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VV Nalimov - Fachbereich Mathematik - Universität Kaiserslautern

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V. V. <strong>Nalimov</strong> – ein russischer <strong>Mathematik</strong>er und mystischer Anarchist 1<br />

Heinrich von Weizsäcker 2<br />

Gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen dem detaillierten Studium der quantitativen<br />

Wissenschaften und ihrer Klassifikationen einerseits, und der Tiefe spontaner Erfahrung<br />

andererseits ? Diese beiden Aspekte geistigen Lebens und das stete Nachdenken über ihr Verhältnis<br />

haben im Leben von Vassilii Vassiljewitsch <strong>Nalimov</strong> und in seinen Schriften eine zentrale Rolle<br />

gespielt und und so hoffe ich, daß wir in der nachstehenden Nachzeichnung einiger seiner<br />

Reflexionen eine Antwort erahnen können.<br />

Biographischer Abriß.<br />

Lassen Sie mich mit ein paar biographischen Notizen beginnen. Seine Lebensspanne umfaßte die<br />

gesamte Sowjetzeit, er kam 7 Jahre vor der Oktoberrevolution auf die Welt und starb 1997, etwa 7<br />

Jahre nach dem Ende der Sowjetunion. Der Hintergrund der persönlichen, kulturellen und<br />

politischen Umwälzungen und Tragödien, die er miterlebte, macht die Tiefe und Weite, auch die<br />

innere Spannung in seinen Schriften gleichzeitig besonders eindrucksvoll und doch erst eigentlich<br />

authentisch und verständlich.<br />

Da ich seine bisher nur auf russisch erschienenen autobiographischen Texte nicht lesen konnte,<br />

stütze ich mich hier hauptsächlich auf den Aufsatz [17] von Angela Thompson und den Aufsatz<br />

Facing the Mystery [18] im von Manfred Bonitz herausgegebenen <strong>Nalimov</strong>-Gedenkband [12] der<br />

Zeitschrift Scientometrics.<br />

<strong>Nalimov</strong> wurde in einem kleinen Dorf im Norden Russlands geboren, sein Vater gehörte zu den<br />

Komi, einem finnisch-ugrischen Volksstamm. Die lebendige Religion seiner Heimat war von der<br />

engen Verbindung zur Natur geprägt. Die Menschen hatten animistische Vorstellungen und die<br />

Erde war ein lebendes System oder Wesen. Ein paganer Polytheismus. Die politischen Autoritäten<br />

versuchten vergeblich, diese religiösen Praktiken zu unterdrücken. Manche jungen Männer<br />

verliessen das Dorf um ein bis zwei Monate allein im Wald zu leben. Bei ihrer Rückkehr wurden<br />

sie als Schamanen betrachtet, die die Menschen mit ihrer persönlichen Energie heilen konnten.<br />

Auch <strong>Nalimov</strong>s Vater Vasilii Petrowitsch begann als Schamane, er studierte aber auch in Moskau<br />

Medizin. Er war offenbar ein wichtiges Vorbild in dieser Grenzgängerrolle zwischen den Kulturen.<br />

Er kehrte für einige Jahre zurück, um als Dorfarzt in seiner Heimat zu wirken und ethnologische<br />

Studien durchzuführen.<br />

<strong>Nalimov</strong>s Mutter wurde eine der ersten russischen Chirurginnen. Vasilii Vasiliewitsch erinnert sich<br />

gut an sie, insbesondere wie er seine Mutter öfter ins Krankenhaus begleitete. Sie starb aber schon<br />

im Jahr 1919 in einer Typhus-Epidemie. Auch ihre Familie litt offenbar unter dem immensen<br />

politischen Druck, ihre beiden Geschwister nahmen sich das Leben. Von seiner Mutter scheint er<br />

die Intensität und Entschlossenheit geerbt zu haben.<br />

Der Vater heiratete wieder, wurde Professor in Moskau, und starb 1938 in einem politischen<br />

Gefängnis. Auch viele Freunde und Kollegen starben aus politschen Gründen. <strong>Nalimov</strong> selbst<br />

spricht im Rückblick von einer „unerbittlichen und erfinderischen zerstörerischen Kraft, die die<br />

Verbindungen zwischen den Generationen zerstörte, um den Weg des Neuen unbehindert durch das<br />

Alte freizubrechen.“<br />

1 Vortrag gehalten am 9.10.2004 in Freiburg auf der dreißigsten Jahrestagung der Gebser-Gesellschaft<br />

2 Anschrift: Heinrich v. Weizsäcker, <strong>Fachbereich</strong> <strong>Mathematik</strong> der <strong>Universität</strong> <strong>Kaiserslautern</strong>, Erwin-Schrödinger-<br />

Straße, 67655 <strong>Kaiserslautern</strong>, e-mail: weizsaecker@mathematik.uni-kl.de


Offenbar war er schon als junger Mann spirituell wach. Er nennt eine Reihe von Namen als seine<br />

Lehrer. Seine Gefährten nannten sich „mystische Anarchisten“. Leider habe ich über diesen<br />

Abschnitt seines Lebens und damit über die spezifische Bedeutung dieses Ausdrucks aus dem Titel<br />

des Vortrags nichts genaueres erfahren können. Klar ist jedoch, daß dies an zwei wichtige russische<br />

Traditionen anknüpft aus der vorrevolutionären Zeit, die Sie vielleicht andeutungsweise aus<br />

Dostojewskis Schuld und Sühne (Rodion Raskolnikov) kennen. Einerseits die antiklerikale<br />

Bewegung der Anarchisten, die unter hohem persönlichen Risiko die Ideen von Freiheit und<br />

Spontaneität propagierte. Meine atmosphärische Vorstellung davon ist geprägt von Bunins<br />

Jugenderinnerungen, dessen Bruder wegen seiner Zugehörigkeit zu einer solchen Bewegung auf der<br />

Flucht vor der zaristischen Polizei war. Welcher Tradition und Form andererseits die mystische<br />

Überlieferung seiner Lehrer verbunden war, weiß ich nicht. Ein eindrucksvolles Zeugnis für die<br />

Tiefe russischen mystisch-christlichen Lebens im 19. Jahrhundert sind die Aufrichtigen<br />

Erzählungen eines russischen Pilgers [10].<br />

Wohl im Zusammenhang mit dieser Zugehörigkeit wurde <strong>Nalimov</strong> 1936 wegen<br />

konterrevolutionärer Aktivitäten zu 5 Jahren Erziehungslager in Kolyma verurteilt. Er schreibt über<br />

sich und seine Mithäftlinge ([17]):<br />

Es war schrecklich dort in jeder Beziehung; in Raum und Zeit vergessen – sie hatten alles<br />

verloren, eingefangen in eine Leben, das übersättigt war von harter Arbeit, Kälte und<br />

Hunger. Eine auf Jahre hinausgezogene Folter.<br />

Nach einigen Jahren in einem Labor einer metallurgischen Fabrik wurde er 1949 wieder verhaftet<br />

und nach Kasachstan verbannt, wo er eine ähnliche Arbeit hatte. Erst nach Stalins Tod wurde 1954<br />

er unter Auflagen freigelassen und 1960 endlich politisch rehabiliertiert. 1989 sagt er rückblickend:<br />

Auch heute noch fühle ich hinter mir den Schatten mit Namen „Volksfeind“.<br />

<strong>Nalimov</strong> war Wissenschaftler. Er hatte <strong>Mathematik</strong> studiert. Er fand nach seiner Rückkehr nach<br />

Moskau einen Förderer in dem großen, in der Sowjetunion und auch überall sonst hochverehrten<br />

Andrej N. Kolmogorov, der 1933 die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitstheorie als Teil der<br />

modernen <strong>Mathematik</strong> etabliert hatte, und dessen Schüler bis heute eine große Rolle im russischen<br />

<strong>Mathematik</strong>-Leben spielen. Kolmogorov vermittelte ihm eine leitende Position in einem<br />

interdisziplinären statistischen Labor der Moskauer <strong>Universität</strong>. Kolmogorov erklärte: <strong>Nalimov</strong> hat<br />

einen solchen Rang als Wissenschaftler, daß er tun und lassen soll, was ihm wichtig erscheint.<br />

([18], p. 183) Ich verweise darauf, daß auch Solschenizyn <strong>Mathematik</strong>er war und dieses Fach für<br />

viele kritische Intellektuelle wegen seines hohen Ansehens in der Sowjetzeit ein Dach bot.<br />

<strong>Nalimov</strong> leitete bis zu seinem Lebensende 1997 eine Abteilung über die mathematische Theorie<br />

der Experimente in der biologischen Fakultät der Lomonossov <strong>Universität</strong>. In den letzten<br />

Jahrzehnten wurde er wesentlich unterstützt von seiner zweiten Frau Jeanna Drogalina, Linguistin,<br />

Übersetzerin und Meditationslehrerin. Ich sehe noch beide zusammen auf einer Tagung in<br />

<strong>Kaiserslautern</strong> etwa 1993, ein Bild voller wacher Wärme. Seine Frau hat zu seiner<br />

Charakterisierung einen Satz von Maeterlinck ([17]) zitiert:<br />

Die Größe eines Manns mißt sich an den Mysterien, die er kultiviert.<br />

Ich hoffe wir werden am Ende dieses Vortrags etwas besser verstehen, warum dies gut paßt.<br />

Seine Theorie der Experimente war im Ostblock unter empirischen Wissenschaftlern recht populär.<br />

Sie zeichnet sich durch eine Fülle von konkreten Beispielen aus. Dies bleibt typisch für seinen<br />

sowohl enzyklopädischen als auch anekdotischen Stil. Auch in seinen späteren, viel weiter<br />

angelegten Texten belegt er seine Überlegungen stets mit vielen Zitaten aus einem<br />

atemberaubenden Spektrum von literarischen, philosophischen und wissenschaftlichen<br />

Zusammenhängen.


Scientometrie.<br />

Wesentliche Beiträge leistete er zunächst in der von ihm in Russland mitbegründeten „chemischen<br />

Kybernetik“ und dann auf dem Gebiet des in den 60er und 70er Jahren neuen Gebiets<br />

'Scientometrics', eine Übersetzung des ursprünglich russischen Begriffs 'Naukometrika'. Der<br />

'Science Citation Index' den viele von uns kennen, ist ein typisches Produkt und Hilfsmittel dieser<br />

Wissenschaft. Worum geht es? Die seit etwa 30 Jahren erscheinende Zeitschrift 'Scientometrics' hat<br />

den Untertitel: 'An International Journal for all Quantitative Aspects of the Science of Science,<br />

Communication in Science and Science Policy'. Die offizielle Definition dieses Forschungsgebiets<br />

ist das „Studium der Messung von wissenschaftlichem und technologischem Fortschritt“ ([13]).<br />

Man versteht, daß dies Konzept auch gut in sozialistische 7-Jahrespläne passen könnte. Ich muß<br />

gestehen, daß ich bei der Vorbereitung zunächst Mühe hatte zu akzeptieren, daß ein Mann, dem ich<br />

a priori wegen seiner persönlichen Ausstrahlung, seines mathematischen Hintergrunds und seines<br />

tiefen und weiten geistigen Horizonts viel Sympathie entgegenbrachte, sich so intensiv mit diesem<br />

„Zahlensalat für Technokraten“ befaßte. Ich möchte drei Erklärungen anbieten, die zusammen uns<br />

schon recht nah an seine Ideenwelt führen.<br />

Das eine ist sicher seine gesellschaftliche Anteilnahme: In Faces of Science bringt er ausführliche<br />

Statistiken über den zeitlichen Verlauf von Stellenangebote für verschiedene Arten von<br />

Wissenschaftlern ([3], Ch. 12, p. 261 ff). Wie entwickelt sich dieser Bedarf im Lauf der Zeit? Ist es<br />

möglich, Voraussagen zu machen? Wie soll das akademische Bildungssystem modifiziert werden?<br />

An diesen Fragen war er einfach praktisch interessiert. Insbesondere auch um mitzuhelfen, den<br />

Entscheidungsprozess von allzu vielen Vorurteilen freizuhalten.<br />

Das zweite ist sein Verhältnis zu Zahlen. Ich werde nachher noch etwas ausführlicher auf seine<br />

Philosophie der Zahl eingehen, weil er in diesem Aspekt seines Denkens vielleicht am klarsten die<br />

eingangs vermutete Verbindung zwischen dem quantitativen Studium der Wissenschaft und der<br />

Natur unseres inneren geistigen Auges artikuliert hat.<br />

Der dritte Quelle von <strong>Nalimov</strong>s Faszination an dem Studium der Entwicklung der Wissenschaften<br />

liegt in seinem umfassenden Konzept des Bewußtseins, das die große Linie der geistigen Reifung<br />

der Menschheit oder, um die Natur nicht ausszuschließen, der Erde als Ganzem mit im Blick hat.<br />

(vgl. das Ende dieses Vortrags). Hier scheint mir sein Anliegen ähnlich umfassend wie das von<br />

Gebser.<br />

Im Westen wurde <strong>Nalimov</strong> zunächst vor allem durch diese Beiträge zur Scientometrie bekannt. Das<br />

ISI (Institute for Scientific Information) in Philadelphia, das den Science Citation Index herausgibt,<br />

hat die meisten seiner Bücher auf Englisch herausgegeben, teilweise bevor die Originale in der<br />

Sowjetunion erscheinen durften.<br />

Der probabilistische Ansatz.<br />

Schon in seinen Arbeiten zur Kyberenetik in der Chemie lag ein damals in diesem Bereich neuer<br />

Gesichtspunkt im Abschied von einem deterministischen Bild der wissenschaftlichen Erkenntnis.<br />

Er ist überzeugt von einer probabilistischen Sicht der Welt. Was heißt das? Ich fasse einige<br />

Abschnitte aus dem Buch Realms of the Unconscious: The Enchanted Frontier [5] zusammen.<br />

In der Wahrscheinlichkeitstheorie sprechen wir von einer Zufallsvariablen, wenn eine<br />

Beobachtungsgröße nicht sicher einen ganz bestimmten Wert hat, sondern wir nur ihre Verteilung<br />

oder Verteilungsfunktion kennen, die für die verschiedenen denkbaren Wertebereich angibt, mit


welcher Wahrscheinlichkeit diese Größe in dem jeweiligen Bereich liegt ([5], p 5). <strong>Nalimov</strong>s These<br />

ist, daß wir unsere Beobachtungen grundsätzlich als Zufallsvariable auffassen können.<br />

So wie er diese These versteht, hat dies weitreichende Konsequenzen. Er sieht sie als einen<br />

umfassenden Gegenentwurf gegenüber landläufigen Vorstellungen von unserem Verhältnis zur<br />

Welt. Durch diese probabilistische Auffassung befreien wir uns bewußt von einer Interpretation der<br />

Phänomene nach einem reinen Ursache-Wirkung-Prinzip ... Wir sind zufrieden mit einer<br />

behaviouristischen Beschreibung, maW. wir erhalten auf einmal das Recht, die Phänomene einfach<br />

so zu beschreiben wie sie aussehen. ...Wir beschreiben sie in ihrer spontanen Manifestation und<br />

erkennen ihre Freiheit der Manifestation an. Es sieht plötzlich so aus, als habe eine Münze einen<br />

freien Willen ([5], p 5). Mir scheint diese Anerkennung der Unvorhersehbarkeit als wesentliches<br />

Grundphänomen unseres (Er-)Lebens eine wesentliche Basis von <strong>Nalimov</strong>s Denken zu sein.<br />

Probabilistische Beschreibung ist ihrer Natur nach unscharf: eine stetige Zufallsvariable nimmt<br />

einen vorgebenen eindeutig definierten Zahlenwert nur mit Wahrscheinlichkeit Null an: Wenn ich<br />

sage, ich wiege 100kg so wird der richtige Wert sicher etwas daneben liegen.<br />

Ein wesentlicher Schritt ist <strong>Nalimov</strong>s Bereitschaft, diese Art von Unschärfe und Denkstruktur von<br />

der Erfahrungswelt des empirischen Wissenschaftler auf auch andere fundamentale Konzepte<br />

unserer Kultur zu übertragen, auf Bereiche in denen wir nicht gewöhnt sind, in quantitativen<br />

Kategorien zu denken. Ich glaube, daß dies ein gewisses Handikap für ihn war bei der Propagierung<br />

seiner Ideen. Er geht davon aus, daß wir gewohnt sind, mit Wahrscheinlichkeitsverteilungen zu<br />

hantieren, durchaus zunächst mit bestimmten Zahlbereichen verknüpft. Aber dann und dadurch<br />

liefern uns die Formen und Begriffe dieser quantitativen mathematischen Theorie einen Vorrat an<br />

Bildern, an Schlußweisen, die auch noch verwendet werden können, ohne daß wir konkrete<br />

zahlenförmige Aussagen machen. Begriffe wie Varianz, Symmetrie, Bimodalität oder der<br />

Bayessche Formalismus auf den ich noch gesondert eingehen werde, erweitern unsere Sprache um<br />

nützliche Metaphern, mit denen wir uns etwa den Studium unserer Sprache widmen können, ohne<br />

daß wir notwendig den Anspruch der prognostischen Kraft aufrechterhalten, den diese Begriffe in<br />

ihrer quantitativen Heimat hatten.<br />

Um das etwas zu konkretisieren: Der Entschluß die Unschärfe, fuzziness der Werte von<br />

Zufallsvariablen anzuerkennen, erleichtert die Erkenntnis, daß Worte keine atomistische, also wohl<br />

und eindeutig abgegrenzte Bedeutung haben. Wenn wir nach Frege unterscheiden zwischen dem<br />

Wort, seiner Bedeutung und dem durch das Wort bezeichneten Objekt, so wird in diesem Dreieck<br />

durch die probabilistische Sicht in jeder der drei Seiten die Eindeutigkeit aufgeweicht (vgl. [5], p. 8)<br />

Er dekliniert dies Muster der Variabilität der Ausprägungsformen von Merkmalen an vielen<br />

Beispielen aus der belebten und unbelebten Welt durch. Immer wieder spürt man seine Freude,<br />

wenn er wieder gezeigt hat, daß ein scheinbar starres Muster mit scharfen Grenzen doch unscharf<br />

wird bei näherem Hinsehen oder längerem Warten. Kristalle, wenn man sie einzeln betrachtet, sind<br />

doch nie gleich. Biologen kennen die Stabilität des Polymorphismus, dh. die Vielgestaltigkeit von<br />

Populationen. Sie wird immer wieder hergestellt auch nach Perioden der strengen Auswahl in<br />

Richtung Gleichförmigkeit. Bücherverbrennungen, die Ermordung hervorragender Denker wie<br />

Sokrates oder Giordano Bruno waren Versuche, Gleichförmigkeit und Orthodoxie herzustellen.<br />

Aber wieder wuchs Vielfalt aus der Asche der verbrannten Bücher. Auch wenn jeweils die aktuelle<br />

Vielfalt nur ein kleiner Teil der potentiellen Vielfalt ist (vgl. [5], p. 7f).<br />

Wir sind daran gewöhnt, Evolution als das gelegentliche oder kontinuierliche Auftreten von etwas<br />

absolut Neuem aufzufassen. Aber in <strong>Nalimov</strong>s probabilistischer Sicht braucht es eigentlich oft nur<br />

eine Umgewichtung der Wahrscheinlichkeiten: etwas was früher abnorm war, wird auf einmal<br />

Normalität und umgekehrt, die alte Norm wird ein Atavismus. Potentielles manifestiert sich<br />

aktuell ([5], p 8). Dies Bild der Umschichtung der Wahrscheinlichkeiten nimmt von der<br />

Evolutionstheorie ein guten Teil des Rätsels, wie so große Änderungen in relativ kurzer Zeit


möglich waren.<br />

Auch in der Kultur sieht er diesen Mechanismus wirksam: Er zitiert Alexej Tolstoi mit dem<br />

hübschen Zeilen<br />

Vergeblich glaubst Du, o Künstler,<br />

du seist der Schöpfer der Dinge.<br />

Seit Urzeiten schwirren sie in der Luft,<br />

unsichtbar für unsere Augen. 3<br />

Daneben gibt es in seinen Augen absolute Kreativität, das Erscheinen völlig neuer Prinzipien. Da<br />

wirft <strong>Nalimov</strong> dann einen Satz hin wie: Der kreative Agent der Natur, der christliche Gott, sollte<br />

absolute Zufälligkeit in seinen Händen haben. ([5], p 8) Es bleibt dann die Frage: Was ist absolut<br />

neu, was nur Aktualisierung einer Potentialität? Etwas ähnliches hat einer der großen meines Fachs,<br />

Lucien LeCam benannt, indem er von den zwei Quellen brillanter mathematischer Ideen spricht:<br />

das eine ist natürlich göttliche Intuition und das andere unser schlechtes Gedächtnis, das uns<br />

vergessen läßt, daß uns jemand diese Idee schon einmal erzählt hat.<br />

Kultur ist ein tiefes kollektives Bewußtsein, dessen Wurzeln tief in die fernste Vergangenheit reicht.<br />

Sie formt ein unscharfes Mosaik von Konzepten, die nach <strong>Nalimov</strong> mit einer Wahrscheinlichkeitsverteilung<br />

belegt sind, sozusagen vom Standpunkt einers neutralen hypothetischen Metabeobachters<br />

aus. Jeder einzelne Mensch hat seine eigenen Filter der Wahrnehmung dieses<br />

kollektiven Bewußtseins, welcher dann wieder in einer neuen individuellen Verteilung resultiert.<br />

Der Teil des kollektiven Bewußtseins, der kleine Wahrscheinlichkeit hat ans Tageslicht der<br />

individuellen Wahrnehmung zu kommen, interpretiert <strong>Nalimov</strong> als das kollektive Unbewußte im<br />

Sinn von C. G. Jung ([5], p 9).<br />

In dieser probabilistischen Sicht ist der Mensch nie frei, er ist dominiert von der Vergangenheit, die<br />

in diesem kollektiven Bewußtsein gespeichert ist. Auf der anderen Seite ist er frei, indem sein<br />

individueller Filter der Wahrnehmung in seiner probabilistischen Struktur nicht eindeutig<br />

festegelegt ist. Nun kommt wieder der typisch <strong>Nalimov</strong>sche Schwenk zur Religion: Die großen<br />

religiösen Lehren im Osten wie im Westen zielen primär darauf, den Menschen aus diesem<br />

kollektiven Bewußtsein zu befreien, ohne diese Befreiung wäre der Rest zu, abgeschlossen, der<br />

Mensch eingesperrt. Aber die Geschichte der Christenheit zeigt leider, daß dieser neue Wein in alte<br />

Schläuche getan wurde ([5], p.9).<br />

Von den vielen Querverbindungen, die <strong>Nalimov</strong> von dieser probabilistischen Sichtweise zieht,<br />

möchte ich auf seine kurze Diskussion des Begriffs Karma eingehen. Karma hat in dem üblichen<br />

Verständnis eine explizit deterministische Interpretation. Die früheren Taten beeinflussen noch<br />

heute den jetzigen Zustand, dem können wir nicht ausweichen. 4 Dies ist im Gegensatz zu der Spielorientierten<br />

Verständnis des Lebens, das nach <strong>Nalimov</strong> in der alten indischen Kultur herrschte. Er<br />

vermutet, daß das deterministische Sicht des Karmas auf eine ganz alte Quelle der Kultur<br />

zurückgeht, die noch ganz dem magischen Denken verhaftet ist, und die magische Zwangsläufigkeit<br />

der Dinge in spätere Zeiten in diesem Begriff des Karmas sich erhalten hat. Als Beispiel wie dieser<br />

Konflikt zwischen der deterministischen Sicht und der Freiheit der Unvorhersehbarkeit und<br />

Spontaneität heute aufgelöst werden kann, gibt er die Quantentheorie an, wo der Zustand zunächst<br />

nur eine Wahrscheinlichkeitsverteilung angibt, also eindeutig nichtdeterministisch ist, und<br />

andererseits dieser Zustand sich gemäß der deterministischen Schrödinger-Gleichung verändert.<br />

Dies kann hier nicht mehr näher erläutert werden, aber <strong>Nalimov</strong> weist auch an anderen Stellen<br />

3 Ich selber habe neben meinem Beruf auch etwas Schauspielerei betrieben und für mich hat diese Vorstellung<br />

unmittelbare Evidenz, daß das was da aus dem Künstler herauskommt, weniger seine eigene Schöpfung ist als ein in<br />

den Tiefen seines Körpers gespeichertes Echo uralter Erfahrung.<br />

4 „All what we are is the product of what we have thought“ (The Dhammapada). Dies stand auf „meinem“ Blatt aus<br />

einem Abreiß-Kalender mit Sprüchen, die Peter Gottwald unter den Tagungsteilnehmern verteilt hatte. War dies nun<br />

Zufall oder Karma ?


gerne darauf hin, wie die moderne Naturwissenschaft über ihre eigenen spezifischen<br />

Fragestellungen hinaus ganz neue Bilder und Metaphern für unser Bewußtsein liefert. ([5], p 22f.)<br />

Der Bayessche Syllogismus<br />

Der von <strong>Nalimov</strong> geprägte Begriff „Bayesscher Syllogismus“ nimmt auf das in der Statistik<br />

wohlbekannte Bayessche Verfahren Bezug. Ich will zunächst letzteres schildern. Das<br />

Grundproblem ist folgendes: Bei zufälligen Phänomenen sind die zugrundeliegenden<br />

Wahrscheinlichkeiten i.a. nicht genau bekann. Wie kann man trotz der durch den Zufall bedingten<br />

Unsicherheit die durch die Beobachtungen gelieferte Information benutzen, um eine verbesserte<br />

Plausibilitätseinschätzung für die zugrundeliegenden Wahrscheinlichkeiten zubekommen ? Dies ist<br />

eine fundamentale Frage für die empirische Wissenschaft, weil man sonst aus der Beobachtung von<br />

zufälligen Phänomenen nie etwas über die beteiligten Wahrscheinlichkeiten lernen könnte.<br />

Wir illustrieren das Bayessche Verfahren an einem Beispiel: Ein Experiment habe nur zwei<br />

denkbare Ergebnisse: Erfolg oder kein Erfolg; es werde etwa ein neues Medikament einem zufällig<br />

ausgesuchten Patienten gegeben, der an einer bestimmten Krankheit leidet. Das Medikament wirkt<br />

oder es wirkt nicht. Die Erfolgswahrscheinlichkeit µ ist zunächst völlig unbekannt. Zur<br />

Vereinfachung nehmen wir die neun Werte 1/10, ..., 9/10 als denkbar an. Wegen der Unkenntnis<br />

wird jeder dieser Werte als gleichwahrscheinlich angenommen. Die apriori Verteilung, die unsere<br />

Meinung vor einer Versuchsreihe wiederspiegelt darüber, mit welcher Plausibilität die<br />

Erfolgswahrscheinlichkeit in welchem Teilbereich liegt, ist also gleichförmig, sie ordnet jedem<br />

dieser denkbaren µ-Werte das Gewicht 1/9 zu:<br />

(1) p(µ) = 1/9 für µ = 1/10, ..., 9/10 (a priori)<br />

Nun planen wir, das Experiment mehrmals, sagen wir dreißig mal, durchzuführen. Die zufällige<br />

Zahl der Patienten, bei denen das Medikament wirken wird, wird Y genannt. Y kann also die Werte<br />

0,1,2, ...,30 annehmen. Je nachdem wie die wirkliche Erfolgswahrscheinlichkeit war, erhalten wir<br />

eine andere Wahrscheinlichkeitsverteilung p(y | µ) auf dem y-Bereich. Das ist der „Filter“ oder<br />

eben das statistische Modell. 5 Diese Wahrscheinlichkeiten sind bei festem µ am größten bei<br />

denjenigen y-Werten für die die relative Erfolgshäufigkeit y/30 in der Nähe von µ liegt. Nachdem<br />

die Versuchreihe durchgeführt worden ist, stellen wir beispielsweise fest, daß der tatsächlich<br />

beobachtete Wert von y sagen wir 20 ist: Bei 20 Patienten hat das Mittel gewirkt. Jetzt fragen wir<br />

uns a posteriori, welche neue Plausibilitätsverteilung für den Wert der Erfolgswahrscheinlichkeit<br />

haben wir? Die neue Verteilung, die sogenannte a posteriori-Verteilung, hängt von dem<br />

beobachteten Wert y ab und wird mit p(µ | y) bezeichnet. Sie ist gegeben durch die Bayessche<br />

Formel 6 :<br />

(2) p(µ | y) = k p(µ) p(y | µ) (a posteriori: nach Beobachtung von y)<br />

Diese a posteriori Verteilung ist sicher nicht mehr gleichförmig, sondern unter ihr wird die größte<br />

Wahrscheinlichkeit derjenige µ-Bereich bekommen, bei denen die Wahrscheinlichkeit der<br />

Prognose 20 relativ hoch war, also die µ-Werte in der Nähe von 20/30 z.B. µ = 6/10 oder µ = 7/10.<br />

Wenn wir dagegen y=5 beobachten, wird die a posteriori Verteilung die kleinen Erfolgswahrscheinlichkeiten<br />

in der Nähe von 5/30, also z.B. µ= 1/10 oder 2/10 stärker gewichten. Je mehr<br />

Beobachtungen man macht, desto stärker konzentriert sich die a posteriori Verteilung auf<br />

diejenigen µ-Werte, die dem Versuch tatsächlich zugrunde lagen.<br />

Ich vermute, daß die Verwendung dieses Bayes-schen Verfahrens in der Situation des späteren<br />

Sowjetunion durch <strong>Nalimov</strong> ein mutiger Schritt war. Ich muß dazu einen kleinen Exkurs in die<br />

Grundlagendiskussion in der Statistik der Nachkriegszeit machen, die sich, etwas vereinfacht<br />

5 Der Fachmann wählt hier vermutlich die Binomialverteilung B(30;µ)<br />

6 Hierbei ist k eine Konstante, die dafür sorgt, daß die Summe der neuen Gewichte p(µ | y) wieder gleich 1 ist.


gesagt, festmachte an der Frage ob Wahrscheinlichkeiten objektiv vorgegeben oder einfach<br />

Ausdruck subjektiven Empfindens sind. Während in den klassischen von der Physik dominierten<br />

Naturwissenschaften die Objektivisten fast selbstverständlich die Oberhand hatten, war in<br />

weicheren Wissenschaften wie der Ökonomie der Subjektivismus Mode. (Würfel vs.<br />

Profitchancen.) In der Diskussion der Statistiker wurde der Bayessche Ansatz lange Zeit<br />

identifiziert mit dem Konzept der subjektiven Deutung des Wahrscheinlickeitsbegriffs. Woher, so<br />

sagte man, kommt denn die a-priori-Verteilung, die für diesen Ansatz eine so zentrale Rolle spielt.<br />

Da kann eigentlich nur die persönliche Meinung des Forschers hineinspielen, also seine subjektive<br />

Sicht der Dinge. In der Sowjetunion wurde mindestens in den wahrscheinlichkeitstheoretischen<br />

Lehrbüchern die Beliebigkeit des Subjektivismus als im Gegensatz zu den objektiven Gesetzen des<br />

dialektischen Materialismus gesehen.<br />

Heute wird diese Identifizierung von Bayes-Verfahren mit Subjektivismus in Frage gestellt: auch<br />

die Objektivisten benutzen das Bayes-Verfahren gerne, weil es eine computerisierbare Vorschrift<br />

zur Veränderung von Wahrscheinlichkeiten in hochkomplexen Problemen wie etwa in der<br />

Bildverarbeitung oder der Hirnforschung erlaubt, ohne daß sie sich auf eine allzu verpflichtende<br />

Deutung der a-priori Verteilungen einlassen müssen.<br />

Nach diesem Ausflug in die statistische Methodenlehre kommt jetzt <strong>Nalimov</strong>s wesentlich erweiterte<br />

Verwendung dieser Schlußweise. Erst auf diesen erweiterten Sinn ist seine Wortschöpfung vom<br />

„Bayesschen Syllogismus“ ([5], p. 284) gemünzt. Dafür ist wesentlich, daß <strong>Nalimov</strong> ein sehr stark<br />

von der Linguistik geprägtes Bild von unserem Umgang mit der Welt hat. Sein Paradigma ist das<br />

Verstehen, oder besser Deuten eines Textes. Gegeben ist ein Text, zum Beispiel ein normales<br />

Dokument, ein Gedicht oder ein Abfolge von Nukleinsäuren in einem Chromosom. Aber er geht<br />

viel weiter. Auch die einzelne Person ist ein Text, ja die Welt als Ganzes ist ein Text. Das jeweilige<br />

Selbstverständnis eines Menschen kann man sich repräsentiert denken durch eine<br />

Wahrscheinlichkeitsverteilung auf den möglichen Deutungen, also einer a priori-Verteilung p(µ).<br />

Nie gibt es nur eine denkbare Deutung. Zusätzlich sieht der Mensch Phänomene y die beeinflußt<br />

sind von der jeweiligen Deutung, aber auch von vielen anderen Faktoren. Dies ist repräsentiert<br />

durch Filter p(y | µ). Nachdem ein bestimmtes Phänomen y aufgetaucht ist, führt dies zu einer<br />

neuen Wahrscheinlichkeitsverteilung, der a posteriori-Verteilung p(µ | y): Andere Lesarten des<br />

eigenen Textes bekommen die Priorität. Es gibt also ein Kontinuum von Beispielen der Interaktion<br />

eines Bewußtseins mit einem ihm durch die jeweilige Situation vorgelegten Text. Die zeitliche<br />

Abfolge der Lesarten und ihres Stellenwerts entsteht nach <strong>Nalimov</strong> durch eine dem Bayeschen<br />

Fomalismus nachempfundene Umschichtung in Wechselwirkung mit den erlebten Phänomenen.<br />

<strong>Nalimov</strong>s Sicht der Zahl.<br />

Diese weitgehende Übertragung von einem Muster, das der quantitativen Wissenschaft entstammt,<br />

in die fundamentalen Bereiche unseres Bewußtseins, das insbesondere durch unsere tiefe<br />

sprachliche Prägung geformt ist, kann nur für jemanden akzeptabel sein, der eigentlich keinen<br />

echten Sprung zwischen diesen Welten empfindet. Der folgende Abschnitt ist eine Kurzfassung<br />

des Aufsatzes [9].<br />

Im Anfang war das Wort, logos. Diesen Anfang des Johannes-Evangeliums zitiert er immer wieder.<br />

Im Anfang war das Wort. Das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.<br />

Der Name Gottes. Die Namen Gottes. Die enge Bindung religiöser Erfahrung mit Sprache steht für<br />

<strong>Nalimov</strong> außer Frage.<br />

Nun verweist er aber gerne zusätzlich darauf, daß unter den vielen Bedeutungen des griechischen


Worts „logos“ dies Wort auch synonym mit „Zahl“ verwendet wird. Also:<br />

„Im Anfang war die Zahl, die Zahl war bei Gott, und Gott war Zahl. Dieselbe war im<br />

Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch sie gemacht, und ohne die Zahl ist nichts gemacht,<br />

was gemacht ist.“<br />

Er zitiert gnostische Texte: den Gesang des Philip:<br />

Plotin:<br />

Messias hat zwei Bedeutungen: „Christus“, also der gesalbte, und „der Gemessene“ ...<br />

Christus ist gemessen.<br />

Es ist mit der Zahl wie mit Gott.<br />

In der 6. Enneade des Plotin:<br />

Was ist die wahre Natur der Zahl? ... Kann sie, wenn wir sie an den Dingen sehen, selber ein<br />

reales Seiendes sein? ... Wie kann das Unendliche, Unbegrenzte existieren und doch<br />

unbegrenzt bleiben ?<br />

Zahl existiert vor allem Lebendigen, vor der kollektiven Lebensform. ... Alles Seiende ist<br />

Maß, und darum ist alles schön.<br />

Wenn ich <strong>Nalimov</strong> richtig verstehe sagt er nicht, genau wie diese Alten es sahen, so ist es, sondern<br />

eher: Hier ist ein wichtiges Problem angesprochen.<br />

Die fundamentalen Konstanten der Natur, etwa die Feinstrukturkonstante, bestimmen das spezielle<br />

Arrangement der Natur. Sie sind gegeben als Zahlen, die semantischer Natur sind, also Bedeutung<br />

tragen, also an eine Art von Bewußtsein geknüpft sind. Wir müssen, um dem folgen zu können, eine<br />

Form von Bewußtsein im Universum postulieren. Können wir das wirklich begreifen?<br />

Ein anderes Beispiel, das den semantischen Aspekt der Zahlen illustriert: Sie kennen<br />

<strong>Mathematik</strong>er-Anekdoten der Form:<br />

Der Professor kommt in den Hörsaal. Dieser ist leer. Der Professor beginnt pflichgemäß<br />

seine Vorlesung. Zwei Studenten kommen. Der Professor ist glücklich. Plötzlich gehen fünf<br />

Studenten. Der Professor murmelt traurig: Wenn jetzt drei hereinkommen, wird der Saal<br />

wieder leer sein.<br />

<strong>Nalimov</strong>s Kommentar: Formal korrekt, und darüber hinaus eine gute metaphorische Beschreibung,<br />

was im Professor vorgeht. 7 Vielleicht sind unsere numerischen Modelle der Welt von der<br />

gleichen Art wahr und doch daneben ?<br />

Im Zusammenhang mit der Scientometrie formuliert er das Programm einer metrischen<br />

Hermeneutik. Durch das quantitative Studium der Texte der Welt auf ein Verständnis des<br />

semantischen Felds zu kommen, in dem sie entstanden sind und welches sie mit hervorbringen.<br />

Damit wir uns, unsere Kultur besser verstehen, ganz im Sinn des „Erkenne Dich selbst“.<br />

Von daher schaut <strong>Nalimov</strong> übrigens auch keineswegs naserümpfend auf die vielen<br />

Erscheinungsformen der Zahlenmystik, sondern zeichnet sie liebevoll in vielen Details nach.<br />

7 Wofür könnte diese absurde Geschichte eine Metapher sein ? Lassen Sie mich eine denkbare , natürlich alles andere<br />

als zwingende Deutung anbieten: Das Neugeborene kommt mit leeren Händen auf die Welt. Es begegnet Vater und<br />

Mutter. Der Junge verliert sie, und verliert mehr als er jemals dachte, zu haben. Er denkt: Wenn neue Freunde<br />

kommen, könnte ich mein inneres Gleichgewicht wieder gewinnen.


Dort sind die Zahlen Kürzel für tief erlebte Strukturen.<br />

Also: Zahlen sind in ganz existentieller Weise, viel tiefer als es uns häufig offensichtlich ist, mit<br />

unserem Leben und Erleben verbunden. Gerade in ihrer Fundamentalität bleiben sie ein Mysterium.<br />

Meditation.<br />

In dem Buch Realms of the Unconscious nimmt die Diskussion der Meditation viele Seiten ein.<br />

Meditation ist, in seinen Worten kurz gesagt, Ausdruck des Strebens des Menschen nach innerer<br />

Freiheit, indem wir die Identifizierung loswerden mit den eingefrorenen Vorstellungen, die uns<br />

durch die diskrete, dualistisch orientierte Weltsicht aufgedrückt sind. Er zitiert wieder in seiner Art<br />

viele Dokumente meditativer Erfahrung aus den verschiedenen Kulturbereichen und Epochen. Er<br />

hat selber mit seiner Frau mehrere empirische Studien mit Gruppen durchgeführt, in denen die<br />

Teilnehmer verschiedene Meditationsanweisungen bekommen haben und danach nach ihren<br />

Reaktionen und Erfahrungen befragt wurden. Eine ganze Serie solcher Sitzungen war der „Zeit“<br />

gewidmet. Durch Vorlesen verschiedener Texte und durch von verschiedenen Musikstücken<br />

begleitete Atemübungen wurde das Assoziationsfeld des Worts „Zeit“ erforscht. ([5], p 230ff)<br />

Ich möchte, teilweise wegen der Fülle des Materials, aber auch wegen einer gewissen Scheu und<br />

Sorge, daß der wesentliche Funke über den vielen Worten untergeht, nur ein paar Gedanken<br />

zitieren, die mir konstitutiv oder mindestens typisch für seine Weltsicht scheinen oder die mir selber<br />

den Blick etwas weiter geöffnet haben.<br />

Ein Beispiel für die assoziative Andeutung meditativer Erfahrung durch Zahlen: Eine wichtiges<br />

traditioneller Aspekt ist die Erfahrung von tiefer Einheit, zum Beispiel indem der Meditierende mit<br />

einem Objekt oder Satz verschmilzt, und in dieser Weise die Grenzen des „Ich“ sich auflösen. Ein<br />

anderer Aspekt ist die Erfahrung des Nichts, Leerheit, die Dinge erweisen sich als leer und<br />

entstehen aus der Leere, aus dem Nichts. Als drittes gibt es den Weg, in welchem die beiden ersten<br />

Erfahrungen beide vorkommen, sich gegenseitig unterstützen, was zu einer neuen Qualität des<br />

Nichts führt. Oder wie es im Zen heißt: Wenn Du die Einheit erfahren hast, wirf sie weg. 1 x 0 = 0.<br />

([5], p 101f)<br />

Ein wichtiger Teil der meditativen Erfahrung ist die schon angedeutete Auflösung der dualistischen<br />

Strukturen. Dies führt <strong>Nalimov</strong> zu der Frage, was ist eigentlich Wissen? ([5], p 125ff) Wir denken<br />

uns normalerweise Wissen als die in Texten eindeutig festhaltbare Anhäufung von Einzelfakten.<br />

<strong>Nalimov</strong> sagt: Nein, echtes Wissen ist das Ergebnis unmittelbarer Erfahrung. Der Weinkenner, der<br />

den Weinberg erkennt, von dem der Wein stammt, kann sein Wissen gar nicht digital vermitteln. Er<br />

schließt sich da, unfreiwillig, wie er sagt, Heidegger an ([5], p 127):<br />

Um zu wissen, muß man in der Welt sein.<br />

Die gnostische Erkenntnis erkennt die Welt in ihrer Einheit. <strong>Nalimov</strong> formuliert: „Wenn Wissen<br />

oder Erkenntnis als eine Erweiterung der Person aufgefaßt wird, dann können wir Liebe als ein<br />

Symbol der Erkenntnis sehen.“ Er findet sich da ganz im Einklang mit der buddhistischen und der<br />

hesychastischen christlichen Tradition. ([5], p 128)<br />

Aber auch die kreative wissenschaftliche Tätigkeit sieht er als eine unbewußte Form der<br />

Meditation ([5], p. 130ff). Sie öffnet sich dem was jenseits der Grenzen der eingefahrenen<br />

Gewohnheit ist, der unmittelbaren Spontaneität. Es ist eine Illusion, Wissenschaft käme ohne die<br />

Deutungsebene aus, selbst auf die Gefahr eines Irrtums. Selbst die nüchternste wissenschaftliche<br />

Prognose läuft eigentlich auf die Kreation eines Mythos hinaus. Das von <strong>Nalimov</strong> hier verwendete<br />

Wort „Mythos“ ist natürlich keineswegs abwertend gemeint. Er drückt etwas ähnliches aus wie<br />

Einsteins berühmtes Diktum (zitiert nach [14], S.96/97).


Erst die Theorie entscheidet darüber, was wir beobachten können.<br />

Die Theorie kann allerdings irren. Als Beispiel nennt <strong>Nalimov</strong> die wissenschaftliche Arbeiten<br />

berühmter Leute, die noch ein paar Jahre nach dem ersten Flug der Gebrüder Wright „bewiesen“,<br />

daß Flugmaschinen prinzipiell unmöglich sind. ([5], p 132)<br />

Das Unbewußte und das Bewußtsein sind gemäß seiner probabilistischen Sicht eigentlich nicht<br />

scharf getrennt. Das Unbewußte, so wie er das Wort in dem Buchtitel Realms of the Unconscious<br />

meint, ist synonym mit der Imagination ([5], p. 95), dieser immer wieder unvorhersehbaren<br />

kreativen Kraft, die aus dem Nichts unsere wichtigsten Einsichten speist. Er fühlt sich in seiner<br />

Sicht des Unbewußten C.G. Jung wesentlich näher als Freud, Freud ist in seinen Augen zu<br />

deterministisch, reduktionistisch.<br />

Zurück zur eigentlichen Meditationserfahrung. Auf dieser Reise in das Innere wird der<br />

Meditierende immer wieder das, was er sich einbildet, daß es ihn ausmacht, einreißen und wieder<br />

aufbauen. In <strong>Nalimov</strong>s Sprache: Er wird ständig die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Deutungen<br />

umformen, auf der Basis dessen was er erlebt.<br />

Besonders angesprochen hat mich seine „Begegnung“ mit Meister Eckhart ([5], p 115ff). Lassen<br />

Sie mich eine Stelle 8 bei Meister Eckhardt vorlesen und <strong>Nalimov</strong>s Reaktion.<br />

Die Agenten der Seele, durch die sie handelt, sind abgeleitet vom Kern der Seele. In diesem<br />

Kern ist das zentrale Schweigen, der reine Frieden, das Haus der himmlischen Geburt, der<br />

Platz für den Vorgang der Äußerung von Gottes Wort. Dieser Kern der Seele spürt seiner<br />

Natur nach nichts außer dem göttlichen Sein, unvermittelt. Hier tritt Gott ein mit allem was<br />

er hat und nicht nur teilweise.<br />

<strong>Nalimov</strong>s Kommentar: Es scheint uns, daß das was wir so wortreich über Meditation gesagt haben,<br />

alles enthalten ist in Eckhardts Worten über das Schweigen der Seele. Er führt das und ähnliche<br />

Punkte mit weiteren Eckhardt-Zitaten an, und sagt dann<br />

Wir spüren ständig den Wunsch, nach einer neuen Sprache zu suchen und sie zu sprechen.<br />

Merkwürdig genug können wir tatsächlich das, was in der alten Sprache gesagt worden ist,<br />

erst verstehen, nachdem wir es geschafft haben, es in der neuen Sprache unabhängig<br />

auszudrücken. Wir bemerken dann den Kontakt der zwei verschiedenen Bewußtseine, die in<br />

der Zeit durch viele Jahrhunderte getrennt sind.<br />

Ich denke, das ist eine schöne Beschreibung eines Teils der Aufgabe, das einheitliche Bewußtsein<br />

lebendig werden zu lassen.<br />

Das umfassende Bewußtsein.<br />

Lassen Sie mich schließen mit einigen Auszügen aus dem Vortrag Selforganization as a Creative<br />

Process [8], den ich selber von ihm in <strong>Kaiserslautern</strong> gehört habe, und der u.a. eine schöne<br />

Zusammenfassung einiger seiner wichtigsten Thesen enthält:<br />

Jeder ernsthafte Text ist ein Phänomen maximaler Komplexität (Kolmogorov). Er kann nicht<br />

(algorithmisch) kürzer geschrieben werden als er ist. Die möglichen Deutungen kann man durch<br />

eine Wahrscheinlichkeitsverteilung p(µ) beschreiben. Verstehen eines Texts ist immer sehr<br />

persönlich, und wird durch den Bayesschen Syllogismus verändert. Spontanes Verständnis zeugt<br />

von dem Prozess der Selbstorganisation im Bewußtsein.<br />

8 <strong>Nalimov</strong> zitiert eine englische Übersetzung von Meister Eckhart, ich habe den Originaltext nicht vorliegen,<br />

übersetze also in heutiges Deutsch zurück.


Das menschliche Ego ist ein spezieller Text; ebenso biologische Systeme. Die lebendige Welt wird<br />

gesehen als ein wahrscheinlichkeitstheoretische Entfaltung des Kontinuums biologischer<br />

Bedeutungen. In der Evolution wird das ganze Feld der Attribute simultan verändert. Dies ist in<br />

dem Buch Space, Time and Life [6] ausgeführt. Wir können uns natürliche Selektion nicht ohne ein<br />

im Voraus gegebenes System von Optimalitätskriterien vorstellen.<br />

Selbstorganisation bedeutet die spontane Auswahl numerischer Werte im System. Dieser Vorgang<br />

kann als kreativ betrachtet werden, da er als ein Mechanismus universaler Schöpfung auf allen<br />

Ebenen der Existenz wirkt. Die spontane Auswahl der fundamentalen Konstanten der Physik kann<br />

auch in diesem probabilistischen Modell verstanden werden. Das klassische Kantsche Konzept der<br />

Natur der Reinen Vernunft kann ergänzt werden: Zahl ist eine a priori Form der sinnlichen<br />

Wahrnehmung, und die zwölf Kategorien der a priori Urteile sollten erweitert werden durch<br />

Stochastizität oder weiter gefaßt, durch Spontaneität.<br />

Wir werden auf diese Weise zur Annahme eines Quasi-Bewußtseins im Universum geführt, und wir<br />

verstehen so neu die alte Idee des Geists (mentality) als Basis des Universums. Verwandt damit ist<br />

die alte griechische Vorstellung unseres Planeten Erde als einem lebendigen Organismus, der Göttin<br />

Gaia. <strong>Nalimov</strong> schließt sich dem Physiker J.A. Wheeler im Vorwort zu dem unten zitierten Buch<br />

[11] über das Anthropische Prinzip an:<br />

No! The philosopher of old was right. Meaning is important, is even central. It is not only<br />

that man is adapted to the universe. The universe is also adapted to man.<br />

Dies ist die höchste und expliziteste Manifestation der Selbstorganisation.<br />

Diese Zusammenfassung beschreibt die Grenze: Jenseits der Grenze – stehen wir der letzten<br />

Wirklichkeit gegenüber. Mysterium.<br />

Auswahl der Schriften von V.V. <strong>Nalimov</strong><br />

<strong>Nalimov</strong> war erst ab seinem 50 Lebensjahr in einer materiellen Position, die ihm eine intensive<br />

Publikationstätigkeit erlaubte. Er schrieb zahllose Zeitschriften-Artikel und mehrere Monographien.<br />

Drei seiner Bücher durften in der Sowjet-Union nicht erscheinen, und wurden daher nur auf<br />

Englisch veröffentlicht. Hier ist eine kurze Auswahl von übersetzten Texten.


[1] <strong>Nalimov</strong>, V.V. and Mulchenko, Z.M. (1971) Measurement of science. Study of the development<br />

of science as an information process. Washington, DC. US Air Force Translations.<br />

[2] <strong>Nalimov</strong>, V.V. (1975) Theorie des Experiments. Berlin: VEB Deutscher Landwirtschaftsverlag.<br />

[3] <strong>Nalimov</strong>, V.V. (1981) Faces of Science. Philadelphia: ISI Press<br />

[4] <strong>Nalimov</strong>, V.V. (1981) In the labyrinths of language: A Mathematician's Journey. Philadelphia:<br />

ISI Press<br />

[5] <strong>Nalimov</strong>, V.V. (1982) Realms of the Unconscious: The Enchanted Frontier. Philadelphia: ISI<br />

Press<br />

[6] <strong>Nalimov</strong>, V.V. (1985) Space, Time and Life. The Probabilistic Pathways of Evolution.<br />

Philadelphia: ISI Press.<br />

[7] <strong>Nalimov</strong>, V.V. (1992). Spontaneity of Consciousness. In: Nature, Cognition and Systems II,<br />

M.E. Carvallo (ed.), Dordrecht, Kluwer, 313-324<br />

[8] <strong>Nalimov</strong>, V.V. (1994). Self-Organization as a Creative Process. In: Self-Organization. An<br />

Interdisciplinary Search for a Unifying Principle, R.K. Mishra, D. Maaß, E. Zwierlein (eds.),Berlin<br />

etc. Springer, 270-279<br />

[9] <strong>Nalimov</strong>, V.V. (1995) Philosophy of Number: How metrical hermeneutics is possible. Editiert<br />

und übersetzt von Dzannah Dragolina-<strong>Nalimov</strong> (2001). In [12], 185-192.<br />

Weitere Literatur<br />

[10] Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers. Die vollständige Ausgabe. (deutsche<br />

Ausgabe 1974) Freiburg, Basel, Wien: Herder<br />

[11] Barrow, J.D. and Tipler, E.J. (1986) The Anthropic Cosmological Principle. Oxford:<br />

Clarendon Press.<br />

[12] Bonitz, M. (ed.) (2001) V.V. <strong>Nalimov</strong> Memorial issue. Scientometrics, 52 (2).<br />

[13]Bruslovsky, B.Y. A. (1978) Partial and system forecasting in scientometrics. Technol.<br />

Forecast. Soc. Change 12, 193-200.<br />

[14] Heisenberg, W. (1973) Der Teil und das Ganze. München: dtv.<br />

[15] Kolmogorov, A. N. (1933) Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Berlin: Springer.<br />

[16] <strong>Nalimov</strong>-Dragolina, D.Z. (1990). <strong>Nalimov</strong>'s conception of human nature. ReVision Journal,<br />

12(3), 19-29<br />

[17] Thompson, A. (1993). Vasily Vasilyevich <strong>Nalimov</strong>: Russian Visionary. Journal of Humanistic<br />

Psychology 33 (3), 82 -98<br />

[18] Facing the Mystery: A Philosophical Approach. (2001) In [12], 179-184.

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