Atem und Artikulation beim Singen - Evta.ch
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Avis officiel de l’Association des Professeurs de Chant de Suisse<br />
September 1999 Nr. 44<br />
<strong>Atem</strong> <strong>und</strong> <strong>Artikulation</strong> <strong>beim</strong> <strong>Singen</strong><br />
Ernst Waldemar Weber<br />
Na<strong>ch</strong>druck aus „Das APCS Bulletin“ Nr. 22, März 1994<br />
D<br />
er <strong>Atem</strong> ist immer beteiligt, wenn<br />
wir spre<strong>ch</strong>en oder singen: <strong>beim</strong><br />
Ausatmen erzeugt die Luft an bestimmten<br />
<strong>Artikulation</strong>sstellen S<strong>ch</strong>alls<strong>ch</strong>wingungen.<br />
Auf diese Weise ist jede<br />
Phonation eingebettet in den Rhythmus des<br />
natürli<strong>ch</strong>en <strong>Atem</strong>s.<br />
Für professionelles <strong>Singen</strong> wäre deshalb<br />
die Kenntnis der <strong>Atem</strong>vorgänge eine selbstverständli<strong>ch</strong>e<br />
<strong>und</strong> gr<strong>und</strong>legende Voraussetzung.<br />
Aber leider wissen viele Sängerinnen<br />
<strong>und</strong> Sänger darüber kaum Bes<strong>ch</strong>eid, <strong>und</strong> sogar<br />
Gesanglehrer haben oft vom <strong>Atem</strong> nur<br />
sehr vage – oder, was no<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>limmer ist,<br />
fals<strong>ch</strong>e Vorstellungen. Weit verbreitet ist<br />
beispielsweise die irrige Meinung, je mehr<br />
Luft man einatme, umso länger halte der<br />
<strong>Atem</strong>. Dabei wird ausser a<strong>ch</strong>t gelassen, dass<br />
au<strong>ch</strong> zuviel Luft zu <strong>Atem</strong>not führen kann.<br />
Viel wi<strong>ch</strong>tiger wäre der sparsame Gebrau<strong>ch</strong><br />
der Ausatemluft; aber das will gelernt sein.<br />
Unser Hauptatemmuskel:<br />
das Zwer<strong>ch</strong>fell<br />
Der natürli<strong>ch</strong>e automatis<strong>ch</strong>e <strong>Atem</strong>rhythmus<br />
läuft in drei Phasen ab: auf die Ausatmung<br />
folgt eine Pause, dann setzt unwiderstehli<strong>ch</strong><br />
die Einatmung ein, die dann ohne<br />
Übergang in die Ausatmung einmündet. Die<br />
Einatmung wird bewirkt dur<strong>ch</strong> unsern<br />
Haupt-<strong>Atem</strong>muskel, das Zwer<strong>ch</strong>fell. Dieses<br />
liegt, wie sein Name sagt, quer im Körper,<br />
zwis<strong>ch</strong>en dem Brustraum mit den Zirkulationsorganen<br />
Lunge <strong>und</strong> Herz <strong>und</strong> dem<br />
Bau<strong>ch</strong>raum mit den Verdauungs- <strong>und</strong> Fortpflanzungsorganen.<br />
Das Zwer<strong>ch</strong>fell ist aber<br />
im Unters<strong>ch</strong>ied etwa zum Brustfell ni<strong>ch</strong>t<br />
etwa ein Fell, eine Haut, sondern ein Muskel,<br />
<strong>und</strong> zwar sogar einer unserer stärksten<br />
<strong>und</strong> wi<strong>ch</strong>tigsten. Es ist am vorderen Rippenbogen<br />
angewa<strong>ch</strong>sen, wölbt si<strong>ch</strong> als eine Art<br />
Platte na<strong>ch</strong> hinten <strong>und</strong> senkt si<strong>ch</strong> entlang der<br />
Rückenmuskulatur gegen das Becken, wo<br />
es in zwei kräftigen S<strong>ch</strong>enkeln ausläuft <strong>und</strong><br />
dur<strong>ch</strong> dicke Sehnen verankert ist.<br />
Wenn si<strong>ch</strong> dieser Muskel spannt (wenn er<br />
tonisiert wird), dann wird er wie jeder andere<br />
Muskel kürzer <strong>und</strong> dicker. Seiner Form<br />
wegen senkt si<strong>ch</strong> die obere Begrenzung des<br />
Zwer<strong>ch</strong>fells (in der Grössenordnung von<br />
zwei Rippenabständen), die Lunge wird<br />
heruntergezogen, es entsteht in ihr ein Unterdruck,<br />
<strong>und</strong> die Luft strömt ein. (Glei<strong>ch</strong>zeitig<br />
sorgen die Zwis<strong>ch</strong>enrippenmuskeln<br />
<strong>und</strong> ein Teil der Rückenmuskeln für eine<br />
Weitung des Brustkorbes <strong>und</strong> der Flanken.<br />
Da diese Vorgänge mit der Aktivität des<br />
Zwer<strong>ch</strong>fells gekoppelt sind, spre<strong>ch</strong>e i<strong>ch</strong> im<br />
folgenden der Einfa<strong>ch</strong>heit halber immer nur<br />
vom Zwer<strong>ch</strong>fell.) Es ist wi<strong>ch</strong>tig zu wissen,<br />
dass das Zwer<strong>ch</strong>fell nur bei der Einatmung<br />
aktiv ist. Bei der Ausatmung ist es passiv<br />
<strong>und</strong> steigt dur<strong>ch</strong> die Elastizität der Bau<strong>ch</strong>organe<br />
<strong>und</strong> die Kraft der Bau<strong>ch</strong>- <strong>und</strong> Rückenmuskeln<br />
wieder auf.
2<br />
Haltung <strong>und</strong> Bewegung<br />
Auf zwei Zusammenhänge mö<strong>ch</strong>te i<strong>ch</strong> besonders<br />
hinweisen: Das Zwer<strong>ch</strong>fell ist mit<br />
seinen S<strong>ch</strong>enkeln verflo<strong>ch</strong>ten in die Haltemuskulatur<br />
des Rumpfes, <strong>und</strong> deshalb hat<br />
unsere Haltung au<strong>ch</strong> immer etwas mit dem<br />
Zwer<strong>ch</strong>fell zu tun. Eine gute, aufre<strong>ch</strong>te Haltung<br />
fällt uns lei<strong>ch</strong>ter mit einem gut trainierten<br />
Zwer<strong>ch</strong>fell. Andererseits wird die Atmung<br />
<strong>und</strong> die Spre<strong>ch</strong>- <strong>und</strong> Singleistung<br />
dur<strong>ch</strong> eine s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te Haltung (Hohlkreuz,<br />
Buckel, vorgestreckter Kopf, das heisst<br />
Knick im Nacken) stark beeinträ<strong>ch</strong>tigt: ein<br />
Hohlkreuz zwingt das Zwer<strong>ch</strong>fell dazu, gewissermassen<br />
«um die Ecke» zu greifen, der<br />
Buckel verringert den Brustraum, <strong>und</strong> der<br />
Nackenknick der Wirbelsäule drückt von<br />
hinten über die Speiseröhre auf die Luftröhre<br />
genau dort, wo auf ihr der Kehlkopf<br />
sitzt...<br />
Jede grössere Bewegung löst eine automatis<strong>ch</strong>e,<br />
unbewusste (<strong>und</strong> geräus<strong>ch</strong>lose)<br />
Einatmung aus. (Das kann man selber ausprobieren<br />
<strong>und</strong> erfahren, wenn man aufsteht<br />
<strong>und</strong> dabei ni<strong>ch</strong>t zulässt, dass die Luft einströmt.)<br />
Es ist au<strong>ch</strong> klar, warum es so sein<br />
muss: Jede Bewegung brau<strong>ch</strong>t Energie, <strong>und</strong><br />
diese wird aus der Verbrennung von Blutzucker<br />
gewonnen; dafür brau<strong>ch</strong>t es aber au<strong>ch</strong><br />
Sauerstoff, <strong>und</strong> dieser wird dur<strong>ch</strong> Senken<br />
des Zwer<strong>ch</strong>fells <strong>und</strong> die dadur<strong>ch</strong> ausgelöste<br />
Einatmung hereingeholt. Erstaunli<strong>ch</strong> ist<br />
nun, dass au<strong>ch</strong> kleine Bewegungen oder<br />
eine erhöhte Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Wa<strong>ch</strong>heit<br />
(wie bei einem si<strong>ch</strong>ernden, flu<strong>ch</strong>tbereiten<br />
Wild) sofort zu einer Inspiration führen.<br />
Die alte, von Bre<strong>ch</strong>t formulierte S<strong>ch</strong>auspielerregel:<br />
«Der Gestus soll dem Wort vorausgehen»<br />
wird von hier aus verständli<strong>ch</strong>. Dabei<br />
darf getrost au<strong>ch</strong> an die übertragene<br />
Bedeutung dieses Wortes geda<strong>ch</strong>t werden.<br />
Wer si<strong>ch</strong> einem Partner zuwendet, kann die<br />
Inspiration sogar no<strong>ch</strong> verstärkt erfahren,<br />
weil der Partner dadur<strong>ch</strong> selber inspiriert<br />
wird <strong>und</strong> die Zuwendung so zurückstrahlt.<br />
Wenn es mir als Sänger gelingt, mein Publikum<br />
dur<strong>ch</strong> meine Ausstrahlung «anzuzünden»,<br />
dann werde i<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> dauernd «inspiriert»<br />
dur<strong>ch</strong> das Publikum, <strong>und</strong> das<br />
heisst, dass mein Zwer<strong>ch</strong>fell au<strong>ch</strong> während<br />
des <strong>Singen</strong>s die Tendenz hat, si<strong>ch</strong> zu senken.<br />
Diese Wirkung ist von grosser Bedeutung.<br />
Die inspiratoris<strong>ch</strong>e Gegenspannung<br />
Das System «Lunge-Bron<strong>ch</strong>ien-Luftröhre<br />
mit aufgesetztem Kehlkopf» ist nirgends<br />
angewa<strong>ch</strong>sen: es ist am Kehlkopf<br />
na<strong>ch</strong> oben <strong>und</strong> unten «aufgehängt» an einem<br />
Netz von Muskeln <strong>und</strong> Sehnen. Wenn<br />
si<strong>ch</strong> nun das Zwer<strong>ch</strong>fell senkt <strong>und</strong> dadur<strong>ch</strong><br />
die Lunge herunterzieht, betrifft das au<strong>ch</strong><br />
die Luftröhre mit dem Kehlkopf. Dur<strong>ch</strong> diese<br />
Tiefstellung des Kehlkopfs wird der Nasen-Ra<strong>ch</strong>enraum<br />
– das sogenannte Ansatzrohr<br />
über den Stimmlippen – grösser <strong>und</strong><br />
weiter, <strong>und</strong> die Stimme tönt r<strong>und</strong>er <strong>und</strong> etwas<br />
dunkler. Das ist eine erfreuli<strong>ch</strong>e Nebenwirkung;<br />
aber no<strong>ch</strong> wi<strong>ch</strong>tiger ist die inspiratoris<strong>ch</strong>e<br />
Gegenspannung, die uns<br />
ermögli<strong>ch</strong>t, den Luftstrom zu dosieren.<br />
Wir wissen alle, dass der Ton umso s<strong>ch</strong>öner<br />
wird, je weniger Luft er brau<strong>ch</strong>t. Ebenso<br />
gut wissen wir, dass es ni<strong>ch</strong>ts taugt, die Kehle<br />
zuzus<strong>ch</strong>nüren, um die Luft zu bremsen.<br />
Um die Phonationsluft zu dosieren, gibt es<br />
nur ein Mittel: ein starkes, <strong>beim</strong> <strong>Singen</strong> auf<br />
Inspirationsspannung bleibendes <strong>und</strong> damit<br />
die Ausatemluft zügelndes Zwer<strong>ch</strong>fell. Genau<br />
das ist es nämli<strong>ch</strong>, was unter dem verwirrli<strong>ch</strong>en<br />
Begriff «Stützen» zu verstehen<br />
ist. Italienis<strong>ch</strong> heisst es ri<strong>ch</strong>tiger «Appoggio»,<br />
<strong>und</strong> appoggiare bedeutet «anlehnen»,<br />
an eine «innere Stuhllehne», wie das<br />
S<strong>ch</strong>laffhorst-Andersen genannt hat. Wenn<br />
wir «vom Rücken her» singen, dann ist der<br />
besonders starke Rückenteil des Zwer<strong>ch</strong>fells<br />
aktiv.<br />
Zwer<strong>ch</strong>felltraining
Wie aber gelangt man zu einem starken,<br />
gut trainierten Zwer<strong>ch</strong>fell? Zwar ist das<br />
Zwer<strong>ch</strong>fell ein quergestreifter Muskel, aber<br />
trotzdem ist es dem Willen ni<strong>ch</strong>t unterworfen<br />
wie etwa der Beuger des kleinen Fingers.<br />
Gesangspädagogen früherer Zeiten<br />
wählten den Weg über die Stärkung der im<br />
Berei<strong>ch</strong> des Zwer<strong>ch</strong>fells liegenden Bau<strong>ch</strong>-<br />
<strong>und</strong> Rückenmuskulatur. So habe i<strong>ch</strong> selber<br />
vor einigen Jahren im Fernsehen gesehen,<br />
wie Sami Mol<strong>ch</strong>o bei einem ehemaligen<br />
Heldenbariton der Wiener Staatsoper singen<br />
lernte: er musste zum <strong>Singen</strong> auf den<br />
Rücken liegen, <strong>und</strong> der Lehrer, ein kleiner,<br />
aber beleibter Mann, stellte si<strong>ch</strong> auf seinen<br />
Bau<strong>ch</strong>. Es mag sein, dass S<strong>ch</strong>üler, die bei<br />
sol<strong>ch</strong>en Bra<strong>ch</strong>ial-Methoden ni<strong>ch</strong>t zugr<strong>und</strong>e<br />
gehen, dann zu grossen Stimmen kommen.<br />
Aber mit Si<strong>ch</strong>erheit haben sie Mühe, piano<br />
zu singen, weil ihr Zwer<strong>ch</strong>fell zwar stark,<br />
aber überhaupt ni<strong>ch</strong>t flexibel ist, <strong>und</strong> mit<br />
grosser Si<strong>ch</strong>erheit geht ihre Karriere früh zu<br />
Ende. (Sie fangen dann an, zu unterri<strong>ch</strong>ten.)<br />
I<strong>ch</strong> kenne zwei bessere, einander ergänzende<br />
Wege: Den einen hat mir meine verehrte<br />
Lehrerin Hilde Langer-Rühl gewiesen:<br />
er führt über atemgymnastis<strong>ch</strong>e <strong>und</strong><br />
ausglei<strong>ch</strong>ende Haltungs-Übungen, besonders<br />
für die Lendenwirbelsäule, zur Arbeit<br />
am Rücken <strong>beim</strong> <strong>Singen</strong> im S<strong>ch</strong>winges<strong>ch</strong>lau<strong>ch</strong>.<br />
Der andere Weg führt über die <strong>Artikulation</strong>;<br />
ihn zu kennen verdanke i<strong>ch</strong><br />
Horst Coblenzer.<br />
S<strong>ch</strong>ule der <strong>Artikulation</strong><br />
I<strong>ch</strong> habe bereits davon gespro<strong>ch</strong>en, dass<br />
die Phonation an bestimmten Stellen erfolgt.<br />
An den <strong>Artikulation</strong>sstellen (1) Lippen,<br />
(2) Zähne, (3) Gaumen <strong>und</strong> (4) Stimmritze<br />
wird die Luft entweder gebremst,<br />
gestoppt <strong>und</strong> explosiv entlassen oder zum<br />
Klingen gebra<strong>ch</strong>t. So entstehen dur<strong>ch</strong><br />
Bremsung die Reibelaute f <strong>und</strong> w (1), s, s<strong>ch</strong>,<br />
l <strong>und</strong> r (2), die beiden <strong>ch</strong> (3) <strong>und</strong> das h (4),<br />
dur<strong>ch</strong> Stoppen <strong>und</strong> Lösen die Explosivlau-<br />
te b <strong>und</strong> p (1), d <strong>und</strong> t (2), g <strong>und</strong> k (3) <strong>und</strong> die<br />
Vokale (4), <strong>und</strong> s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> den Einsatz<br />
der Nase die Klinger m (1), n (2), ng (3)<br />
<strong>und</strong> die Nasale (4). Unter den Reibelauten<br />
gibt es die Halbklinger w (=stimmhaftes f),<br />
das stimmhafte s, das j (= stimmhaftes s<strong>ch</strong>),<br />
das l, das r <strong>und</strong> das Ra<strong>ch</strong>en-r (=stimmhaftes<br />
Ra<strong>ch</strong>en-<strong>ch</strong>). Das p ist ein aspiriertes b, das t<br />
ein aspiriertes d <strong>und</strong> das k ein aspiriertes g.<br />
Dur<strong>ch</strong> diese Übungen werden die einzelnen<br />
Konsonanten au<strong>ch</strong> im Blick auf ihre spätere<br />
Einbettung im Text geübt. Für Sänger ist es<br />
wi<strong>ch</strong>tig zu wissen, dass die Konsonanten<br />
der dritten <strong>Artikulation</strong>sstelle (mit Ausnahme<br />
des a-<strong>ch</strong>), also das g, das k, das ng <strong>und</strong><br />
das i-<strong>ch</strong>, dur<strong>ch</strong>aus weit vorne, sogar direkt<br />
hinter den Zähnen, artikuliert werden können.<br />
Das «Abspannen»<br />
In allen Fällen entsteht an der entspre<strong>ch</strong>enden<br />
Stelle ein Spannungszustand, die<br />
sogenannte <strong>Artikulation</strong>sspannung, bei deren<br />
Lösung (wenn sie ras<strong>ch</strong> erfolgt) das<br />
Zwer<strong>ch</strong>fell blitzartig tonisiert wird. Wenn<br />
i<strong>ch</strong> also eine Reihe von «s<strong>ch</strong>» spre<strong>ch</strong>e <strong>und</strong><br />
jedesmal abrupt abbre<strong>ch</strong>e, s<strong>ch</strong>nellt mein<br />
Zwer<strong>ch</strong>fell jedesmal abwärts <strong>und</strong> bewirkt<br />
so die ras<strong>ch</strong>e Ergänzung der verbrau<strong>ch</strong>ten<br />
Luft. Das könnte i<strong>ch</strong> st<strong>und</strong>enlang fortsetzen,<br />
ohne je «atmen» zu müssen, weil die<br />
Luftergänzung automatis<strong>ch</strong>, absolut ohne<br />
mein Zutun <strong>und</strong> deshalb mühelos (<strong>und</strong> zudem<br />
völlig geräus<strong>ch</strong>los) erfolgt. Coblenzer<br />
nennt diesen Vorgang «Abspannen», wobei<br />
klar sein muss, dass damit kein «relaxing»<br />
gemeint ist; «Spannlösen» wäre viellei<strong>ch</strong>t<br />
der bessere Ausdruck. Irgendwie ist es ja paradox:<br />
das plötzli<strong>ch</strong>e Loslassen der <strong>Artikulation</strong>spannung<br />
hat ein intensives Spannen<br />
des Zwer<strong>ch</strong>fells zur Folge.<br />
Bei einem trainierten Zwer<strong>ch</strong>fell läuft dieser<br />
Reflex in hö<strong>ch</strong>stens einer Fünftelsek<strong>und</strong>e<br />
ab, <strong>und</strong> er kann au<strong>ch</strong> bei allen andern<br />
Konsonanten <strong>und</strong> bei den Vokalen erlernt<br />
3
4<br />
werden. Das lasse i<strong>ch</strong> systematis<strong>ch</strong> üben,<br />
zuerst an den einzelnen Konsonanten <strong>und</strong><br />
Vokalen, dann in Vierergruppen von einsilbigen<br />
Wörtern <strong>und</strong> Abspannen auf dem<br />
S<strong>ch</strong>lusskonsonanten. Später kommen<br />
mehrsilbige Wörter dazu <strong>und</strong> kleine Sätze.<br />
Auf Vokalen spannen wir singend ab, zuerst<br />
einzeltonweise, dann na<strong>ch</strong> kleinen Sequenzen<br />
oder ganzen Tonleitern.<br />
Das Zwer<strong>ch</strong>fell wird dur<strong>ch</strong> diese Übungen<br />
ganz s<strong>ch</strong>ön gefordert; es kann vorkommen,<br />
dass es plötzli<strong>ch</strong> – wie ein Pferd vor<br />
dem Hindernis – refüsiert <strong>und</strong> wir ihm einige<br />
Minuten Ruhe gönnen müssen. Es kann<br />
si<strong>ch</strong> im Anfang au<strong>ch</strong> eine neue Art von<br />
harmlosem Bau<strong>ch</strong>weh einstellen: der Muskelkater<br />
des Zwer<strong>ch</strong>fells. Mit zunehmender<br />
Übung wird es mögli<strong>ch</strong>, ni<strong>ch</strong>t nur bei abruptem,<br />
sondern au<strong>ch</strong> lei<strong>ch</strong>tem Lösen der <strong>Artikulation</strong>sspannung<br />
sauber abzuspannen.<br />
Während die oben dargestellten theoretis<strong>ch</strong>en<br />
Gr<strong>und</strong>lagen ohne weiteres einsi<strong>ch</strong>tig<br />
sind, weil sie unmittelbar am eigenen Körper<br />
erfahren werden können, brau<strong>ch</strong>t das<br />
Training einige Zeit, <strong>und</strong> es sollte hie <strong>und</strong> da<br />
kontrolliert werden. Dann aber wird unser<br />
Zwer<strong>ch</strong>fell zu einem prallen, aber hö<strong>ch</strong>st<br />
flexiblen Muskel, wie i<strong>ch</strong> das in Röntgenvideos<br />
sehr s<strong>ch</strong>ön zeigen kann. Jetzt ist es<br />
au<strong>ch</strong> in der Lage, die oben bes<strong>ch</strong>riebene Zügelfunktion<br />
zu erfüllen.<br />
Bewegung <strong>und</strong> Bewegtheit<br />
Unser Leben ausserhalb des Mutterleibs<br />
hat mit dem ersten Senken des Zwer<strong>ch</strong>fells<br />
(<strong>und</strong> mit dem damit verb<strong>und</strong>enen kleinen<br />
S<strong>ch</strong>rei, dem primo clamax) begonnen, <strong>und</strong><br />
mit dem letzten Ho<strong>ch</strong>stellen des Zwer<strong>ch</strong>fells<br />
werden wir es dereinst aushau<strong>ch</strong>en.<br />
Dazwis<strong>ch</strong>en versieht das Zwer<strong>ch</strong>fell seinen<br />
Dienst, ohne den wir ni<strong>ch</strong>t leben könnten.<br />
Das Zwer<strong>ch</strong>fell ist aber ni<strong>ch</strong>t nur <strong>beim</strong> Atmen<br />
<strong>und</strong> bei jeder Bewegung des Körpers<br />
aktiv, es ist au<strong>ch</strong> eingespannt in unsere innere<br />
Bewegtheit. Bei einem La<strong>ch</strong>- oder Wein-<br />
krampf, also bei den Extremen der Emotion,<br />
wird uns seine Existenz deutli<strong>ch</strong> bewusst.<br />
Des Zwer<strong>ch</strong>fells wegen s<strong>ch</strong>lägt si<strong>ch</strong> jede<br />
Emotion in der Stimme nieder. Viellei<strong>ch</strong>t<br />
war aus diesen Gründen bei Homer der Sitz<br />
des Denkens <strong>und</strong> Fühlens im Zwer<strong>ch</strong>fell angesiedelt:<br />
dort wohnten sowohl der Grimm<br />
des A<strong>ch</strong>ill wie die List des Odysseus. Das<br />
grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Verb «phronein» («zwer<strong>ch</strong>fellen»)<br />
bedeutet «denken», «sophrosyne»<br />
(Besonnenheit) heisst eigentli<strong>ch</strong> «heiles<br />
Zwer<strong>ch</strong>fell».<br />
Na<strong>ch</strong> diesem kleinen Exkurs mö<strong>ch</strong>te i<strong>ch</strong><br />
mi<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> kurz der Aufgabe zuwenden, die<br />
neuen Fähigkeiten auf das <strong>Singen</strong> anzuwenden.<br />
Wer das Abspannen beherrs<strong>ch</strong>t, sollte<br />
nun Lieder <strong>und</strong> Arien singen können, ohne<br />
je hörbar zu atmen. Au<strong>ch</strong> vor dem ersten<br />
Einsatz ist das ni<strong>ch</strong>t mehr nötig: es genügt,<br />
si<strong>ch</strong> aufzuri<strong>ch</strong>ten, si<strong>ch</strong> dem Dirigenten, dem<br />
Publikum oder den Noten zuzuwenden, um<br />
für die erste Phrase genügend Luft zu bekommen.<br />
Sol<strong>ch</strong>es Atmen ist ni<strong>ch</strong>t nur viel<br />
s<strong>ch</strong>öner, sondern au<strong>ch</strong> ökonomis<strong>ch</strong>er: <strong>beim</strong><br />
hässli<strong>ch</strong>en Eins<strong>ch</strong>naufen muss ja der ganze<br />
Apparat vor dem Einsatz no<strong>ch</strong> ras<strong>ch</strong> von<br />
S<strong>ch</strong>naufen auf <strong>Singen</strong> umgestellt werden ...<br />
Dur<strong>ch</strong> die bes<strong>ch</strong>riebenen Übungen ist die<br />
<strong>Artikulation</strong>prägnanz erhöht worden, was<br />
die Diktion, den Vordersitz <strong>und</strong> die Plazierung<br />
der Vokale ents<strong>ch</strong>eidend verbessert.<br />
Au<strong>ch</strong> die verbreitete Unart des ni<strong>ch</strong>t tongenauen<br />
Ansingens von Klingern <strong>und</strong> Halbklingern<br />
kann jetzt bearbeitet werden. Nahtstellen<br />
mit wenig Zeit zum Abspannen<br />
müssen oft zuerst spre<strong>ch</strong>end <strong>und</strong> später singend<br />
vorausgeübt werden. Zum S<strong>ch</strong>luss sei<br />
bemerkt, dass i<strong>ch</strong> meine Arbeit keinesfalls<br />
als Gesangsmethode verstehe, sondern unabhängig<br />
von jeder Ri<strong>ch</strong>tung als Gr<strong>und</strong>lage,<br />
aber au<strong>ch</strong> als Hilfe <strong>und</strong> Ergänzung.<br />
EWW