R1 (Ridika) (Zeit der bürokratischen Unschuld) - Kulturserver-Berlin
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Lyra an <strong>der</strong> Wand bewegte sich kaum merklich, starrte düstere Leere aus den Augen,<br />
ausdruckslose, grausame Augen, die kühlen.<br />
Lyra spähte in die Dunkelheit, verengte Pupillen, wenn die Lichter angehen, erst an <strong>der</strong> Straße,<br />
dann vor den Gebäuden des Hauptquartiers <strong>der</strong> Grenztruppen.<br />
Die Blicke zweier Augen drangen ungehin<strong>der</strong>t an die Dinge, sezierten scharf die Außenwelt, um<br />
sich wirklichkeitsgerecht an Freund und Feind zu orientieren.<br />
Lyra und die Auflösung <strong>der</strong> Konturen des Ichs am Schulungsort, den Bunkern, den Gräben, den<br />
Sicherungsanlagen.<br />
Lyra auf Abruf, eine Stimme, „ja“ - bewegte sich Lyras Mund kaum merklich, machte auf dem<br />
Absatz kehrt, lief an <strong>der</strong> Wand entlang. Ihr entgegen kamen Soldaten; Biester marschierten in Reih<br />
und Glied.<br />
Laßt sie laufen, Elektronengehirne. Die leidenschaftlichen Kräfte umfunktionalisiert, wird jedes<br />
Individuum wissenschaftlich zum angepaßten Objekt <strong>der</strong> gesellschaftlichen Wirklichkeit zivilisiert,<br />
um aus Lebewesen Apparate normgemäßer Handlungseffizienz zu produzieren.<br />
Gebe deiner Hoffnung eine Abfallgrube. Wir benutzen in einem einfachen Experiment unseren<br />
Polarisationsfilter zur Kontrolle für polarisiertes Licht. Wir drehen nach entsprechendem<br />
Versuchsaufbau den Analysator um seine optische Achse und prüfen, inwieweit wir Dunkelheit<br />
herstellen können. Wir wissen, welcher Natur die Wahrheit des Erblindens ist.<br />
Die Leerstelle ist ein Beziehungspunkt des Unbegrifflichen. Wir durchrationalisierten<br />
Lebewesen fürchten uns vor keinen Teufeln, haben keine Angst vorm Tod, Verlusten gönnen wir<br />
kein Achselzucken, können nicht trauern, freuen uns nie, wir lieben die Liebe nicht, riechen<br />
unbeeindruckt am Geld, sind an <strong>der</strong> Wahrheit nicht interessiert, haben unsere Affekte auskuriert,<br />
sämtliche Gefühle verschlafen, die Besinnung verloren, verloren den Spaß, nur unsere Motorik hält<br />
uns am Leben. Unser Hirnzucken ist ein Tremor, dessen Kotrolle die pharmazeutische Industrie<br />
übernimmt, womit wir, im Einklang mit den Gesetzen, sicheren Händen überantwortet sind und im<br />
Rhythmus exakt, einig <strong>der</strong> Welt.<br />
Lyra bewegte sich zum Hauptportal, zur Fahrbahn hin. Der Abend hatte eine jahreszeitlich<br />
unterkühlte Temperatur, worauf <strong>der</strong> Körper schwach reagierte. Die Augen blinzelten, die Ohren<br />
empfingen die Geräusche des heftigen Abendwinds und fanden zwischen ihnen ein Geräusch, das<br />
die Ankunft eines Bodenfahrzeugs ankündigte.<br />
Lyra war bereit zum Aufbruch.<br />
Das Fahrzeug hielt vor dem Hauptportal. <strong>R1</strong>, die Lyra das Gefährt besorgt hatte, überließ ihr das<br />
Steuer und entfernte sich.<br />
Lyra verließ ohne zurückzublicken das Hauptquartier.<br />
Die Straße war schlecht und streckenweise nur mit geländegängigem Fahrzeug vernünftig<br />
befahrbar. Die Ortschaften, die Lyra passierte, waren mit Soldaten vollgespickt. Doch die<br />
Ortschaften wurden weniger, bis Lyra schließlich durch Steinwüste rumpelte. Die Sonne brach aus<br />
<strong>der</strong> Erde und kroch am Horizont herauf. Ein Flugschrauber <strong>der</strong> Grenztruppe rauschte in <strong>der</strong> Ferne.<br />
Das Gelände stieg an, die Felsen zackiger, türmten sich aggressiv zu steilen Hin<strong>der</strong>nissen,<br />
Kunstwerken gleich von wahnsinniger Zerrissenheit und materieller Spröde. Die Reifen kreischten<br />
gequält und schleu<strong>der</strong>ten über das Geröll, so daß die Steine an den Unterboden prasselten.<br />
Nach vielen Kilometern: Verwil<strong>der</strong>te Bepflanzungen am Wegesrand, ein verfallenes Haus. Lyra<br />
stoppte, stieg aus und stellte die brüchige Eingangstür beiseite.<br />
„Früher lebte ich hier“, dachte Lyra, „nachdem <strong>der</strong> erste Feldzug des Präsidenten siegreich beendet<br />
war, verließ ich die Heimat, um in den Elendsquartieren <strong>der</strong> Ostküstenstädte zu überleben. Ich und<br />
all die an<strong>der</strong>en, die zu uns gehörten und die wir liebten und die wir an die selben Dinge glaubten,<br />
mußten auseinan<strong>der</strong>gehen, denn freie Menschen können vor den Augen <strong>der</strong> Mächtigen nur<br />
unberechtigt existieren. Die einen zogen in die Slums, die an<strong>der</strong>en in die Berge.“<br />
Lyra betrat den Wohnraum, stöberte in den Schubladen <strong>der</strong> morschen Schränke herum, ging<br />
weiter einen Flur entlang.<br />
„Wir feierten im Vorgarten einst Feste, ich, Marietta und die an<strong>der</strong>en“, dachte Lyra.<br />
Am Ende des Gangs wußte Lyra das Zimmer Mariettas. Marietta hatte eine Schachtel Fotografien<br />
unterm Bett liegen; Lyra zog sie hervor und betrachtete die Bil<strong>der</strong>.<br />
Wenn ich die Bil<strong>der</strong> sehe und aufwache - eine Explosion im Kopf - . Ich schließe meine Augen und<br />
kriege meine zweite Explosion im Kopf, ich sinke keuchend auf das staubverschmutzte Lager,<br />
verbiege mich. Wenn ich geträumt habe, muß das eine an<strong>der</strong>e Welt gewesen sein. Sich in Bil<strong>der</strong>n<br />
wie<strong>der</strong>sehen, im Andenken <strong>der</strong> Erinnerungsfotos. Sich als Fremde wie<strong>der</strong>sehen.<br />
Marietta und Ich.<br />
file://C:\<strong>R1</strong>.htm<br />
28.07.2006