Die Welt der Orientierungspläne und pädagogischen ... - ErzieherIn.de
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<strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Orientierungspläne</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>pädagogischen</strong> Leitlinien<br />
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Kapitel 18 • <strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Orientierungspläne</strong> <strong>und</strong> <strong>pädagogischen</strong> Leitlinien<br />
Alltag ist gelebte Kultur – auch<br />
in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kita<br />
Unter <strong>de</strong>m Druck gesellscha licher Notwendigkeiten sind Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>tageseinrichtungen<br />
mit einem primären Fokus auf Versorgung<br />
zu Bildungseinrichtungen ernannt wor<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Philosophie in<br />
<strong>Orientierungspläne</strong>n <strong>und</strong> <strong>pädagogischen</strong> Leitlinien mit viel politischem<br />
Willen formuliert wur<strong>de</strong>. Gemeinsam ist ihnen allen,<br />
dass Kultur darin vorkommt. Schaut man sich die entsprechen<strong>de</strong>n<br />
Passagen jedoch einmal genauer an, so stellt man schnell fest,<br />
dass es sich häu g um Allgemeinplätze <strong>und</strong> Unverbindlichkeiten<br />
han<strong>de</strong>lt. Natürlich ist wie<strong><strong>de</strong>r</strong> von Singen, Malen <strong>und</strong> Basteln als<br />
Kulturtechniken die Re<strong>de</strong>, wobei durchaus auch Lie<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>er<br />
Kulturen gemeint sind. Es soll kulturelle O enheit für an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Kulturen<br />
herrschen <strong>und</strong> es sollen kulturelle Werte <strong>und</strong> Lebensformen<br />
vermittelt wer<strong>de</strong>n. Es sollen eine Fülle sozialer, dinglicher <strong>und</strong><br />
kultureller Lerngelegenheiten gescha en wer<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>nen das<br />
Kind freudig in Beziehung treten soll. Es soll Bildungs- <strong>und</strong> Kulturarbeit<br />
betrieben wer<strong>de</strong>n.<br />
Aber – wie auf S. 31 <strong>de</strong>s Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>sächsischen Orientierungsplans<br />
ausgeführt wird, <strong><strong>de</strong>r</strong> beileibe keine exotische Ausnahme bil<strong>de</strong>t –<br />
soll die Unterbrechung <strong>de</strong>s Alltags <strong>und</strong> das Bewahren kultureller<br />
Traditionen (z. B. Feste) jedoch nicht die emen <strong><strong>de</strong>r</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>und</strong><br />
die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Bildungsinhalte an <strong>de</strong>n Rand drängen! Das heißt, dass<br />
Kultur als etwas Eigenes, unabhängig von allem an<strong><strong>de</strong>r</strong>en gesehen<br />
wird, das Vielfalt <strong>und</strong> Buntheit in <strong>de</strong>n Alltag bringt. Wie wir aber<br />
bisher gesehen haben, ist Kultur Alltag <strong>und</strong> Alltag ist gelebte Kultur<br />
. Natürlich ist ein solches Verständnis von Alltagskultur auch in<br />
<strong>de</strong>n <strong>Orientierungspläne</strong>n enthalten, aber die Vielfalt ist dabei auf<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Strecke geblieben – es han<strong>de</strong>lt sich um einen monokulturellen<br />
<strong>und</strong> normativen Zugang –, im Zentrum steht das selbstbestimmte,<br />
selbstständige, selbstbewusste <strong>und</strong> selbstverantwortliche Kind,<br />
das in <strong><strong>de</strong>r</strong> Entwicklung seiner psychologischen Autonomie unterstützt<br />
wer<strong>de</strong>n soll. <strong>Die</strong> Kita ist – o<strong><strong>de</strong>r</strong> soll es zumin<strong>de</strong>st sein – die<br />
genaue Entsprechung zu <strong>de</strong>n familiären Sozialisationsstrategien<br />
in Richtung psychologische Autonomie. Man n<strong>de</strong>t die folgen<strong>de</strong>n<br />
Handlungsmaximen, die an <strong>de</strong>n Rechten <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s ausgerichtet<br />
sind. Je<strong>de</strong>s Kind hat das Recht<br />
4 so akzeptiert zu wer<strong>de</strong>n, wie es ist <strong>und</strong> wie es lebt,<br />
4 in seinem individuellen Tempo zu lernen,<br />
4 eigene Stärken, Fähigkeiten <strong>und</strong> Fertigkeiten zu entwickeln,<br />
4 auf Bestätigung, Lob <strong>und</strong> Anerkennung,<br />
4 auf Wahrnehmung seiner Bedürfnisse <strong>und</strong> Wünsche,<br />
4 auf Wahrung seiner Grenzen,<br />
4 sich zurückzuziehen <strong>und</strong> Ruhe zu suchen,<br />
4 seine Spielpartner selbst auszusuchen.
<strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Orientierungspläne</strong> <strong>und</strong> <strong>pädagogischen</strong> Leitlinien<br />
<strong>Die</strong> Erzieher/innen haben die Verp ichtung, Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n die Bedingungen<br />
für die Wahrung dieser Rechte herzustellen <strong>und</strong> zu garantieren<br />
– ein Bil<strong><strong>de</strong>r</strong>buchkatalog zur Entwicklung psychologischer<br />
Autonomie . Sie haben die P icht<br />
4 seine Persönlichkeit zu respektieren <strong>und</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeit zu berücksichtigen,<br />
4 ihm die Möglichkeit zum freien, spontanen Spiel zu geben,<br />
4 abgestimmt auf die entwicklungsbedingten Möglichkeiten ein<br />
anregen<strong>de</strong>s Umfeld zu scha en <strong>und</strong> die Selbststeuerung <strong>de</strong>s<br />
Kin<strong>de</strong>s zu för<strong><strong>de</strong>r</strong>n,<br />
4 Herausfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen durch I<strong>de</strong>en, Impulse <strong>und</strong> Material zu<br />
scha en,<br />
4 <strong>de</strong>m Kind so viel Neues zu geben, wie es die Neugier<strong>de</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>de</strong>m Wissensdrang entspricht, aber auch so viel Bekanntes<br />
<strong>und</strong> Geregeltes, wie es das Kind benötigt, um sich sicher zu<br />
fühlen <strong>und</strong> handlungsfähig zu sein,<br />
4 kooperative Hilfestellung für ein anregen<strong>de</strong>s <strong>und</strong> beziehungsreiches<br />
Spiel mit an<strong><strong>de</strong>r</strong>en zu geben,<br />
4 eine entspannte Atmosphäre zu scha en, in <strong><strong>de</strong>r</strong> die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
sich selbst, ihre Umwelt <strong>und</strong> ihr Gegenüber positiv erleben.<br />
(Auswahl, Zusammenstellung Hannah Bruns, Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>sächsisches<br />
Institut für frühkindliche Bildung <strong>und</strong> Entwicklung (ni e)).<br />
<strong>Die</strong>se Vorgaben sind in <strong>de</strong>n Vorstellungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Erzieherinnen<br />
gespiegelt, was Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> in ihrer Einrichtung lernen sollten. Wir<br />
haben 22 Erzieherinnen danach befragt, was die wichtigsten Dinge<br />
seien, die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> in ihrer Einrichtung lernen sollten. In Abbildung<br />
18.1 sind die Ergebnisse dargestellt ( . Abb. 18.1 ).<br />
Autonomie <strong>und</strong> Selbstbewusstsein sind die absolute Nummer<br />
Eins. Fasst man die Bereiche kognitiver För<strong><strong>de</strong>r</strong>ung zusammen,<br />
so bil<strong>de</strong>n sie die zweithäu gste Präferenz. Erst danach kommen<br />
soziale <strong>und</strong> emotionale Fähigkeiten, allerdings immer aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Perspektive<br />
<strong>de</strong>s selbstre exiven Individuums. Regeln lernen, Werte<br />
<strong>und</strong> Normen spielen eine weitaus geringere Rolle. Noch <strong>de</strong>utlicher<br />
wird das Bild, wenn wir genauer nach bildungsbezogenen<br />
Inhalten fragen, die in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kita vermittelt wer<strong>de</strong>n sollen: Sprache,<br />
kognitive Fähigkeit <strong>und</strong> Schulvorbereitung, mathematische Kompetenzen<br />
stehen hier ganz vorne.<br />
<strong>Die</strong> Rahmenpläne <strong>und</strong> Erziehungsvorstellungen wer<strong>de</strong>n natürlich<br />
nicht 1:1 im Alltag realisiert. Daran wird aber mit Aus-,<br />
Fort- <strong>und</strong> Weiterbildungsangeboten gearbeitet. Und dabei kann<br />
man durchaus auf einem beachtlichen F<strong>und</strong>ament au auen: Auch<br />
im Kitaalltag wer<strong>de</strong>n Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> permanent nach ihren Wünschen<br />
<strong>und</strong> Bedürfnissen, nach ihren Vorlieben <strong>und</strong> Präferenzen gefragt.<br />
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18<br />
Ethnotheorien von<br />
Erzieherinnen
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Autonomie/Sebstbewusstsein<br />
soziale/emotionale Fähigkeiten<br />
Regeln, (religiöse) Werte <strong>und</strong> Normen<br />
Motorik/Ges<strong>und</strong>heit/Umwelt<br />
kogn. Fähigkeiten/Sprache<br />
Kreativität/Sinne/Wahrnehmung<br />
Entwicklung allgemein/Schulvorbereitung<br />
Sonstiges<br />
Kapitel 18 • <strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Orientierungspläne</strong> <strong>und</strong> <strong>pädagogischen</strong> Leitlinien<br />
. Abb. 18.1 Erziehungsziele von <strong>de</strong>utschen Erzieherinnen<br />
0 5 10 15 20 25 30 35 40<br />
4 Wo willst Du sitzen?<br />
4 Was willst Du spielen?<br />
4 Was willst Du essen?<br />
4 Willst Du winken gehen?<br />
4 Mit welchen Sti en willst Du malen?<br />
4 Willst Du heute gar nicht re<strong>de</strong>n?<br />
4 Hast Du das schon gemacht?<br />
4 Magst Du auch zuhören?<br />
Es wer<strong>de</strong>n Alternativen angeboten, die Wahlen ermöglichen:<br />
4 Bei Mateo ist noch Platz, neben Pit ist noch Platz, <strong>und</strong> bei<br />
Johanna ist noch Platz – wo möchtest Du Dich hinsetzen?<br />
Einzelne Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> dürfen an einzelnen Tagen Entscheidungen auch<br />
für die Gruppe tre en, zum Beispiel im Morgenkreis:<br />
4 Philipp, wo sollen wir anfangen zu zählen?<br />
Das Kind soll mit seinen Handlungen einverstan<strong>de</strong>n sein:<br />
4 Du kannst <strong>de</strong>n Stein hinter Dich legen, wenn Du willst.<br />
Im Zentrum steht das individuelle Kind, das auch, so o das im<br />
Alltag realisierbar ist, alleine angesprochen wird. Hier ist eine kleine<br />
Szene aus <strong>de</strong>m Kitaalltag zwischen einer Erzieherin (E) <strong>und</strong><br />
einem 2-jährigen Kind (K):
<strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Orientierungspläne</strong> <strong>und</strong> <strong>pädagogischen</strong> Leitlinien<br />
K geht rein <strong>und</strong> raus aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Puppenküche <strong>und</strong> zeigt Erzieherin<br />
einen Föhn <strong>und</strong> ein Puppenklo<br />
E: Oh, was haste da <strong>de</strong>nn, Pit?<br />
K geht erneut in die Puppenküche <strong>und</strong> holt einen Spiegel, <strong>de</strong>n<br />
er <strong><strong>de</strong>r</strong> E hinhält.<br />
E: Oh guck mal. Ein Spiegel? Da kannste reingucken, da kannste<br />
dich angucken, dich selbst.<br />
<strong>Die</strong> Erzieherin stellt Fragen <strong>und</strong> macht Aussagen mit viel Informationsgehalt,<br />
sie spiegelt sprachlich die Verhaltensweisen <strong>de</strong>s<br />
Kin<strong>de</strong>s. Sie stellt Fragen <strong>und</strong> nimmt die Gelegenheit wahr, das<br />
Kind auf sich selbst zu beziehen, zu spiegeln im wahrsten Sinne<br />
<strong>de</strong>s Wortes. Sie geht auf die kindliche Perspektive ein <strong>und</strong> versucht<br />
lange Gespräche zu einem ema zu realisieren.<br />
Wie in <strong><strong>de</strong>r</strong> Familie, so ist auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kita das Lob <strong>und</strong> die Bestätigung<br />
die pädagogische Maßnahme <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahl:<br />
» Toll machst Du das, ganz toll!!!<br />
Super!<br />
Das weißt Du schon alles!<br />
So, ich halt das hier fest <strong>und</strong> du schiebst das hier rein. Genau, <strong>und</strong><br />
jetzt hochziehen. Super!<br />
Johanna? Johanna, komm mal, komm mal eben. Ach’ geht schon?<br />
Super!<br />
So, geh hier einmal mit <strong>de</strong>inem Arm rein, hier mit <strong>de</strong>inem Arm<br />
rein, genau! «<br />
Im Morgenkreis wer<strong>de</strong>n die letzten Tage von einer Erzieherin bewertet:<br />
»Aber ich muss wirklich sagen, am Donnerstag <strong>und</strong> Freitag<br />
waren die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> so klasse <strong>und</strong> haben sich alle so doll angestrengt,<br />
das ha’m die so toll hinbekommen!«<br />
Natürlich erwarten Eltern <strong>und</strong> Erzieher, dass Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> auch Regeln<br />
lernen <strong>und</strong> einhalten. Eine vertraute Spielwiese, Regeln zu<br />
lernen <strong>und</strong> diese auch einzuhalten, ist das leidige Aufräumen. Wie<br />
wir gesehen haben, sind westliche Mittelschichtkin<strong><strong>de</strong>r</strong> in dieser<br />
Hinsicht nicht gera<strong>de</strong> folgsam. Ihre Strategien reichen von Ignorieren<br />
über Verhan<strong>de</strong>ln bis zu o enem Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spruch <strong>und</strong> Protest.<br />
Das Auf- <strong>und</strong> Wegräumen ist natürlich auch eine Situation, die<br />
im Kitaalltag thematisch ist, wie die folgen<strong>de</strong> kleine Szene zeigt:<br />
Erzieherin 1: Bring doch mal das Säckchen in <strong>de</strong>n Toberaum <strong>und</strong><br />
dann räumen wir nämlich jetzt auf, ne?<br />
143<br />
18<br />
Beispiele aus <strong>de</strong>m Kita-Alltag
18<br />
144<br />
Kapitel 18 • <strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Orientierungspläne</strong> <strong>und</strong> <strong>pädagogischen</strong> Leitlinien<br />
Handlungsautonomie<br />
Julia (3 Jahre): Ja<br />
Erzieherin 2: Gut (geht in die Küche. Kind bleibt noch kurz stehen,<br />
verlässt dann auch das Esszimmer) Kind geht bis zum Toberaum<br />
<strong>und</strong> wirft das Säckchen rein. Tom wirft das Säckchen zurück.<br />
Julia nimmt das Säckchen <strong>und</strong> wirft es in <strong>de</strong>n Flur, hebt es wie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
auf <strong>und</strong> legt es im Ba<strong>de</strong>zimmer auf einen Hocker, dann auf <strong>de</strong>n<br />
Bo<strong>de</strong>n <strong>und</strong> wischt damit. Julia lässt es liegen <strong>und</strong> rennt raus.<br />
Erzieher: Julia? (sie dreht sich zum Erzieher um) Bringst du<br />
noch mal das Säckchen in <strong>de</strong>n Toberaum zurück? Ja? Hier komm,<br />
das Säckchen ist hier vorne (Julia geht zurück ins Bad <strong>und</strong> hebt es<br />
auf ). Genau das. Einmal in <strong>de</strong>n Toberaum bitte. (Julia geht bis zum<br />
Toberaum, wirft das Säckchen hinein. Sie hebt ein Bonbonpapier<br />
auf <strong>und</strong> leckt es ab): Nicht in <strong>de</strong>n M<strong>und</strong> nehmen Julia (sie geht kurz<br />
ins Ba<strong>de</strong>zimmer, dann in die Küche): Das kannst du in <strong>de</strong>n Mülleimer<br />
tun Julia. (Sie hebt das Papier hoch): In <strong>de</strong>n Mülleimer, genau<br />
(sie geht zur Spüle): Da, in <strong>de</strong>n gelben.<br />
Julia (zeigt auf <strong>de</strong>n gelben Sack): Da?<br />
Erzieher: Genau. Einmal rein da.<br />
Julia: Da? (zeigt auf <strong>de</strong>n Biomüll)<br />
Erzieher: Ne, in <strong>de</strong>n gelben<br />
Julia (zeigt auf <strong>de</strong>n gelben Sack): Da?<br />
Erzieher: Genau, in <strong>de</strong>n (Julia wirft das Papier rein): Super! (Julia<br />
geht ins Kaminzimmer <strong>und</strong> fängt an, mit Lego auf <strong>de</strong>m Bauteppich<br />
zu spielen)<br />
<strong>Die</strong>ses beileibe nicht exotische, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n alltägliche Beispiel ist in<br />
vielerlei Hinsicht interessant! Es zeigt <strong>de</strong>n verbalen Verhandlungsstil<br />
<strong>und</strong> die ununterbrochene Verbalisierung von Handlungen. Julia<br />
stimmt <strong><strong>de</strong>r</strong> Anweisung zu, folgt ihr auch scheinbar, allerdings<br />
nicht so wie gewünscht – sie wir das Säckchen, statt es zu legen,<br />
<strong>und</strong> stößt dabei an die Ich-Grenzen eines an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Kin<strong>de</strong>s, Tom,<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> das Säckchen zurückwir . Danach macht sie alles Mögliche<br />
mit <strong>de</strong>m Säckchen, nur nicht das, wozu sie aufgefor<strong><strong>de</strong>r</strong>t wur<strong>de</strong>,<br />
sogar ein<strong>de</strong>utig nicht erwünschte Handlungen, wie <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n mit<br />
<strong>de</strong>m Säckchen wischen – ohne dass ein Erzieher o<strong><strong>de</strong>r</strong> eine Erzieherin<br />
regulierend eingreifen. Hö ich fragend <strong>und</strong> bittend möchte<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Erzieher das Kind dann dazu bringen, <strong><strong>de</strong>r</strong> Au or<strong><strong>de</strong>r</strong>ung nachzukommen<br />
– sie wir wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Grenzen testen? Dann macht sie<br />
einen zweiten Handlungsstrang mit <strong>de</strong>m Bonbonpapier auf, das<br />
sie dann mit verbaler Begleitung, Ermunterung <strong>und</strong> Lob schließlich<br />
dorthin entsorgt, wo sie es soll. Hier haben wir das selbstbestimmte<br />
Kind, das seine Intentionen realisiert, seinen Präferenzen<br />
Ausdruck verleiht, seine Beschä igung wählt. Ist dieses kurze Beispiel<br />
Ausdruck <strong>de</strong>s <strong>pädagogischen</strong> I<strong>de</strong>als? In je<strong>de</strong>m Fall sehen wir
<strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Orientierungspläne</strong> <strong>und</strong> <strong>pädagogischen</strong> Leitlinien<br />
hier das Autonomiedilemma erneut, das wir bereits weiter vorne<br />
besprochen haben.<br />
Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> aus relational organisierten Familien sind, wie wir gesehen<br />
haben, an einen völlig an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Verhaltens- <strong>und</strong> Diskursstil<br />
gewohnt. Sie wer<strong>de</strong>n aufgefor<strong><strong>de</strong>r</strong>t, sich hinzusetzen, zuzuhören,<br />
das zu tun, was man ihnen sagt. Sie wer<strong>de</strong>n nicht gelobt, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />
korrigiert <strong>und</strong> vielleicht auch zurechtgewiesen. Sie sind es nicht<br />
gewohnt, gefragt zu wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Entscheidungen zu tre en. Sie<br />
sind es nicht gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen. Sie sind nicht<br />
gewohnt, aktiv auf an<strong><strong>de</strong>r</strong>e, zumal Ältere zuzugehen <strong>und</strong> Spielangebote<br />
zu machen o<strong><strong>de</strong>r</strong> überhaupt <strong><strong>de</strong>r</strong>en Aufmerksamkeit <strong>und</strong><br />
Zeit in Anspruch zu nehmen. Sie sind es nicht gewohnt, Au or<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen<br />
nicht nachzukommen. Sie sind nicht an die Dominanz<br />
sprachlicher Interaktionen gewohnt. Sie sind durch dieses Bombar<strong>de</strong>ment<br />
an Wahlen <strong>und</strong> Entscheidungen völlig irritiert <strong>und</strong><br />
überfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Was sollen sie tun, wenn sie sich in Situationen be-<br />
n<strong>de</strong>n, die ihnen nicht nur fremd sind, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n die sich auch<br />
noch massiv von <strong>de</strong>m häuslichen Erziehungsstil unterschei<strong>de</strong>n?<br />
Sie wür<strong>de</strong>n Regeln überschreiten, sich ungehörig verhalten. Das<br />
kann man doch nicht machen. Also stehen sie stumm da <strong>und</strong><br />
machen gar nichts! Sie sind blockiert. <strong>Die</strong> Erzieherin, die diesen<br />
Kon ikt nicht versteht, weil sie das relationale Mo<strong>de</strong>ll nicht kennt,<br />
zieht die Schlussfolgerung, die in ihrem <strong>Welt</strong>bild naheliegt, nämlich,<br />
dass es sich hier um ein höchst unkooperatives Kind han<strong>de</strong>lt!<br />
Wenn sie die Gelegenheit hat, mit <strong>de</strong>n Eltern zu sprechen, wird<br />
sie diesen sagen, dass sich das Kind nicht beteiligt, keine Fragen<br />
stellt, immer still ist, keine Wahlen tri . Und nun sind die Eltern<br />
in höchstem Maße irritiert. Was stört die Erzieherin? Ihr Kind verhält<br />
sich doch richtig! Aus diesen Missverständnissen heraus ist es<br />
leicht, anzunehmen, dass auch die Eltern unkooperativ sind, nicht<br />
mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Einrichtung zusammenarbeiten <strong>und</strong> an Elterngesprächen<br />
nicht interessiert sind! Natürlich ist das jetzt übertrieben, aber<br />
doch nicht abwegig. Je<strong>de</strong> Erzieherin, die entsprechend gemischte<br />
Gruppen betreut, kann viele solcher Beispiele nennen.<br />
<strong>Die</strong> Vorstellungen von guter Erziehung sind eben völlig unterschiedlich.<br />
<strong>Die</strong> geduldig verhan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> <strong>und</strong> Positivität vermitteln<strong>de</strong><br />
Erzieherin wirkt auf relational hierarchisch organisierte Menschen<br />
sicher als Sinnbild von Inkompetenz <strong>und</strong> Hil osigkeit.<br />
Ein Teil dieser Missverständnisse liegt weiterhin darin begrün<strong>de</strong>t,<br />
dass völlig unterschiedliche Vorstellungen <strong>und</strong> Erwartungen<br />
bezüglich <strong><strong>de</strong>r</strong> Rolle <strong>de</strong>s Elternhauses <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Institution bestehen.<br />
In <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>utschen Mittelschichtphilosophie <strong>und</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> ö entlichen<br />
Erziehungskultur liegt die Verantwortung für Bildung <strong>und</strong> Entwicklung<br />
von Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n in <strong><strong>de</strong>r</strong> Familie, bei <strong>de</strong>n Eltern. Entsprechend<br />
sind Mittelschichteltern auch sehr an <strong>de</strong>m <strong>pädagogischen</strong><br />
145<br />
18<br />
Verschie<strong>de</strong>ne kulturelle<br />
Realitäten können zu vielen<br />
Missverständnissen führen<br />
<strong>Die</strong> Beziehungen zwischen Kita<br />
<strong>und</strong> Familie
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146<br />
Kapitel 18 • <strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Orientierungspläne</strong> <strong>und</strong> <strong>pädagogischen</strong> Leitlinien<br />
Kulturelle Missverständnisse<br />
Konzept <strong>und</strong> <strong>de</strong>ssen Umsetzung in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kita interessiert <strong>und</strong><br />
gr<strong>und</strong>sätzlich sehr kooperationsbereit. Elternaben<strong>de</strong>, »Tür- <strong>und</strong><br />
Angelgespräche« mit <strong>de</strong>n Erzieherinnen, freiwillige Elterndienste<br />
sind für sie selbstverständlich in <strong><strong>de</strong>r</strong> Erziehungspartnerscha mit<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Kita. Viele türkischstämmige Eltern mit einem dör ichen Sozialisationshintergr<strong>und</strong><br />
halten diese Vorstellungen <strong>und</strong> Praktiken<br />
für völlig falsch. <strong>Die</strong> Familie ist für sie dafür zuständig, dass das<br />
Kind ein guter Mensch wird, <strong>de</strong>n Rest an Bildung <strong>und</strong> Erziehung<br />
hat die Institution, <strong><strong>de</strong>r</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>garten <strong>und</strong> die Schule zu erledigen.<br />
Für sie besteht eine strikte Trennung zwischen diesen bei<strong>de</strong>n Instanzen.<br />
Den Ansprüchen an ihre Zeit <strong>und</strong> ihre Kooperation stehen<br />
sie verständnislos gegenüber. Dabei kann es zu gravieren<strong>de</strong>n<br />
Kommunikationsproblemen kommen. Immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> kann man<br />
hören, dass Mütter mit türkischem Migrationshintergr<strong>und</strong> »unkooperativ«<br />
sind bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Eingewöhnungsphase, die doch als qualitative<br />
Errungenscha <strong><strong>de</strong>r</strong> Kleinkindpädagogik gilt. <strong>Die</strong> langsame<br />
Eingewöhnung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s an die Einrichtung mit langsam reduzierten<br />
Anwesenheiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Mutter o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s Vaters gilt bei uns als<br />
qualitativ hochwertig <strong>und</strong> auch als einzig richtige Art <strong>und</strong> Weise,<br />
ein Kind an <strong>de</strong>n neuen Lebensraum heranzuführen. Physiologische<br />
Messungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Stressbelastungen (Kortisol) bestätigen, dass<br />
Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>, die eine solche langsame Eingewöhnungsphase durchlaufen,<br />
eine geringere Stressbelastung erfahren als Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>, die diesen<br />
Wechsel abrupt erleben (s. dazu Ahnert 2010). Nun bringt eine<br />
Mutter mit türkischem Migrationshintergr<strong>und</strong> ihr dreijähriges<br />
Kind am ersten Tag in <strong>de</strong>n Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>garten <strong>und</strong> möchte gleich gehen<br />
– sie hat Termine, die sie wahrnehmen möchte <strong>und</strong> muss. Sie<br />
ist völlig überrascht von <strong>de</strong>m vielleicht sogar vorwurfsvollen Ton<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Erzieherin, sie könne doch jetzt nicht gehen, sie müsse heute<br />
in <strong><strong>de</strong>r</strong> Einrichtung bei ihrem Kind bleiben. <strong>Die</strong> türkischstämmige<br />
Mutter versteht die <strong>Welt</strong> nicht mehr, sie hat doch ihr Kind von<br />
klein auf daran gewöhnt, von an<strong><strong>de</strong>r</strong>en betreut zu wer<strong>de</strong>n, wo soll<br />
das Problem sein? Und tatsächlich gibt es keine Untersuchungen,<br />
die die Stressbelastung in solchen Situationen bei Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n aus Familien<br />
mit an<strong><strong>de</strong>r</strong>en kulturellen Mo<strong>de</strong>llen untersucht haben. Hier<br />
besteht dringen<strong><strong>de</strong>r</strong> Forschungsbedarf!<br />
Ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>es häu g benanntes Problem besteht in <strong><strong>de</strong>r</strong> Abholsituation.<br />
Einrichtungen erwarten, dass Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> pünktlich abgeholt<br />
wer<strong>de</strong>n – Überschreitungen wer<strong>de</strong>n mit zum Teil erheblichen<br />
Geldstrafen geahn<strong>de</strong>t. Nun gibt es aber kaum ein exibleres kulturelles<br />
Konzept als die Zeit (LeVine 2008). Viele Menschen kennen<br />
vielleicht Situationen, wo sie bei, sagen wir einmal, einer relational<br />
organisierten Familie zum Aben<strong>de</strong>ssen eingela<strong>de</strong>n waren, <strong>und</strong><br />
zwar um 8 Uhr abends. Pünktlich auf die Minute klingeln die
<strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Orientierungspläne</strong> <strong>und</strong> <strong>pädagogischen</strong> Leitlinien<br />
<strong>de</strong>utschen Gäste an <strong><strong>de</strong>r</strong> Haustür ihrer Gastgeber <strong>und</strong> bringen diese<br />
damit in allerhöchste Verlegenheit. Der Hausherr ist noch gar<br />
nicht zuhause <strong>und</strong> die Dame <strong>de</strong>s Hauses hat sich für <strong>de</strong>n Abend<br />
noch nicht fertig gemacht. Wer kommt auch um 8 Uhr zum Essen?<br />
Nach<strong>de</strong>m peinliche 2 St<strong>und</strong>en überstan<strong>de</strong>n sind <strong>und</strong> langsam<br />
alle an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Gäste eintre en, beginnt das Aben<strong>de</strong>ssen nach 10<br />
Uhr. Das Kind um 17 Uhr im Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>garten abzuholen, be<strong>de</strong>utet<br />
also vielleicht zwischen 17 <strong>und</strong> 19 Uhr? Manche Einrichtungen<br />
haben inzwischen auf diese Situation reagiert <strong>und</strong> gestalten die<br />
Ö nungszeiten <strong>und</strong> damit die Abholzeiten exibler – sie geben<br />
Zeiträume anstelle von pünktlich einzuhalten<strong>de</strong>n Terminen an.<br />
Und plötzlich gibt es keine warten<strong>de</strong>n Erzieherinnen <strong>und</strong> verängstigte<br />
Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> mehr. Schließlich kann man doch auch Tür- <strong>und</strong><br />
Angelgespräche, die ja fester Bestandteil <strong><strong>de</strong>r</strong> erzieherischen Praxis<br />
sind, entspannter führen, wenn nicht alle Eltern auf einmal da stehen!<br />
Ist minutengenaue Pünktlichkeit ein Wert an sich o<strong><strong>de</strong>r</strong> doch<br />
vielleicht Ausdruck eines kulturellen Verständnisses, zu <strong>de</strong>m es<br />
lebbare Alternativen gibt <strong>und</strong> das im multikulturellen Alltag nicht<br />
mehr angemessen ist?<br />
Mit diesen Überlegungen rücken die <strong>pädagogischen</strong> Fachkräfte<br />
ins Zentrum <strong>de</strong>s Bildungsgeschehens. <strong>Die</strong> Erkenntnis, dass die<br />
früh<strong>pädagogischen</strong> Fachkrä e zentrale Aufgaben im Bildungsprozess<br />
wahrnehmen, da sie an <strong><strong>de</strong>r</strong> Scha ung von Gr<strong>und</strong>lagen für<br />
Bildung <strong>und</strong> Erziehung wesentlich beteiligt sind, setzt sich langsam<br />
auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> ö entlichen Wahrnehmung durch. »Das Beste für<br />
die Kleinsten« ist ein Slogan, <strong>de</strong>n man immer häu ger hört. Könnte<br />
es doch nur tatsächlich auch politisch <strong>und</strong> damit ökonomisch<br />
umgesetzt wer<strong>de</strong>n! Tatsächlich ist die pädagogische Arbeit umso<br />
wichtiger, je mehr Gestaltungsräume bestehen – <strong>und</strong> das ist <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Fall, je jünger die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> sind. Das be<strong>de</strong>utet, dass Ansehen <strong>und</strong><br />
auch Bezahlung dort am höchsten sein sollten, wo die <strong>pädagogischen</strong><br />
Ein ussnahmen <strong>und</strong> damit die Verantwortung am größten<br />
sind. In unserer Gesellscha ist es jedoch umgekehrt. Je mehr die<br />
anspruchsvolle Wissensvermittlung in <strong>de</strong>n Vor<strong><strong>de</strong>r</strong>gr<strong>und</strong> tritt, je<br />
höher das Ansehen <strong>und</strong> je besser die Bezahlung. Trotz aller Widrigkeiten<br />
ist die Berufsgruppe <strong><strong>de</strong>r</strong> Erzieher <strong>und</strong> Erzieherinnen ein<br />
sehr an Fort- <strong>und</strong> Weiterbildung interessiertes <strong>und</strong> motiviertes<br />
Klientel, so dass die vielfältigen Angebote auf sehr fruchtbaren<br />
Bo<strong>de</strong>n fallen. Aber natürlich muss die Ausbildung gr<strong>und</strong>legend<br />
reformiert wer<strong>de</strong>n – aber das ist ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>es ema!<br />
Zunehmend wird in diesem Zusammenhang erkannt, dass die<br />
Einstellungen <strong>und</strong> Vorstellungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Erzieherinnen, ebenso wie<br />
die elterlichen eorien, Teil <strong>de</strong>s kulturellen Milieus sind, in <strong>de</strong>m<br />
Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> aufwachsen. Wir haben schon einige Beispiele von Einstel-<br />
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Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>garten <strong>und</strong> Vorschule
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Kapitel 18 • <strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Orientierungspläne</strong> <strong>und</strong> <strong>pädagogischen</strong> Leitlinien<br />
. Abb. 18.2 Klassenraum einer Vorschule in Kikaikelaki, Kamerun (Foto: Hiltrud Otto)<br />
Ethnotheorien von<br />
Erzieherinnen<br />
lungen <strong>de</strong>utscher Erzieherinnen diskutiert. Schauen wir noch einmal<br />
vergleichend auf diese ematik aus <strong><strong>de</strong>r</strong> an psychologischer<br />
Autonomie orientierten Sicht <strong><strong>de</strong>r</strong> westlichen Mittelschicht <strong>und</strong><br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> hierarchisch relationalen Perspektive von Nso-Vorschullehrerinnen.<br />
<strong>Die</strong> Nso-Vorschullehrerinnen (nursery school teacher)<br />
haben eine 9-monatige bis 3-jährige Ausbildung, je nach Vorbildung,<br />
die – trotz vieler Kritik von einheimischen Experten daran<br />
– stark an westlichen Mo<strong>de</strong>llen ausgerichtet ist. So lernen sie die<br />
Psychologie Piagets <strong>und</strong> die Bedürfnishierarchie von Maslow –<br />
<strong>de</strong>nnoch sind ihre Erziehungsvorstellungen an <strong><strong>de</strong>r</strong> Lebenswirklichkeit<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Nso-Gemeinscha orientiert. Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>gärten in <strong>de</strong>m<br />
bei uns üblichen Sinne gibt es nicht, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n nach Jahrgängen<br />
organisierten (Vorschul-)Unterricht ( . Abb. 18.2 ).<br />
In einer Untersuchung von Erziehungstheorien bei <strong>de</strong>utschen<br />
Erzieher/innen <strong>und</strong> Nso- Vorschullehrern <strong>und</strong> Vorschullehrerinnen<br />
haben wir die folgen<strong>de</strong>n Unterschie<strong>de</strong> gef<strong>und</strong>en ( . Abb. 18.3 ).<br />
Zunächst einmal wird bestätigt, dass die <strong>de</strong>utschen Erzieherinnen<br />
großen Wert auf die Entwicklung von Autonomie bei ihren<br />
Schützlingen legen, während das für die Nso-Vorschullehrerinnen<br />
praktisch keine Rolle spielt. Bei<strong>de</strong> Gruppen n<strong>de</strong>n auch soziale<br />
Fähigkeiten wichtig, die <strong>de</strong>utschen Erzieherinnen sogar <strong>de</strong>utlich
<strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Orientierungspläne</strong> <strong>und</strong> <strong>pädagogischen</strong> Leitlinien<br />
35%<br />
30%<br />
25%<br />
20%<br />
15%<br />
10%<br />
5%<br />
0%<br />
Soziale Fähigkeiten<br />
Wert-/Normorientierung<br />
Autonomie<br />
Wissensvermittlung<br />
Sprachliche Fähigkeiten<br />
. Abb. 18.3 Erziehungstheorien von <strong>de</strong>utschen Erzieherinnen <strong>und</strong> Nso-Vorschullehrerinnen<br />
mehr als die kamerunischen. Allerdings sind hier die Perspektiven<br />
sehr unterschiedlich. Während es <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Erzieherinnen<br />
um Regulationen zwischen selbstständigen <strong>und</strong> unabhängigen<br />
Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n geht, geht es <strong>de</strong>n Kamerunerinnen um die Einglie<strong><strong>de</strong>r</strong>ung<br />
<strong>und</strong> kollektive Verantwortlichkeit. Ansonsten wird <strong>de</strong>utlich, dass<br />
die kamerunischen Erzieherinnen ihre Aufgabe primär in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Wissensvermittlung <strong>und</strong> Anleitung sehen, was für <strong>de</strong>n Alltag <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
<strong>de</strong>utschen Erzieherinnen weniger be<strong>de</strong>utsam scheint.<br />
Entsprechend unterschiedlich ist auch die Sicht auf pädagogische<br />
Maßnahmen. Deutsche Erzieherinnen <strong>und</strong> Nso-Vorschullehrerinnen<br />
haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was man<br />
unter Bestrafung versteht. <strong>Die</strong> <strong>de</strong>utschen Erzieherinnen legen sehr<br />
viel Wert darauf, dass die Maßnahmen für das betro ene Kind<br />
nachvollziehbar sind – das spielt für die Nso-Lehrerinnen kaum<br />
eine Rolle, ganz nach <strong>de</strong>m Motto <strong><strong>de</strong>r</strong> Mütter: Schließlich wissen<br />
die Erwachsenen, was gut für die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> ist. <strong>Die</strong> Nso-Erzieherinnen<br />
arbeiten mit Schamgefühlen, die Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> vor <strong><strong>de</strong>r</strong> Gruppe<br />
bloßstellen, was für <strong>de</strong>utsche Erzieherinnen natürlich ein völliges<br />
Tabu ist. Kennt man jedoch die sozialisatorische Vorgeschichte,<br />
wie wir sie beschrieben haben, ist dies nicht abwegig, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />
eine schlüssige Konsequenz eines allgemeinen Erziehungsklimas.<br />
So sind auch die Grün<strong>de</strong> für Bestrafungen sehr verschie<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong><br />
kamerunischen Lehrerinnen nennen als Hauptmotiv die antizipierte<br />
Bestrafungswirkung, d. h. sie nennen Grün<strong>de</strong> wie »<strong>de</strong>n<br />
Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n helfen, richtig <strong>und</strong> falsch zu unterschei<strong>de</strong>n lernen« o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
sie zu »korrigieren, damit sie <strong>de</strong>n gleichen Fehler in Zukun nicht<br />
mehr machen«. Für die <strong>de</strong>utschen Erzieherinnen sind es Regelverstöße<br />
im weitesten Sinne. Natürlich be<strong>de</strong>utet dies nun nicht,<br />
Kreativität<br />
Musische Bildung<br />
149<br />
Deutsche Erzieherinnen Nso-Vorschullehrerinnen<br />
Spielen<br />
18<br />
Ethnotheorien von<br />
Erzieherinnen
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150<br />
Kapitel 18 • <strong>Die</strong> <strong>Welt</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Orientierungspläne</strong> <strong>und</strong> <strong>pädagogischen</strong> Leitlinien<br />
Information – Akzeptanz –<br />
Interpretation<br />
dass sich <strong>de</strong>utsche Erzieherinnen wie Nso-Vorschullehrerinnen<br />
verhalten sollten <strong>und</strong> auch nicht, dass man mit Schambotscha en<br />
<strong>de</strong>n erzieherischen Alltag in <strong>de</strong>utschen Kitas gestalten sollte, um<br />
kulturell fair zu sein. Simple Übertragungen sind keine sinnvollen<br />
<strong>pädagogischen</strong> Maßnahmen, da sie ja dann aus <strong>de</strong>m Kontext<br />
gerissen sind. Das gilt aber für alle Richtungen. Ein Verständnis<br />
für unterschiedliche Vorstellungen zu entwickeln hil uns jedoch<br />
dabei, <strong>Welt</strong>sichten zu verstehen <strong>und</strong> Erfahrungshintergrün<strong>de</strong> für<br />
Verhalten kennenzulernen. Wie können unsere Einrichtungen zu<br />
einem Erfahrungs- <strong>und</strong> Lernort für alle Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> wer<strong>de</strong>n in Kooperationen<br />
mit allen Familien? Informationen über die kulturellen<br />
Mo<strong>de</strong>lle <strong>und</strong> ihre Implikationen für die Sichtweisen auf Entwicklung<br />
<strong>und</strong> Erziehung sind eine erste notwendige Voraussetzung,<br />
<strong>und</strong> zwar für alle Beteiligten. <strong>Die</strong> Kenntnis <strong><strong>de</strong>r</strong> relationalen <strong>Welt</strong>sicht<br />
ist für die <strong>pädagogischen</strong> Fachkrä e unabdingbar, die Kenntnis<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> autonomieorientierten Philosophie <strong>und</strong> ihrer Rolle für die<br />
ö entliche Erziehung <strong>und</strong> Bildung ist unabdingbar für die Familien,<br />
die diese Philosophie nicht von vorneherein teilen. Kenntnis<br />
alleine reicht aber nicht aus. Der nächste wichtige Schritt ist die<br />
Akzeptanz, d. h. die Einsicht, dass es nicht eine richtige Philosophie<br />
für alle geben kann, dass verschie<strong>de</strong>ne Sichtweisen ihre<br />
Berechtigung haben <strong>und</strong> vor allem, dass die Sichtweisen in ihrer<br />
Adaptivität an bestimmte Kontexte gleichwertig sind. <strong>Die</strong>se wohlwollen<strong>de</strong><br />
Akzeptanz ist eine notwendige pädagogische Haltung im<br />
multikulturellen Alltag .<br />
Nun hören wir o das Argument, die relationalen Sichtweisen<br />
seien ja schön <strong>und</strong> gut, aber nun wür<strong>de</strong>n die Familien mit<br />
<strong>de</strong>m relationalen Hintergr<strong>und</strong> ja in Deutschland leben <strong>und</strong> müssten<br />
sich hier anpassen. Das stimmt natürlich, aber das <strong>de</strong>utsche<br />
Erziehungs- <strong>und</strong> Bildungssystem muss sich auch an die durch<br />
die relationale Philosophie neuen Herausfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen anpassen.<br />
Man vergisst nur allzu häu g, dass Integration ein zweiseitiger<br />
Prozess ist! Es wird niemand behaupten wollen, dass das <strong>de</strong>utsche<br />
Erziehungs- <strong>und</strong> Bildungssystem optimal ist – die Probleme<br />
<strong>und</strong> Schwächen sind vielfältig dokumentiert. Das schlechte<br />
Abschnei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utscher Schüler an internationalen Vergleichsuntersuchungen<br />
<strong>und</strong> beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s auch die Schichtabhängigkeit <strong>de</strong>s<br />
Bildungserfolgs in Deutschland haben alarmierend gewirkt. In<br />
keinem an<strong><strong>de</strong>r</strong>en europäischen Land spielt die soziale Herkun ,<br />
das Elternhaus eine solche Rolle für <strong>de</strong>n Schulerfolg von Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />
wie in Deutschland. Nach <strong><strong>de</strong>r</strong> vorangegangenen Diskussion ist das<br />
nicht weiter verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>lich, da unser Bildungssystem auf genau<br />
das soziale Segment <strong><strong>de</strong>r</strong> Mittelschicht zugeschnitten ist. Im letzten<br />
Kapitel sollen nun Mo<strong>de</strong>lle diskutiert wer<strong>de</strong>n, die die Verbindung<br />
von Autonomie <strong>und</strong> Verb<strong>und</strong>enheit thematisieren.