<br />

methodisches Grundanliegen Kötzschkes, nämlich seine Forderung, Landesgeschichte<br />

im allgemeinhistorischen Rahmen und in vergleichender Perspektive<br />

zu erforschen. Dieses Verständnis von Landesgeschichte hat bis heute nichts an<br />

Aktualität eingebüßt.<br />

Enno Bünz<br />

142


Friedrich Louis Hesse<br />

Zum 100. Todestag am 22. Oktober <strong>2006</strong><br />

Friedrich Louis Hesse (1849 – 1906) wurde zum Wegbereiter der wissenschaftlichen<br />

und sozial ausgerichteten Zahnheilkunde und Gründer<br />

des 1884 eröffneten <strong>Leipzig</strong>er Zahnärztlichen Instituts, das zu Jahresbeginn<br />

1898 von der <strong>Universität</strong> übernommen wurde. Bleibende Verdienste<br />

erwarb er sich auch durch seinen letztlich erfolgreichen Einsatz für<br />

eine – theoretisch wie praktisch – optimale Ausbildung der Studierenden<br />

und für die Gleichstellung der Zahnheilkunde mit der übrigen Medizin.<br />

143


Der aus dem sächsischen Bischofswerda stammende Friedrich Louis Hesse, am<br />

07.12.1849 in einer Arztfamilie geboren, begann Ostern 1868 nach Beendigung<br />

des Gymnasiums in <strong>Leipzig</strong> Medizin zu studieren. Während des Deutsch-Französischen<br />

Krieges 1870, in seinem 5. Semester, unterbrach er das Studium und<br />

meldete sich als Einjährig-Freiwilliger zum Waffendienst. In Frankreich wurde<br />

er auf Bemühen seines Vaters zum Sanitätsdienst kommandiert. Danach nahm<br />

er sein unterbrochenes Studium in <strong>Leipzig</strong> wieder auf. 1873 approbiert, promovierte<br />

er bei dem Anatomen Professor Wilhelm His. Am neuen Anatomischen<br />

Institut erhielt er 1875 die erste Assistenz mit 600 Talern jährlich und freier<br />

Wohnung, und hier erfolgte seine Ernennung zum Prosektor.<br />

Beim Besuch seines in den Vereinigten Staaten von Amerika als Arzt tätigen<br />

Bruders Richard in den Sommerferien 1879 verbrachte er so manche Stunde bei<br />

dessen Zahnarzt, Dr. Shapmann. In Brooklyn besuchte er das seinerzeit unvergleichlich<br />

reichhaltig ausgestattete Medical Department der Pennsylvanischen<br />

<strong>Universität</strong>, wobei ihn besonders das Dental College interessierte. Er gewann<br />

immer größeres Interesse an der Zahnheilkunde, die zu diesem Zeitpunkt im<br />

wesentlichen in Deutschland noch von Medizinern ohne spezielle fachliche<br />

Qualifikation ausgeübt wurde.<br />

In einem Gespräch mit His erklärte dieser ihm, dass er seine Zukunft eher in der<br />

Chirurgie sähe als in der Anatomie. Hesse jedoch äußerte den Wunsch, in den<br />

Vereinigten Staaten Zahnheilkunde zu studieren, um später eine Unterrichtsanstalt<br />

in Deutschland aufzubauen. His unterstützte ihn in seinen Bemühungen um<br />

die Einführung des wissenschaftlichen Zahnheilkundeunterrichts. Von Professor<br />

Carl Ludwig erhielt er den Rat, der Fakultät anzuzeigen, dass er nach einem<br />

zweijährigen Urlaub die Zahnheilkunde in Deutschland zu vertreten wünsche.<br />

Ludwig wollte auch seinen Einfluss beim Ministerium geltend machen, Hesse<br />

die Leitung eines Zahnärztlichen Instituts in <strong>Leipzig</strong> zu übertragen.<br />

So reiste er 1880 ein zweites Mal nach den Vereinigten Staaten und schrieb sich<br />

am New Yorker Dental College ein, wo er im Oktober 1881 sein Examen ablegte.<br />

Auch wenn sein Gesuch nach Einrichtung eines Zahnärztlichen Instituts vom<br />

sächsischen Kultusministerium abgelehnt wurde, kehrte er nach Deutschland<br />

zurück und eröffnete im Februar 1882 in <strong>Leipzig</strong> seine bald sehr erfolgreiche<br />

Praxis. In einem Schreiben der Medizinischen Fakultät vom 21. Juli 1882 an das<br />

Kultusministerium in Dresden wird darauf hingewiesen, dass für das zu gründende<br />

<strong>Leipzig</strong>er Zahnärztliche Institut ein Direktor gesucht werden müsse, der<br />

„an den Fortschritten der Zahnheilkunde wissenschaftlich und technisch beteiligt<br />

ist und dadurch die Bürgschaft gibt für die Vollständigkeit eines immer auf<br />

144


der Höhe bleibenden Unterrichts“. Im Mai 1884 erhielt Hesse vom königlichen<br />

Ministerium den Auftrag, für die Errichtung des Zahnärztlichen Instituts an der<br />

<strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> Status und Etat auszuarbeiten. Dabei sollte Berücksichtigung<br />

finden, dass sich das Institut teilweise finanziell selbst zu tragen habe, wie es in<br />

den Vereinigten Staaten üblich war.<br />

Im April 1884 wurde Hesse auf einer Sitzung der Medizinischen Fakultät einstimmig<br />

zum Extraordinarius vorgeschlagen. Kurze Zeit später erhielt er die<br />

Erlaubnis, in <strong>Leipzig</strong> im universitätseigenen Gebäude Goethestraße 5 ein solches<br />

Institut zu errichten. Letzten Anstoß dazu gab das Testament des Pfarrers<br />

Friedrich Adolph Huth, der dafür eine Summe von 15 000 Mark bestimmte. Mit<br />

der Eröffnung am 16. Oktober 1884 wurde Hesse zum außerordentlichen Professor<br />

mit Lehrauftrag für Zahnheilkunde berufen und zum Leiter des Instituts<br />

ernannt. Da der Staat nur eine Subvention zahlte, besaß dieses keinen staatlichen<br />

Charakter. Die Zahl der Studierenden betrug im ersten Semester nur 7. So reichte<br />

Hesse mit seinem amerikanischen Assistenten Frederic Joung zunächst aus.<br />

1885 folgten wegen steigender Studentenzahlen zwei weitere Assistenten und<br />

die Erweiterung auf das zweite Stockwerk.<br />

Anlässlich eines Besuchs König Alberts von Sachsen im Zahnärztlichen Institut<br />

hielt Hesse einen Vortrag über dessen Entwicklung, Aufgaben und Fortschritte,<br />

fertigte einen Abdruck vom Bilde des Königs von einem Geldstück und führte<br />

die neu angeschafften Bohrmaschinen und die elektrische Stuhlbeleuchtung vor.<br />

Eine Wertschätzung, die auch heute kein Klinikdirektor ausschlüge!<br />

Die Patienten waren vorwiegend Arbeiter und Gewerbetreibende, die bereit<br />

waren, den Studierenden für geringes Entgelt bzw. kostenfrei zur Verfügung zu<br />

stehen. Hesse bot diesen Schichten erstmalig die Gelegenheit, erkrankte Zähne<br />

zu erhalten. Er hat damit den für die Zahnheilkunde wichtigen Wandel von der<br />

reinen Extraktionstherapie hin zur Zahnerhaltung wesentlich mit unterstützt.<br />

Diese Form einer sozialen Zahnheilkunde brachte ihn in Widerspruch zur angestrebten<br />

Eigenerwirtschaftung, vielmehr verstärkte er seine Bemühungen um<br />

die Übernahme der Finanzierung durch die <strong>Universität</strong>. Hesse führte als erster in<br />

Deutschland die konservierende Tätigkeit für Mitglieder der Ortskrankenkasse<br />

ein. So orientierte er sich stärker auf die praktische Ausbildung in dieser Zeit,<br />

wodurch Forschungsaufgaben in seinen Aufzeichnungen keine Erwähnung finden.<br />

1898 führte er, nachdem er Unterricht bei einem Goldschmied genommen<br />

hatte, die Metalltechnik ein, er erlernte die Methode der Herstellung von Porzellanfüllungen<br />

bei Jenkins in Dresden und lehrte bald auch diese. Ab 1. Januar<br />

1898 wurde das Institut endlich auf <strong>Universität</strong>srechnung übernommen.<br />

145


All diese Aufgaben und die rege Teilnahme Hesses an der Standespolitik, so war<br />

er von 1892 bis 1900 Vorsitzender des „Zentralvereins Deutscher Zahnärzte“,<br />

die doppelte Zeit Vorsitzender des „Zahnärztlichen Vereins für das Königreich<br />

Sachsen“, auch wurde er Mitglied des Exekutivkommittees der Féderation Dentaire<br />

Internationale, führten zu Raubbau an seiner Gesundheit. So schreibt er in<br />

seinem Tagebuch: „Ich bin 47 Jahre alt. Meine Arbeitskraft beginnt abzunehmen<br />

und so ist es eine üble Aussicht, dass die Anforderungen an mich wachsen<br />

sollen.“ In diesen Jahren verschlechterte sich sein Gesundheitszustand immer<br />

weiter, die Sehkraft ließ nach, schwere Ermüdungserscheinungen traten auf.<br />

Seine letzten Lebensjahre wurden vom Kampf im Interesse der Zahnärzte um<br />

die Anerkennung ihres Standes belastet. Im Gerichtsstreit mit den sogenannten<br />

Spezialärzten für Zahn- und Mundkrankheiten ohne spezielle Ausbildung und<br />

Approbation bekam er seitens des Kultusministeriums keine Unterstützung. Hesse<br />

sah seine jahrelangen Bemühungen um die Gleichstellung der Zahnheilkunde<br />

mit der übrigen Medizin dadurch in Frage gestellt.<br />

Diese sechsjährige Auseinandersetzung setzte ihm so zu, dass er sich von seinen<br />

Verpflichtungen entbinden ließ, seine Privatpraxis aufgab und im Heilbad<br />

Suderode Entspannung suchte. Nach seiner Rückkehr litt er jedoch erneut unter<br />

schweren depressiven Zuständen. Er glaubte als Arzt zu erkennen, dass seine<br />

Energie nicht ausreiche, dieser Veranlagung zu widerstehen. So beschloss er, aus<br />

dem Leben zu scheiden. Am 22.10.1906 wurde er von einem Polizeibeamten im<br />

<strong>Leipzig</strong>er Rosental tot aufgefunden.<br />

Bedauerlicherweise konnte Hesse die gleich nach seinem Tode einsetzende<br />

Verwirklichung seiner Ziele nicht mehr erleben. 1909 wurde im Rahmen einer<br />

neuen Prüfungsordnung das Abitur als Vorbedingung für die Aufnahme des<br />

Zahnheilkundestudiums eingeführt, womit die von ihm so leidenschaftlich erstrittene<br />

Aufwertung des Faches eingeleitet wurde. Ebenso konnten Zahnärzte<br />

sich ab 1919 zum Dr. med. dent. promovieren. Vier Jahre nach seinem Tod<br />

erhielt <strong>Leipzig</strong> ein geräumiges, großzügig angelegtes Zahnärztliches Institut<br />

in der Nürnberger Straße. Dafür wurde die für die damalige Zeit ungeheure<br />

Summe von fast einer halben Million Reichsmark bewilligt. So entstand ein für<br />

Deutschland einmaliges Institut, das sowohl dem modernen Unterricht als auch<br />

der wissenschaftlichen Forschung genügte.<br />

Hannelore Schwann hebt in ihrem Versuch der kritischen Würdigung von Hesses<br />

Verdiensten hervor, dass er sein Augenmerk vorrangig auf den praktischen<br />

zahnärztlichen Unterricht konzentrierte, dabei der wissenschaftlichen Arbeit<br />

weniger Bedeutung zumaß. Dies war dem Umstand geschuldet, dass er der For-<br />

146


derung der Wirtschaftlichkeit nachkommen musste. Er nutzte die vielfältigen<br />

Kontakte durch seine Vereinstätigkeit zur weiteren Verbreitung des Gedankens<br />

der Zahnerhaltung und der Kariesprophylaxe mit organisatorischem und rhetorischem<br />

Talent. Das tragische Ende Hesses sei ihrer Meinung nach nicht allein auf<br />

seinen Gesundheitszustand zurückzuführen, sondern auch auf seine heute kaum<br />

nachzuempfindenden Vorstellungen einer „Standesehre“, für die er so lange erfolglos<br />

vor Gericht kämpfte.<br />

Sein Lebensziel, die Gründung eines Zahnärztlichen Instituts, die optimale<br />

Ausbildung der Studierenden und eine bestmögliche Versorgung aller Bevölkerungsschichten<br />

erreichte er, und es hat durch seine Nachfolger eine Fortsetzung<br />

erfahren. Das neue Institutsgebäude bot seinerzeit weltweit einmalige Ausbildungs-<br />

und Forschungsmöglichkeiten und zog eine große Zahl von Studierenden<br />

der Zahnheilkunde aus dem In- und Ausland an. Erstmalig in Deutschland wurden<br />

bereits 1909 Vorlesungen und Praktika zur Werkstoffkunde gehalten und<br />

entsprechendes Fachpersonal eingestellt, was den wissenschaftlichen Ruf der<br />

Ausbildungsstätte unterstrich. Die Einrichtung einer Bettenstation für Kiefer-<br />

und Gesichtsversehrte in Folge des Ersten Weltkrieges beförderte nicht nur die<br />

Entwicklung der Kiefer-, Gesichts- und plastischen Chirurgie sondern begründete<br />

auch die die <strong>Leipzig</strong>er Klinik auszeichnende Tradition der Versorgung von<br />

fehlenden Gesichtsteilen, der sogenannten Epithetik.<br />

Die von Hesse angestrebte Verknüpfung von wissenschaftlicher Lehre und<br />

Forschung darf heute als erfolgreich verwirklicht angesehen werden, auch<br />

wenn erneut durch den Zwiespalt zwischen Zwang zur Eigenerwirtschaftung<br />

von Mitteln und der Notwendigkeit zur Absicherung der Lehre trotz unzureichender<br />

Personalstärke bei steigenden Studentenzahlen die wissenschaftlichen<br />

Erfolge gegenwärtig noch nicht den gewünschten Stand erreichen können. Die in<br />

Aussicht stehende neue Approbationsordnung Zahnmedizin beinhaltet in ihren<br />

Grundzügen die von Hesse geforderte Verknüpfung der Zahn- und Allgemeinmedizin<br />

im Sinne einer Gleichstellung und Aufwertung allgemeinmedizinischer<br />

Anteile im Zahnmedizinstudium.<br />

Ehren wir Hesse künftig durch geschickte Umsetzung dieser Grundlage eines<br />

modernen Zahnmedizinstudiums, die hoffentlich bald ihren Weg durch die administrativen<br />

Gremien geschafft haben wird, vergessen dabei aber nicht, dass<br />

der Beruf des Zahnarztes trotz modernster Technologien eine manuell praktisch<br />

geprägte Tätigkeit bleibt, wie bereits Hesse seinen Studenten aufgrund seiner<br />

großen Fingerfertigkeit und handwerklichen Begabung demonstrieren konnte!<br />

147


Nicht zuletzt wird der Name Hesse durch das von der Poliklinik für Konservierende<br />

Zahnheilkunde unter seinem Direktor Professor Knut Merte 1994 ins Leben<br />

gerufene, aller zwei Jahre stattfindende wissenschaftliche Hesse-Symposion<br />

für Studenten und junge Wissenschaftler nicht in Vergessenheit geraten.<br />

Klaus Kroszewsky<br />

148


Forschungsreise durch Afrika<br />

Zum 275. Jahrestag des Beginns der sächsischen Afrika-<br />

Expedition am 30. Oktober <strong>2006</strong><br />

Algier um 1730<br />

1731 begann eine Gruppe <strong>Leipzig</strong>er Wissenschaftler mit einer Forschungsreise,<br />

die durch verschiedene Gebiete Afrikas führen sollte. Die Reisenden<br />

konnten nur einige Territorien Nordafrikas durchqueren, gleichwohl ist ihre<br />

Expedition als wichtigster Beitrag des 18. Jahrhunderts zur Erforschung<br />

des Maghreb zu werten.<br />

149


Über die Jahrhunderte hinweg haben an der <strong>Leipzig</strong>er <strong>Universität</strong> Persönlichkeiten<br />

gewirkt, die als Forschungsreisende zu Ruhm gelangten. Die Hochschule<br />

selbst hat allerdings kaum Anteil an diesen Unternehmungen genommen. Der<br />

Brasilienreisende Georg Marggraf, der Rußland- und Persienreisende Adam<br />

Olearius, der Südamerikaforscher Eduard Pöppig, der Afrikakenner Hans Meyer,<br />

um nur einige Beispiele aus dem 17. bis 20. Jahrhundert zu nennen, führten ihre<br />

Expeditionen durch, bevor sie Angehörige der Alma mater Lipsiensis wurden<br />

oder nachdem sie diese wieder verlassen hatten. Dagegen ist es hin und wieder<br />

zu Reisen gekommen, die von <strong>Leipzig</strong>er Gelehrten im Auftrag nichtuniversitärer<br />

Geldgeber organisiert und durchgeführt wurden. Man griff sozusagen auf die<br />

intellektuellen Kapazitäten zurück, die die Hochschule bot. So wurde beispielsweise<br />

Carl Chun, Professor der Zoologie, mit der Leitung der bedeutenden,<br />

vom Deutschen Reich finanzierten „Valdivia-Expedition“ zur Erforschung der<br />

Tiefsee (1898/99) beauftragt. Ein weit früheres Forschungsunternehmen dieses<br />

Charakters ist die sächsische Afrikaexpedition der Jahre 1731 bis 1733, deren<br />

Beginn sich <strong>2006</strong> zum 275. Male jährt.<br />

Der Anteil deutscher Forscher an der Erkundung Nord- und Zentralafrikas ist<br />

auffallend hoch. Es genügt der Hinweis auf Namen wie Heinrich Barth, Gustav<br />

Nachtigal, Gerhard Rohlfs und Eduard Vogel. Das sind freilich Namen des 19.<br />

Jahrhunderts, in dem in ganz Europa das Interesse an dem „dunklen Kontinent“<br />

stetig anwuchs. Im 18. Jahrhundert lag Afrika eher am Rand der geographischen<br />

Erschließung. Nordafrika galt im übrigen als Land der Barbareskenstaaten, deren<br />

Seeräubereien in ganz Europa gefürchtet wurden. Reisebeschreibungen dieser<br />

Gegenden mit wissenschaftlichem Gehalt sind aus jener Zeit daher selten. Eine<br />

Ausnahme bildet die von <strong>Leipzig</strong>er Wissenschaftlern durchgeführte Reise durch<br />

das Gebiet, das heute mit dem Namen Maghreb bezeichnet wird, damals aber unter<br />

der Bezeichnung „Barbarei“ bekannt war. Über den Ursprung der Idee, eine<br />

wissenschaftliche Reise nach Afrika durchzuführen, ist nichts Sicheres bekannt.<br />

Wahrscheinlich stammt sie vom Kurfürsten und König Friedrich August I. (II).<br />

selbst, der auf diesem Wege seine naturwissenschaftlichen Sammlungen erweitern<br />

und exotische Tiere für seine Menagerie direkt am Ort, in Afrika, erwerben<br />

wollte. Als Leiter einer solchen Expedition wurde ihm der junge Johann Ernst<br />

Hebenstreit empfohlen, der soeben in <strong>Leipzig</strong> zum Dr. med. promoviert worden<br />

war. Hebenstreit entwickelte alsbald ehrgeizige Ziele: Afrika sei der bisher am<br />

wenigsten erforschte Kontinent, der jedoch viele Reichtümer berge, deren Erkundung<br />

alle Mühen wert wäre. Vor allem die Tier- und Pflanzenwelt verspreche die<br />

mannigfachsten Entdekungen. Die Reiseinstruktion legte schließlich fest, dass<br />

die Expedition nach Afrika gehen solle, um dort für die „Cabinettes und Menagerie“<br />

des Fürsten „Thiere, Vögel, Kräuter, Blumen, Gewächse, Steine, nebst<br />

150


vielen anderen Dingen … zu colligiren.“ Man solle sich zuerst in die „Barbarey“<br />

einschiffen, um dann Guinea und schließlich das Kap der Guten Hoffnung zu<br />

bereisen. Auch dann sollte die Reise noch weiter fortgesetzt werden, allerdings<br />

bestanden wohl noch keine klaren Vorstellungen über die konkreten Ziele. Die<br />

Expeditionsgruppe bestand aus sechs Teilnehmern. Die beiden wichtigsten<br />

waren Hebenstreit als Leiter und Christian Gottlieb Ludwig als Botaniker. Zur<br />

Gruppe gehörte auch ein Maler und Zeichner.<br />

Der Aufbruch zur großen Reise erfolgte am 30. Oktober 1731 in <strong>Leipzig</strong>. Am 27.<br />

November erreichte man Genf, am 17. Dezember Marseille. Am 24. Januar 1732<br />

ging die Gesellschaft auf einem englischen Schiff unter Segel und erreichte nach<br />

einer sehr stürmischen Überfahrt am 12. Februar den Hafen von Algier. Hebenstreit<br />

war mit den verschiedensten Empfehlungsschreiben ausgestattet worden<br />

und konnte so die Unterstützung der englischen, französischen und holländischen<br />

Konsuln gewinnen, vor allem aber den Schutz des Deys von Algier. Nur<br />

unter diesen Voraussetzungen war es möglich, eine nicht ungefährliche Reise<br />

in das Innere des Landes anzutreten. Da man bei der Rückkehr nach Algier die<br />

Stadt in Furcht vor einem spanischen Angriff vorfand, ging die Reise sogleich<br />

ostwärts weiter, und nach mehreren Zwischenaufenthalten traf die Expedition<br />

in Tunis ein. Da der dortige Dey eine Erforschung des Landes mit dem Argument<br />

verweigerte, er könne den Schutz der Reisenden nicht garantieren, teilte<br />

Hebenstreit die Gruppe und reiste mit drei Teilnehmern nach Tripolis. Von dort<br />

aus kann man mehrere Vorstöße in die Wüste unternehmen, um gegen Ende des<br />

Jahres wieder nach Tunis zurückzukehren. Dort schließt sich Ludwig, der inzwischen<br />

eigene Erkundungen in der Gegend um Tunis vorgenommen hatte, der Expedition<br />

wieder an. Während der gesamten Reise werden intensive Forschungen<br />

betrieben: Anlegen von Herbarien, geographische Beschreibungen, Zeichnungen<br />

der Flora und Fauna, aber auch von Land und Leuten. Ein besonderes Interesse<br />

gilt den Zeugnissen der einstigen Herrschaft Roms über jene Gebiete. Zahlreiche<br />

Inschriften werden kopiert, die zu einem guten Teil heute nicht mehr vorhanden<br />

sind. Natürlich werden auch auftragsgemäß Tiere und Samen exotischer Pflanzen<br />

erworben.<br />

Am 17. April 1733 erfolgt die Abreise nach Marseille. Der weitere Plan sah vor,<br />

einen westeuropäischen Hafen aufzusuchen, um von dort aus zur Mündung des<br />

Senegals zu segeln. Leider war es Hebenstreit und den Seinen nicht beschieden,<br />

dieses Ziel zu erreichen. Am 1. Februar 1733 starb August der Starke, und wenige<br />

Wochen später erging die Anweisung, die Reise sofort abzubrechen und<br />

nach Sachsen zurückzukehren. Hebenstreit richtete an den neuen Kurfürsten und<br />

an den Grafen Brühl inständige Bitten, die Reise fortsetzen zu dürfen. Ludwig,<br />

151


der während der Reise ständig mit Krankheiten zu kämpfen hatte, war schon<br />

vor jener kurfürstlichen Anordnung zusammen mit den erworbenen Tieren und<br />

verschiedenem Sammlungsgut in die Heimat zurückgereist. Am 15. Mai 1733<br />

berichtete Hebenstreit aus Marseille an Ludwig: „Nach dem Tode des Königs<br />

hat es dem ErbPrintzen gefallen uns zurückzuberuffen, wobey mir gemeldet<br />

worden, daß ich Professor Physiologiae ordinarius … worden. … darauf hab ich<br />

mich nicht zubeklagen, inzwischen habe doch an den Printzen supplicirt, daß<br />

mir erlaubt seyn möchte die Reise zu vollführen, ich weiß nicht was darauf erfolgen<br />

wird. Dem Befehl zufolgen gehe ich durch Holland zurücke und kan mich<br />

allemahl im Fall andrer ordre einschiffen.“ In Sachsen war man jedoch ganz auf<br />

die bevorstehenden Auseinandersetzungen um den Erwerb der polnischen Krone<br />

fixiert; Hebenstreits Ersuchen wurde abgeschlagen. Die gesamte Reise hatte<br />

Kosten in Höhe von knapp 15 000 Talern erfordert, eine vergleichsweise geringe<br />

Summe; manches Fest am Dresdner Hof dürfte mehr Geld verschlungen haben.<br />

Trotzdem bemängelte das „Ober-Rechnungs-Collegium“ diese und jene „unnötige“<br />

Ausgabe, so den Loskauf zweier Sklaven mit 728 Talern.<br />

Die gesamte materielle Ausbeute der Expedition ist in den Wirren des Dresdner<br />

Maiaufstandes des Jahres 1849 vernichtet worden. Die einzigen erhaltenen Zeugnisse<br />

bilden schriftliche Aufzeichnungen der Expeditionsteilnemer. Unter diesen<br />

nimmt das Reisetagebuch Ludwigs einen hervorragenden Platz ein. Wahrscheinlich<br />

gelangte es bereits nach seinem Tod in den Besitz der <strong>Leipzig</strong>er <strong>Universität</strong>sbibliothek,<br />

wo es erst vor gut 100 Jahren entdeckt wurde. Derjenige, der auf<br />

diesen Fund stieß und darüber publizierte (Martin Grosse), urteilte damals, ihm<br />

sei es damit gelungen, einen „Mann in die Reihe der wissenschaftlichen Reisebeschreiber<br />

Afrikas“ zu stellen, „von dessen handschriftlichen Reiseberichten<br />

sogar unter seinen Zeitgenossen nur wenige Freunde Kenntnis hatten“.<br />

Bei der Kenntnisnahme ist es bis heute geblieben. Die Edition des Textes bildet<br />

immer noch ein Desiderat der Forschung. Angesichts ihrer Bedeutung seien<br />

dieser Quelle noch einige Zeilen gewidmet. Das Tagebuch enthält minutiöse Beschreibungen<br />

des Reiseverlaufs, umfangreiche Aufzeichnungen zur Geographie<br />

und zur Pflanzenwelt Nordafrikas, insbesondere aber reichhaltige Beobachtungen<br />

zum Leben und zu den Sitten der Bewohner in den bereisten Gegenden. Ethnologen<br />

und Historiker werden den hohen Wert dieser Mitteilungen einschätzen<br />

können. Interessant ist aber auch ein anderer Aspekt: Ludwig zeigt sich in seinen<br />

Notizen ganz als ein Vertreter der Aufklärung, die gerade in <strong>Leipzig</strong> eines ihrer<br />

Zentren besaß. Das Gesehene wird danach beurteilt, inwieweit es den Vernunftprinzipien<br />

und Nützlichkeitserwägungen des aufgeklärten Europäers entspricht.<br />

Das Ergebnis bildet oft harsche Kritik. Die Menschen jener Gegenden, urteilt<br />

152


Ludwig zusammenfassend in einem lange nach der Reise vor dem Kurfürsten gehaltenen<br />

Vortrag, lebten „in dem elendesten Zustande“, woran die „dumme Religion<br />

der Türken“ und eine „sclavische Regierung“ die Schuld trage. „Wieviel<br />

glücklicher sind wir nicht, wir, die wir eine bessere Religion, Liebe zum Wissenschaften<br />

und weise Regenten haben.“ Auch im Tagebuch stoßen wir immer wieder<br />

auf entsprechende Reflexionen. Einen Wissenschaftler interessiert natürlich<br />

das Bildungswesen der bereisten Landschaften. Das Ergebnis ist enttäuschend:<br />

„Man kan gemeiniglich schon zehn Häuser davor hören wo eine Schule ist, weil<br />

sie laut und ofters alle zusammen mit großem Gepläre lesen … so viel ich mich<br />

bemühet habe etwas von der Gelehrsamkeit dieser Völcker zu erfahren, so habe<br />

doch endlich gesehen daß derjenige unter ihnen schon gelehrt zu nennen sey<br />

welcher sich im Schreiben und Lesen gut geübt hat.“ Grund zur Klage bietet dem<br />

am praktischen Wirken orientierten Beobachter auch mangelnder Arbeitseifer:<br />

Zwar gäbe es viele Gärten, „nur ist schade daß das Volck so nachläßig ist und<br />

nicht mehr arbeitet als zu einem elenden Unterhalte des Lebens nöthig ist“; so<br />

befänden sie sich in einem schlechten Zustand.<br />

Ludwig ist unter allen Teilnehmern derjenige, der sich am intensivsten mit den<br />

antiken Überresten Nordafrikas beschäftigt. So besucht er die Ruinen des alten<br />

Karthago, entdeckt aber auch dort einen in die Vergangenheit zurückprojizierten<br />

Gegensatz zwischen der Tüchtigkeit des „Europäers“ und der Bequemlichkeit<br />

des „Orientalen“: „Jetzo ist nicht das geringste Merckwürdigste mehr übrig, und<br />

ich wundere mich auch hierüber nicht, weil ich glaube daß sich die Karthaginenser<br />

nicht so viele Mühe gaben als die Römer, welche die größten Quader<br />

Stücke aus andern Länder schlepten, um nur kostbahre Gebäude auf zurichten.“<br />

Andererseits gelangt im Tagebuch auch der deistische Standpunkt vieler Aufklärer<br />

zum Ausdruck, wonach es genügt, an die Existenz eines höchsten Wesens<br />

zu glauben. Hier kann unser Reisender von positiven Beobachtungen berichten:<br />

„Und dieses muß ich von diesen Leuthen rühmen wenn sie auch noch so schlecht<br />

erfahren sind, so werden sie doch von der Einigkeit und von den vollkommenheiten<br />

Gottes so gut zu reden wissen als wir Christen, ja manchmahl noch besser.“<br />

Die Teilnahme an der Afrika-Expedition hat für Ludwig übrigens keine karrierefördernde<br />

Bedeutung. Drückende Armut verfolgte ihn, erst 1738 wurde ihm<br />

eine Pension gewährt, 1748 erlangt er schließlich eine Professur an der Medizinischen<br />

Fakultät. Bekannt ist, daß Goethe während seines Studiums zeitweilig<br />

Ludwigs Tischgast war. Ob bei den Mahlzeiten auch über Afrika gesprochen<br />

wurde, ist uns freilich nicht überliefert.<br />

Detlef Döring<br />

153


Thomas Müntzer<br />

Vor 500 Jahren begann der Theologe sein Studium in <strong>Leipzig</strong><br />

Thomas Müntzer war Theologe, begann sein Studium 1506 in <strong>Leipzig</strong> und<br />

öffnete sich der Wittenberger Reformation. Er wirkte als Prediger, kritisierte<br />

den Verfall in Kirche und Gesellschaft und erwartete, dass Gott die Gottlosen<br />

vernichtet und eine Reform der Christenheit, ja der Welt herbeiführt. Im Glauben,<br />

Gott werde dies durch aufständische Bauern bewirken, schloss er sich<br />

ihnen an. Die im 19. Jh. einsetzende Müntzer-Verherrlichung hat zu einer<br />

internationalen Erforschung seiner Person und Umwelt herausgefordert.<br />

155


„Thomaß Munczer de quedilburck“ wurde als 118. und letzter des Wintersemesters<br />

1506/07 in die <strong>Leipzig</strong>er Matrikel eingetragen. Da über sein Alter nichts<br />

bekannt ist und die zeitgenössischen Studenten im Durchschnitt ihr Studium im<br />

17. Lebensjahr aufnahmen, wird aufgrund dieses Eintrages sein Geburtsjahr „um<br />

1489“ angenommen. Er war zwar in Stolberg/Harz geboren, kam aber von der<br />

Lateinschule in Quedlinburg an die <strong>Universität</strong>. Hinter seinem Namen wurde<br />

vermerkt, dass er die übliche Einschreibgebühr von 6 gr. bezahlte. Er nahm also<br />

keine Gebührenminderung in Anspruch. Die zeitweise aufgestellte Behauptung,<br />

Müntzer sei mittellos gewesen und habe infolge seiner Armut revolutionäre<br />

Ideen entwickelt, wird dadurch und durch sein späteres soziales Umfeld widerlegt.<br />

Zum Wintersemester 1512/13 ließ er sich in die Matrikel der <strong>Universität</strong><br />

Frankfurt/Oder einschreiben. Vermutlich erwarb er hier die Titel Magister artium<br />

und Magister theologiae.<br />

Nachdem er in der Diözese Halberstadt zum Priester ordiniert worden war,<br />

erhielt er am 6. Mai 1514 ein Lehen am Marienaltar der St. Michaeliskirche in<br />

Braunschweig, wo er mit der besitzenden Oberschicht Verbindung pflegte. Bald<br />

danach hatte er das Amt des Propstes und Leiters der Schule des Kanonissenstifts<br />

Frose bei Aschersleben inne. 1517 setzte er sein Studium fort, mindestens teilweise<br />

auch in Wittenberg. An allen drei <strong>Universität</strong>en, die Müntzer aufsuchte,<br />

wurden humanistische Studien getrieben. Diese richteten sich besonders auf die<br />

Sprachen Latein, Griechisch und auch Hebräisch, auf antike Autoren, auf die<br />

Heilige Schrift und auf Kirchenväter. Damit war eine entschlossene, mit Polemik<br />

und auch Spott einhergehende Abkehr von der scholastischen Philosophie und<br />

Theologie sowie Kritik an der spätmittelalterlichen Kirche verbunden. Die mittelalterliche<br />

Mystik fand neue Aufmerksamkeit. Alle diese Bestrebungen nahm<br />

Müntzer auf.<br />

Als der Lutherschüler Franz Günther infolge seiner reformatorischen Predigt<br />

in Jüterbog mit den Franziskanern in Streit geriet, ließ er sich um Ostern 1519<br />

von Müntzer vertreten, der mit seiner Kirchenkritik ebenfalls Gegnerschaft auf<br />

sich zog. Er fand Zuflucht als Beichtvater im Zisterzienserinnenkloster Beuditz<br />

bei Weißenfels. Während Martin Luther und Andreas Bodenstein aus Karlstadt<br />

im Sommer 1519 in <strong>Leipzig</strong> auf der Pleißenburg mit Johann Eck disputierten,<br />

war Müntzer vermutlich in der Stadt. Von Luther vermittelt übernahm Müntzer<br />

im Mai 1520 in Zwickau an der Marienkirche die Vertretung des Predigers<br />

Johannes Egranus. Danach übertrug der Rat Müntzer die Predigerstelle an der<br />

Katharinenkirche. Müntzer geriet erst mit den Franziskanern, dann aber auch<br />

mit Egranus und Anhängern Luthers so in Streit, dass er im April 1521 entlassen<br />

wurde. Müntzer hatte die Überzeugung gewonnen, dass nach dem Tod der Apos-<br />

156


tel ein von den Geistlichen verschuldeter Verfall der Kirche begonnen habe, der<br />

zu ihrer schrecklichen Verwüstung geführt habe. Gott werde nun „in der letzten<br />

Zeit“ eine umfassende Reformation der Christenheit mit mehr Gerechtigkeit für<br />

das Volk vornehmen. Er bezeichnete sich als den, der „für die Wahrheit kämpft“,<br />

und hielt Umschau nach dem Werkzeug, dessen sich Gott bedienen will. Sein<br />

erster Blick fiel auf die Hussiten, die sich vom Papst getrennt hatten.<br />

Müntzer zog nach Prag, wo er als Vertreter der Wittenberger freundlich aufgenommen<br />

wurde, dann aber durch seine apokalyptischen Vorstellungen Ablehnung<br />

erfuhr. Die Böhmen versagten ihm die Gefolgschaft. Er verließ Prag, hielt<br />

sich an mehreren Orten auf und richtete seine Kritik nun auch gegen die Wittenberger<br />

Reformatoren. Im April 1523 erhielt er die Pfarrstelle an der Johanneskirche<br />

in dem kursächsischen Ackerbürgerstädtchen Allstedt. Hier heiratete er<br />

die Nonne Otilie von Gersen, die ihm einen Sohn gebar. Er führte eine Reform<br />

der kirchlichen Ordnungen – einschließlich Taufe, Trauung und Bestattung – ein<br />

und schuf eine für alle verständliche, deutschsprachige Liturgie. Er gewann die<br />

Zustimmung des Rates, seines Amtskollegen und des Amtmanns auf dem<br />

Schloss Allstedt. Aus umliegenden Orten strömten Gemeindeglieder zu seiner<br />

Predigt. Als Graf Ernst von Mansfeld diesen Predigtbesuch unterbinden wollte,<br />

griff ihn Müntzer am 22. September 1523 in einem Brief an, den er mit „Thomas<br />

Muntzer, eyn verstorer [Zerstörer] der unglaubigen“ unterschrieb. Der Kampf<br />

gegen die Gottlosen prägte sein Denken. Am 13. Juli 1524 forderte er in einer<br />

Predigt auf dem Schloss Allstedt die anwesenden kursächsischen Fürsten auf,<br />

ihre Macht diesem Kampf zur Verfügung zu stellen. Diese entschieden sich aber,<br />

diejenigen zu bestrafen, die am 24. März 1524 die Mallerbacher Kapelle des<br />

Nonnenklosters Naundorf in Brand gesteckt hatten, den Verteidigungsbund aufzulösen,<br />

den Müntzer angesichts der Bedrohung von Seiten umliegender Fürsten<br />

organisiert hatte, und die Druckerei zu schließen, die für Müntzer druckte. Da die<br />

Allstedter Müntzer nicht gegen diese Maßnahmen unterstützten, verließ Müntzer<br />

im August 1524 seine bedeutendste Wirkungsstätte.<br />

Er betätigte sich nun als Prediger an der Marien- und Nikolaikirche in der<br />

Reichsstadt Mühlhausen, in der seit 1522 reformatorisch gepredigt wurde. Er beteiligte<br />

sich an der Ausarbeitung der „Elf Artikel“, die ein neues, an Gottes Wort<br />

orientiertes Stadtregiment forderten. Mit Hilfe in die Stadt gerufener Bauern<br />

setzten sich aber konservative Kräfte durch. Müntzer wurde am 26. September<br />

1524 ausgewiesen. Er zog über Nürnberg bis in die Schweiz und begegnete auf<br />

seiner Rückreise im Klettgau und Hegau aufständischen Bauern. Er gewann die<br />

Überzeugung, dass sie das von Gott auserwählte Werkzeug seien, „die große<br />

Reformation“ der Welt heraufzuführen.<br />

157


Im Februar 1525 kehrte Müntzer nach Mühlhausen zurück, wo sich inzwischen<br />

die Reformation durchgesetzt hatte. Er erhielt die Predigerstelle an der Marienkirche.<br />

Eine Auseinandersetzung zwischen dem Rat und den Predigern endete<br />

mit der Neuwahl eines „Ewigen Rates“. Seit Mitte April ergriff die Bauernerhebung<br />

auch Thüringen. Ein Mühlhäuser Aufgebot von 10 000 Mann zog unter<br />

einer von Müntzer mit einem Regenbogen gestalteten Fahne auf das Eichsfeld,<br />

nicht gegen Graf Ernst von Mansfeld, wie es Müntzer wünschte. Für eine Unterstützung<br />

des Frankenhäuser Haufens konnte er nur 300 Mann gewinnen. Bei<br />

ihm angekommen, versuchte er vergeblich, Verstärkung des Bauernheeres zu<br />

gewinnen. Durch Briefe an Fürsten, deren Heer die Bauern einschlossen, trat<br />

er als Wortführer in Erscheinung. Im Vertrauen, dass Gott selbst den Kampf<br />

gegen die Gottlosen zum Sieg führen würde, bewegte er die Bauern, auf weitere<br />

Verhandlungen zu verzichten und sich dem Kampf zu stellen. Am 15. Mai 1525<br />

unterlagen die Bauern sehr schnell dem angreifenden Fürstenheer und suchten<br />

ihr Heil in der Flucht hinter die Mauern von Frankenhausen. Sie wurden aber<br />

von der nachdrängenden Reiterei niedergestochen, so dass um 6 000 ihr Leben<br />

verloren. Müntzer gelang die Flucht in die Stadt, wo er aber entdeckt, gefangengenommen<br />

und seinem Feind Ernst von Mansfeld in Heldrungen übergeben<br />

wurde. Für Müntzer kam diese Katastrophe völlig überraschend. Er hat sie damit<br />

erklärt, „daß ein jeder seinen Eigennutz mehr gesucht als die Rechtfertigung<br />

[Verteidigung] der Christenheit“. Nach einem Verhör, bei dem man auch die<br />

Folter anwendete, wurde er zusammen mit seinem Mühlhäuser Amtskollegen<br />

Heinrich Pfeiffer am 27. Mai 1525 im Heerlager Görmar – östlich vor den Toren<br />

von Mühlhausen – hingerichtet.<br />

Müntzer hat außer seinen liturgischen Schriften nur sechs Flugschriften veröffentlicht,<br />

wovon bei einer Schrift von 500 Exemplaren 400 und einer weiteren<br />

alle in der Druckerei beschlagnahmt wurden. Eine herausragende Bedeutung<br />

erlangte er erst durch den Irrtum einiger Reformatoren – unter ihnen Luther und<br />

Philipp Melanchthon –, Müntzer sei der Urheber der 1524 begonnenen Bauernerhebung<br />

gewesen. Sie wussten zwar um Müntzers Forderung, die Gottlosen zu<br />

vernichten, nahmen aber die davon unabhängigen Sozialkämpfe nicht als solche<br />

wahr. Mit ihren Schriften machten sie Müntzer als Bauernführer publik. Er wurde<br />

zum Inbegriff eines Aufrührers. Sowohl in Flugschriften als auch im fürstlichen<br />

Briefverkehr wurden Unruhen auf den „müntzerischen Geist“ zurückgeführt.<br />

Die sozialistische Bewegung des 19. Jahrhunderts entdeckte den von den Reformatoren<br />

gezeichneten Müntzer als Symbolfigur für eigene Bestrebungen,<br />

indem sie in dem „Aufrührer“ einen vorbildlichen Revolutionär sah. Diese Sicht<br />

hatte nach dem Ersten Weltkrieg, besonders aber in den Anfangsjahren der<br />

158


DDR, starken Einfluss auf die Bewertung der Reformation. Die Folge war eine<br />

weltweite Forschung, die sich dem historischen Müntzer und seinem sozialen<br />

Umfeld zuwendete. Die <strong>Leipzig</strong>er <strong>Universität</strong> hat sich mit ihren Kirchenhistorikern<br />

durch Heinrich Boehmer seit 1922 und nach dem Zweiten Weltkrieg mit<br />

ihren Historikern durch Max Steinmetz und von ihm angeregte marxistische<br />

Forscher daran beteiligt. Diese Forschung führte zur Erschließung der Quellen<br />

und zur Überwindung der von den Reformatoren geförderten „Müntzerlegende“.<br />

Die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu <strong>Leipzig</strong> bringt seit 2004 unter<br />

Mitarbeit von Angehörigen der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> eine dreibändige Thomas-<br />

Müntzer-Ausgabe heraus.<br />

Helmar Junghans<br />

159


Das Augusteum<br />

Zum 175. Jahrestag der Grundsteinlegung für das Haupt-<br />

gebäude der <strong>Universität</strong><br />

Vor 175 Jahren wurde an der Stelle des alten Zwingergebäudes im Paulinum<br />

der Grundstein für das erste Hauptgebäude der sächsischen Landesuniversität<br />

gelegt, das, 1836 unter dem Namen Augusteum geweiht, die<br />

Entstehung und den Charakter des Augustusplatzes prägte.<br />

161


Am Stiftungstag der <strong>Universität</strong>, der 1831 am Sonntag, dem 4. Dezember, gefeiert<br />

wurde, versammelte man sich nach uraltem akademischem Brauch in der<br />

Sakristei der Nikolaikirche zum Festzug. Doch als sich dieser unter festlichem<br />

Glockengeläut um 11:00 Uhr in Bewegung setzte, zeigte er eine ungewohnte<br />

Ordnung und hatte die halbe Stadt auf die Beine gebracht. Sein Ziel war diesmal<br />

nicht die Paulinerkirche, sondern das südlich davon gelegene Areal des alten, inzwischen<br />

weitgehend niedergelegten Paulinums, wo der Grundstein für ein neues<br />

Hauptgebäude der <strong>Universität</strong> gelegt werden sollte. Aus Adolf Hasses anlässlich<br />

der feierlichen Übergabe des Augusteums 1836 erschienenen Denkschrift,<br />

die auch eine ausführliche Beschreibung des Bauwerks enthält, erfahren wir von<br />

einer öffentlichen Anteilnahme, die uns Heutige angesichts der in dieser Hinsicht<br />

doch recht bescheiden ausgefallenen Grundsteinlegung im Juli 2005 geradezu<br />

neidisch stimmen könnte: Eine Abteilung der Communalgarde leitete den Zug<br />

durch ein von Musikkapellen durchsetztes Ehrenspalier der Communalgarde und<br />

militärischer Garnisonen. Als Hauptpersonen folgten ihr der <strong>Universität</strong>sbaumeister<br />

und Stadtbaudirektor Albrecht Geutebrück, der <strong>Universität</strong>srentmeister<br />

und die Mauerer und Zimmerleute. Ein Zug Studenten führte die „Stadtverordneten,<br />

Kramermeister, Handlungs- und Buchhandlungs-Deputirten, das Stadtgericht<br />

und (den) Rath, die königlichen Beamten, die Consuln der fremden Mächte,<br />

das … Oberpostamt, … Schöppenstuhl, … Consistorium und Oberhofgericht,<br />

die Officiere der königlichen Truppen … mit den Mitgliedern des hiesigen<br />

Communalgarden-Ausschusses …, die Rectoren, Directoren und Lehrer der öffentlichen<br />

Schulen und Institute; … die Geistlichen aller Confessionen …“. Erst<br />

danach kamen die Vertreter des durch Prinz Johann von Sachsen repräsentierten<br />

Königshauses mit Albert von Langenn an der Spitze, der damalige Rektor Karl<br />

Klien und Bürgermeister Deutrich, begleitet von den Trägern der Gedächtnistafel,<br />

der Denkschriften und Gedenkmünzen. Nun erst folgte die <strong>Universität</strong> in der<br />

Ordnung ihrer von den jeweiligen Dekanen angeführten Fakultäten.<br />

Ungewöhnlich wie der zur Grundsteinlegung betriebene Aufwand ist auch die<br />

Vorgeschichte des Bauwerks. Anfang Mai 1827 war Friedrich August III. nach<br />

fast 59-jähriger Regierungszeit verstorben. Hatte er die von den Landständen<br />

anlässlich seines 50-jährigen Regierungsjubiläums vorgeschlagene Errichtung<br />

eines öffentlichen Denkmals zu Lebzeiten abgelehnt, so gründete sich nun in<br />

Dresden ein Verein, der zu freiwilligen Spenden für ein öffentlich aufzustellendes<br />

Denkmal des Königs aufrief. Obwohl man im engeren Kreise davon überzeugt<br />

war, dass es sich um ein bildnerisches Werk handeln müsse und mit dem<br />

von Daniel Rauch empfohlenen Ernst Rietschel auch schon ein Bildhauer mit<br />

entsprechenden Entwürfen beauftragt worden war, legte man die demokratisch<br />

gewollte Entscheidung über die Denkmalsidee im Juni 1828 in die Hände der<br />

162


Kreisstände. Nach fast zweijähriger Diskussion kam man „um der Würde des<br />

Gegenstandes … zu entsprechen, und die … nicht allgemein gleichen Ansichten<br />

über die größere Vorzüglichkeit eines bildlichen Denkmals, oder einer gemeinnützigen<br />

Stiftung zu vereinigen“, überein, dass es das Beste sei, „wenn ein doppeltes<br />

Denkmal, nämlich eine Statue des höchstseligen Königs Friedrich August<br />

aus Erz gegossen und in Dresden aufgestellt, so wie ein für die Landesuniversität<br />

zu <strong>Leipzig</strong> zu erbauendes, großartiges, für öffentlich wissenschaftliche<br />

Zwecke, insonderheit zu einem großen Hörsaale für öffentliche Feierlichkeiten,<br />

einer namhaften Anzahl von Hörsälen für akademische Lehrer, zur Aufstellung<br />

der ganzen <strong>Universität</strong>s-Bibliothek und des physikalischen Apparates einzurichtendes,<br />

mit dem Namen Augusteum zu belegendes Gebäude, welches die Stelle<br />

des abzubrechenden Hintergebäudes des Pauliner Collegiums am Stadtzwinger<br />

einnehmen möge, die verehrungsvollen und dankbaren Gesinnungen der sächsischen<br />

Nation gegen ihren verewigten König … bezeuge.“ (nach Hasse)<br />

Ein solches Gebäude schien bitter nötig. Nicht nur die ohnehin überalterten und<br />

feuchten Gebäude über dem Stadtgraben waren durch die Folgen der Völkerschlacht<br />

zum Teil gänzlich unbrauchbar geworden. Die weitgehend aus eigenen<br />

Mitteln finanzierten Baumaßnahmen der <strong>Universität</strong> konnten unter äußerster<br />

Geldnot als Sanierungsversuche nur Stückwerk leisten. Auch als nach der Reorganisation<br />

der Landesuniversität verstärkt staatliche Finanzmittel zu ersten<br />

Neubauten flossen (1829 Senatsgebäude), fehlte es auch weiterhin vor allem an<br />

Hörsälen. So sollte ein ursprünglicher Bauplan des <strong>Universität</strong>sbaumeisters Geutebrück<br />

für die beiden südlich an die Paulinerkirche stoßenden Zwingergebäude<br />

unter Beibehaltung der einnahmeträchtigen Mietwohnungen für Professoren und<br />

Studenten vor allem zusätzlichen Platz für Hörsäle schaffen. „Allein der von den<br />

Ständen beantragte großartige Charakter eines Gebäudes, das kein Wohnhaus,<br />

sondern ganz zu <strong>Universität</strong>szwecken in wissenschaftlichem Sinne bestimmt<br />

und als solches zugleich ein Denkmal für den verewigten König Friedrich August<br />

werden sollte, machte eine Erweiterung und Umbildung des ursprünglichen<br />

Entwurfs nöthig.“ (ebd.)<br />

Die Königliche Bau-Commission bat nun Karl Friedrich Schinkel in Berlin als<br />

den seinerzeit berühmtesten Baumeister um einen entsprechenden Entwurf. Der<br />

in enger Zusammenarbeit mit Geutebrück entstandene neue Bauplan basierte auf<br />

einem völlig veränderten Konzept. Auf dem von bestehenden Gebäuden stark<br />

eingeengten Baugrund sollte nun ein „Tempel der Wissenschaft“ entstehen, der<br />

die repräsentativen und zentralen wissenschaftlichen Funktionen der <strong>Universität</strong><br />

unter einem Dach vereinte. Als dessen Kernstück sah der Plan eine große zweigeschossige<br />

Aula vor, welche als „Haupttheil des Gebäudes dessen Mitte einneh-<br />

163


men musste, und in der Hauptfacade hervortretend, sowohl eine reichere … und<br />

der inneren Decoration des Saales entsprechende Architectur“ (ebd.) aufwies.<br />

An die Aula schlossen sich als die symbolischen Hauptorte wissenschaftlichen<br />

Lebens <strong>Universität</strong>sbibliothek, Hörsäle und wissenschaftliche Sammlungen an.<br />

Ein figurengeschmückter Dreiecksgiebel und ein in seinen klassischen Proportionen,<br />

seinem anspruchsvollen Bildprogramm und seiner Größe beeindruckendes<br />

Pilasterportal am Mittelrisalit vermittelten nach außen die Idee des<br />

„Bildungstempels“.<br />

Obwohl durch die Anlage von drei Eingängen auf der schmucklosen Hofseite<br />

dem traditionell üblichen Verkehrsstrom im alten Paulinum Rechnung getragen<br />

wurde, war die Schaufassade mit ihrem breitgelagerten Dreiecksgiebel und dem<br />

Hauptportal auf den Augustusplatz gerichtet. Städtebaulich war dies eine höchst<br />

wichtige Entscheidung. Denn das neue Hauptgebäude bildete nicht nur den<br />

eigentlichen Anfang für jenes moderne bürgerliche „Bildungsforum“, als der<br />

sich in den nächsten Jahren der Augustusplatz entwickeln sollte, sondern formulierte<br />

auch den ästhetischen Anspruch an die öffentlichen Nachfolgebauten<br />

(1836 – 1838 Post, 1855 – 1858 Bildermuseum, 1864 – 1868 Neues Theater).<br />

Mit der „äußere(n) Ausschmückung des Augusteums, welches die Ständeversammlung<br />

als das Charakteristische eines Denkmals ansah“ (Hasse), wurde der<br />

bereits für das Dresdener Denkmal in Anspruch genommene, inzwischen an der<br />

dortigen Kunstakademie lehrende Bildhauer Ernst Rietschel beauftragt. Für das<br />

Hauptportal (1832 – 1835) stand ihm Schinkels Entwurf mit seinem reichen, auf<br />

den Ursprung der Wissenschaft bezogenen Bildprogramm zur Verfügung (als<br />

„Schinkel-Portal“ nach 1891 dreizügig erweitert und frei aufgestellt). In üppigen<br />

Blätter- und Früchteschmuck eingebundene Genien der Kunst und Wissenschaft<br />

auf den Pilastern wiesen zusammen mit den geflügelten Genien von Ruhm und<br />

Unsterblichkeit auf dem Gebälk und den frei darüber stehenden Musen als Verkörperungen<br />

von Vernunft und Erfahrung der lernbegierigen Jugend den Weg in<br />

das „Heiligthum der Weisheit“ (C. F. Günther). Der Giebel (1833 – 1835) vereinte<br />

die vier Fakultäten, jeweils als ein Paar aus weisem Lehrer und lernendem<br />

Jüngling begriffen und unter den Fiat-lux-Gestus des in der Mitte heranschwebenden<br />

Genius gestellt, zu einem neuartigen Abbild der <strong>Universität</strong>, das ganz<br />

Rietschels Intention entsprang. Ihm verdankte auch die Aula ihren wichtigsten<br />

bildnerischen Schmuck: den in zwölf großen Reliefs (1836 – 1839) unter dem<br />

Deckengesims angeordneten, in seiner engen Parallele zu Hegels Geschichtsphilosophie<br />

hochinteressanten Zyklus zur Kulturgeschichte der Menschheit. Für<br />

die verbliebenen Mittel sollte Rietschel, getreu dem Konzept der Verbundenheit<br />

164


von Königshaus und <strong>Universität</strong>, Büsten der sächsischen Könige Anton und<br />

Friedrich August II. und der sächsischen Prinzen Maximilian und Johann und<br />

zwölf Büsten von um die <strong>Universität</strong> besonders verdienten Gelehrten und Staatsmännern<br />

schaffen, die zur Aufstellung auf Konsolen an den Seitenwänden und<br />

zwischen den Fenstern der Aula bestimmt waren. Das Büstenkonzept konnte<br />

jedoch, da die Mittel denn doch nicht ganz reichten, mit Ausnahme der Wettiner-<br />

Büsten und der 1845 geschaffenen Büste Gottfried Hermanns erst im Laufe des<br />

19. Jahrhunderts und durch andere Bildhauer realisiert werden.<br />

Im September 1833 wurde Richtfest gefeiert, Ostern 1835 begann der Lehrbetrieb,<br />

Bibliothek und Sammlungen zogen ein, und am 3. August 1836 erfolgte<br />

die offizielle Einweihung. Eine Lithografie Straßbergers zeigt „Die Studirenden<br />

zu <strong>Leipzig</strong> bei der Einweihung des Augusteums am 3ten August 1836 in<br />

der Aula“ vor Rietschels Modell der Sitzstatue zum Dresdener Denkmal für<br />

Friedrich August III., das dort für einige Jahre die ursprüngliche Denkmalsidee<br />

demonstrierte. Auch die zum Denkmal gehörenden weiblichen Allegorien der<br />

vier Regententugenden fanden hier Aufstellung, indem sie die mit den Jahren<br />

wechselnden Herrscherstatuen an den Schmalseiten der Aula flankierten.<br />

Als ein halbes Jahrhundert später Geutebrücks Augusteum dem repräsentativen<br />

größeren Neubau Rossbachs weichen musste, lehnte man sich eng an das geistige<br />

Konzept des Vorgängerbaus an und integrierte respektvoll dessen Baukunst.<br />

Die Stuckfiguren des Giebels wurden für das etwas größere Format des neuen<br />

Giebels in Stein kopiert, das Schinkeltor dreizügig erweitert und frei neben dem<br />

Neubau aufgestellt. In der wiederum zweigeschossigen Aula bewahrten die<br />

Reliefs zur Kulturgeschichte und die umlaufend aufgestellten Büsten den historischen<br />

Kontext. Nur der Aspekt der Verbundenheit von <strong>Universität</strong> und Krone<br />

wurde in der Wandelhalle unter Einbeziehung der vier Regententugenden neu<br />

konzipiert.<br />

Im 2. Weltkrieg gingen die von Rietschel geschaffenen Büsten verloren. Einige<br />

der Reliefs zur Kulturgeschichte überdauerten in der 1943 ausgebrannten Aula.<br />

Wie auch der nahezu unbeschädigt erhaltene Giebel wurden sie 1968 mit dem<br />

in weiten Teilen erhalten gebliebenen <strong>Universität</strong>skomplex gesprengt. Die heute<br />

zum Teil stark restaurierungsbedürftigen Regententugenden wurden zuvor geborgen<br />

und harren, wie das partiell bereits in den Neubau der 1970iger Jahre<br />

integrierte Schinkel-Tor, ihrer Neuaufstellung.<br />

Cornelia Junge<br />

165


Academiae Musicus Werner Fabricius<br />

Vor 350 Jahren Bestallung des <strong>Leipzig</strong>er<br />

<strong>Universität</strong>smusikdirektors<br />

Mit dem Jubiläum des Musikdirektorats verhält es sich wie mit dem von<br />

Stadtgründungen: gefeiert wird mangels genauer Gründungsdaten die<br />

Ersterwähnung. Im Falle des ersten „Academiae Musicus“ gilt ein im Sommer<br />

1657 für das vakante Thomaskantorat verfasstes Bewerbungsschreiben<br />

von Werner Fabricius als „Gründungsurkunde“, in dem es heißt, dass<br />

er „numehro fast in die 2 Jahr von einer Hochlöbl. <strong>Universität</strong> allhier“ als<br />

Leiter der Musikaufführungen in der Paulinerkirche bestallt worden sei.<br />

167


Was bedeutete das Amt, und wie war es in den Jahren zuvor ohne einen eigens<br />

ernannten Musikdirektor ausgefüllt worden? Musik erklang in der Paulinerkirche<br />

damals regulär zu den stattfindenden Quartalsorationen an den drei hohen<br />

Festtagen des Kirchenjahres und zu außerordentlichen landespolitischen und<br />

kirchengeschichtlichen Ereignissen. Die vierteljährlich stattfindenden Feierstunden<br />

waren lediglich vom Motettengesang der Thomaner ausgestaltet worden, an<br />

den hohen Festtagen wurde indessen „figural“, also mit Instrumentalbegleitung,<br />

musiziert. Die Leitung dieser Aufführungen oblag traditionell dem städtischen<br />

Musikdirektor, dem Thomaskantor, der dafür mit einem kleinen Salär entlohnt<br />

wurde. Dass man 1655/56 beschloss, diese Praxis aufzugeben, hatte seine Vorgeschichte<br />

in dem seit Jahren schlechten Gesundheitszustand des Thomaskantors<br />

Tobias Michael (gest. 1657). Die Gicht fesselte diesen oft monatelang ans Bett,<br />

und so mussten Mittel und Wege gefunden werden, um seinen Aufgabenbereich<br />

als Director Chori Musici überschaubar zu gestalten und ihm junge talentierte<br />

Gehilfen zur Seite zu stellen. Als Michaels designierter Nachfolger war deshalb<br />

schon 1653 der Vogtländer Johann Rosenmüller ausgewählt worden. Und um<br />

dieses schon damals weitberühmte Talent bis zum Tod Michaels an <strong>Leipzig</strong> zu<br />

binden – das Thomaskantorat ist schließlich ein Amt auf Lebenszeit – hatte man<br />

Rosenmüller bereits ab 1651 den Organistendienst an der Nikolaikirche übertragen.<br />

Ebenso betätigte sich dieser schon seit Ende der 1640er Jahre – offenbar<br />

in Absprache mit dem Thomaskantor – als ehrenamtlicher Komponist und<br />

Leiter der Kirchenmusiken in der Paulinerkirche. Was davon noch an Noten<br />

erhalten ist, zeigt, dass die Musikpflege an der <strong>Universität</strong> in jenen Jahren zu<br />

der fortschrittlichsten im gesamten protestantischen deutschen Sprachraum gehörte.<br />

Rosenmüller wusste hier – wie Jahrzehnte zuvor sein Förderer Heinrich<br />

Schütz – die „Madrigalismen“ italienischer Musik, die er während eines Italienaufenthaltes<br />

kennengelernt hatte, mit der Gravität deutscher Satztechnik auf eine<br />

zuvor nie gehörte Art zu verbinden. Bis zu 48-stimmige Festmusiken wurden<br />

unter seiner Ägide in der <strong>Universität</strong>skirche aufgeführt. Für die mehrchörige<br />

Realisation dieser vielstimmigen Werke kann der kleine „Schülerchor“ kaum<br />

ausgereicht haben, weshalb davon auszugehen ist, dass ebenso im Kirchenschiff<br />

und womöglich auch im Altarraum musiziert wurde.<br />

Rosenmüller musste im Mai 1655 aus <strong>Leipzig</strong> fliehen. Ihm drohte ein Prozess<br />

wegen „Sodomiterey“, da man ihn verdächtigte, mit einigen Thomanern Unzucht<br />

getrieben zu haben. Nun bestand für die <strong>Universität</strong> Handlungsbedarf.<br />

Schließlich hatte man sich in dem Glanz der Rosenmüllerschen Musikaufführungen<br />

gesonnt und es genossen, dass man in den Jahren zuvor mit der glanzvollsten<br />

Kirchenmusik innerhalb <strong>Leipzig</strong>s aufwarten konnte. Die 1650er Jahre hatten<br />

zudem „florierende“ studentische Collegii musici hervorgebracht, die weiterhin<br />

168


auch an den Musikaufführungen in der Paulinerkirche teilnehmen wollten. In<br />

diesem Zusammenhang ist Fabricius’ Berufung zum ersten offiziellen <strong>Universität</strong>smusikdirektor<br />

zu sehen. Man benötigte eine Person, die – wie Rosenmüller<br />

zuvor – weiterhin in der Lage war, die verschiedenen studentischen Kräfte zu<br />

bündeln und die Leitung der Aufführungen zu übernehmen. Als Antrittsstück in<br />

diesem Amt ist seine anlässlich des 100. Jahrestages des Augsburger Religionsfriedens<br />

(25. September 1655) verfasste Festmusik „Jauchzet ihr Himmel“ zu<br />

sehen. Das neue Amt behielt Fabricius bis zu seinem Tode im Jahr 1679.<br />

Wer war nun jener Werner Fabricius? Im Gefüge der vielen um 1650 in <strong>Leipzig</strong><br />

lebenden musikalischen Studenten dürfte er als Norddeutscher ein Exot gewesen<br />

sein. 1650 war der in Itzehoe (Holstein) Geborene 17-jährig nach <strong>Leipzig</strong><br />

gekommen, um hier Jurisprudenz und Mathematik zu studieren. Zuvor hatte<br />

er seine musikalische Ausbildung in Hamburg bei Thomas Selle und Heinrich<br />

Scheidemann erfahren.<br />

In <strong>Leipzig</strong> etablierte er sich schnell als Verfasser von textlich noch heute vorliegenden<br />

Huldigungsmusiken und als Initiator eines studentischen Collegium<br />

musicum. Nach seiner Berufung zum <strong>Universität</strong>smusikdirektor wurde er ab<br />

1658 außerdem Organist an der Nikolaikirche – vermutlich, weil der <strong>Universität</strong>sposten<br />

finanziell gesehen mehr Titel als Amt gewesen ist. Versuche, 1657<br />

Thomaskantor und 1663 Musikdirektor in Hamburg zu werden, schlugen fehl.<br />

Für Fabricius’ Wirken als Komponist in der Paulinerkirche liegen vor allem aus<br />

der Anfangszeit „hörbare“ Zeugnisse vor. Sie zeigen, dass er an die großartigen<br />

Musikaufführungen unter Rosenmüller anzuknüpfen suchte. Am deutlichsten<br />

sichtbar wird dies in einer 1662 gedruckten Sammlung von Geistlichen Arien,<br />

Dialogen und Concerten. Die Stücke dokumentieren das in seinen ersten fünf<br />

Jahren als <strong>Universität</strong>smusikdirektor aufgeführte Repertoire für die hohen Festtage:<br />

zwei Weihnachtsarien, zwei dialogisch vorgetragene Osterstücke und zwei<br />

klanggewaltige Pfingstkonzerte. Kein Geringerer als Heinrich Schütz betätigte<br />

sich als Vorredner in diesem seinerzeit vielfach verkauften Druck.<br />

Es ist merkwürdig: Nach dieser anfänglich dokumentierten Produktivität wird<br />

es um Fabricius’ Wirken als „Academiae Musicus“ still. Nachweislich aus der<br />

Zeit nach 1662 stammt lediglich eine Motette. Die zeitgenössischen Äußerungen<br />

betreffen denn auch überwiegend den „weitberühmten Organisten Wernern“, der<br />

großes Ansehen als Orgelsachverständiger genoss und „nebenher“ als Notarius<br />

publicus Caesareus wirkte. Es ist daher fraglich, ob Fabricius tatsächlich bis zum<br />

Ende seines Leben stets als Leiter der musikalischen Aufführungen in der Pau-<br />

169


linerkirche wirkte oder ob mit dem Antritt des neuen Thomaskantors Sebastian<br />

Knüpfer (ab 1657) gelegentlich wieder die von Alters her gängige Praxis Einzug<br />

hielt und Fabricius dann lediglich die Orgel während des Gottesdienstes bespielte.<br />

Nach Fabricius’ Tod wurde das Amt jedenfalls vorerst nicht wieder besetzt.<br />

Immerhin stellte aber der Pastor Valentin Thilo in der Leichenpredigt auf Werner<br />

Fabricius gerade dessen Bedeutung und Fähigkeit als Vokalkomponist heraus.<br />

Bewundernd heißt es in diesem zentralen Nachruf:<br />

170<br />

Manchen schönen Text hat er seinem Gott zu Ehren komponiert! Wie<br />

herrliche Instrumenta, Orgelwerk, Positive, Psalter und Harfen hat der<br />

dazu gebraucht! Wie eine gravitätische Manier hat er auch dabei angewendet<br />

und sowohl seine eigene Herzensandacht dadurch zu erkennen<br />

gegeben, als auch die Zuhörer dazu angereizet. Man betrachte seine<br />

herrlichen Concerten, Motetten und Leichgesänge: was für ein sonderbar<br />

Geist der Andacht und Herzbewegung ereignet sich doch darinne!<br />

Da wird man ja nichts Liederliches, nichts Unbescheidentliches darinne<br />

finden, sondern was ehrbar ist, was wohl lautet, was gerecht, was keusch,<br />

was lieblich ist; ist etwa eine Tugend, so hat er solche in seiner Musik mit<br />

herrlichen Inventionen zu exprimieren nachgedacht.<br />

Erst mit der Einrichtung des „neuen“ – also wöchentlich stattfindenden – Gottesdienstes<br />

in der Paulinerkirche kam es 1716 zur festen Anstellung eines<br />

<strong>Universität</strong>smusikdirektors. Anfänglich war aber noch immer unklar, wie die<br />

Kompetenzen zwischen ihm und dem Thomaskantor aufgeteilt waren, bzw.<br />

was alles zum Aufgabenbereich eines UMD gehörte. Gleich zu Beginn seiner<br />

<strong>Leipzig</strong>er Jahre sah sich Johann Sebastian Bach deshalb genötigt, die Frage, wer<br />

denn eigentlich in der Paulinerkirche musizieren darf – und vor allem, wer dafür<br />

kassiert! – von den Dresdner Hofbehörden klären zu lassen. Es sollte dennoch<br />

lange Zeit andauern, bis sich ein festes Tätigkeitsfeld für das Amt des „Jubilars“<br />

herauskristallisierte.<br />

Michael Maul


Frauenstudium an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong><br />

Von den Anfängen vor 100 Jahren<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts öffnete sich das Wilhelminische Kaiserreich<br />

dem Thema „Frauenstudium“. Nahezu eintausend Semester mussten seit<br />

der Gründung der Alma mater Lipsiensis vergehen, ehe Frauen im Sommersemester<br />

1906 die reguläre Zulassung zum Studium erhielten und damit<br />

die Möglichkeit, einen akademischen Berufsabschluss zu erwerben. 27<br />

Frauen nutzten diese Chance und schrieben sich in zwei der vier Fakultäten,<br />

der philosophischen und der medizinischen, ein.<br />

171


Dies geschah zu einem Zeitpunkt, da in vielen europäischen Ländern, darunter<br />

Russland 1860, Frankreich 1863, Schweiz 1864, England 1870, Niederlande<br />

1875, Italien 1876, Österreich 1897, Frauen nicht nur bereits studiert, sondern<br />

auch promoviert haben. Als 1906 in Sachsen Frauen zum Studium zugelassen<br />

wurden, hatte Marie Curie bereits ihre ordentliche Professur an der Pariser Sorbonne-<strong>Universität</strong><br />

inne.<br />

Worin bestanden nun die Bedingungen und Besonderheiten der Etablierung des<br />

Frauenstudiums in <strong>Leipzig</strong>?<br />

Das Höhere Mädchenschulwesen war in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ein<br />

Sammelsurium aus unterschiedlichen Bildungsangeboten ohne festen Lehrplan.<br />

Es sah eine Schulbildung und Berufsausbildung über die Konfirmation hinaus in<br />

der Regel nicht vor. Für die Mädchen der Höheren Stände schlossen sich häufig<br />

noch zwei Jahre Privatunterricht an, der auf Konversations-, Klavier-, Gesangs-<br />

und Malunterricht ausgerichtet war. Die bildungsmäßigen Voraussetzungen für<br />

ein universitäres Studium waren damit nicht gegeben.<br />

Vor 140 Jahren wurde im Oktober 1865 in <strong>Leipzig</strong> der Allgemeine Deutsche<br />

Frauenverein (ADF) gegründet. Es war dies der organisatorische Beginn der<br />

bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland. Die Auftaktveranstaltung, zu der<br />

300 Frauen aus allen deutschen Ländern nach <strong>Leipzig</strong> kamen, fand in der Deutschen<br />

Buchhändlerbörse, Ritterstr. 12 – heute: Gästehaus der <strong>Universität</strong> – statt.<br />

Ziel des ADF war es, zur Verbesserung der Bildungs- und Berufsausbildungsmöglichkeiten<br />

für Frauen beizutragen und den Zugang zu den <strong>Universität</strong>en zu<br />

eröffnen. Ab 1869 wurden dazu zahlreiche Petitionen an die Regierungen der<br />

deutschen Länder gerichtet. 1879 wurde vom ADF eigens ein Stipendienfonds<br />

für <strong>Universität</strong>sstudien der Frauen ins Leben gerufen.<br />

An der <strong>Leipzig</strong>er <strong>Universität</strong> waren Frauen seit 1870/71 bereits als Gasthörerinnen<br />

zugelassen, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur vollen Immatrikulation.<br />

Gasthörerinnen war es allerdings untersagt, Prüfungen abzulegen. Neben der<br />

<strong>Universität</strong> Heidelberg, die die Gasthörerschaft für Frauen schon ab 1869 ermöglichte,<br />

nahm die <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> eine Pionierrolle unter den deutschen<br />

<strong>Universität</strong>en ein.<br />

1894 gründete der ADF „Realgymnasialkurse für Mädchen“ in <strong>Leipzig</strong>. Nach<br />

Karlsruhe (1893) und Berlin (1893) war dies deutschlandweit die dritte Möglichkeit<br />

für Frauen, das Abitur abzulegen, eine elementare Voraussetzung für die<br />

Zulassung zum <strong>Universität</strong>sstudium. Um 1900 gab es die ersten Abiturientinnen,<br />

172


und damit erhöhte sich der Druck auf die Regierungen, Frauen nunmehr den<br />

Zugang zu den <strong>Universität</strong>en nicht länger zu verweigern. 1900 folgte schließlich<br />

auch der ministerielle Erlass, wonach Promotionen für Frauen nun regulär möglich<br />

wurden.<br />

Eine repräsentative Umfrage zum Frauenstudium aus dem Jahre 1897 unter 122<br />

deutschen <strong>Universität</strong>sprofessoren ergab, dass ca. die Hälfte der Befragten keinerlei<br />

stichhaltige Gründe für den Ausschluss der Frauen vom Studium sahen.<br />

Befürworter, Förderer und Gegner hielten sich die Waage. Für das Studium der<br />

Frauen im Einzelfall und bei einer den Männern gleichen Vorbildung sprachen<br />

sich beispielsweise die <strong>Leipzig</strong>er Professoren der Medizin Wilhelm His (Anatomie),<br />

Victor Birch-Hirschfeld (Pathologie) und der Chemie Friedrich Strohmann,<br />

Friedrich Trendelenburg, der Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald und der<br />

Professor der experimentellen Psychlogie Wilhelm Wundt aus. Wilhelm Wundt<br />

(1832 – 1920) formulierte: „Ich meine: die Frau, die nach bestimmten Richtungen<br />

hin die gleichen Fähigkeiten hat wie der Mann, ist genau ebenso wie dieser<br />

an und für sich berechtigt, diese Fähigkeiten auszubilden und anzuwenden. Das<br />

so oft gehörte Argument: es seien schon in allen Gebieten die Angebote männlicher<br />

Bewerber zahlreich genug, es bestehe daher kein Bedürfnis auch nach weiblicher<br />

Konkurrenz und dergleichen, – dieses Argument erscheint mir lediglich<br />

als der Ausdruck eines brutalen Geschlechtsegoismus, der nicht besser ist als<br />

irgend ein Klassenegoismus, der Vorrechte für sich in Anspruch nimmt.“<br />

Zahlreiche der ersten 27 Studentinnen, die sich im April 1906 an der <strong>Leipzig</strong>er<br />

<strong>Universität</strong> immatrikulierten, waren, wie sich anhand der Matrikel nachweisen<br />

lässt, Absolventinnen der Realgymnasialkurse des ADF. Geleitet wurden diese<br />

Kurse von Dr. Käthe Windscheid, Tochter des renommierten <strong>Leipzig</strong>er Professors<br />

der Rechtswissenschaften Bernhard Windscheid, der die erste Kommission<br />

zur Erarbeitung des BGB im Jahre 1874 leitete und damit federführend an dessen<br />

Abfassung beteiligt war. Anfangs unterrichtete sie die ersten 10 Schülerinnen im<br />

Studierzimmer ihres Vaters (Parkstr. 1, heute: Richard-Wagner-Str.).<br />

Diese ersten Studentinnen entstammten bildungsbürgerlichen Schichten, dem<br />

Besitzbürgertum und dem Adel. Ihre Väter waren Kaufleute, Professoren, Lehrer,<br />

Fabrik- und Rittergutsbesitzer, Pastoren und Rechtsanwälte. Die Studentinnengeneration<br />

von 1906 zeichnet sich durch das hohe Immatrikulationsalter von<br />

durchschnittlich 26,2 Jahren aus und lag damit deutlich über dem der gesamten<br />

Matrikel. Die Ursachen dafür gründen in der späten Chance für das Frauenstudium<br />

in Deutschland, viele von ihnen hatten sich jahrelang mit der Gasthörerschaft<br />

begnügen müssen, und im längeren Bildungsweg der Frauen. Von den<br />

173


eruflichen Abschlüssen, die sie anstrebten, waren es vor allem zwei: Einerseits<br />

drängten an die philosophische Fakultät Frauen, die sich für das wissenschaftliche<br />

Lehramt qualifizieren wollten. Lehrerinnen, die in Volksschulen tätig waren,<br />

gab es bereits, das höher angesehene öffentliche Schulwesen blieb den Frauen<br />

aber bislang verwehrt. Andererseits stieg angesichts des ethisch-moralischen<br />

Grundkonsenses der bürgerlichen Gesellschaft die Nachfrage nach weiblichen<br />

Ärzten insbesondere für Frauenheilkunde, die nicht länger ignoriert werden<br />

konnte. Denn als Hebammen waren Frauen längst etabliert. Beide Berufsfelder,<br />

das der Lehrerin und das der Ärztin, ließen sich auch am ehesten mit den traditionellen<br />

Rollenzuschreibungen von Frauen in der Gesellschaft vereinbaren. Die<br />

erzieherischen Fähigkeiten der Frauen in der Familie und deren Engagement zu<br />

wohltätigen Zwecken waren anerkannt und unbestritten. Es lag nahe, dann auch<br />

der Professionalisierung derselben aufgeschlossen gegenüber zu stehen. Die<br />

Konzentration der Frauen auf die philosophische und die medizinische Fakultät<br />

korrespondiert mit der an den anderen deutschen <strong>Universität</strong>en und war keineswegs<br />

zufällig. Mit einer zeitlichen Verzögerung von zwei Jahren finden wir 1908<br />

die erste Studentin an der juristischen Fakultät, und es dauerte weitere zwei Jahre,<br />

bis 1910 die erste Studentin an der theologischen Fakultät anzutreffen ist. Es<br />

sind dies Professionen, die mit sehr viel Einfluss und Prestige verbunden sind.<br />

Von daher hielten sich hier die Vorurteile am hartnäckigsten. Darüber hinaus<br />

machten die herrschenden Weiblichkeitsbilder und die bestehenden gesetzlichen<br />

Regelungen den Berufseinstieg für Frauen in diese Professionen außerordentlich<br />

schwierig bzw. gar unmöglich.<br />

In den Folgejahren bis zum 1. Weltkrieg entwickelte sich das Frauenstudium mit<br />

nur langsam steigender Tendenz. 1914/15 waren insgesamt 200 Studentinnen<br />

an der <strong>Leipzig</strong>er <strong>Universität</strong> immatrikuliert, das entsprach einem Anteil von<br />

4,85 Prozent.<br />

Astrid Franzke<br />

174


Die ersten Promotionen<br />

Zum 575. Jahrestag der Verleihung akademischer Grade an<br />

der Medizinischen Fakultät<br />

Das Siegel der Juristenfakultät nach 1452 veranschaulicht eine europaweit<br />

einmalige Symbolwahl: Es zeigt den Promotionsakt als wichtigstes Fundament<br />

der Fakultät. Papst (links) und Kaiser (rechts), die Vertreter des kanonischen<br />

und weltlichen Rechts, verleihen einem knienden Promovenden den<br />

Doktorhut als Zeichen erworbener Gelehrsamkeit. Erst mit der Verleihung<br />

von akademischen Graden in den höheren Fakultäten nach 1431 konstituierte<br />

sich die <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> nach außen als Volluniversität.<br />

175


Das <strong>Universität</strong>sjahr 1409 in Prag war kein gutes Jahr – es war geprägt von politischen<br />

Spannungen und konfessioneller Unruhe wegen der Lehren von Johannes<br />

Hus. Zunächst sah es so aus, als würden sich die Auseinandersetzungen von<br />

1384 wiederholen. Als damals der <strong>Universität</strong>skanzler und Erzbischof von Prag<br />

in die Rechte der nichtböhmischen Nationen eingreifen wollte, wehrten sie sich<br />

gegen diese Zumutung mit der Einstellung der Lehrveranstaltungen und einem<br />

Boykott aller akademischen Graduierungen.<br />

Der Streit eskalierte jedoch im Frühjahr 1409 in ungeahnter Weise: Der König<br />

und die Stadtbürger mischten sich zugunsten der böhmischen Nation ein, es<br />

kam zu Gewalttätigkeiten und Blutvergießen – nun entschieden sich die drei<br />

nichtböhmischen Nationen, die Stadt Prag zu verlassen und den Lehrbetrieb in<br />

der Fremde fortzusetzen. Das erzwungene Exil einer ganzen <strong>Universität</strong>, heute<br />

kaum vorstellbar, war zu dieser Zeit nichts Ungewöhnliches. Beispiele dafür finden<br />

sich reichlich, so Paris 1229 (Ausweichorte Orleans, Angers), 1209 Oxford<br />

(Ausweichort Cambridge), 1316 Orleans (Ausweichort Nevers). Nicht immer<br />

kehrten die Ausgezogenen zu ihren früheren Quartieren zurück, fast immer aber<br />

entstanden an den neuen Orten wieder <strong>Universität</strong>en, die den Selbstständigkeits-<br />

und Unabhängigkeitswillen der Vorgängereinrichtung erbten.<br />

Wichtigstes Ziel der Exilanten war die Sicherung ihrer Rechtsgüter in der<br />

Fremde – dank der zumeist wohlwollenden päpstlichen Universalgewalt war das<br />

in der Regel kein allzu großes Problem. Dabei kristallisiert sich das Promotionsrecht<br />

als Hauptmerkmal bei der Konstituierung von neuen <strong>Universität</strong>en heraus.<br />

Die verliehenen Grade verbanden nicht nur die einzeln existierenden Hohen<br />

Schulen miteinander, sondern begründeten daneben innerhalb der christlichen<br />

Gemeinschaft des Abendlandes eine neue soziale Schicht – den Gelehrtenstand.<br />

Die Gleichartigkeit und Vergleichbarkeit der Grade sorgten einerseits für eine<br />

soziale Einordnung des Trägers in der akademischen und nichtakademischen<br />

Welt und andererseits bewirkten sie ein Gemeinschaftsgefühl der Gelehrten<br />

(unabhängig von ihrem Fach, ihrem Alter oder ihrer Herkunft). Mit der päpstlichen<br />

oder kaiserlichen Privilegierung des Promotionsaktes erfolgte zugleich<br />

die sozial hochrangige Einordnung der Titelträger in die Stände-Hierarchie der<br />

Gesellschaft. Aus jedem gradus wurde ein status, der seinem Inhaber gewisse<br />

Vorrechte zusicherte.<br />

Um den Anspruch auf Gleichberechtigung mit den schon bestehenden <strong>Universität</strong>en<br />

zu bekräftigen und um die innere Lebensfähigkeit der Fakultäten zu<br />

demonstrieren, war ein baldiger Beginn des normalen Lehrbetriebs in <strong>Leipzig</strong><br />

nötig. Diesen Anspruch nach außen zu dokumentieren, dazu war nichts besser<br />

176


geeignet als die Verleihung akademischer Grade. Noch im Wintersemester<br />

1409, im schnellen Anschluss an die Gründung der Fakultäten, vollzog die neue<br />

universitas die ersten, von den Voraussetzungen her noch in Prag erworbenen<br />

Graduierungen. Auf die Nachricht hin, dass Papst Alexander V. die Gründung<br />

privilegiert habe, konstituierte sich am 24.10.1409 die Artistenfakultät durch die<br />

Wahl des Dekans. Gut einen Monat später, nachdem die päpstliche Bulle am 13.<br />

November eingetroffen war, wurden am 30. November die Examinatoren für die<br />

Prüfungen der Baccalaren gewählt. Eine der ersten Verkündigungen der feierlich<br />

eröffneten neuen <strong>Universität</strong> war dann die Zusage, dass die in Prag erworbenen<br />

Grade ohne weitere Prüfungen oder Gebühren anerkannt werden und alle bereits<br />

in Prag erbrachten Vorleistungen für akademische Graduierungen voll gültig<br />

sein sollten. Die ersten Promotionen an der neu gegründeten <strong>Universität</strong> finden<br />

1409 zunächst in der Artistenfakultät statt.<br />

Über das Leben an den höheren Fakultäten (Theologie, Jura und Medizin) sind<br />

wir für die nächsten Jahre durch fehlende Dokumente nicht informiert. Vermutlich<br />

sind es nur wenige Fakultätsangehörige und Studenten, die sich in <strong>Leipzig</strong><br />

aufhalten. Promotionen in einem der drei Fächer gelten noch zum Ende des<br />

15. Jahrhunderts als eine Seltenheit. In den Jahren um 1470 gelangt von den jährlich<br />

ca. 250 Immatrikulierten fast die Hälfte bis zum ersten akademischen Grad<br />

in der Artistenfakultät (Baccalaureat). Lediglich eine kleine Schar studiert danach<br />

noch weiter und erlangt auch das Magisterium in der Artistenfakultät – etwa<br />

4 – 7 Prozent. Doch erst mit dem Besitz des Magister artium ist das Studium<br />

in einer der drei höheren Fakultäten möglich – für die Erlangung eines Grades in<br />

den höheren Fakultäten ist es gar notwendige Voraussetzung. Im 15. Jahrhundert<br />

halten sich daher in <strong>Leipzig</strong> durchschnittlich nicht mehr als 30 – 50 Magister<br />

auf, die in der Artistenfakultät Vorlesungen halten und zugleich in einer höheren<br />

Fakultät studieren. In diesen drei Fakultäten wiederum dürften zusammen kaum<br />

mehr als 10 Doktoren Lehrveranstaltungen angeboten haben.<br />

Für diese drastische Auslese sind vor allem zwei Faktoren zuständig: Zeit und<br />

Geld. Zunächst muss während des Studiums der Lebensunterhalt gesichert<br />

sein – die Studienzeiten waren nicht viel kürzer als heute. Die Promotionsordnungen<br />

in den einzelnen Fakultäten bildeten dabei ein ineinander greifendes<br />

System. Für die Zulassung zum Baccalaureatsexamen in der Artistenfakultät<br />

musste der Student 17 Jahre alt, legitimer Geburt, eidfähig und guten Rufes<br />

sein, die Mindeststudienzeit in der Fakultät lag bei anderthalb Jahren. In einem<br />

Prüfungsverfahren vor dem Dekan mussten notwendige Kenntnisse in Latein<br />

nachgewiesen und mehrere Eide abgelegt werden. Vielfach scheint es in der Fakultät<br />

zu Vergehen und Betrügereien bei den Examen gekommen zu sein, so dass<br />

177


dafür wiederholt Regelungen in den Statuten getroffen wurden – u. a. mussten<br />

die Kandidaten schwören, sich nicht an den Prüfern zu rächen oder bewaffnet die<br />

Wohnung des Dekans aufzusuchen. Erst nach zwei weiteren Jahren des Lernens<br />

und Lehrens an der Fakultät konnte der Baccalar um den nächst höheren Grad<br />

nachsuchen. Für die Bewerbung um das Magisterium war ein Mindestalter von<br />

21 Lebensjahren, die eheliche Geburt und rechtliche Unbescholtenheit nachzuweisen.<br />

Waren die Prüfungen erfolgreich bestanden, hatte der frisch promovierte<br />

Magister weitere Eide zu schwören. Damit verpflichtete er sich, wenigstens noch<br />

zwei Jahre lang in <strong>Leipzig</strong> zu bleiben und zu disputieren, den Grad nicht an einer<br />

weiteren Hochschule erneut zu erwerben, die Statuten zu achten und das Wohl<br />

der <strong>Universität</strong> nach Kräften zu fördern. Nun erst konnte man, sofern das nötige<br />

Geld vorhanden war, an eine weitere Graduierung denken. Für den niedrigsten<br />

akademischen Grad in der Theologischen Fakultät musste der Magister sieben<br />

Jahre als Magister artium oder fünf Jahre als Doktor der Medizin bzw. Doktor<br />

der Rechte die vorgeschriebenen Vorlesungen der Fakultät besuchen, ehe er den<br />

Baccalaurus theologiae cursor erwerben konnte. Weitere zwei Jahre waren dann<br />

nötig bis zum Baccalaurus theologiae formatus. Erst mit diesem Grad und nach<br />

vier weiteren Jahren des Studiums an der Fakultät konnte der Doktortitel bei den<br />

Theologen erworben werden.<br />

Bei der Juristenfakultät musste der Bewerber vier Jahre das kanonische und<br />

bürgerliche Recht an der Fakultät gehört haben, um zum Baccalaureatsexamen<br />

zugelassen zu werden. Erst mit dem Baccalaureat und einem darauf folgenden<br />

weiteren dreijährigem Fachstudium an der Fakultät wurde er zur Doktorprüfung<br />

angenommen.<br />

Für das medizinische Baccalaureat benötigte man den Magister artium und musste<br />

einen dreijährigen Vorlesungsbesuch und eine zweijährige Praxistätigkeit bei<br />

einem der medizinischen Doktoren nachweisen. Bis zum Doktorat musste der<br />

Bewerber weitere zwei Jahre Vorlesungen hören und zugleich mit einem Doktor<br />

der Fakultät „… auf die Praxis …“ gehen.<br />

So ergaben sich theoretisch folgende Mindestalterstufen bei den Graduierten:<br />

Baccalaureat 2. Graduierung<br />

Artisten 17 21 (magister<br />

Medizin 24 26 (doctor)<br />

Recht 25 28 (doctor)<br />

Theologie 28 32 (licentiat)<br />

178


Mit diesem System der Abstufungen und Mindestvoraussetzungen passen die<br />

Aufzeichnungen über die ersten Promotionen in den höheren Fakultäten gut<br />

zusammen. Erst zum Ende der 1420er Jahre dürften die ersten Bewerber von<br />

der Qualifizierung her im Stande gewesen sein, um eines der Doktorate nachzusuchen.<br />

Tatsächlich erfolgen Aufzeichnungen über Doktorpromotionen an den<br />

höheren Fakultäten erst 22 Jahre nach der <strong>Universität</strong>sgründung: in der Medizin<br />

1431, in der Theologie 1432 (Lizentiat), und bei den Juristen sind Aufzeichnungen<br />

zwar vorhanden, aber erst nach 1479 datierbar.<br />

Bevor man aber Doktorhut und -tracht anlegen konnte, galt es noch eine zweite<br />

Hürde zu nehmen – mittelalterliche Graduierungen waren extrem kostspielig.<br />

Die Einnahmen, die die Fakultäten durch die Graduierungen erzielten, entstanden<br />

sowohl durch die Gebühren für den Besuch vorgeschriebener Lehrveranstaltungen<br />

als auch durch direkte Prüfungsgebühren und Sachleistungen. Überschlägt<br />

man die Einnahmen, die der <strong>Universität</strong> aus solchen Gebühren zuflossen,<br />

so zeigt sich, dass sie ein bedeutender Teil der mittelalterlichen <strong>Universität</strong>sfinanzen<br />

gewesen sind. Vergleicht man sie mit den Besoldungen der neun landesherrlichen<br />

Stiftungsprofessuren – dann hätten allein durch die Promotionsgebühren<br />

drei weitere Professorenstellen fest besoldet werden können. So ist es<br />

kein Wunder, dass die Verteilung dieser Gelder immer wieder Eifersüchteleien<br />

erzeugte. Bereits 1446 versuchten die 16 Magister in der Artistenfakultät, die im<br />

beschlussfassenden Consilium saßen, die anderen Magister von der Verteilung<br />

der Promotionsgebühren auszuschließen. Diese „Reform“ der Fakultätsordnung<br />

misslang jedoch. Rund 240 Jahre später, 1685, sorgte der Landesherr dann selbst<br />

für die entsprechende Änderung. Statt der bisherigen Verwaltung der Fakultätsgeschäfte<br />

durch gewählte Magister aus den 4 Nationen waren von nun an nur<br />

noch die 9 Professuren alter Stiftung dazu berechtigt. Am Ende des 18. Jahrhunderts<br />

werden nur noch die Professoren alter Stiftung als empfangsberechtigte<br />

Fakultätsmitglieder betrachtet.<br />

Nach der Reformation kamen auf zukünftige Doktoren noch weitere Auslagen<br />

zu. Mit dem weltlichen Lebensstand der meisten Fakultätsangehörigen wurden<br />

Kosten für die Haushaltsführung der Familienangehörigen fällig. Besonders mit<br />

Bezug auf die Juristen wird berichtet (in der Festschrift von 1909), dass zwar<br />

die Ausgaben der Doktoren für Luxus und Prunk nicht überdurchschnittlich waren<br />

– für ihre weiblichen Familienangehörigen habe das aber nicht im gleichen<br />

Maße zugetroffen: „Selbst die Beschränkungen, welche die Kleiderordnung von<br />

1612 den Doktorenfrauen und -töchtern auferlegte, sind doch immer noch derart,<br />

daß sie heute als unerhörter Aufwand gebrandmarkt werden würden, und wenn<br />

eine Doktorenfrau, der Damastkleider und Sammetschürzen gar nicht zu geden-<br />

179


ken, Halsgeschmeide bis zu 200 Gulden Wert und einen Kopfputz bis zu 50<br />

Gulden tragen durfte – und da sie es durfte, wird sie es auch wohl getan haben –,<br />

so schleppte sie eben an ihrem Leibe den ganzen Jahresgehalt des gelehrten Gemahls<br />

umher, der eben dann durch private Vorlesungen und Disputationen sowie<br />

durch Praxis die Ebbe seiner Kasse ausgleichen mußte.“<br />

Auch zwischen den Fakultäten erzeugte das Promotionsrecht so manchen Zwist<br />

über die interne Hierarchie. 1526 kam es zu einem bewaffneten Zusammenstoß<br />

der baccalarei juris mit den Magistern der Artistenfakultät, als die Juristen den<br />

Vorrang beim Fronleichnamsfest beanspruchten. Die nachfolgenden Schlichtungsbemühungen<br />

des Rektors erkannten die Juristen nicht an, da sie nur ihren<br />

eigenen Dekan als Oberhaupt akzeptieren wollten. Erst dem Spruch des Landesherrn<br />

beugten sie sich. Im Jahre 1642 erwirkten die Juristen ein landesherrliches<br />

Reskript, dass die juristischen Doktoren denen der Medizin im Rang vorgehen<br />

sollten. Noch 1776 geriet die Juristenfakultät in einen Streit mit den Theologen<br />

über das Anschlagsrecht an Kirchentüren, das allein juristischen Doktoren seit<br />

altersher zustehen würde.<br />

Für die Akzeptanz der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong> als einer universellen Ausbildungsstätte<br />

für alle tradierten Fächer war jedoch das Graduierungswesen der höheren<br />

Fakultäten ein entscheidender und stabilisierender Faktor. Die Möglichkeit, in<br />

den scientia lucrativa zu einem akademischen Grad zu gelangen und dadurch in<br />

der sozialen Hierarchie zu steigen und zu materiellem Wohlstand zu gelangen,<br />

bewirkte eine anhaltende Attraktivität der <strong>Universität</strong>. Das Graduierungswesen<br />

der höheren Fakultäten sorgte für den notwendigen Zulauf an Studierenden,<br />

garantierte einen erheblichen Zuwachs an Gebühreneinnahmen und beinhaltete<br />

eine weitere Steigerung der wissenschaftlichen Reputation. Mit der ersten<br />

datierbaren medizinischen Promotion im Jahre 1431 bekräftigte die <strong>Leipzig</strong>er<br />

<strong>Universität</strong> ihren Anspruch, insbesondere gegenüber der Mutteruniversität Prag,<br />

wie auch gegenüber den älteren <strong>Universität</strong>en, als beständige und gleichrangige<br />

Bildungsstätte zu gelten.<br />

Jens Blecher<br />

180


Autorenverzeichnis<br />

Cornelia Becker<br />

Öffentlichkeitsarbeit der Medizinischen Fakultät<br />

Prof. em. Dr. Dr. h. c. Lothar Beyer<br />

Professor für Anorganische Chemie (Koordinationschemie), Institut für<br />

Anorganische Chemie<br />

Jens Blecher<br />

Mitarbeiter des <strong><strong>Universität</strong>sarchiv</strong>s<br />

Prof. Dr. Enno Bünz<br />

Professor für Sächsische Landesgeschichte am Historischen Seminar<br />

Prof. Dr. Marcus Deufert<br />

Professor für Klassische Philologie mit dem Schwerpunkt Latinistik am<br />

Institut für Klassische Philologie und Komparatistik<br />

Prof. Dr. Dr. Detlef Döring<br />

Sächsische Akademie der Wissenschaften zu <strong>Leipzig</strong><br />

Dr. Margit Ebersbach<br />

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Herder-Institut der Philologischen<br />

Fakultät<br />

Dr. Sabine Fahrenbach<br />

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der<br />

Medizin und der Naturwissenschaften<br />

Prof. Dr. Klaus Fitschen<br />

Professor für Kirchengeschichte unter besonderer Berücksichtigung<br />

der Neueren und Neuesten Kirchengeschichte am Institut für Kirchen-<br />

geschichte<br />

181


Prof. Dr. Eliahu Franco<br />

Professor für Indologie am Institut für Indologie und Zentralasienwissenschaften<br />

Dr. Astrid Franzke<br />

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen-<br />

und Geschlechterforschung der HAWK/FH Hildesheim/Holzminden/<br />

Göttingen und der Stiftung <strong>Universität</strong> Hildesheim<br />

Dr. Jan Felix Gaertner<br />

Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Klassische Philologie und Komparatistik<br />

Dr. Hans-Joachim Höbler<br />

Kustos der Mineralogisch-Petrographischen Sammlung am Institut für<br />

Mineralogie, Kristallographie und Materialwissenschaft<br />

Cornelia Junge<br />

Sammlungskonservatorin der Kustodie<br />

Prof. em. Dr. Helmar Junghans<br />

Institut für Kirchengeschichte<br />

Prof. Dr. Ingrid Kästner<br />

Professorin am Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der<br />

Naturwissenschaften<br />

Prof. Dr. Bernd-Rüdiger Kern<br />

Professor für Bürgerliches Recht, Rechtsgeschichte und Arztrecht an der<br />

Juristenfakultät<br />

Dr. Klaus Kroszewsky (†)<br />

Hochschuldozent an der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde<br />

Dr. Wolfgang Liedtke<br />

Ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethnologie<br />

182


Prof. Dr. Helmut Loos<br />

Professor für Historische Musikwissenschaft am Institut für Musikwissenschaft<br />

Prof. em. Dr. Dietmar Mathias<br />

Institut für Alttestamentliche Wissenschaft<br />

Michael Maul<br />

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bach-Archiv <strong>Leipzig</strong><br />

PD Dr. Matthias Middell<br />

Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Zentrums für Höhere Studien<br />

(ZHS) an der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong><br />

Dr. Hans-Peter Müller<br />

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Klassische Archäologie<br />

Prof. Dr. Dr. Ortrun Riha<br />

Professorin für Geschichte der Medizin, Direktorin des Karl-Sudhoff-Instituts<br />

für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften<br />

Prof. Dr. Manfred Salmhofer<br />

Professor für Theoretische Physik/Statistische Physik am Institut für Theoretische<br />

Physik<br />

Prof. Dr. Hans Ulrich Schmid<br />

Professor für Historische deutsche Sprachwissenschaft am Institut für Germanistik<br />

PD Dr. Holger Steinberg<br />

Projektkoordinator und Historiker des Archivs für <strong>Leipzig</strong>er Psychiatriegeschichte<br />

an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie<br />

Prof. em. Dr. Dr. h. c. Günther H. W. Sterba<br />

Ehemaliger Direktor des Zoologischen Instituts<br />

183


Dr. Rüdiger Thiele<br />

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der<br />

Medizin und der Naturwissenschaften und Privatdozent an der Fakultät<br />

für Mathematik und Informatik<br />

Prof. Dr. Gerald Wiemers<br />

Direktor des <strong><strong>Universität</strong>sarchiv</strong>s<br />

184


Bildnachweise<br />

S. 9: Erich Kähler (1906 – 2000), Fotoquelle: Prof. Dr. R. Berndt,<br />

Hamburg<br />

S. 15: Hermann Brockhaus (1806 – 1877), Fotosammlung,<br />

<strong><strong>Universität</strong>sarchiv</strong><br />

S. 21: Eva Lips (1906 – 1988), Institut für Ethnologie<br />

S. 27: Hans Otto de Boor (1886 – 1956), Fotosammlung,<br />

<strong><strong>Universität</strong>sarchiv</strong><br />

S. 31: Karl Lamprecht (1856 – 1915), Fotosammlung, <strong><strong>Universität</strong>sarchiv</strong><br />

S. 39: Emil Adolf Roßmäßler (1806 – 1867), Naturkundemuseum<br />

<strong>Leipzig</strong><br />

S. 45: Eduard Friedrich Weber (1806 – 1871), Fotosammlung,<br />

<strong><strong>Universität</strong>sarchiv</strong><br />

S. 49: Karl Sudhoff (1853 – 1938), rechts im Bild mit einem Mitarbeiter,<br />

etwa 1914, Quelle: Bildersammlung des Karl-Sudhoff-Instituts,<br />

Nr. 6403<br />

S. 55: Friedrich Wilhelm Ritschl (1806 – 1876), Fotosammlung, <strong><strong>Universität</strong>sarchiv</strong>,<br />

Aus: Imaginas Philologorum, hrsg. von Alfred Gudemann,<br />

<strong>Leipzig</strong>, Berlin, 1911<br />

S. 61: Albrecht Alt (1883 – 1956), Fotoarchiv des Instituts für Alttestamentliche<br />

Wissenschaft<br />

S. 67: Das Pathologische Institut, Ansicht von der Ecke Liebigstraße/<br />

Johannisallee, Aufnahme von 1909, Aus: Festschrift zur Feier des<br />

500-jährigen Bestehens der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong>, hrsg. von Rektor<br />

und Senat. <strong>Leipzig</strong>, 1909, Taf. V<br />

S. 73: Oskar von Gebhardt (1844 – 1906), Fotosammlung,<br />

<strong><strong>Universität</strong>sarchiv</strong><br />

S. 79: Karl Ferdinand Hommel (1722 – 1781), Gemälde von Ernst<br />

Gottlob, 1781, aus der Ordinariengalerie der Juristenfakultät,<br />

Kunstbesitz der <strong>Universität</strong><br />

S. 83: Johann Christian August Heinroth (1773 – 1843), Lithographie<br />

von G. Schlick, Aus dem Nachlass Heinroth, <strong><strong>Universität</strong>sarchiv</strong><br />

185


S. 89: Paul Drude (1863 – 1906), Fotosammlung, <strong><strong>Universität</strong>sarchiv</strong><br />

S. 93: Robert Schumann (1810 – 1856), Wien 1839; Lithographie<br />

von Josef Kriehuber, Robert-Schumann-Haus Zwickau; Archiv-Nr.<br />

7494-B2<br />

S. 99: Johann Christian Schamberg (1667 – 1706), Bildnis Öl/<br />

Leinwand (Ausschnitt), geschaffen um 1702/1706 von David<br />

Hoyer für die Medizinische Fakultät der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong>.<br />

Kunstbesitz der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong>. Foto: Kustodie der <strong>Universität</strong><br />

<strong>Leipzig</strong>, Fotoarchiv<br />

S. 105: Das Herder-Institut in der Lumumbastraße mit Denkmal für den<br />

Namensgeber der Straße, Patrice Lumumba, Aufnahme von<br />

1961, Fotosammlung, <strong><strong>Universität</strong>sarchiv</strong><br />

S. 109: Johann Friedrich Christ (1701 – 1756), Kupferstich von J. C.<br />

Sysang nach einem Gemälde von E. G. Haußmann. Aus: J. F.<br />

Christ, Abhandlungen über die Litteratur und Kunstwerke vornehmlich<br />

des Altertums, durchgesehen und Anmerkungen begleitet<br />

von J. K. Zeune, <strong>Leipzig</strong> 1776, Foto: Antikenmuseum<br />

S. 115: Luwig Boltzmann (1844 – 1906), Fotosammlung,<br />

<strong><strong>Universität</strong>sarchiv</strong><br />

S. 121: Johann Christoph Adelung (1732 – 1806), Radierung von Christian<br />

Gottlieb Geyser nach einem Gemälde von Anton Graff,<br />

Stadtgeschichtliches Museum <strong>Leipzig</strong>, Inv.-Nr.: G VI/2<br />

S. 125: Johann Christian Gottfried Jörg (1779 – 1856), Aus: Zweifel,<br />

Paul: Rückblick über die Gründung und wissenschaftliche Thätigkeit<br />

unter den ersten beiden Directoren. In: Festschrift zur Jahrhundertfeier<br />

des Trier´schen Institutes oder <strong>Universität</strong>s-Frauenklinik<br />

in <strong>Leipzig</strong> am 29. Oktober 1910, Berlin: Schumacher, o. J.<br />

S. 131: Medaille, gestiftet anlässlich des 200. Geburtstages von Christian<br />

Samuel Weiss (1780 – 1856) am 26. Februar 1980 von der<br />

Vereinigung für Kristallographie der DDR<br />

S. 137: Rudolf Kötzschke (1867 – 1949), Aus: Rudolf Kötzschke und das<br />

Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde an der <strong>Universität</strong><br />

<strong>Leipzig</strong>, Sax-Verlag Beucha, 1999<br />

S. 143: Friedrich Louis Hesse (1849 – 1906), Fotosammlung,<br />

<strong><strong>Universität</strong>sarchiv</strong><br />

186


S. 149: Stadtansicht von Algier, Kupferstich, <strong>Universität</strong>sbibliothek,<br />

Handschriftenabteilung<br />

S. 155: Thomas Müntzer (1489 – 1525), Xylographie, um 1870, Stadtgeschichtliches<br />

Museum <strong>Leipzig</strong>, Inventar-Nr. Porträt U 90<br />

S. 161: Das Augusteum, Umdruckpapier (gespiegelt) für Porzellan,<br />

um 1840, Kunstbesitz der <strong>Universität</strong><br />

S. 167: Werner Fabricius (1633 – 1679), Kupferstich von Philipp Kilian<br />

nach einem Gemälde von Samuel Bottschild, 1671, <strong>Universität</strong>sbibliothek<br />

S. 171: Studenten und Studentinnen in einem medizinischen Hörsaal um<br />

1920. Das chirurgische Seminar leitete Prof. Erwin Payr, Fotosammlung,<br />

<strong><strong>Universität</strong>sarchiv</strong><br />

S. 175: Das Siegel der Juristenfakultät der <strong>Universität</strong> <strong>Leipzig</strong><br />

187

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