Nachtrag für ein Rundtischgespräch
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Integrative Leistungsbeurteilung<br />
Für <strong>ein</strong> <strong>Rundtischgespräch</strong> am Rand der GfA-Tagung in Zürich – 24. März 2004<br />
Integrative Leistungsbeurteilung <strong>für</strong> die praktische Arbeitsmedizin –<br />
Gedanken zur Struktur des Problems und dessen Umsetzbarkeit<br />
B. Hartmann (Hamburg)<br />
Der praktizierende Arbeitsmediziner hat mehrere Anlässe zur Beurteilung von<br />
Leistungsfähigkeiten:<br />
Vorstellung von Problemfällen<br />
a) wegen langdauernder / wiederholter AU (AG)<br />
b) wegen Beschwerden (vorwiegend in Großbetrieben oder selten gemäß §7<br />
BGV A4)<br />
c) wegen <strong>ein</strong>es „ärztlichen Attests“ des behandelnden Arztes (z. B. „5-Kilo-<br />
Sch<strong>ein</strong>“)<br />
d) wegen Rehabilitation vor / nach Maßnahme oder bei Ausfall <strong>ein</strong>es<br />
Schwerbehinderten >6 Wochen (SGB IX)<br />
e) wegen betrieblicher Entscheidungen über die Umsetzung <strong>ein</strong>es Beschäftigten<br />
an anderen Arbeitsplatz.<br />
Ergebnis <strong>ein</strong>er allgem<strong>ein</strong>en arbeitsmedizinischen Beurteilung<br />
a) Allgem<strong>ein</strong>e arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen nach AsiG<br />
(Freiwillige Angebotsuntersuchung in <strong>ein</strong>igen Unternehmen oder Branchen)<br />
b) Gesamtbeurteilung <strong>ein</strong>es Beratungsfalles<br />
c) Gesamtbeurteilung auf eigenen Wunsch des Beschäftigten bei fachärztlicher<br />
Anfrage<br />
Spezielle Vorsorgeuntersuchungen bei besonderen Belastungen und<br />
Gefährdungen (weitgehend identisch mit BG-Grundsätzen, die sich auf<br />
Gefahrstoff-VO und Biostoff-VO gründen) – Häufigste Anlässe sind relevante<br />
Erkrankungen bei:<br />
a) Staub<strong>ein</strong>wirkungen (spezifisch und unspezifisch)<br />
b) Schwerer Atemschutz, Taucher,<br />
c) Gefahrstoffe mit Aufnahme über Atemwege und Haut<br />
Individuelle Problemsituationen zwischen Arbeit und Gesundheit, in die der<br />
Betriebsarzt ungenügend <strong>ein</strong>bezogen wird, obwohl Kompetenz vorhanden ist<br />
oder s<strong>ein</strong> sollte (- wird aber nicht abgefordert und somit nicht gepflegt -):<br />
a) Zustand nach Arbeitsunfällen – Abstimmung mit beratenden Ärzten der BGen<br />
b) Zustand nach schweren Erkrankungen, wenn der behandelnde Arzt (Hausarzt,<br />
Facharzt, Krankenhaus) bereits die Berentung vorgeschlagen bzw. aus s<strong>ein</strong>er<br />
Sicht akzeptiert hat<br />
- 1 -
Generelle Problemsituationen zwischen Arbeit und Gesundheit, in die der<br />
Betriebsarzt ungenügend <strong>ein</strong>bezogen wird, obwohl bei ihm die Kompetenz<br />
vorhanden ist oder s<strong>ein</strong> sollte (kaum abgefordert und somit nicht gepflegt):<br />
a) Betriebliche Entscheidungen über Veränderungen der Arbeitsplätze (neues<br />
Produkt, neue Technik ...)<br />
b) Initiativen der AN-Vertretung bei Unzufriedenheit mit Arbeitsbedingungen oder<br />
Tarifproblemen,<br />
c) Aktivitäten von Krankenkassen zur betrieblichen Gesundheitsförderung –<br />
Problem des Fachwissens und der Sachkenntnisse über konkrete<br />
Arbeitsplätze und -bedingungen.<br />
Zu berücksichtigen sind mehrere Entscheidungsebenen:<br />
Medizinisch:<br />
a) Die Funktionsauswirkungen <strong>ein</strong>er Störung oder Erkrankung hinsichtlich<br />
subjektiver Be<strong>ein</strong>trächtigungen und Arbeitserfolg<br />
b) Die Prognose <strong>ein</strong>er Störung oder Erkrankung aus ihrer inneren Dynamik<br />
c) Die Prognose <strong>ein</strong>er Störung oder Erkrankung im Verhältnis zu bestimmten<br />
Belastungen (Art, Intensität, Dauer, Wiederholungen in der Zeit<strong>ein</strong>heit)<br />
Sozial.<br />
a) Das Lebensalter des Auftretens <strong>ein</strong>er Störung oder Erkrankung im Verhältnis<br />
zur restlichen Lebensarbeitszeit<br />
b) Die Chancen der Findung <strong>ein</strong>er adäquaten Beschäftigung bei Untersagung /<br />
Vermeidung bisheriger Belastungen oder Risiken<br />
c) Die gesundheitlichen Risiken auf Grund mangelnder sozialer Sicherung nach<br />
Aufgabe der belastenden / gefährdenden Tätigkeit.<br />
Defizite im Umfeld des Betriebsarztes im Verhältnis zu Erwartungshaltungen an den<br />
Betriebsarzt und s<strong>ein</strong>en Handlungsmöglichkeiten<br />
a) Die klinische Medizin verfügt über kosten- und zeitaufwendige diagnostische<br />
Möglichkeiten <strong>ein</strong>schließlich differentialdiagnostischer Sicherungen und deshalb<br />
zumeist auch über die Informationen zur aktuellen Funktionsbe<strong>ein</strong>trächtigung.<br />
Der Betriebsarzt sollte sie kennen und mit den Arbeitsbelastungen abwägen,<br />
dann kann er mit der klinischen Medizin gem<strong>ein</strong>sam ggf. erst über<br />
Arbeitserprobungen die reale Lösung finden oder feststellen, dass sie im<br />
vorhandenen / erreichbaren Berufsfeld nicht möglich ist.<br />
b) Die klinische Medizin prüft bei geringgradigen Befunden häufig gar nicht die<br />
funktionellen Möglichkeiten und Risiken. Sie kann die belastungs- und<br />
erwerbsbezogene Bedeutung vieler Fallkonstellationen all<strong>ein</strong> nicht abschätzen<br />
und rechtzeitig sekundärpräventive Maßnahmen <strong>ein</strong>leiten. Der Betriebsarzt<br />
erfährt nicht regelhaft von Beschwerden und Symptomen aus dem<br />
Behandlungsbereich. Sie können ihm bekannt werden bei<br />
Vorsorgeuntersuchungen – jedoch nicht unbedingt zeitnah und nicht in allen<br />
Fällen.<br />
- 2 -
c) Die Krankenkasse kontrolliert nicht die Häufung oder lange Dauer von<br />
Erkrankungen mit AU, soweit diese nicht zu Zahlungsverpflichtungen führen<br />
(Tarifvertragsprobleme der Lohnfortzahlung). Der Betriebsarzt wird erst vom<br />
Betrieb selbst in zugespitzte und oft medizinisch und psychisch verfahrene<br />
Situationen <strong>ein</strong>bezogen.<br />
d) Die Krankenkasse meldet nach Aktenlage (Häufung / bestimmte Diagnose bei AU<br />
im Verhältnis zur registrierten Tätigkeit) BK-Verdacht. Ermittlungen der BG<br />
werden <strong>ein</strong>geleitet, ohne rechtzeitig den Betriebsarzt zu konsultieren (theoretisch<br />
in D geregelt).<br />
Defizite der Betriebsärzte selbst können s<strong>ein</strong>:<br />
a) Kenntnisstand über generelle Risiken und Belastungswirkungen bei (z. B.<br />
überbetrieblicher) Betreuung und der Vielfalt der Möglichkeiten des<br />
Querschnittsfachs Arbeitsmedizin.<br />
b) Zuverlässige Informationen über Belastungen an bestimmten Arbeitsplätzen,<br />
die teilweise fallbezogen nachträglich zu beschaffen sind.<br />
c) Kenntnisse in Ergonomie<br />
d) Ungenügendes Zeitpotenzial (Einsatzzeiten) mit betrieblicher Zuordnung) <strong>für</strong><br />
die Klärung komplizierter Fälle – Betriebsarzt arbeitet auf „eigene Rechnung“<br />
Leistungsfähigkeit ist Teil der Gesundheit in Bezug auf die Voraussetzungen,<br />
bestimmte Anforderungen zu erfüllen und dabei bestimmte Belastungen zu<br />
bewältigen. Es gibt somit verschiedene auf die Anforderungen bezogene<br />
„Leistungsfähigkeiten“.<br />
Leistungsfähigkeiten sind im Arbeitsleben bezogen auf die konkrete Einsetzbarkeit,<br />
die aktuelle Arbeitsfähigkeit und die Erwerbsfähigkeit. Ihr Verlust kann führen<br />
zur verminderten Arbeitsleistung,<br />
zu physischen und / oder psychomentalen Beschwerden durch kompensatorische<br />
Überforderung,<br />
zu psychischen Beschwerden wegen des erlebten Leistungsversagens,<br />
zur medizinischen oder psychologischen Behandlungsnotwendigkeit,<br />
zur Arbeitsunfähigkeit (Krankenstand),<br />
zur Minderung der Erwerbsfähigkeit (ggf. mit Behindertenstatus),<br />
zur Erwerbsunfähigkeit.<br />
In jeder Konstellation, die teilweise mit <strong>ein</strong>ander verbunden <strong>ein</strong>treten, stehen andere<br />
Aspekte der Leistungsfähigkeit im Vordergrund.<br />
Verminderte Qualitäten von Leistungsfähigkeit <strong>für</strong> bestimmte Funktionen, die<br />
dominant <strong>für</strong> die Bewältigung <strong>ein</strong>er Aufgabe sind, können durch andere<br />
Leistungsfähigkeiten kompensiert werden, wenn damit weder die Arbeitssicherheit<br />
noch die Effektivität der Arbeit erheblich gemindert werden.<br />
- 3 -
Betriebsärzte werden mit allen Formen der Beurteilungen von Leistungsfähigkeiten<br />
durch Dritte konfrontiert und müssen diese in eigene Einschätzungen übersetzen.<br />
Es gibt k<strong>ein</strong>e Ver<strong>ein</strong>barungen (Definitionen) über die Klassifikation der<br />
Leistungsfähigkeit nach Anforderungs- oder nach Organfunktions-Kriterien. Zwischen<br />
den Fachgebieten und innerhalb existieren nur lückenhafte Ver<strong>ein</strong>barungen.<br />
Beispiele <strong>für</strong> die Physiologie stammen u.a.<br />
aus der Sportmedizin (Grundfähigkeiten Ausdauer, Kraft, Koordination,<br />
Flexibilität),<br />
aus der Arbeitsmedizin (Lasten handhaben – wie?, Fähigkeit in Zwangshaltungen<br />
arbeiten ...),<br />
aus der Rehabilitationsmedizin,<br />
aus der Militärmedizin bezüglich der Verwendungen,<br />
aus der klinischen Medizin beim staging von Krankheiten nach funktionellen<br />
Kriterien,<br />
aus der Begutachtungsmedizin der jeweiligen klinischen Fächer bezüglich der<br />
Minderung der Erwerbsfähigkeit.<br />
Die fachinternen Ver<strong>ein</strong>barungen sind weder innerhalb der Gebiete ihrer Anwendung<br />
noch zwischen ihnen vergleichbar definiert. Im Vordergrund stehen<br />
aus Laboruntersuchungen abgeleitete Stufungen der Leistungsfähigkeit (z. B. %-<br />
Anteile der maximal erreichbaren Werte <strong>ein</strong>er Bezugspolulation),<br />
aus der klinischen Medizin abgeleitete Prognosedaten klinisch manifester<br />
Erkrankungen (Überleben, Heilungschancen)<br />
aus der Epidemiologie abgeleitete Daten der Eintrittswahrsch<strong>ein</strong>lichkeit von<br />
Krankheiten bei gemessenen Funktionsstörungen,<br />
juristisch geprägte Stufen, die zumeist <strong>ein</strong>er „abstrakten Schadensbemessung“<br />
folgen.<br />
Betriebsärzte müssen Aussagen zur Leistungsfähigkeit mit relativ <strong>ein</strong>fachen Mitteln<br />
machen,<br />
die zeiteffizient und kostensparend sind,<br />
von den Fachgremien anerkannt sind (Industri<strong>ein</strong>teressen!),<br />
häufiger im konkreten Bereich des Betriebsarztes angewandt werden<br />
(Beschaffung von Geräten, Qualitätssicherung etc.).<br />
Zusätzlich beschaffen sie sich Fremddaten behandelnder Ärzte. Sie können jedoch<br />
k<strong>ein</strong>e erheblichen Zusatzuntersuchungen zur Einzelfallklärung selbst veranlassen.<br />
Zeitverläufe der Variation und Entwicklung von Parametern <strong>ein</strong>er bestimmten<br />
Leistungsfähigkeit enthalten wesentliche Informationen über deren tatsächliche<br />
Höhe. Sie können allerdings nur begrenzt beschafft werden.<br />
Es fehlt u.a. <strong>ein</strong>e Verfolgung der Gesundheitsdaten über die Zeit bei Betriebswechsel<br />
<strong>ein</strong>er Person (deutscher Datenschutz versus skandinavische Datenspeicher).<br />
Die Überprüfung der Gültigkeit von Labor- und Sprechstundenurteilen in der<br />
Berufspraxis ist <strong>ein</strong> weiteres Kernproblem der komplexen Leistungsbeurteilung.<br />
- 4 -
Obwohl sie dringend nötig wäre, gibt es da<strong>für</strong> weder <strong>ein</strong>en hinreichenden<br />
sozialpolitischen noch <strong>ein</strong>en praktischen Spielraum. Die freie Verfügbarkeit von<br />
Arbeitskräften beschränkt Leistungsbeurteilungen vor Ort oder in realitätsnahen<br />
Simulationen auf wenige Einsatzfelder und hier besonders solche, <strong>für</strong> die aus<br />
Gründen der Drittgefährdung erhebliche Auswahlmöglichkeiten bestehen (Piloten,<br />
Lokführer, Führungspersonal ...).<br />
Praktische Leistungsbeurteilungen vor Ort in <strong>ein</strong>em Unternehmen am Arbeitsplatz<br />
sind fast undurchführbar. Ein Beispiel da<strong>für</strong> ist die geringe Rate von toxikologischem<br />
Biomonitoring bei teilweise hoch gefährdenden Tätigkeiten an nichtstationären<br />
Arbeitsplätzen außerhalb der chemischen Industrie.<br />
Es ist kaum möglich, Beschäftigte an ihrem Arbeitsplatz zu beurteilen, ohne sich dem<br />
Verdacht der Selektion auszusetzen, obwohl <strong>für</strong> <strong>ein</strong>ige Parameter technische<br />
Möglichkeiten des personenbezogenen Monitorings bestehen.<br />
Fazit:<br />
Arbeitsphysiologie ist <strong>ein</strong>e Methode / <strong>ein</strong>e Sammlung teilweise unter<strong>ein</strong>ander<br />
verknüpfter Methoden, um vorrangig biologische Regulationsmechanismen im<br />
Zusammenhang mit Belastungen zu beurteilen.<br />
Die Arbeitsphysiologie sollte Partner der Betriebsärzte s<strong>ein</strong>, aber sich nicht selbst<br />
den Auftrag erteilen, <strong>für</strong> praktizierende Arbeitsmediziner oder Ergonomen<br />
umfassende Kriterien der Leistungsbeurteilung zu entwickeln: Ohne die<br />
Zusammenarbeit mit Betriebsärzten und Ergonomen ist k<strong>ein</strong>e praktische<br />
Arbeitsphysiologie möglich.<br />
Praktische Arbeitsphysiologie spielt <strong>ein</strong>e besonders wichtige Rolle beim<br />
Wissenstransfer von der Theorie in die Praxis, um neue Erkenntnisse und<br />
Werkzeuge (Technik, Methode, Kriterium) <strong>für</strong> die Praxis bereitzustellen.<br />
Praktische Arbeitsphysiologie ist k<strong>ein</strong>e Einbahnstraße von der theoretischen<br />
Physiologie in die niedere Praxis, sondern sie muß zugleich die Realitäten der<br />
Praxis zur Kenntnis nehmen.<br />
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