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Clara Imort - Evangelische Kirche von Westfalen

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<strong>Clara</strong> <strong>Imort</strong> 22.11.2012<br />

Ein letztes Mal blicke ich zurück. Leise höre ich den Teich plätschern, meinen Baum im Wind<br />

rascheln, den Igel im Gebüsch rumoren. Friedliche Nachtstille. Und schaue auf das Haus, das<br />

ich die letzten 14 Jahre mein Zu Hause nennen durfte. So friedlich der Ort ist, den ich<br />

zurücklasse, so aufgewühlt ist mein Inneres.<br />

Im Auto rauscht im Dunkeln ein Lichtermeer an mir vorbei und die Tage und Nächte der<br />

vergangenen Woche machen es mir schwer, die Augen offen zu halten ‐ da hilft auch der<br />

obligatorische Halt im McDrive nichts. Auch am Flughafen organisiere ich alles eher wie<br />

automatisch und als ich schließlich und endlich nach wochenlangen Vorbereitungen und<br />

Abschieden durch die Kontrollschranken gehe, mich in meinen Flugzeugsitz fallen lasse und<br />

sich die schwere Maschine in die Lüfte erhebt, fallen all die Sorgen und Lasten der letzten<br />

Zeit <strong>von</strong> mir ab und statt der erwarteten Aufregung und Euphorie gewinnt die Müdigkeit und<br />

mit ihr der langersehnte Schlaf die Überhand. So habe ich <strong>von</strong> dem Flug und dem<br />

Zwischenstopp in Amsterdam, sowie der immensen Auswahl an Filmen, Musik und<br />

Computerspielen, die mich schon auf ihre Art gereizt hätten, nur durch die freundlichen aber<br />

bestimmten Nahrungsaufnahmeweckungen der Stewardessen am Rande etwas<br />

mitbekommen.<br />

1 Jahr Argentinien. Ein Mount Everest an Erwartungen, Hoffnungen, Ängsten, Zielen und<br />

Vorfreuden lag vor mir und natürlich wurde im Kopfkino eine ganze Reihe möglicher<br />

Verläufe des Jahres durchgegangen und Tagträumen <strong>von</strong> <strong>Clara</strong>, der Profi‐Tangotänzerin und<br />

Gourmet‐Steakzubereiterin hinterher gehangen. Über vieles was mich erwarten würde,<br />

hatte ich durch Berichte eine ungefähre Ahnung, wie jetzt genau alles aussehen würde ‐ im<br />

Nachhinein muss ich sagen: ich hatte keinen blassen Schimmer.<br />

Der Unterschied <strong>von</strong> Hemmerde, der ultimativen Perle der Natur, zu der 14 Millionenstadt<br />

Buenos Aires wurde schon direkt auf den ersten Blick mehr als deutlich. Und ich muss sagen,<br />

ich bin jeden Tag aufs Neue glücklich nicht in der Hauptstadt, sondern im wunderschönen<br />

Mar del Plata, etwa 400km südlich <strong>von</strong> Buenos Aires, leben zu dürfen. Nach dem 2 wöchigen<br />

Vorbereitungsseminar plus Sprachkurs, waren wir vorsichtig auf die ersten argentinischen<br />

Lebensweisen und Eigenarten vorbereitet worden und ich um einige Erfahrungen, wie z.B.<br />

dem ganz eigenen Fahrstil der Busfahrer, hoffnungslos überschwemmten Straßen, die an<br />

reißende Flüsse erinnern, den Grillfesten mit beeindruckenden Mengen an Fleisch, Asado<br />

genannt, halb gescheiterten Orientierungsversuchen in der Großstadt und vor allem<br />

Bekanntschaften vieler wunderbarer Menschen, die ähnliche Ziele vor Augen haben wie man<br />

selber, reicher geworden. Als ich dann endlich mit meinen beiden Mitbewohnerinnen Aglaja<br />

und Pauline im unwahrscheinlich gemütlichen Bus nach Mar del Plata saß, waren wir alle<br />

gespannt auf das, was uns erwarten würde.


Endlich angekommen, wurden wir <strong>von</strong> einem ganzen Empfangskomitee herzlich<br />

aufgenommen. Mit drei Mädels und Gepäck für 1 Jahr kommt man schon auf eine<br />

beachtliche Summe an Gewicht und so brauchte es ganze drei argentinische Männer, um die<br />

Koffer und Rucksäcke vom Terminal in die Autos zu verfrachten. In unserer neuen Wohnung<br />

warteten dann nochmal 3 weitere liebe Menschen auf uns, die uns mit Pizza, Süßigkeiten<br />

und warmen Umarmungen begrüßten. Besonders meine Projektleiterin Claudia kam mit so<br />

viel Herzlichkeit auf mich zu, dass ich sofort das Gefühl bekam, willkommen zu sein und nicht<br />

den Eindruck einer Chefin, sondern vielmehr einer liebevollen Mama vermittelt bekam. Die<br />

Leute, die sich hier um uns kümmern, sind irgendwie alle miteinander verwandt und stellen<br />

die gesamte Gemeinde dar. Dadurch fühlen wir uns wie in eine große Familie aufgenommen<br />

worden zu sein, und sind bei Familienfesten, Sonntagsausflügen oder <strong>Kirche</strong>nbandproben<br />

immer dabei, was vor allem den Einstieg leicht gemacht hat. Und auch heute ist es noch so,<br />

dass wenn jemand <strong>von</strong> uns krank ist, sofort ein Ansturm <strong>von</strong> besorgten Anrufen und Smsen<br />

zu beantworten ist und nicht selten persönlich jemand vor der Tür steht, um Medikamente,<br />

hauseigene Kurier‐Tipps oder einfach nur eine Gute‐Besserungs‐Umarmung vorbei zu<br />

bringen.<br />

Da die Gemeindemitglieder wie schon gesagt alle in einer verwandtschaftlichen Beziehung<br />

zueinander stehen, ist die Atmosphäre in den sonntäglichen Gottesdiensten sehr familiär. Es<br />

wird viel gesungen und das mit Elan und Emotion, stehend und klatschend, stets begleitet<br />

<strong>von</strong> einer <strong>Kirche</strong>nband, die aus dem Gemeindevorstand Horacio und der jüngeren<br />

Generation besteht. Die <strong>Kirche</strong>nbänke sind verrückbar und wenn es einmal auf Grund <strong>von</strong><br />

starkem Regen oder Busstreiks nur wenige Menschen in den Gottesdienst schaffen, wird<br />

kurzerhand ein „Stuhlkreis“ einberufen und der Gottesdienst <strong>von</strong> Angesicht zu Angesicht<br />

gefeiert. Eingebunden wird jeder der mag. Als fester Teil eines jeden Gottesdienstes ist zum<br />

Beispiel auch das Mitteilen <strong>von</strong> Sorgen, persönlichen Ängsten und gemeinsamen Gebeten<br />

für Familie, Freunde und Bekannte, denen es im Moment nicht so gut geht. Also alles sehr<br />

persönlich und individuell. In der <strong>Kirche</strong> selbst befinden sich auch einige meiner Projekte,<br />

wie der „Ropero“ und der „Club de Niños“ und so sehe meine Arbeitskollegen nicht nur bei<br />

der Arbeit, sondern auch viel privat.<br />

In Mar del Plata habe ich mich längst verliebt, wofür natürlich zum größten Teil die<br />

Menschen, aber auch die Möglichkeit, nach der Arbeit einen Moment Ruhe am Meer zu<br />

finden, die Parks, das Großstädtische, aber dennoch nicht Überlaufene, das Orchester, in<br />

dem wir spielen und schon einige Konzerte mit überraschendem Radio‐ und Fernsehauftritt<br />

feiern durften, natürlich ganz besonders unsere Projekte und die argentinische „onda“<br />

verantwortlich sind. Um diese argentinische „onda“ ein wenig zu beschreiben, hier ein<br />

kleines Beispiel.<br />

In unserer zweiten Nacht, waren wir <strong>von</strong> den Erlebnissen des Tages so geschafft, dass wir<br />

schon halb in unseren Betten lagen, als es plötzlich an der Tür klingelte. Vor unserem<br />

Wohnungsgitter hatten sich fünf argentinische Männer versammelt, die allesamt fröhlich<br />

behaupteten aus dem Orchester zu stammen, Wein mitgebracht zu haben und die neuen


deutschen Freiwilligen empfangen zu wollen. Nach kurzer Beratung, bei der deutlich wurde,<br />

dass das Gesicht des Dirigenten durch Facebook irgendwie bekannt wäre, luden wir sie<br />

kurzerhand in unsere Wohnung ein, wo sich schon bald der ultimativ argentinische<br />

Klischeeabend abspielen sollte. Nach einem Gläschen Rotwein, wurden auch schon die<br />

Geigen ausgepackt und mit viel Gefühl Tango gespielt und wir durften unsere erste<br />

Tangotanzstunde genießen und im Anschluss einigen spontan vorgetragenen italienischen<br />

Arien lauschen. Nach kurzer schneller spanischer Absprache, <strong>von</strong> der wir kaum etwas<br />

verstanden, zwängten sich 8 Menschen in ein kleines verbeultes Auto und los ging die Fahrt<br />

durch die Nacht, direkt zum Hafen. Bei jedem Huckel in der Straße gab das Gefährt<br />

herzzerreissende Geräusche <strong>von</strong> sich, wo<strong>von</strong> sich jedoch keiner stören ließ und das<br />

unheilvolle Schrappen konsequent mit einem Vivaldi‐Pfeif‐Konzert übertönt wurde. Als<br />

kleine Extraüberraschung fanden wir uns nun nur einen Meter vor etwa 200<br />

Seelöwenmännchen, den Wahrzeichen Mar del Platas, mit dem Hintergrund einer<br />

erleuchteten Skyline wieder. Nur ein Maschendrahtzaun und der intensive Geruch trennten<br />

uns <strong>von</strong> der Möglichkeit sie zu streicheln. Das, als unser erster Eindruck der Stadt: Magisch!<br />

Ein Thema für sich, was durch die Herzlichkeit der Menschen in unserem Umfeld auf jeden<br />

Fall wettgemacht wird, ist unsere Wohnung. Mit der Zeit nimmt man alles mit Humor und so<br />

wurde das Loch in der Decke, aus dem es bei Regen überraschend gelbes Wasser auf unser<br />

Kopfkissen tropfte, mit einer Plastiktüte und Gaffa‐Tape „fancygefixt“ (dabei konnten wir<br />

beobachten, dass Gaffa‐Tape anscheinend nur bis zu einem gewissen Gewicht unzerstörbar<br />

bleibt, eines Tages machte es: Platsch!), unser Bad ist besonders speziell, zeitweise löste sich<br />

nach dem Duschen im Treppenhaus unter unserer Wohnung durch den spontan<br />

entstandenen Wasserfall der Putz <strong>von</strong> der Decke und auch 2 Stockwerke unter uns, bildete<br />

sich eine kleine Pfützenlandschaft (zur gleichen Zeit konnte man sich in unserem Bad über<br />

ein kleines Schwimmbecken freuen), unser Gasherd gibt so wütende Geräusche <strong>von</strong> sich,<br />

dass man sich durch das Wohnzimmer hindurch anschreien muss, um sich zu verständigen,<br />

jetzt im Sommer wird auch bei geschlossenen Fenstern gut gelüftet, weil die Tür zur<br />

Dachterrasse immer einen daumenbreiten Spalt offen lässt, ins Fitnessstudio nebenan<br />

müssen wir nie direkt gehen, weil die mittelisolierte Wand so gut den Beat durchlässt, dass<br />

Aerobictraining problemlos im Wohnzimmer möglich ist und anklingeln tut man seit<br />

Neustem durch lang anhaltendes Klatschen und Rufen vor dem Gitter unseres<br />

Treppeneingangs. Das nur als Ausschnitt unserer Wohnsituation. Unsere WG hat dadurch<br />

schon lustige Abende verbracht und einiges an langanhaltendem Lachen gewonnen.<br />

Mit meinen beiden Mitbewohnerinnen verstehe ich mich generell super. Besonders am<br />

Anfang waren wir froh uns gegenseitig zu haben, und Aktionen wie das Kennenlernen der<br />

Projekte, den Umgang mit der neuen Sprache oder das Zurechtfinden in unserer neuen<br />

Wohngegend, gemeinsam meistern zu können. Begegnet sind uns dabei unwahrscheinlich<br />

offene und interessierte Menschen und anders als vorher erwartet war unser Problem nicht,<br />

argentinischen Anschluss zu finden, sondern vielmehr gegenteilig, den ganzen Einladungen<br />

nach zu kommen! So haben wir nun unterschiedliche Freundeskreise gefunden und auch<br />

unser anfängliches Problem weibliche Argentinier kennen zu lernen, hat sich nun gelöst


(zwar sind mir unsere männlichen Freunde durch Wochenendausflüge auf Campingplätze,<br />

BMX‐Tourniere oder Konzertproben auch sehr ans Herz gewachsen, aber auf Dauer wünscht<br />

man sich doch auch weibliche Gesellschaft!). Seit ein paar Wochen verbringen wir daher<br />

große Teile unserer Freizeit mit einigen absolut wunderbaren argentinischen und<br />

kolumbianischen Mädels, mit denen wir Kochabende verbringen, auf Büchertrödelmärkte<br />

gehen oder Konzerte besuchen und ich muss sagen: richtige Mädelsabende haben mir<br />

wirklich gefehlt!<br />

Nun aber zu dem wirklich Interessantem: den Projekten.<br />

Ich bin in mehreren verschiedenen Projekten beschäftigt, die sich über die Woche verteilen.<br />

Zwei Vormittage arbeite ich in einer Armenküche, Comedor genannt, zwei Mal die Woche in<br />

einer Kleiderstube mit „Großmütterchen“ und jeden Tag der Woche nachmittags in einem<br />

Kinderhort. Hier ein kleiner Einblick in meinen Arbeitsalltag.<br />

8 Uhr morgens, mein erster Arbeitstag im Comedor, ich völlig motiviert und gespannt auf die<br />

Frauen aus dem Barrio (barrio = Viertel, der Ausdruck wird hier vor allem für ärmere<br />

Stadtteile verwendet). Das bunte Gitter zu der Großküche steht offen und schon <strong>von</strong> weitem<br />

hört man fröhliches Geklapper und Gelächter. In der Küche blicke ich in die neugierigen<br />

Gesichter <strong>von</strong> 6 Frauen, die anscheinend alle Maria heißen und finde mich kurze Zeit später<br />

vor einem imposanten Berg <strong>von</strong> 80kg Hackfleisch wieder, den ich mit gefühlten 1000<br />

Zwiebeln und Eiern mit den Händen vermengen und danach zu Albondigas, also<br />

Hackbällchen, rollen darf. Damit war ich dann den Rest des Vormittags beschäftigt, denn so<br />

eine große Menge an Essen braucht es schon, um die 500 Menschen aus dem Viertel zu<br />

versorgen, die jeden Tag mit ihren Tupperwaren und Plastiktüten Schlange stehen, um die<br />

häufig einzige Mahlzeit des Tages für ihre Familien abzuholen. Mittlerweile kann mich ein<br />

Berg an rohem Fleisch nicht mehr einschüchtern und da ich seit neustem auch eine Schürze<br />

und Haube für die Haare habe, muss ich den restlichen Tag auch nicht mehr als wandelndes<br />

Hackbällchen durch die Gegend laufen. Auch die Sprache wird mit jedem Tag ein kleineres<br />

Problem. Zu Anfang konnte ich bei den schnellen Gesprächen und der Umgangssprache der<br />

Frauen nur schwer unterscheiden, ob sie sich grade stritten oder Scherze machten und statt<br />

dem geforderten Topflappen, kam es vor, dass ich erst Suppenkelle, Backblech oder<br />

Kräutermischung anreichte, bis aus Zufall das richtige dabei war. Ich muss zugeben, zu<br />

Anfang ist mir der Einstieg in dieses Projekt etwas schwerer gefallen, da ich manchmal nicht<br />

wusste wie ich helfen konnte und mich auch in die Gespräche der Frauen nur mit Mühe<br />

einklinken konnte. Doch nach fast 3 Monaten, werde ich <strong>von</strong> den Leuten aus dem Barrio<br />

herzlich mit „Hola Clarita, mi amor!“ begrüßt, wenn ich Brot und Obst verteile, die Lieder aus<br />

dem kleinen mehlbestäubten Radio kenne ich mittlerweile so gut, dass ich bei den<br />

entscheidenden Hits mit den Frauen mitsingen und tanzen kann und vor ein paar Wochen<br />

habe ich bei einer der Frauen aus der Küche einen Nachmittag verbracht, was für mich ein<br />

ganz besonderes Erlebnis war. An diesem Nachmittag konnte ich das Leben in Argentinien<br />

aus einer etwas anderen Perspektive erleben und habe so viel Herzlichkeit empfangen, dass<br />

ich es kaum erwarten kann Yolanda und ihrer großen Familie einen weiteren Besuch


abzustatten und ihren Geschichten über das Leben im Barrio und die harte Arbeit, die sie<br />

jeden Tag leistet, um ihre Familie zu versorgen, zu lauschen.<br />

Mein 2. Projekt, der Ropero, liegt mir auch ganz besonders am Herzen. Hier arbeite ich mit 2<br />

Abuelas (also Omis) zusammen: Chola und Carmen. Mit den beiden verkaufe ich hier<br />

Second‐Hand Kleidung an die Leute aus dem Viertel für einen sehr kleinen Preis,<br />

zerschnippel mit viel Elan Schaumstoff‐Matratzen, die wir im Müll finden um damit Kissen zu<br />

stopfen und trinke vor allem viel Mate und quatsche mit den Abuelas und den Leuten, die in<br />

den Klamotten nach etwas Brauchbarem stöbern. Für alle, denen „Mate“ nicht viel sagt, es<br />

ist DAS Getränk Argentiniens und wird quasi zu jeder Gelegenheit getrunken, vor allem<br />

gerne in Gesellschaft. Grüner Tee‐artige Hierbas (also Kräuter) werden in ein kleines Gefäß<br />

gefüllt und der heiße Wasseraufguss mit einem Metallstrohhalm getrunken, dabei teilen sich<br />

alle Beteiligten den gleichen Strohhalm!<br />

Mein Herz gehört jedoch meinem Hauptprojekt, dem „Club de Niños“, ein Kinderhort, in den<br />

ich jeden Nachmittag gehe. Dorthin kommen 10‐20 Kinder <strong>von</strong> 6‐13 Jahren, je nachdem, ob<br />

es regnet oder die Schule mal wieder durch Lehrerstreiks oder einfaches Nichterscheinen<br />

der Lehrer ausgefallen ist, kann man mit mehr oder weniger Kindern rechnen. Zusätzlich zu<br />

dem Hauptteam, das jeden Tag anwesend ist, also Claudia meiner Chefin, Monica, der lieben<br />

Abuela, die die Kinder zur Merienda (eine Art Kaffetrinken) mit süßem Tee und Plätzchen<br />

und mich mit weiteren Mates versorgt, und mir, kommen zweimal die Woche eine<br />

Psychologin, eine Sozialarbeiterin und jeden Tag verschiedene Profes, die mit den Kindern<br />

Englisch Unterricht machen, basteln, Apoyo escolar (also Nachhilfe) oder Sport und Toben<br />

veranstalten.<br />

Schon ab meinem allerersten Tag in diesem Projekt, habe ich mich rundum wohl gefühlt und<br />

mittlerweile sind mir die Kinder so ans Herz gewachsen, dass ich mir gar nicht mehr<br />

vorstellen kann, sie einmal wieder verlassen zu müssen.<br />

An meinem ersten Tag wurde ich mit selbstgebastelten Willkommens‐Plakaten, aufgeregten<br />

Jubelschreien, nassen Kinderküssen und vor allem einer selbst einstudierten Hip Hop Choreo<br />

der Jungs begrüßt, die extra einen wirklich beeindruckenden Tanz einstudiert hatten. Als<br />

dann die Sechsjährigen plötzlich anfingen Kopfkreisel zu machen und zu beatboxen, ist mir<br />

natürlich erst mal die Kinnlade heruntergeklappt. Zusätzlich zu der selbstgemalten Bilderflut,<br />

mit der ich mittlerweile meine Wohnung tapezieren kann, kommen jetzt im Frühjahr tägliche<br />

kleine Blumensträuße dazu – ich will gar nicht wissen, wie die Vorgärten der Nachbarschaft<br />

aussehen!<br />

Meine eigene Aufgabe im Kinderclub ist noch nicht vollständig ausgereift. Ursprünglich sollte<br />

ich den Kindern Geigen und Theater‐Unterricht geben, auf Grund einiger finanzieller<br />

Probleme und dem damit verbundenem Mangel an Instrumenten sieht es aber noch so aus,<br />

dass ich eher die Spiele‐ und Kuschelmama bin, Hausaufgabenbetreuung mache, Tränen<br />

trockne, zu jeder Zeit als Caballito (also Pferdchen) gefeiert werde und bei Ausfall des<br />

Englisch‐Profe Vertretungsunterricht an den altertümlichen Computern gebe. Daher suche


ich mir immer mal wieder kleinere Aktionen, die ich mit den Kindern machen kann. So wurde<br />

„Kommando Pimperlin“ längst auch hier als Lieblingsspiel anerkannt, Halli‐Galli, was ich aus<br />

Deutschland mitgebracht hatte, gelingt immer besser ohne hysterische Schreianfälle und<br />

Klingel‐Eskalation und die Wände des Außenhofes werden immer bunter mit Kreide‐Graffitis<br />

verschönert.<br />

Um mal einen etwas anderen Tag zu gestalten, habe ich den 31. Oktober zum Anlass<br />

genommen, ein Gespenster‐Grusel‐Fest zu feiern. Das erste Mal Kürbis Gesichter schnitzen,<br />

Gespenstertänze tanzen, Klopapiermumien‐Wetteinwickeln, mit verbundenen Augen<br />

glibberige Innereien in der Gruselkiste als geschälte Tomaten, Wackelpudding und zerkochte<br />

Spaghetti identifizieren. Es war super zu sehen, wie friedlich und begeistert die Kinder<br />

mitgemacht haben, und wie groß das Interesse an dem Leben und Bräuchen in Deutschland<br />

ist. Meine nächste geplante größere Aktion, ist ein Adventskalender, mit täglichen kleinen<br />

Spiele‐Überraschungen, Geschichten und Bastelaktionen, denn ein so intensives Warten und<br />

Freuen auf Weihnachten wie in Deutschland, ist hier nicht bekannt.<br />

Natürlich ist nicht immer alles fröhlich und heiter. Nach und nach lerne ich auch die Familien<br />

Geschichten der Kinder und ihren Alltag außerhalb des Kinderclubs kennen. Wenn einem<br />

erzählt wird, wie das Kind mit dem man gerade gemalt hat, mit einem drogenabhängigen<br />

Vater und dessen Amigos zusammen lebt, und oft nicht zur Schule gehen kann, weil es<br />

gezwungen wird, im Müll nach verkaufbaren Gegenständen zu suchen, jetzt <strong>von</strong> der Polizei<br />

zu seiner vor Jahren verschwundenen Mutter gebracht wird, die allerdings mittlerweile mit<br />

einem Kinderschänder zusammen lebt (also der Versuch einer Verbesserung der<br />

Lebenssituation offensichtlich gescheitert ist) oder ein winziges Mädchen nicht selten mit<br />

einer blauen Gesichtshälfte in den Hort kommt oder es ziemlich sicher ist, dass die beiden<br />

Brüder, die im Hort die Schimpfwörterkönige sind, seit Jahren sexuell misshandelt werden,<br />

blicke ich auf die tobende Menge an schreienden Kindern und muss mich vor Wut und<br />

Traurigkeit über die Hilflosigkeit anstrengen, nicht zu weinen. Denn hilflos fühle ich mich in<br />

dieser ausweglosen Situation allemal. Das einzige, was man den Kindern geben kann, sind<br />

ein paar Stunden an einem sicheren Ort, an dem sie so gut es geht gefördert werden, sie<br />

Liebe finden und ihnen ein Weg gezeigt wird, es später einmal anders zu machen als ihre<br />

Eltern.<br />

So viel Selbstständigkeit hier auch erfordert ist, besonders am Anfang haben wir uns alle<br />

selbst mehr als unwissende Kinder gefühlt. Man kommt an einen neuen Ort, versteht die<br />

Menschen in der Umgebung nicht, muss die alltäglichsten Dinge neu entdecken (der erste<br />

Versuch den Gasofen zu bedienen kostete uns ganze 20 Minuten, das Endergebnis waren<br />

unzählige verkohlte Streichhölzer, ein penetranter Gasgeruch in der Wohnung und drei<br />

schwarze Käsebaguettes) und lernen, unter anderen Bedingungen zu leben. Ich empfinde all<br />

diese Entdeckungen als ein großes Abenteuer und bin gespannt auf jeden weiteren Tag, der<br />

folgt. Und auch, wenn nicht immer alles glatt läuft, so ist das Fazit doch stets ein positives.<br />

Je länger ich hier bin, desto mehr nimmt meine anfängliche Zerrissenheit zwischen<br />

Deutschland und Argentinien, meinem Leben dort und hier, der Schritt vom Kind zum


Erwachsenen, ab. Mit jedem Tag komme ich mehr an, fühle mich wohl, fühle mich immer<br />

mehr wie zu Hause. Keinen Moment habe ich bisher gehofft, das Jahr möge schneller vorbei<br />

gehen. Und diese Tatsache allein, sehe ich doch schon mal als ein gutes Zeichen.

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