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VV Nalimov - Fachbereich Mathematik - Universität Kaiserslautern

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Offenbar war er schon als junger Mann spirituell wach. Er nennt eine Reihe von Namen als seine<br />

Lehrer. Seine Gefährten nannten sich „mystische Anarchisten“. Leider habe ich über diesen<br />

Abschnitt seines Lebens und damit über die spezifische Bedeutung dieses Ausdrucks aus dem Titel<br />

des Vortrags nichts genaueres erfahren können. Klar ist jedoch, daß dies an zwei wichtige russische<br />

Traditionen anknüpft aus der vorrevolutionären Zeit, die Sie vielleicht andeutungsweise aus<br />

Dostojewskis Schuld und Sühne (Rodion Raskolnikov) kennen. Einerseits die antiklerikale<br />

Bewegung der Anarchisten, die unter hohem persönlichen Risiko die Ideen von Freiheit und<br />

Spontaneität propagierte. Meine atmosphärische Vorstellung davon ist geprägt von Bunins<br />

Jugenderinnerungen, dessen Bruder wegen seiner Zugehörigkeit zu einer solchen Bewegung auf der<br />

Flucht vor der zaristischen Polizei war. Welcher Tradition und Form andererseits die mystische<br />

Überlieferung seiner Lehrer verbunden war, weiß ich nicht. Ein eindrucksvolles Zeugnis für die<br />

Tiefe russischen mystisch-christlichen Lebens im 19. Jahrhundert sind die Aufrichtigen<br />

Erzählungen eines russischen Pilgers [10].<br />

Wohl im Zusammenhang mit dieser Zugehörigkeit wurde <strong>Nalimov</strong> 1936 wegen<br />

konterrevolutionärer Aktivitäten zu 5 Jahren Erziehungslager in Kolyma verurteilt. Er schreibt über<br />

sich und seine Mithäftlinge ([17]):<br />

Es war schrecklich dort in jeder Beziehung; in Raum und Zeit vergessen – sie hatten alles<br />

verloren, eingefangen in eine Leben, das übersättigt war von harter Arbeit, Kälte und<br />

Hunger. Eine auf Jahre hinausgezogene Folter.<br />

Nach einigen Jahren in einem Labor einer metallurgischen Fabrik wurde er 1949 wieder verhaftet<br />

und nach Kasachstan verbannt, wo er eine ähnliche Arbeit hatte. Erst nach Stalins Tod wurde 1954<br />

er unter Auflagen freigelassen und 1960 endlich politisch rehabiliertiert. 1989 sagt er rückblickend:<br />

Auch heute noch fühle ich hinter mir den Schatten mit Namen „Volksfeind“.<br />

<strong>Nalimov</strong> war Wissenschaftler. Er hatte <strong>Mathematik</strong> studiert. Er fand nach seiner Rückkehr nach<br />

Moskau einen Förderer in dem großen, in der Sowjetunion und auch überall sonst hochverehrten<br />

Andrej N. Kolmogorov, der 1933 die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitstheorie als Teil der<br />

modernen <strong>Mathematik</strong> etabliert hatte, und dessen Schüler bis heute eine große Rolle im russischen<br />

<strong>Mathematik</strong>-Leben spielen. Kolmogorov vermittelte ihm eine leitende Position in einem<br />

interdisziplinären statistischen Labor der Moskauer <strong>Universität</strong>. Kolmogorov erklärte: <strong>Nalimov</strong> hat<br />

einen solchen Rang als Wissenschaftler, daß er tun und lassen soll, was ihm wichtig erscheint.<br />

([18], p. 183) Ich verweise darauf, daß auch Solschenizyn <strong>Mathematik</strong>er war und dieses Fach für<br />

viele kritische Intellektuelle wegen seines hohen Ansehens in der Sowjetzeit ein Dach bot.<br />

<strong>Nalimov</strong> leitete bis zu seinem Lebensende 1997 eine Abteilung über die mathematische Theorie<br />

der Experimente in der biologischen Fakultät der Lomonossov <strong>Universität</strong>. In den letzten<br />

Jahrzehnten wurde er wesentlich unterstützt von seiner zweiten Frau Jeanna Drogalina, Linguistin,<br />

Übersetzerin und Meditationslehrerin. Ich sehe noch beide zusammen auf einer Tagung in<br />

<strong>Kaiserslautern</strong> etwa 1993, ein Bild voller wacher Wärme. Seine Frau hat zu seiner<br />

Charakterisierung einen Satz von Maeterlinck ([17]) zitiert:<br />

Die Größe eines Manns mißt sich an den Mysterien, die er kultiviert.<br />

Ich hoffe wir werden am Ende dieses Vortrags etwas besser verstehen, warum dies gut paßt.<br />

Seine Theorie der Experimente war im Ostblock unter empirischen Wissenschaftlern recht populär.<br />

Sie zeichnet sich durch eine Fülle von konkreten Beispielen aus. Dies bleibt typisch für seinen<br />

sowohl enzyklopädischen als auch anekdotischen Stil. Auch in seinen späteren, viel weiter<br />

angelegten Texten belegt er seine Überlegungen stets mit vielen Zitaten aus einem<br />

atemberaubenden Spektrum von literarischen, philosophischen und wissenschaftlichen<br />

Zusammenhängen.

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