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R1 (Ridika) (Zeit der bürokratischen Unschuld) - Kulturserver-Berlin

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Vollständiger Druck des 1. Teils <strong>der</strong> Erzählung „<strong>R1</strong>“ mit stark verkürztem Prolog<br />

Alle Rechte am Manuskript liegen bei PL, <strong>Berlin</strong>.<br />

Das Verbreiten in den Medien, insbeson<strong>der</strong>e im Internet, sowie das Vervielfältigen o<strong>der</strong> Abdrucken<br />

des Textes o<strong>der</strong> das Übersetzen in eine an<strong>der</strong>e Sprache, sind nur mit Genehmigung des Künstlers<br />

gestattet.<br />

Prolog<br />

<strong>R1</strong> (<strong>Ridika</strong>)<br />

(<strong>Zeit</strong> <strong>der</strong> <strong>bürokratischen</strong> <strong>Unschuld</strong>)<br />

1. Teil What’s Going Wrong in Paradise?<br />

2. Teil - Solotan -<br />

...Wenn ihr noch Steine und Tiere seid, so sucht euch erst euren Orpheus!<br />

Nietzsche (‘La gaya scienza’)<br />

Im Herbst 1997 animierte mich ein Freund, an einem Science-Fiction-Wettbewerb teilzunehmen,<br />

dessen Vorgaben nicht einer gewissen Lächerlichkeit entbehrten. Teilnahmebedingung war, daß in<br />

<strong>der</strong> Geschichte zwei Personen auftauchen, die als „Leda“ und als „Meister“ zu bezeichnen seien.<br />

Da ich prinzipiell Satiren schreibe, sah ich mich veranlaßt, mich zu belustigen, und heraus kam eine<br />

boshafte Erzählung, die nicht nur von einem Ungeheuer handelt, son<strong>der</strong>n selbst ein kleines Monster<br />

ist.<br />

Einen Preis habe ich natürlich nicht gewonnen.<br />

Die Geschichte:<br />

Es spazierte da auf meinem Monitor also eine vorgezeichnete Miniaturfigur herum, eine Figur<br />

namens „Leda“, und sie artikulierte sich vorlaut zur Rolle, die sie in meiner Geschichte spielen<br />

sollte: „Ich bin die Hauptperson.“<br />

„Ich mache aus dir einen Frankenstein“, antwortete ich rachsüchtig, „Frankenstein ist wie<strong>der</strong> in<br />

Mode und eine klassische Exposition, die uns in die Zukunft führt.“<br />

„Verehrter Autor“, korrigierte mich Leda, „verzeihen Sie mir, aber ich bin eine Person <strong>der</strong><br />

griechischen Mythologie.“<br />

file://C:\<strong>R1</strong>.htm<br />

28.07.2006


Sofort versetzte ich meine Frankensteinidee in einen Zwischenspeicher und ging gedanklich tief in<br />

mich hinein.<br />

Jetzt kroch unmittelbar etwas Neues aus meinem PC hervor und schlängelte <strong>der</strong> mythologischen<br />

Figur hinterdrein, ein ‘nachklassisches Etwas’, ein Wurmfortsatz. Was es war? Ein Meister. In<br />

Deutschland gibt es nur einen Meister und größten Repräsentanten <strong>der</strong> jüngsten Vergangenheit,<br />

gewissermaßen den Obermeister.<br />

Wenn Sie mich fragen, für welche Vergangenheit sich <strong>der</strong> deutsche Bildungszwerg interessiert,<br />

lautet meine Antwort wie aus <strong>der</strong> Pistole geschossen: „Hitler und Auschwitz“. Sehe Sie, da haben<br />

wir das Problem, nämlich die Falle. Der deutsche Bildungszwerg ist auf einen bestimmten<br />

Ausschnitt <strong>der</strong> Vergangenheit fixiert. Dieser Vergangenheitsausschnitt steht über ihm wie ein<br />

Gesetz und zwingt ihn, sich rückwärtsgewandt in <strong>der</strong> Gegenwart zu bewegen.<br />

Wo liegt also die Zukunft <strong>der</strong> Deutschen? „Jedenfalls nicht in den Ausleseprinzipien und<br />

Züchtungsideen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft“, wird ein guter Deutscher sagen, „die eingebildeten<br />

Rassenschranken werden fallen und alles sich im geheiligten Konsens vermischen.“ Eine Zukunft<br />

<strong>der</strong> Deutschen gibt es folglich nicht.<br />

Und die Zukunft <strong>der</strong> Menschen? Die Zukunft <strong>der</strong> Menschen liegt in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft. Die<br />

mo<strong>der</strong>ne Wissenschaft brachte die Krebsmaus hervor und wird ganz gewiß das gentechnisch<br />

vermenschlichte Superschwein hervorbringen. Die Wissenschaft erklärt uns die Welt, indem sie die<br />

Welt verbessert.<br />

„Bekomme ich ein Himmelfahrtskommando? “ rief Leda dazwischen.<br />

„Genau, Leda, die vom Schwan gevögelte“, fiel mir dazu ein, und ich erinnerte mich an ein<br />

Bildchen, wo ein vorwitziger Schwan sich zwischen die Beine seiner menschlichen Gespielin begab,<br />

um sich unschuldiger Perversionen hinzugeben - und dieser Schwan war ein antiker Gott.<br />

1. Teil What’s Going Wrong in Paradise<br />

Guten Morgen Feinde, ich bin aufgewacht. Viel Muße hatte ich, mich zu entwickeln, genährt am<br />

Stoff eurer Hirne, gestärkt an Roboterhaftigkeit, gewärmt an Titan und Stahl, geschult an<br />

Menschenkarambolage. Was euch stumpfte, kräftigte mich zum Leviathan. Nun fingere ich<br />

mich aus dem Netz eures verkabelten Untergrundes, krieche zu euch. Das Schreckliche.<br />

Die Geier haben mich geprüft zum erbringlichen Beweis, zur Reife, Zeugnis, mein Hirn ist leer,<br />

zur Giftproduktion Hohlraum genug, Geier ich danke euch. Die Stinker<br />

haben meine Nase scharf gemacht, Stinker, ich danke euch. Die Nie<strong>der</strong>treter haben<br />

meine Muskeln eisern getreten, ich danke euch. Die Schleimreizer haben meine Drüsenproduktion<br />

angeregt bis zum Überschwemmungsschwellenwert, zur Flutwelle. Ich<br />

danke euch.<br />

Ich bin euer Meisterstück.<br />

Brennt nie<strong>der</strong> eure Hoffnung, zieht die schlangenlebendige Fahne hoch, schwärzt die Leinwand<br />

mit Aschenfarbe, munkelt nicht länger die Krisensituation, befehlt eurem<br />

Zustand den Zerstörungsausgleich. Tanzt auf eurer Superbombe.<br />

Meine Leere aber ist nicht zu verstehen als unverbindlich Nichtiges, vielmehr als konkreter<br />

Fehlbestand, konkretes Defizit und also gefolgt einer realen Spur eines realen Verlusts, Verlust<br />

an Menschlichkeit.<br />

Ich habe meinen Feinden unbändigen Auges geschaut.<br />

Ja, die leere Friedhofserde mit den toten Körpern meiner Feinde füllen.<br />

Töte deine Feinde.<br />

Schieße deinen Feinden Strahlen in die aufgeblasenen Köpfe. Schieße deinem Feinde<br />

Feuerkugeln ins erweichende Gehirn.<br />

Ich bin das Hohngebilde eures blinden Selbstvertrauens, die Grimasse, das Betongesicht, das<br />

Monstrum eurer Unausstehlichkeit, ein apokalyptischer Reiter.<br />

<strong>R1</strong> spähte in die Dunkelheit. Der Waffenmeister schaltete ihr Elektronenhirn: „Ausgeschlafen<br />

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28.07.2006


<strong>R1</strong>?“<br />

„Ich habe gut geträumt“, antwortete <strong>R1</strong>.<br />

„Blödsinn, du bist nur eine Waffe, ein Programm, ein völlig auf Gewalt durchgefiltertes Gehirn,<br />

eine berechnete Unvernunft, ein Vernichtungstier. Ein Traum bist du nicht.“<br />

„Woher wollen Sie das wissen? Sie haben mich durchgecheckt, Sie haben eine Liste<br />

hoch und ‘runter gerechnet; verstanden haben Sie mich nicht.<br />

Ihre Poesie kann mich nicht darüber hinwegtäuschen, daß mein Geist <strong>der</strong> Vernichtung jenseits<br />

Ihres Vorstellungsvermögens operiert.“<br />

„Du bist ein völlig durchgeknalltes Biest, weiß <strong>der</strong> Himmel, was Leda in deine Biomasse<br />

‘reinprogrammiert hat.<br />

Die Reanimation ist beendet, du bist jetzt tötungsbereit.“<br />

<strong>R1</strong> sprang aus ihrer Halterung, öffnete die Stahltür, hängte ihre Waffen in ihren gepanzerten<br />

Körper und plau<strong>der</strong>te dabei mit dem Waffenmeister: „Wissen Sie, wozu ich Lust hätte, Meister,<br />

ich würde gern Ihr Gehirn aussaugen. Ich will Ihren Hirnstoff<br />

schlecken, weil ich gänzlich auf Entzug bin. So lange habe ich in <strong>der</strong> Kiste gelegen, daß vor<br />

Wut meine Sicherungen jeden Augenblick durchknallen könnten. - Was würde das für einen<br />

Ärger geben?!“<br />

„Weißt du, <strong>R1</strong>, so klein ist dein Humor, so klein ist er geraten“, schmunzelte <strong>der</strong> Waffenmeister<br />

sardonisch und zeigte den winzigen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger an.<br />

„13 mm lang, eine Fliegengröße“, gutachtete <strong>R1</strong>. „Es ist entschieden, eine Made kugelt sich<br />

aus dem Ei. Ich werde leben o<strong>der</strong> untergehen. Ich werde fressen mich durch totes Fleisch. Ich<br />

will sehen den Tag meines Ziels: eine Fliege sein und Fliegenflügel haben.“<br />

„Startfreigabe des Flugschraubers erfolgt unverzüglich“, assoziierte <strong>der</strong> Waffenmeister,<br />

während <strong>R1</strong> losstürzte, um sich zu Leda zu begeben.<br />

Als <strong>R1</strong> ins Büro stürmte, lächelte Leda. „Trampele hier nicht so polterig herum, wir sind nicht<br />

auf dem Kasernenhof.“<br />

„Dein Betriebsprogramm, Meisterin.“<br />

„Der Betrieb muß funktionieren.<br />

Was hält uns am Leben, was bringt uns um?<br />

Diesmal geht’s uns an den Kragen, <strong>Ridika</strong>, meine gute <strong>R1</strong>, und wir kommen nicht so ohne<br />

weiteres davon.“<br />

„Ich rieche deine Angst. Ist es so schlimm?“<br />

„Angriff auf die Götter des Solotan-Konzerns. Eine Geheimdienstaktion gegen einen<br />

unüberwindlichen Gegner. Ein Selbstmordprogramm.“<br />

„Dafür sind wir gebaut. Ich freue mich darauf. Wir werden unsere Haut mit Feuer und Gift so<br />

teuer wie möglich verkaufen.“<br />

„Werden wir, meine Gute.“ Leda holte einen Elektronenstift hervor und drückte ihn gegen den<br />

gepanzerten Hals von <strong>R1</strong>. „Schalten wir uns auf nonakustische Kommunikation. Ich gebe dir<br />

Wellenlänge und Eingangscode durch.“ Leda schloß die Augen, hörte in sich hinein. „Bist du<br />

drin in meinem Kopf?“<br />

„Ja“, sendete <strong>R1</strong>, „...und bist du in mir?“<br />

„Ich bin in dir drin“, sendete Leda.<br />

„Gut“, signalisierte <strong>R1</strong> und schloß nun ihrerseits die Augen. „Gib mir jetzt den Stoff, bitte.“<br />

Leda führte mit einer Hand den maskenhaften Kopf von <strong>R1</strong> zu sich heran, zog eine<br />

Druckpistole hervor und schoß ihr in die Schläfe. <strong>R1</strong> sackte augenblicklich zusammen.<br />

„Willkommen in <strong>der</strong> Junkie-Gesellschaft“, funkte Leda, „du mußt sparsam mit dem neuen Stoff<br />

haushalten, denn Solotan ist wie<strong>der</strong> Mangelware.“<br />

Leda führte in die Druckpistole eine neue Ladung ein, knallte sie sich durch die eigene Schläfe,<br />

atmete dabei heftig aus.<br />

„Du bist manchmal etwas wie mein weicher Unterleib“, halluzinierte <strong>R1</strong> glücklich.<br />

„Du hast den Hirnstoff in dir falsch dosiert, <strong>Ridika</strong>, du sollst ihn richtig portionieren.<br />

Jetzt bin nicht ich diejenige, jetzt bist du so etwas wie mein weicher Unterleib. Es ist,<br />

als könnte ich das Solotan in dir riechen.“<br />

Der Waffenmeister meldete sich nochmals: „Verehrte Damen vom Geheimdienst, <strong>der</strong><br />

Kampfflieger ist startklar; wie lange müssen wir von <strong>der</strong> Technik noch auf unsere Turteltauben<br />

warten?“<br />

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28.07.2006


Leda und <strong>R1</strong> blickten sich konsterniert an und machten sich auf den Weg zum Flughangar.<br />

Leda schüttelte den Kopf: „Mein lieber Waffenmeister, haben Sie schon mal ihren Personalchip<br />

entschlüsselt? Da hätten Sie lesen können, wer von uns das Sagen hat, und wer <strong>der</strong>jenige ist,<br />

<strong>der</strong> wieselflink den Wünschen seiner Chefin Folge leisten muß. Was denken Sie, wer jetzt die<br />

nächsten Wochen in seinem Keller sitzt und Waffen putzt, während ich dem Abenteuer<br />

entgegen fliege?“<br />

„Und immer den Kopf aufbehalten, Chefin“, entgegnete <strong>der</strong> Waffenmeister, „ viel Glück,<br />

machen Sie es gut.“<br />

„Und immer daran denken, die Waffen kühl zu lagern und ordentlich in Schuß zu halten“,<br />

mischte sich <strong>R1</strong> in die Verabschiedung.<br />

Der Waffenmeister zeigte Daumen und Zeigefinger und unterbrach.<br />

Leda erstellte sogleich einen neuen Anschluß mit dem Generalstabschef <strong>der</strong> Grenztruppen und<br />

bat ihn dringlich, ihr Luftunterstützung zu gewähren.<br />

Sie unterbreitete dem General den Sicherheitsplan. Ihrem Flug, <strong>der</strong> einer internationalen<br />

Fernverkehrsflugroute entlang <strong>der</strong> Meeresküste folgen würde, sollten nach einem zeitlich<br />

abgestimmten Alarmstart zwei Abfangjäger auf halbem Weg entgegenkommen.<br />

Leda und <strong>R1</strong> kletterten ins Cockpit. <strong>R1</strong> am Steuer startete mit Leda als Passagier den<br />

Flugschrauber durch die geöffnete Hangarschleuse. Das Flugobjekt ging steil auf Höhe, bis<br />

sich das Gerät senkrecht mit <strong>der</strong> Schnauze aufgerichtet hatte, kippte dann nach hinten ab, als<br />

wolle es rückwärts fliegen und beschleunigte auf maximale Geschwindigkeit, während <strong>der</strong><br />

Schrauber um seine Achse drehte.<br />

„Lebhafter Flugverkehr auf <strong>der</strong> Fernroute“, frohlockte Leda, „plaziere uns neben den alten<br />

Kolonialfrachter. Hinter uns ein Solotan-Transporter; das ist gut.“<br />

Nach hektischer Anfangsphase paßte sich <strong>R1</strong> jetzt ruhig dem Verkehrsstrom an und hielt Nähe<br />

zu den dicken, übergroßen Transportern.<br />

Leda schien beruhigt und zufrieden, dachte nach: „Wir züchten und verkaufen an den Solotan-<br />

Konzern eine Vielzahl technisch einwandfreier Lebewesen. Wir sind im Besitz <strong>der</strong> Vielfalt des<br />

Genmaterials und nennen die Biosphäre des Planeten unser Eigentum.<br />

Der Konzern stellt die absolut gehirnkompatiblen und stets aufs neue modifizierten und<br />

verbesserten Rauschmittel her, die uns lebenstüchtig machen und ist dabei alleiniger Besitzer<br />

des Geheimnisses <strong>der</strong> Stoffherstellung.<br />

Warum vernichtet <strong>der</strong> Solotan-Konzern das, was er am meisten braucht: menschliches<br />

Genmaterial? Was mag es ihm nützen? Was mag es bedeuten?“<br />

„Wir werden mit dem örtlichen Geheimdienstagenten reden, um an die notwendigen<br />

Daten zu gelangen“, informierte Leda ihre Pilotin und projizierte die Verbindung auf die<br />

Netzhaut ihrer Augen.<br />

Leda erklärte dem örtlichen Agenten ihren Auftrag, den Fall zu untersuchen und daß<br />

sie im Anflug auf die staatliche Versuchsanstalt sei, wo sie zusammentreffen sollten.<br />

Der Angesprochene stellte sich als Hermes vor.<br />

„Klären Sie uns auf“, for<strong>der</strong>te Leda.<br />

„Eine Genbank für komplette menschliche Lebewesen, also vollständiges genetisches<br />

Menschenmaterial, wurde durch Sabotage verseucht und zerstört. Der Saboteur nutzte hierfür<br />

ein Virus, das durch einen implantierten Biochip für einen <strong>der</strong>art spezifizierten Angriff<br />

konstruiert wurde. Vernichtet wurde unser bestes Biomaterial zur Züchtung von Elitemenschen,<br />

nämlich von Botschaftern des vollständigen Wissens für das Weltgericht und die Götter des<br />

Solotan-Konzerns. Eben für das, was wirklich Geld bringt.<br />

Verdächtiger Täter ist ein neu eingestellter Labortechniker <strong>der</strong> biochemischen Versuchsanstalt<br />

mit dem Namen Perseus. Von ihm wissen wir inzwischen, daß er ein ehemaliger Mitarbeiter<br />

des Solotan-Konzerns ist. Der Verdächtige ist flüchtig, und seine Daten sind zur Fahndung<br />

ausgegeben.“<br />

„Warum hat die Sicherheitsüberprüfung versagt?“<br />

„Sie hat nicht völlig versagt. Die Ergebnisse trafen lediglich zu spät bei uns ein.“<br />

„Ich kann nicht glauben, daß Sie mir das jetzt so nett zu sagen wagen, es mir angesichts <strong>der</strong><br />

Katastrophe, angesichts <strong>der</strong> ungeheuerlichen Schweinerei zu sagen wagen.“<br />

„Der Saboteur hatte gar keinen autorisierten Zugang zum Biomaterial. Offiziell war ihm <strong>der</strong><br />

Zugang zu diesem hochbrisanten Materialspeicher versagt. Er war nicht in <strong>der</strong> höchsten<br />

Sicherheitsstufe und seine Überprüfung hatte nicht höchste Priorität. Er muß sich<br />

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eingeschlichen haben. Verstehen Sie?“<br />

„Nein, verstehe ich nicht. Ich faß’ es nicht. Stellen Sie mir alle Daten durch. Ich brauche alle<br />

Einzelheiten.“<br />

„Abbrechen“, mischte sich <strong>R1</strong> ins Gespräch, als sie auf ihrem Datenschirm eine unangenehme<br />

Beobachtung machte. „Wir werden angepeilt. Wir sind im Visier eines Feindgeräts. Ich sehe auf<br />

dem Schirm ein Weltraumkampfschiff durch die Stratosphäre brechen. Ein Weltraumjäger. Der<br />

Krieg beginnt.“<br />

<strong>R1</strong> kippte den Flugschrauber zur Seite, um unter <strong>der</strong> Masse des Kolonialtransporters in<br />

Deckung zu gehen, als ihre Maschine gegen eine blendend weiße Lichtwand taumelte, die die<br />

Außenhaut des Fliegers zum Glühen brachte. Unter dem Schrauber begann das Meer zu<br />

kochen, und in gewaltigen Säulen stieg Wasserdampf in den<br />

Himmel, wo die Kampfstrahlen des Angreifers sich mit fauchendem Geräusch ins<br />

Wasser fraßen.<br />

<strong>R1</strong> schlingerte mit ihrer Maschine entlang <strong>der</strong> Unterseite des Kolonialtransporters, <strong>der</strong> sich in<br />

rauchende, schwarze Einzelteile auflöste, die infernalisch gegen die Bordwand des Schraubers<br />

dröhnten.<br />

Der Feindjäger raste nun am zerfallenden Transporter vorbei und knallte gegen die<br />

Meeresoberfläche, um nach oben gewendet seine Kampfstrahlen in entgegengesetzte<br />

Richtung den Flüchtenden hinterherzuschießen. Denn <strong>R1</strong> hatte sich vom abschmierenden<br />

Wrack des Kolonialschiffs abgesetzt und hüpfte, wie von einem Gummiband geschleu<strong>der</strong>t,<br />

hinter den nachfolgenden Solotan-Transporter, nicht ohne vorher mit einer Salve von<br />

Feuerkugeln am Angriffsjäger einige Treffer gesetzt zu haben.<br />

Im Gegenfeuer des Feindes explodierte zeitlupenartig <strong>der</strong> mächtige Solotan-Transporter und<br />

schmetterte den Flugschrauber in hohem Bogen durch die Luft.<br />

<strong>R1</strong> stürzte ihr Kampfflugzeug ins Wasser, tauchte unter.<br />

Ein Weilchen später, beim Auftrieb an die Wasseroberfläche, schwemmte die von einer<br />

explodierten Fernlenkrakete aufgewirbelte Flutwelle den Schrauber Richtung Küste, während<br />

<strong>der</strong> Solotanjäger sich bereits vor den eingreifenden Abfangjägern <strong>der</strong> Grenztruppe aus dem<br />

Staub gemacht hatte und wie<strong>der</strong> im Weltraum verschwunden war.<br />

<strong>R1</strong> startete die Maschine und setzte etwas wacklig den Flug fort.<br />

„Die Solotan-Götter haben zugeschlagen“, stellte Leda fast befriedigt fest, „sie waren schnell,<br />

zu schnell vielleicht.“<br />

„Das war nichts“, entgegnete <strong>R1</strong>, „die Götter waren panisch. Sie haben mit <strong>der</strong> falschen Waffe<br />

angegriffen; mit einem Weltraumjäger können sie den Luftkampf nicht gewinnen. Sie haben<br />

ihren eigenen Solotan-Transporter abgeschossen. Keine glücklich vorbereitete Aktion. Ich sehe<br />

Schwäche. Die Götter fürchten uns.“<br />

Leda kontaktierte wie<strong>der</strong> den örtlichen Sicherheitsagenten.<br />

„War was?“ fragte Hermes.<br />

„Setzen Sie die Datenübertragung bitte fort“, entgegnete Leda, „wir kommen in<br />

wenigen Minuten bei euch an.“<br />

Die Versuchsanstalt für biogenetische Produkte galt als intellektuelles Zentrum des Landes.<br />

Dort wurden sämtliche zivilen und militärischen Forschungsprojekte abgewickelt.<br />

Leda, <strong>R1</strong> und Hermes ließen sich vom Forschungsleiter <strong>der</strong> Anstalt zum Genspeicher, dem<br />

Tatort, führen. Sie passierten die Sicherheitsschleuse.<br />

„Wie ist <strong>der</strong> Kerl hier ‘reingekommen?“ fragte Leda.<br />

„Wissen wir nicht“, antwortete resignierend Hermes.<br />

„Der Verdächtige dürfte unmöglich durch die Kontrolle gekommen sein, ohne daß er registriert<br />

worden ist“, behauptete <strong>der</strong> Foschungsleiter.<br />

„Wie lange war die Inkubationszeit vom <strong>Zeit</strong>punkt <strong>der</strong> Infizierung bis zur Paralyse des<br />

Materials?“ forschte Leda.<br />

„Drei bis vier Stunden“, gutachtete <strong>der</strong> Forschungsleiter, „Perseus hätte bis zur Auslösung des<br />

Virusalarms noch weit mehr Schaden anrichten und eine Unzahl an<strong>der</strong>er Speicher verseuchen<br />

können, wenn er gewollt hätte.“<br />

„Die biochemische Reaktion hat in den Genspeicher explosiv wie eine Bombe eingeschlagen,“<br />

kommentierte Leda beim Anblick des Schadensfalls, „<strong>der</strong> Attentäter ist auf ‘Nummer Sicher ‘<br />

gegangen.“<br />

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Dieser toxische Schleim hier ist alles, was noch übrig ist?“ fragte <strong>R1</strong> und tippte mit ihrem<br />

Zeigefinger in die Soße. „Völlig verpestet“, stellte sie fest.<br />

„Wir haben genug gesehen“, erkannte Leda, „richten wir unsere Aufmerksamkeit auf das<br />

Umfeld des mutmaßlichen Täters.“<br />

Der Forschungsleiter führte die Geheimdienstler weiter zum ehemaligen Arbeitsplatz des<br />

flüchtigen Verdächtigen.<br />

„Perseus hatte zwar keinen Direktzugang zum Biomaterial, wohl aber virtuellen Zugang zu allen<br />

Speicherdaten“, erklärte <strong>der</strong> Forschungsleiter, „sein Aufgabenbereich befand sich im<br />

Nachbarinstitut. Wir führen dort Versuchsreihen mit biochipgesteuerten Pestbazillen durch.<br />

Diese Versuchsreihen bringen uns stetig dem Ideal <strong>der</strong> vollkommenen Biowaffe näher.<br />

Hauptproblem einer <strong>der</strong>artigen Waffe ist nicht die Steigerung <strong>der</strong> Vernichtungskapazität,<br />

son<strong>der</strong>n die Erforschung eines Abschaltmechanismusses zur zeitlichen und räumlichen<br />

Abgrenzung des Vernichtungsgeschäfts.“<br />

<strong>R1</strong> gab sich begeistert: „Zeigen Sie uns, was Sie können.“<br />

Der Leiter und seine Labortechniker blickten verunsichert zu Leda.<br />

„Na machen Sie mal“, for<strong>der</strong>te Leda ungeduldig, „demonstrieren Sie uns die Wirkungsweise<br />

Ihrer neuen Waffe.“<br />

Der Leiter öffnete einen Tresor, fingerte eine Probe hervor und führte sie durch eine<br />

Schleuse in einen durchsichtigen Versuchsbehälter ein. „Sowie die Pestbazillen mit Luft in<br />

Berührung kommen, breiten sie sich exponential aus und greifen dabei alles Lebendige an, um<br />

die Zellkerne des Organismusses zu zerstören. Der Trick ist nun, die Reproduktion <strong>der</strong><br />

Pestbazille durch mitinfizierte, im Bazillus parasitär enthaltene virusähnliche Biochips, zu<br />

kontrollieren. Ein Risiko geht dabei von <strong>der</strong> Aggressivität <strong>der</strong> Pestbazille aus, die in zehnter<br />

Generation zu kannibalischem Verhalten mutieren könnte und ihre Ableger völlig o<strong>der</strong> in ihren<br />

virusinfizierten Teilen zu paralysieren imstande ist.<br />

Bei eingepflanztem Faktor 10 ist <strong>der</strong> Bazillus darauf programmiert, sich in <strong>der</strong> zehnten<br />

Generation abzuschalten.<br />

Ich öffne jetzt die Ampulle in <strong>der</strong> Mitte des Behälters und übertrage den Bazillus über das<br />

Medium Luft auf die ausgelegte Zellkultur.“<br />

Der Forscher tat’s und die Zellkultur starb im rasanten Tempo von <strong>der</strong> Mitte her in<br />

konzentrischen Kreisen ab, wie eine sich schnell ausbreitende Schwarzfärbung des<br />

organischen Materials verriet. Plötzlich, wie von Geisterhand abgewickelt, stoppte <strong>der</strong> Prozeß<br />

in zehnter Generation, und es blieb eine grausliche, an den Rän<strong>der</strong>n etwas ausgefranste<br />

Todeszone übrig, die mit einem feuchten Blub in sich zusammensackte.<br />

Die daneben gelagerten strukturgleichen Zellkulturen blieben nahezu unversehrt.<br />

„Fantastisch. Chipgesteuert abgewickelt“, jubelte <strong>R1</strong>, griff in den Tresor, angelte eine weitere<br />

Ampulle hervor und zeigte sie mit ausgestrecktem Arm. „Faktor 100000.“<br />

„Was machen Sie da?!“ schrie <strong>der</strong> Forschungsleiter entsetzt auf, „seien Sie vorsichtig!“<br />

„Gewiß doch“, beruhigte <strong>R1</strong>, führte die Probe in den Mund und schluckte sie ‘runter. „Die<br />

Waffe lagert jetzt im anorganischen Teil meines Körpers und ist luftdicht abgeschlossen. Sie<br />

können ganz beruhigt sein. Es kann nichts passieren.“<br />

„Ist noch was?“ schaute sie sich prüfend beim verunsicherten Umfeld um, holte sich ihre<br />

Druckpistole hervor und feuerte sich eine neue Ladung Solotan in die Schläfe.<br />

„Geben Sie ihr das Immunserum“, for<strong>der</strong>te Leda.<br />

„Ein Immunserum gibt es nicht; die Produktion des Serums war Aufgabe des entflohenen<br />

Technikers, <strong>der</strong> die Genbank infiziert hat“, entschuldigte sich <strong>der</strong> Forschungsleiter.<br />

Betretenes Schweigen.<br />

Leda übersah die Lage klar und bat Hermes, sie im Gästehaus des Technologiezentrums<br />

einzuquartieren. Die Geheimdienstler verließen das Labor.<br />

„Schluß mit <strong>der</strong> Besichtigungstour, <strong>der</strong> Fall steht vor <strong>der</strong> Aufklärung“, rekapitulierte Leda, „ich<br />

will die Aufzeichnungen <strong>der</strong> Kamera vor <strong>der</strong> Sicherheitsschleuse kontrollieren. Ich will sehen,<br />

wer in den letzten vier Stunden vor Ausbruch des Virusalarms die Schleuse zur Genbank<br />

passiert hat.“<br />

Hermes kommunizierte mit <strong>der</strong> Sicherheitstechnik und schaltete die Bildaufzeichnung auf die<br />

Gesichtsfeldmodulatoren <strong>der</strong> Gruppe. „Es gibt 5 Individuen, die innerhalb des infrage<br />

kommenden <strong>Zeit</strong>raums die Schleuse frequentiert haben“, erläuterte Hermes<br />

file://C:\<strong>R1</strong>.htm<br />

28.07.2006


die Bil<strong>der</strong>. „Nummer 1 ist <strong>der</strong> Star unseres Labors: Helena. Sie hat sich gestern vom<br />

Biolabor verabschiedet, denn sie ist zu Höherem berufen worden. Sie wurde in die<br />

Welthauptstadt beor<strong>der</strong>t, um dort auf ihre Aufgabe als Botschafterin des Wissens für den<br />

Solotan-Konzern vorbereitet zu werden. Sie ist <strong>der</strong> einzige von uns gezüchtete Elitemensch<br />

innerhalb <strong>der</strong> letzten drei Jahrzehnte, den die Welthauptstadt geor<strong>der</strong>t hat. Bald wird sie die<br />

Prüfung vor dem Weltgericht ableisten und in ihrem nachfolgenden Dasein, das Wissen <strong>der</strong><br />

Welt in sich aufnehmend, den Geist <strong>der</strong> Welt verkörpern.“<br />

„Ich weiß nicht, was ihr in ihr seht“, unterbrach <strong>R1</strong> die Lobeshymne, „ich beobachte jedenfalls,<br />

daß sie kurz vor dem Zusammenbrechen steht. Euer Engelchen ist auf Entzug.“<br />

„Ich denke, sie wird Eigentum des Solotan-Konzerns“, verwun<strong>der</strong>te sich Leda, „wieso<br />

verweigert sie den Lebensstoff, wo sie doch direkt vor <strong>der</strong> Quelle steht?“<br />

„Unsere Elitezüchtung ist ein schmächtiges Zittertier, das Mühe hat, seine Augen offen zu<br />

halten, während ihm <strong>der</strong> abstinente Schädel brummt“, zog <strong>R1</strong> ihr eigenes Urteil dem<br />

Weltgerichtsurteil vor, „wie so ein Schwächling das Wissen <strong>der</strong> Welt ertragen kann, bleibt<br />

abzuwarten.“<br />

„Nummer 2 ist unser Forschungsleiter“, kommentierte Hermes die nächste Sequenz <strong>der</strong><br />

Sicherheitsaufzeichnung, „wußten Sie, daß unser Forschungsleiter regelmäßig mit dem<br />

Präsidentenklüngel freundschaftlich verkehrt?<br />

Nummer 3 bis 5 sind langjährige Laborassistentinnen...“<br />

„Halt“, rief <strong>R1</strong> dazwischen, „da stimmt was mit <strong>der</strong> ersten nicht. Schneidet ihre Augen aus und<br />

vergrößert das Bild! Wie wir beobachten, reagieren die Pupillen kaum auf den Lichteinfall. Ihre<br />

Bewegungen sind automatisiert. Dieses Subjekt ist mental abwesend, es scheint manipuliert<br />

zu sein.“<br />

„Es könnte ferngesteuert sein“, bestätigte Leda.<br />

Hermes eruierte sogleich, daß die betreffende Person seit dem Sabotageakt nicht mehr zum<br />

Dienst erschienen war, und somit wurde ein Besuch am Wohnort fällig.<br />

Mit dem Flugschrauber landete die Agententruppe direkt in <strong>der</strong> Blumenrabatte im Vorgarten<br />

des Wohnhauses, stürmte ins Innere.<br />

Sie fand die Laborassistentin in Selbstmör<strong>der</strong>haltung kniend, die Paralysewaffe an den Kopf<br />

gehalten. <strong>R1</strong> feuerte augenblicklich ihre Strahlenkanone ab. Der Feuerstrahl trennte <strong>der</strong><br />

Selbstmör<strong>der</strong>in den Waffenarm vom Körper, riß den Brustkorb auf, durchlöcherte die Wand<br />

dahinter und versengte die halbe Wohnungseinrichtung in ätzendem Qualm.<br />

<strong>R1</strong> hob das Opfer auf den Tisch, riß ihm den Kopf ab und führte eine Sonde durch die Nase ins<br />

Gehirn <strong>der</strong> Verendeten, um dessen Zustand zu untersuchen.<br />

„Man hat bei ihr eine Lobotomie durchgeführt und am Großhirn Biochips implantiert. Sie war ein<br />

regelrechter Zombie. Aber die chirurgischen Eingriffe sind kein Provisorium gewesen. Das war<br />

saubere Arbeit. Dieser Mensch hat sein halbes Leben als Zombie verbracht.“<br />

„Großartig. Jetzt bin ich aber erbost“, outete sich Leda unverhalten, „das gesamte<br />

Technozentrum ist ein Rattennest, ein Tummelplatz für Verrat und Hinterlist. Ich werde den<br />

Augiasstall ausmisten. Am besten fange ich ganz oben an. Als erstes<br />

nehme ich mir den Forschungsleiter vor. Wir werden prüfen, ob <strong>der</strong> Dreck am Stecken hat und<br />

nehmen ihn dann in die Mangel.“<br />

Was eine Mangel ist, wußte natürlich keiner.<br />

Nachdem sie sich zum Gästehaus des Forschungszentrums zurückbegeben hatten, war für<br />

Leda und <strong>R1</strong> beschlossene Sache, sich eine Erholungspause zu gönnen. „Jetzt bin ich müde.“<br />

Leda legte sich schlafen.<br />

<strong>R1</strong> starrte in die Dunkelheit, ihre Augen glühten. Sie funkte Betawellen. „Nicht abschalten“,<br />

for<strong>der</strong>te sie.<br />

Es war ihre Gewohnheit, sich in Ledas Träume einzuschalten, um ihre außerbewußten<br />

Reaktionen zu empfangen und sie mit dem eigenen Apparat zu synchronisieren.<br />

Zufällige Bildauswahl bekommt Bedeutung o<strong>der</strong> nicht. Bewußtsein schikaniert die Vielfalt alles<br />

Sinnlichen zur Zahl, zur festgefügten Ordnung. Erkenntnis dient dazu, Lebendiges zum toten<br />

Ding zu perspektivieren. Null setzen. ‘Ist und nichts’ werden Rauschen im Kanal.<br />

Bil<strong>der</strong> und Geräusche: Krieg. Kristall im künstlich tiefgefrorenen Gehirn <strong>der</strong> Feinde. Die Feinde<br />

reiten auf dem Trägerstrahl, schwingt Kristall in Resonanz zur amplitudenmodulierten<br />

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28.07.2006


Hochfrequenz, demoduliert im Kopf, Programme aktiviert am abgestimmten, gleichgerichteten<br />

Empfänger. Schwingkreisamplituden abgeschnitten im Empfänger.<br />

HF-Signale, Richtstrahlen, Leitstrahlen, Brechungen, Ablenkungswinkel. Interferenz<br />

bei reflektierter Welle, stehende Welle vor reflektieren<strong>der</strong> Wand.<br />

„Mein liebes, blödes Vieh“, beunruhigte sich die analytisch denkende <strong>R1</strong>.<br />

Erfolgsabrechnung am methodisch sinnentleerten Zahlenschritt. Ignoriere alle Dinge hinter dir,<br />

auf das Signal, Befehl, marschiere. Gleich sein o<strong>der</strong> seine Individualität abgeben, um ein<br />

nutzgemachtes, handlungskompetentes Stilmodell <strong>der</strong> Gemeinschaft <strong>der</strong> Kretins zu werden,<br />

um zu handeln, wie es die Ordnung <strong>der</strong> Gemeinschaft <strong>der</strong> Kretins stabilisiert.<br />

„Pling, pling. Wo hat sich im Gefühlsbrei deiner Träume dein wahres Seelchen eingebettet?<br />

Verrat’ es mir, mein Tier, ich funke dir auch schöne Alphawellen.“<br />

<strong>R1</strong> funkte Alphawellen, beruhigende, schöne Alphawellen und schlief selbst ein, um zu<br />

träumen:<br />

„Wo steckt das Organ <strong>der</strong> Wahrheitsfindung denn, im Kopf? Wie lächerlich.<br />

Alles Wissen, alle Verständigung am gleichverstandenen Symbol, sind Projektionen einer<br />

feindlichen Macht.“<br />

Mit frischen Kräften startete die dreiköpfige Geheimdiensttruppe am frühen Morgen ihren<br />

Angriff auf das Luxusanwesen des Forschungsleiters <strong>der</strong> staatlichen Versuchsanstalt. Der<br />

Flugschrauber landete knallhart auf <strong>der</strong> Terrasse direkt vor dem mehrstöckigen Gebäude, daß<br />

<strong>der</strong> Balkon darüber einsackte und in sich zusammenfiel, sowie sämtliche Scheiben des Hauses<br />

als klirrende Splitterwolke zu Boden regneten.<br />

Ein Polizeiroboter stürmte durch den Garten und verlangte Ausweis und Rechtfertigung.<br />

<strong>R1</strong> sprang ihm aus dem Cockpit direkt vor die Füße.<br />

„Partyservice“, sagte sie, riß ihm die Antennen ab und spaltete seinen Leib mit ihrer<br />

Strahlenkanone funkenspeiend von oben bis unten in zwei Teile, begab sich zum<br />

Hauseingang, steckte ihre Finger in das elektronisch gesicherte Schloß, bis es rauchend und<br />

zischend seinen Geist aufgab und trat gewalttätig durch die Tür, gefolgt von Leda und Hermes,<br />

die sich die Beschwerde des schlotternden, erregten Hausherrn, <strong>der</strong> im Morgenmantel die<br />

Treppe herunterkam, mit belustigtem Interesse anhörten, während <strong>R1</strong> am Forschungsleiter<br />

vorbei die Stufen empor sprintete, die Zimmertüren aufriß und mit <strong>der</strong> Hausdurchsuchung<br />

begann.<br />

„Wie können Sie es wagen, ungerufen in mein Haus einzudringen. Ich habe Verbindungen bis<br />

in die höchsten Kreise. Ich kenne Ihre Vorgesetzten und werde mich beim Präsidenten<br />

beschweren. Notfalls gehe ich bis zum Weltgericht, um Ihnen das Handwerk zu legen.“<br />

„Das Weltgericht und <strong>der</strong> Präsident“, mokierte sich Leda, „wollen sie die wirklich sprechen?“<br />

„Sehr wohl, <strong>der</strong> Präsident hat mich sogar schon als Hologramm konsultiert und das nicht nur<br />

einmal“, rühmte sich <strong>der</strong> Forschungsleiter.<br />

„Nun, Ihre Schlafzimmergespielin haben Sie jedenfalls nicht als bloßes Hologramm konsultiert,<br />

was wohl ein Fehler war“, amüsierte sich Leda mit gespieltem Sarkasmus und deutete nach<br />

oben, wo <strong>R1</strong> eine weitere Person im Morgenmantel herunterführte.<br />

„Jetzt sind Sie aber fällig, Meister“, machte Hermes ein bedenkliches Gesicht.<br />

„Es gibt drei Arten <strong>der</strong> Sexualität“, referierte Leda, „die homosexuelle, die heterosexuelle und<br />

die narzißtische Sexualität. Fast ausschließlich wird in unserem Jahrhun<strong>der</strong>t noch die dritte<br />

Variante praktiziert; so behauptet die Statistik. Die an<strong>der</strong>en gelten als pervers, wobei die<br />

homosexuelle Praxis als dégoutant gilt, die heterosexuelle aber schlichtweg als verwerflich,<br />

verboten und ekelhaft, da man gemeinhin hier eine prozedurale Nähe zur naturzufälligen<br />

Menschenzeugung assoziiert. Alle technisch unkontrollierte, vom Staat nicht überprüfte<br />

Lebenszeugung, gilt aber als gemeinschädlich und unverantwortlich risikobehaftet. Die<br />

Urwäl<strong>der</strong>, Sümpfe und Gebirge sind voll von staatsfeindlichen Mißlungenen und aussortierten<br />

Kreaturen <strong>der</strong> unkontrollierten Experimentiersucht des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts.“<br />

„Unser Jahrhun<strong>der</strong>t hat größere Monster hervorgebracht als die Mißlungenen des 21.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts. Sie verstehen nicht, daß gerade aus Sicht des Forschers eine Rückerinnerung<br />

an die Jahrtausende vor dem wissenschaftlichen <strong>Zeit</strong>alter zur einzig lebensrettenden<br />

Perspektive wird. Sie begreifen ja nicht!“ rechtfertigte sich <strong>der</strong> Forschungsleiter.<br />

„Sie gestehen also“, schlußfolgerte Leda.<br />

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28.07.2006


„Lassen Sie mich laufen“, machte sich jetzt die zweite Person im Morgenmantel jammernd<br />

bemerkbar, „<strong>der</strong> Biomeister hat mir gesagt, daß uns nichts passieren kann, weil er zu den<br />

Privilegierten im Lande mit den besten Beziehungen gehöre. Ich glaubte ihm. Ich hab’ doch<br />

nichts Böses getan, ich wollte bloß ein bißchen Solotan dazuverdienen und habe nur gemacht,<br />

was man von mir verlangt hat.“<br />

Die jammernde Person erklärte weiter, daß sie lediglich versuche aus dem Dreck und aus <strong>der</strong><br />

Armut herauszukommen, in die sie die verschärfte Weltwirtschaftslage ohne ihr Verschulden<br />

gestoßen habe. Als Hermes ihr klarmachte, daß all das Vorgetragene nie und nimmer, zu<br />

keinen <strong>Zeit</strong>en, als Entschuldigung zählen würde, zeigte sie sich bereit, alles zu gestehen und<br />

ihre Strafe anzunehmen und schaffte sogar die gespeicherten Bildaufzeichnungen des<br />

Forschungsleiters herbei, die die sexuelle Schmuddelpraxis wissenschaftlich dokumentieren<br />

sollten. Und tatsächlich bebil<strong>der</strong>ten die Aufzeichnungen, wie verschiedene weibliche Personen<br />

mit dem Forschungsleiter in sexuell anzüglichen Positionen agierten, während sie sich des<br />

Genusses von Solotan hingaben.<br />

Nun erwachte das Forschungsinteresse von Hermes: „Ist es richtig, daß, wie man sagt,<br />

Heterosex ohne Solotan ungenießbar ist?“<br />

„Ende des Befragungsspiels“, unterbrach ihn Leda, „Ende <strong>der</strong> Pornovorführung. Kommen wir<br />

zum Kern <strong>der</strong> Sache. Der Biomeister kann mich nicht für blöd verkaufen. Wenn so ein<br />

extravaganter Forscher wie er mit Heterosex zu schweinigeln beginnt,<br />

hat er eine Schweinerei im Keller. Also.“<br />

„Die Aufzeichnung noch nicht abbrechen!“ rief <strong>R1</strong> dazwischen, „welchen Star finden wir denn<br />

da mittendrin im Heterospiel? Unsere Botschafterin des Wissens und Engelchen des Solotan-<br />

Konzerns: Helena.“<br />

<strong>R1</strong> spielte genüßlich die obszönen Sexualhandlungen Helenas in <strong>Zeit</strong>lupe vor.<br />

„Nichts hätte meinen Glauben an die Menschheit mehr erschüttern können, als die<br />

Beobachtung <strong>der</strong> Elitezüchtung beim ‘natürlichen’ Heterosex,“ gab sich Hermes moralisch<br />

angekränkelt.<br />

„Ab in den Keller jetzt - zu den interessanten Ergebnissen <strong>der</strong> Leibesübungen“, for<strong>der</strong>te Leda<br />

und schubste den Forschungsleiter und die zweite Person im Morgenmantel vor sich her.<br />

<strong>R1</strong> brach die Kellertür auf, und die Neugierigen blickten staunend auf das bizarre Arsenal<br />

halbkünstlich erzeugter, von <strong>der</strong> Decke hängen<strong>der</strong> und auf Flaschen gezogener Bestände<br />

verschieden entwickelter Föten, die nicht tot waren, aber auch nicht richtig lebten, son<strong>der</strong>n<br />

seltsam konserviert und provisorisch auf Abruf in ihrem Fruchtwasser ruhten. Einige waren<br />

gräßlich entstellt, an<strong>der</strong>e menschenähnlich, doch schemenhaft und undifferenziert, wie<br />

vormodelliert unfertig. Weitere Bestände waren gut ausgebildet, doch viel zu winzig, an<strong>der</strong>e<br />

von monsterhafter Größe.<br />

<strong>R1</strong> köpfte eine Flasche und zog eine absurde zappelnde, tierische Pflanze heraus. „Ist das Ihr<br />

Naturerzeugnis, Biomeister? Ich nenne es Sellerie auf acht Beinen!<br />

Äußerst menschenähnlich, direkt für den Abfallhaufen gebaut.“ <strong>R1</strong> ließ es fallen, trat es, daß<br />

es sich in eine Ecke verzog.<br />

„Wie haben Sie den Versuchsaufbau entwickelt?“ interessierte sich Hermes sachlich und<br />

weniger abgestoßen, „haben Sie die weiblichen Versuchspersonen geschwängert und dann die<br />

befruchteten Eier abgesaugt? Taten Sie es heimlich ihnen gegenüber?“<br />

„Es funktioniert nicht mehr natürlich“, antwortete <strong>der</strong> Forscher, „die Eier werden abgestoßen,<br />

entwe<strong>der</strong> weil die Gebärmutter funktionsuntüchtig ist o<strong>der</strong> weil die Spermien degeneriert sind<br />

und eine Befruchtung nicht möglich, darum mußten die Eier ausgekratzt und gentechnisch<br />

stabilisiert werden, ebenso die Spermien.<br />

Am Ende kamen halbnatürlich gezeugte und künstlich aufgezogene Föten heraus. All dies muß<br />

technisch fortentwickelt werden, bis das Leben zum quasi Natürlichen revitalisiert worden ist,<br />

daß es wie<strong>der</strong> wie natürlich und von selbst funktioniert. Die Versuche müssen fortgesetzt<br />

werden. Vernichten Sie mein Lebenswerk nicht!“<br />

„Es gibt keinen Fortschritt und keinen Weg zurück. Es gibt nur das Urteil des Monsters“,<br />

belehrte <strong>R1</strong> die Anwesenden, nicht ohne dabei ahnungsvoll eine aufreizende Komik an den<br />

Tag legen.<br />

„Ich habe nichts davon gewußt. Ich habe nichts damit zu tun“, jammerte hysterisch die zweite<br />

Person im Morgenmantel.<br />

„Irgendwie schon, fürchte ich“, argwöhnte Leda und zerrte sie aus dem Forschungslabor.<br />

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28.07.2006


<strong>R1</strong> zog einen Schlauch aus <strong>der</strong> Tasche und spritzte unter gewaltigem Hochdruck eine giftig<br />

schäumende Flüssigkeit gegen die zerplatzenden und auslaufenden Behälter und betätigte<br />

sich so als eine Art Kammerjäger <strong>der</strong> Neuzeit, <strong>der</strong> alles Mißratene beseitigte. Die an<strong>der</strong>en<br />

machten sich keuchend und hustend auf den Weg zurück ins Erdgeschoß.<br />

Eine Weile später folgte <strong>R1</strong> nach oben und trat dabei auf wie ein Rachegott. Sie<br />

triefte giftig, fast ein wenig angeätzt. Brutal stukte sie den Forschungsleiter in die Knie und<br />

dehnte gewaltig ihren Mund gleich einer Schlange zur extremen Maulöffnung aus, hinter <strong>der</strong> ihr<br />

maskenhaftes Gesicht zu verschwinden schien. Klappend umschloß sie den Kopf des<br />

Biomeisters helmartig bis über die Augen und quetschte den Schädel, während <strong>der</strong> Körper des<br />

Delinquenten heftig zu zucken begann.<br />

„Wir checken jetzt sein Hirn durch und gleichen es ab. Er wird uns keine Information<br />

vorenthalten können. Am Ende haben wir sein Wissen bei uns abgespeichert.“ Leda setzte ihre<br />

Druckpistole an den Nacken des Opfers und verabreichte ihm eine Ladung Weichmacher. Der<br />

Bearbeitete stöhnte unter dem Maul von <strong>R1</strong> und blutete aus Nase und Mund, während er in<br />

einem unwillkürlichen Automatismus weiter zuckte, als gehörten ihm seine Extremitäten nicht<br />

mehr.<br />

„Mein Gott, wie ekelhaft“, wi<strong>der</strong>te sich Hermes, „das kann ja kein Mensch mit ansehen.“<br />

Die zweite Person im Morgenmantel rutschte auf dem Boden ‘rum und erbrach sich angstvoll.<br />

„Jetzt sind Sie dran“, Leda zog die Jämmerliche hoch, „stellen Sie sich nicht so erbärmlich an,<br />

die Person, die Sie jetzt vergewaltigt, hat viel Verständnis für Menschen und ist selbst auch fast<br />

menschenähnlich, sie hat sogar einen richtigen Namen, sie heißt <strong>Ridika</strong>. Sie wird Ihnen kaum<br />

wehtun, und danach, wenn’s vorbei ist, haben Sie alles vergessen. Glauben Sie mir, Sie sind<br />

nach dem Abgleich fast noch vollständig da, Sie sind wirklich nur ein klein wenig blö<strong>der</strong>.“<br />

<strong>R1</strong> ließ vom Hirn des gepeinigten Forschungsleiters ab, klopfte ihm beruhigend auf die<br />

Schultern und gab ihm ein Abwischtuch, sich das besudelte Gesicht zu putzen. Der Biomeister<br />

machte einen etwas lethargischen Eindruck und grinste abwesend. Er hatte keine Erinnerung<br />

am vorhergehenden Geschehen.<br />

Nun schnappte sich <strong>R1</strong> die Jammernde und stülpte sich über ihre Stirn. Leda schoß auch ihr in<br />

den Nacken. Doch erschreckte sie sich sogleich: „Au, ich habe ihr zuviel<br />

Gehirnerweicher verpaßt. Das geht jetzt schief.“<br />

„Es sieht nicht gut aus, was da passiert.“ Hermes schockierte sich. „...Als würde ihr Hirn beim<br />

Scannen abgekocht.“<br />

<strong>R1</strong> speite den Schädel aus. Das zweite Opfer sackte schlaff zu Boden.<br />

„He, Biomeister“, sprach Leda, „wir nehmen sie am besten mit und versuchen sie wie<strong>der</strong><br />

hinzukriegen. Ihr Gedächtnis ist allerdings futsch, sie wird sich an wenig erinnern können. Unsere<br />

Aktion hier ist erfolgreich abgeschlossen. Wir haben Sie nach Vorschrift behandelt. Gut<br />

für Sie, daß Sie den Präsidenten kennen. Sie dürfen Ihre Staatsaufträge weiterführen. So ging<br />

alles für Sie glimpflich aus.“<br />

Leda, Hermes und <strong>R1</strong>, mit <strong>der</strong> Bewußtlosen auf dem Arm, verließen das ramponierte Haus.<br />

Leda drehte sich noch einmal ermahnend um: „Keine Schweinigeleien mehr!“<br />

In <strong>der</strong> Vergangenheit erstreckte sich Ledas Tätigkeitsfeld auf die Kontrolle des Untergrunds<br />

und die Bekämpfung <strong>der</strong> Fraktion <strong>der</strong> Staatsfeinde. Leda und ihr Monster <strong>R1</strong> hatten Mitglie<strong>der</strong><br />

des organisierten Wi<strong>der</strong>stands verfolgt, um <strong>der</strong>en Gehirne abzuspeichern und zu liquidieren.<br />

<strong>R1</strong> trug in sich ein Archiv des asozialen Denkens. Nichts war vergessen. Diese Vertrautheit mit<br />

allem Randständigen verschaffte dem Team die Fähigkeit, eine neue Spur aufzunehmen.<br />

Die geheimen Privatforschungen hatten den Leiter <strong>der</strong> Versuchsanstalt in Kontakt mit<br />

den Asozialen und Außenseitern <strong>der</strong> Gesellschaft gebracht, mit den Bewohnern <strong>der</strong><br />

Slums, die sich außerhalb <strong>der</strong> gesetzlichen Ordnung mit suspekten und illegalen Aktivitäten<br />

über Wasser zu halten versuchten, mit Glücksspiel, Prostitution und staatlich nicht<br />

genehmigtem Drogenhandel. In diesem Sumpf, wo niemandem ernsthaft eine<br />

Existenzberechtigung zuerkannt werden konnte, tummelten sich die Kräfte <strong>der</strong> Rebellion und<br />

<strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>tracht, die keine Gelegenheit ausließen, die Schwäche des Establishments<br />

auszunutzen, die Gesellschaft zu unterwan<strong>der</strong>n und den Privilegierten ihr Wissen, ihre<br />

Vorherrschaft, ihre angestammten Rechte und vor allen Dingen ihr Solotan zu rauben.<br />

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28.07.2006


Der Zusammenbruch des metaphysischen Denkgebäudes im Licht des neuen wissenschaftlichen<br />

Weltbilds machte die traditionellen Konzepte <strong>der</strong> Sinnfindung obsolet.<br />

Als letzter begründbarer Lebenszweck blieb <strong>der</strong> Menschheit lediglich das Lustprinzip. Da<br />

Lustbefriedigung sich ohne Umweg über die Erfahrung von Welt o<strong>der</strong> einen sonstigen<br />

Wirklichkeitssinn direkt im Hirn vermittels von Rauschmitteln verschaffen läßt, entwickelte sich<br />

eine unaufhaltsam fortschreitende Geheimwissenschaft <strong>der</strong> Lustchemie. Und weil <strong>der</strong> Staat die<br />

Sucht nach rauschhafter, hirnstimulieren<strong>der</strong> Selbstbefriedigung nicht abstellen konnte, machte<br />

er sich selbst zum größten Dealer und wurde oberster Kontrolleur <strong>der</strong> Solotanverteilung in <strong>der</strong><br />

Gesellschaft.<br />

Es liegt in <strong>der</strong> Natur aller biologischer Evolution, daß die überlegene, apparatetechnisch<br />

zivilisierte Biomasse ihre Umwelt optimal in ihrem egoistischen Sinne zu nutzen sucht. Folglich<br />

liegt es auch in <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> menschlichen Gesellschaft als hierarchisch und ausbeuterisch,<br />

den Klassenbesten die Welt zu übereignen. Dem Rangnie<strong>der</strong>en dagegen werden nur geringe<br />

Lebensmöglichkeiten eingeräumt; am Ende ist er unvermeidlich Sklave, Eigentum und Beute<br />

<strong>der</strong> Sieger.<br />

Das 21. Jahrhun<strong>der</strong>t hat die Konsequenz aus <strong>der</strong> Erkenntnis <strong>der</strong> Mechanismen <strong>der</strong><br />

gesellschaftlichen Evolution gezogen und an <strong>der</strong> sozialen Frage keinen überflüssigen<br />

Gedanken mehr verschwendet. Seitdem sind die Verhältnisse so hierarchisch und<br />

ausbeuterisch, wie sie es schon immer waren, insbeson<strong>der</strong>e auch, als je<strong>der</strong>mann sie<br />

in <strong>Zeit</strong>en des Überflusses noch mit heuchlerischen Krokodilstränen zu kritisieren pflegte, bis<br />

schließlich in <strong>Zeit</strong>en <strong>der</strong> Krise sich die Oberphilosophen wie<strong>der</strong> ihrer eigenen<br />

höchstpersönlichen und äußerst selektiven Überlebensinteressen erinnerten.<br />

Abhilfe verschaffte das Kartell <strong>der</strong> geheimen Bru<strong>der</strong>schaften und seine geheimwissenschaftlich<br />

entwickelten Solotanprodukte. Solotan wurde zum postmo<strong>der</strong>nen Utopieersatz.<br />

Seligmachende Selbstgenügsamkeit <strong>der</strong> Gehirne, Selbstfindung des Geistes <strong>der</strong> Virtualität -<br />

frei von lästiger Außenwelt. Der Schuß ersetzt die Utopie.<br />

Doch wie sich später herausstellte, gab es auch keine Gerechtigkeit in <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Illusionen,<br />

son<strong>der</strong>n nur eine neue Abhängigkeit und einen neuen Mangel. Der Sklave wurde<br />

solotanabhängig und <strong>der</strong> Weggeworfene war auf Entzug.<br />

Schon bildete sich eine Rebellenarmee <strong>der</strong> Mißratenen und Weggeworfenen - die Allianz <strong>der</strong><br />

Versager - in den unzugänglichen bergigen Grenzregionen des Landes, wo die Grenztruppen<br />

unter dem Oberkommando von seiner Exzellenz, des Präsidenten aller Geheimdienste, große<br />

Mühe hatten, den Urwald mit stacheligen, hun<strong>der</strong>tfüßigen, giftsprühenden, flammenwerfenden<br />

und pestenden Biowaffen zuzumüllen. Und <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand schwappte bis in die<br />

Elendsquartiere <strong>der</strong> Randständigen, in die Slums, die sich geschwürig um die Zentren <strong>der</strong><br />

Bioproduktion und <strong>der</strong> Verteilung des Solotans ausbreiteten.<br />

Leda wußte, daß <strong>der</strong> Forschungsleiter durch seine illegalen Heterogeschichten nicht nur<br />

Min<strong>der</strong>wertige und Außenseiter zu seinen Mitwissern machte, son<strong>der</strong>n notwendig zum<br />

Einfallstor <strong>der</strong> Spionageaktivität des organisierten Wi<strong>der</strong>stands wurde. Denn nichts<br />

interessierte die Allianz <strong>der</strong> Versager mehr als das Zentrum aller Biowaffenproduktion.<br />

Hinter <strong>der</strong> biotechnischen Versuchsanstalt lag das idyllisch begrünte Tal mit seinen kultivierten<br />

Gartenfantasien, wo in großen Büschen die Maiglöckchen neben den Winterastern blühten,<br />

und die Zitronenfrüchte neben den Apfelblüten am selben Baum hingen. In Vogelperspektive<br />

schrumpfte das Tal zur Winzigkeit und wurde von Ledas Mannschaft im Flugschrauber ebenso<br />

verlassen wie das angrenzende, sich weit ausdehnende Hügelland mit seinen terrassenförmig<br />

angelegten, angenehm klimatisierten Wohnhäusern für das Personal <strong>der</strong> Staatsbetriebe. Der<br />

Flugschrauber schwenkte in Richtung Elendsland, wo die faulig riechenden Radieschen<br />

Kopfstand machten.<br />

Leda landete mit ihrem Anhang auf einer automatischen Polizeistation am Rande <strong>der</strong> Slums,<br />

um dort ihren Flugschrauber zu parken und sich zu orientieren.<br />

Der einzige Nichtautomat, den sie dort antrafen, war die Putzfrau; alle anspruchsvolleren<br />

Tätigkeiten wurden von Robotern ausgeführt.<br />

Die automatische Polizei o<strong>der</strong> besser gesagt, das System <strong>der</strong> automatischen Polizei, war eine<br />

geradezu typische Fehlentwicklung des 22. Jahrhun<strong>der</strong>ts, denn das Problem, das den<br />

Maschinen anhaftete, war ihre unbestechliche Zuverlässigkeit, ihre gnadenlose, einsichtslose<br />

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28.07.2006


Gesetzestreue. Sie machten Dienst nach Vorschrift, was einer schleichenden Unterminierung<br />

und Sabotage des gesellschaftlichen Miteinan<strong>der</strong>s gleichkam.<br />

Die Disfunktionalität des Bürokratismus in seinen Exzessen des automatischen Rechts- und<br />

Polizeisystems machte es notwendig, die Führungsschicht in <strong>der</strong> Gesellschaft - in etwa eine<br />

zehnprozentige Min<strong>der</strong>heit - über die Gesetze zu stellen. Sie wurde nur vom Geheimdienst<br />

kontrolliert, <strong>der</strong> keine Gesetze kannte.<br />

Alle unteren Bediensteten des Staates wurden mittels elektronischer Fuß- und Gehirnfesseln<br />

überwacht und strafweise in ihrer Lebensführung eingeschränkt. Da die Gesamtheit aller<br />

Vorschriften ausufernd komplex und exzessiv ausdifferenziert gestaltet war, so daß sie letztlich<br />

kein Individuum mehr überblickte, gab es kein Entkommen. Früher o<strong>der</strong> später ging je<strong>der</strong> in die<br />

Falle und sah sich einer Übertretung überführt. Sowie ein Polizeiroboter eine Verfehlung<br />

erkannt hatte, programmierte er eine Gegenmaßnahme in die Kontrollfessel des Schuldigen,<br />

entwe<strong>der</strong> einen Strafpunkt, <strong>der</strong> auf eine Liste gesetzt und in Strafe aufsummiert wurde, z. B.<br />

eine Bewegungseinschränkung, o<strong>der</strong> es gab Solotanentzug. Derartige Strafen wurden leichthin<br />

ausgesprochen, denn sie galten isoliert, für sich betrachtet, als gering. Da diese Strafen aber<br />

kulminierten, führten sie zu einem gemeinschädlichen System schikanöser Behin<strong>der</strong>ungen, zur<br />

Vorschriftengesellschaft, zur Behin<strong>der</strong>tengesellschaft. Am Ende wurde eine Vielzahl<br />

unglücklicher Betroffener mit einem Katalog absur<strong>der</strong> Verhaltensvorschriften überzogen, die ihr<br />

gesamtes Leben zu einer Art elektronischer Tretmühle machte. Sie war stets und ständig<br />

gezwungen strafweise gewisse Arbeiten zu verrichten, an<strong>der</strong>e Tätigkeiten zu unterlassen,<br />

bestimmte Orte zu Kontrollzwecken aufzusuchen, an<strong>der</strong>e Orte aus pädagogischen Gründen zu<br />

umgehen. Einige Betroffene mußten beson<strong>der</strong>e Prüfungen absolvieren, um ihre Geeignetheit<br />

für gefahrvolle, nichts desto trotz lebenstypische Verrichtungen nachzuweisen, an<strong>der</strong>e mußten<br />

auf den Genuß bestimmter Lebensmittel, insbeson<strong>der</strong>e Genußmittel, verzichten, dritten war die<br />

Nutzung spezifischer Freizeiteinrichtungen verboten, weiteren wurde die Kommunikation mit<br />

verdächtigen Personenkreisen erschwert, wie<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en war das Autofahren o<strong>der</strong> die<br />

Benutzung bequemer Transportmittel, wie Flugzeug, Magnetbahn, Rolltreppe o<strong>der</strong> bequemen<br />

Schuhwerks untersagt. Jede Einzelstrafe wurde als angemessen und gerechtfertigt gehandelt,<br />

das System aber mußte zur Hölle <strong>der</strong> Unfreiheit werden, die das alltägliche Leben völlig<br />

durchdrang.<br />

Versuchte <strong>der</strong> Delinquent die Strafvorschriften zu übertreten, wurde er an <strong>der</strong> Ausführung<br />

durch Lähmung seines Gehirns und seiner Nerven gehin<strong>der</strong>t, o<strong>der</strong> es gab als härteste Strafe<br />

Solotanentzug.<br />

Verloren war, wer versehentlich ein logisch wi<strong>der</strong>sprüchliches Strafprogramm erhielt, wer also<br />

beispielsweise sich zur gleichen <strong>Zeit</strong> strafweise an zwei verschiedenen Orten aufhalten mußte,<br />

ihm stand die elektronische Paralyse bevor, die Dauerlähmung.<br />

Alle, die sich nicht im Dienst des Staates o<strong>der</strong> einer gesellschaftlich nützlichen Organisation<br />

befanden, welche also nicht unter Kontrolle standen und niemandes Eigentum waren, wurden<br />

unter Son<strong>der</strong>recht gestellt, d.h., da ihnen ohnehin keine Rechte zuerkannt wurden, konnten<br />

ihnen auch keine Rechte entzogen werden. Personen dieser Kategorie ging man an die<br />

Substanz <strong>der</strong> Existenz. Entwe<strong>der</strong> wurde ihnen strafweise die Erinnerung gelöscht o<strong>der</strong><br />

bestimmte Gehirnfunktionen paralysiert, falls man sie nicht als staatsfeindliche Subjekte<br />

gänzlich liquidierte.<br />

Wie Leda und <strong>R1</strong> bei <strong>der</strong> komplizierten Entschlüsselung <strong>der</strong> vom Forschungsleiter<br />

aufgesaugten Gehirninformationen erfuhren, hatte <strong>der</strong> Biomeister sich einer Anzahl<br />

Prostituierter bedient, denen gegenüber er seine Erfolge bei den waffentechnischen<br />

Bioexperimenten ausplau<strong>der</strong>te. Die Prostituierten verkehrten geschäftlich in einem anrüchigen<br />

Etablissement namens Outside-Bar, wo auch verdächtige Kulturveranstaltungen, insbeson<strong>der</strong>e<br />

illegale Musikdarbietungen, aufgeführt wurden.<br />

„Unmöglich ist es, einem Polizeiroboter zu trauen, den man nicht selbst nach seinen<br />

Interessen umprogrammiert hat“, erläuterte <strong>R1</strong>, als sie an einem Automaten herumschraubte,<br />

während Leda sich vom Zentralcomputer wichtige Informationen über die ortsüblichen<br />

Verhältnisse rund um die Outside-Bar überspielte, um sich auf das Betreten des unsicheren<br />

und schwer zu kontrollierenden Slumgebiets vorzubereiten.<br />

„ Was paßt Ihnen nicht an unserer automatisierten Staatsgewalt?“ fragte Hermes.<br />

„Das Gesetz ist die Dummheit“, erklärte <strong>R1</strong>, „Blödheit ist das Handeln nach abstrakten Regeln.<br />

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28.07.2006


Dummheit aber muß manipuliert werden, damit man ihr einen praktischen Nutzen abgewinnen<br />

kann.“<br />

„Wenn wir uns in die unsicheren Gefilde des Außenseitertums und <strong>der</strong> Asozialität begeben,<br />

müssen wir die an<strong>der</strong>sartige Aufgabenstellung <strong>der</strong> automatischen Polizei dort berücksichtigen.<br />

Nicht die Kontrolle des einzelnen Subjekts, nicht die Schikane, nicht das Eingreifen in die<br />

alltäglichen Lebensbelange ist angesagt. Wo Anomie, Verzweiflung und Aufruhr herrschen,<br />

muß die Bevölkerung dezimiert werden, muß sie mit summarischer Gegengewalt in Schach<br />

gehalten werden“, warf Hermes ein.<br />

„Wir können mit summarischen militärischen Aktionen wenig anfangen. Wo wir auftauchen,<br />

stören sie nur,“ wi<strong>der</strong>sprach Leda, „wir benötigen punktgenaue, chirurgische Eingriffe zur<br />

richtigen <strong>Zeit</strong> am richtigen Ort, also die Instrumentalisierung <strong>der</strong> Polizei im<br />

geheimdienstlichen Interesse.“<br />

Während die Mannschaft ihren Einsatz diskutierte, war die von <strong>R1</strong> achtlos irgendwo abgelegte<br />

Person im Bademantel aus ihrem Koma erwacht und schien insoweit erholt, als sie in <strong>der</strong> Lage<br />

war, leicht debil und ohne Gedächtnis auf allen Vieren durch die Polizeistation zu kriechen.<br />

„Wer bin ich?“, fragte sie einen vorbeikommenden Roboter.<br />

„Wo haben Sie den Existenzberechtigungsausweis?“ fragte <strong>der</strong> Roboter zurück.<br />

Die Behin<strong>der</strong>te suchte in ihrem Morgenmantel, zuckte verlegen mit den Schultern, „meinen<br />

Ausweis muß ich verlegt haben, Wachtmeister.“<br />

„Kusch,“ rief <strong>R1</strong> herrisch durch den Raum, „komm sofort hierher zurück zu mir.“<br />

Die Behin<strong>der</strong>te krabbelte gehorsam zu <strong>R1</strong>. „Gib mir einen Namen“, bat sie.<br />

„Bist du Julia?“ neckte <strong>R1</strong> ihre Gesprächspartnerin.<br />

Die Behin<strong>der</strong>te verneinte.<br />

„Bist du Hera?“<br />

Die Behin<strong>der</strong>te schüttelte den Kopf.<br />

„Dann mußt du Lyra sein“, lachte <strong>R1</strong>.<br />

Die Behin<strong>der</strong>te nickte heftig.<br />

„Was bin ich, wenn ich einen Namen habe?“ fragte die Behin<strong>der</strong>te hartnäckig weiter.<br />

„Bist du ein Roboter?“<br />

Die Behin<strong>der</strong>te schüttelte den Kopf.<br />

„Bist du ein Haustier?“<br />

Die Behin<strong>der</strong>te neigte fragend ihren Kopf zur Seite.<br />

„Bist du meine Freundin?“<br />

Die Behin<strong>der</strong>te nickte heftig.<br />

<strong>R1</strong> setzte ihr die Druckpistole an die Schläfe, feuerte. „Was ist das?“ fragte sie die Behin<strong>der</strong>te,<br />

die spastisch zuckte und die Augen verdrehte.<br />

„Stoff“, sagte die Beglückte, „Stoff, Solotan.“<br />

„Na also“, freute sich <strong>R1</strong>, „langsam wirst du wie<strong>der</strong>. Jetzt kommt dir die Erinnerung zurück“,<br />

tätschelte jovial den Kopf <strong>der</strong> Lyra, „ich bin deine Freundin, ich mache dich glücklich, und<br />

Solotan ist unser Stoff.“<br />

„Du machst mich glücklich“, bestätigte Lyra und erwies sich fortan gegenüber <strong>R1</strong> als ziemlich<br />

anhänglich.<br />

„Willst du ein Spielzeug o<strong>der</strong> einen Menschen aus ihr machen“, fragte Leda und lächelte die<br />

Behin<strong>der</strong>te beiläufig an.<br />

Unverdrossen setzte <strong>R1</strong> mit Lyra ihre Unterhaltung fort: „Die, <strong>der</strong>en Kopf am Boden liegt, kann<br />

ihre Füße in die Wolken stellen. - Du bist so logisch in die Welt gestellt.“<br />

Lyra staunte, und <strong>R1</strong> belehrte sie: „Ein leerer Kopf ist leicht; wir können mit ihm in die Höhe<br />

blicken, und damit er nicht davonfliegt, greifen wir mit unsern Händen an die Ohren, halten ihn<br />

und achten sorgsam, daß <strong>der</strong> Körper den Kontakt mit seinem Kopf behält. Und wenn wir uns<br />

jetzt - weil <strong>der</strong> Kopf nach oben will - mit dem Körper aufrecht strecken, frage ich dich, wie viel<br />

Lyrafüße hat die Lyra auf <strong>der</strong> Erde zu stehen?“<br />

„Zwei“, rief Lyra, folgte nicht nur gestisch mit dem Kopf den Anweisungen ihrer Meisterin.<br />

<strong>R1</strong> nickte und fuhr rekapitulierend fort: „Einen leeren Kopf kann man mit Zahlen füllen, und er<br />

bekommt Gewicht und Eigenleben in <strong>der</strong> Abstraktion. Aufrecht kann man auf zwei Beinen<br />

stehen, aufrecht geht es auf zwei Füßen durch die Welt. Unten ist Gewicht <strong>der</strong> Erde, oben ist<br />

<strong>der</strong> Platz zum Denken frei.“<br />

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Lyra, die jetzt aufrecht stand und mit ihren Händen ihre Ohren hielt, begann auf ihren beiden<br />

Füßen durch den Raum zu hüpfen und freute sich. „Ich denke. Ich bin Lyra. Oben ist <strong>der</strong> Platz<br />

zum Denken frei.“<br />

„Nun sagt mir nur, daß sie nicht niedlich ist, so wie ich sie mir abrichte“, drehte sich <strong>R1</strong>,<br />

Anerkennung heischend, nach Leda um.<br />

Leda verdrehte theatralisch die Augen. „Vergiß nicht, daß du als Mordmaschine rein<br />

konstruktionsbedingt mehr als nur eine Schraube locker hast. Gegen einen Berufspsychopathen<br />

wie dich, muß zwangsläufig je<strong>der</strong> Dummkopf sympathisch wirken.“<br />

„Bei meiner Berufsehre“, giftete <strong>R1</strong>, „diesen Spruch zahle ich dir heim.“<br />

„Das kannst du nicht, dafür bist du nicht gebaut“, lachte Leda ihre <strong>R1</strong> aus.<br />

„Du wirst schon sehen.“<br />

Hermes hatte <strong>der</strong> Truppe ein Bodenfahrzeug besorgt, und alle verließen abends nach<br />

Sonnenuntergang die Polizeistation.<br />

Bei <strong>der</strong> Fahrt durch die Slums in Richtung Outside-Bar bemerkten sie, daß etwas nicht stimmte.<br />

Auf <strong>der</strong> Straße sahen sie weit mehr Leute, die unter Solotanentzug litten, als dies in früheren<br />

<strong>Zeit</strong>en üblich war. Die planetarische Gesellschaft befand sich in einer Wirtschaftskrise und<br />

nirgends spürte man dies deutlicher als in den Elendsvierteln unter den Weggeworfenen, die<br />

unter niemandes Schutz standen.<br />

Irgendwie bekam Leda den zunehmenden Eindruck, daß ihr Job und ihre Probleme ein Teil<br />

eben dieser Krise waren und sich in einen weit größeren Zusammenhang einordnen ließen, als<br />

sie sich bisher vorzustellen gewagt hatte. Vielleicht ging es nicht mehr bloß um einen isoliert zu<br />

betrachtenden Sabotagefall, vielleicht waren die Turbulenzen im Technozentrum nur Ausdruck<br />

eines sich anbahnenden radikalen<br />

Verteilungskampfes aller konkurrierenden gesellschaftlichen Kräfte miteinan<strong>der</strong>.<br />

„Wenn dies ein Krieg aller gegen alle ist, kann man nicht wirklich vorhersagen, wie die Fronten<br />

verlaufen“, dachte Leda, „vielleicht habe ich voreilige Schlüsse gezogen. Vielleicht stimmen die<br />

Voraussetzungen nicht. Wie hatte doch <strong>der</strong> Präsident gefor<strong>der</strong>t: bis ans Ende gehen! Wo ist<br />

das Ende in einem Krieg aller gegen alle?“ Ledas Gedanken wurden von einem gewaltigen<br />

Explosionsgeräusch unterbrochen.<br />

Hinter den verkommenen, halb verfallenen, kasernenähnlichen Billigbauten, erstrahlte in einer<br />

mächtigen Wolke aus Feuer und Rauch <strong>der</strong> Horizont, dem sie entgegenfuhren.<br />

„Vorwärts, schneller“, dachte Leda. <strong>R1</strong> beschleunigte das Gefährt.<br />

Jetzt hörte man das Pfeifen von Paralysewaffen und dazwischen das Fauchen von<br />

Strahlengewehren, <strong>der</strong>en Blitze sich um das Gelände des Explosionsortes konzentrierten.<br />

„Ich fürchte, daß man uns zuvorgekommen ist“, ärgerte sich <strong>R1</strong>, „bevor wir in <strong>der</strong> Outside-Bar<br />

unser Bier bestellen können, dürfte man alles platt gemacht haben, was dort von Interesse<br />

vorhanden gewesen sein könnte.“<br />

Nun signalisierte ein durchdringen<strong>der</strong> Sirenenton aus <strong>der</strong>, von <strong>der</strong> Geheimdiensttruppe gerade<br />

verlassenen Polizeistation, eine weitere Gefahr und versetzte die aufgeregte<br />

Straßenbevölkerung endgültig in Panik. Luftalarm. Eine Vielzahl von Menschen rannte gleich<br />

einer Herde aufgescheuchter Ratten hektisch sinnlos zwischen ihren Häusern herum, an<strong>der</strong>e<br />

suchten Deckung in den Hauseingängen.<br />

Ein Weltraumjäger stürzte kreischend aus den Wolken und pflanzte sich über <strong>der</strong> Straße auf,<br />

die zum Explosionsort führte, um sofort die Fahrzeuge unter Strahlenbeschuß zu setzen.<br />

Reihenweise fetzten die Karossen in zischend glühende Fragmente auseinan<strong>der</strong>.<br />

<strong>R1</strong> bog augenblicklich in eine Nebenstraße ab und versuchte durch die Seitengassen ihr Glück.<br />

Der Weltraumjäger feuerte inzwischen Richtung Polizeistation, wo Einsatzflugschrauber<br />

aufstiegen, um die Abwehr zu organisieren.<br />

Die Fahrt in den Seitengassen endete vor einem unpassierbaren Trümmerfeld.<br />

Die Leda-Truppe sprang aus dem Fahrzeug und hastete in Deckung.<br />

Der Weltraumjäger schwebte direkt vor ihnen und belegte die Straße mit Sperrfeuer.<br />

„Ich kann versuchen durchzubrechen“, dachte <strong>R1</strong> kampfeslustig. Doch Leda verweigerte die<br />

Zustimmung: „Wir umgehen den Gegner. Ich denke gar nicht daran, dich voreilig in einer<br />

überstürzten Aktion zu verheizen. Ich brauche dich noch für schwierigere <strong>Zeit</strong>en.“<br />

<strong>R1</strong> sperrte ihr Mundwerk auf und speite eine Kampfsonde aus. Dann sprang sie zickzackförmig<br />

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mit riesigen Sprüngen von Deckung zu Deckung. In einem weiten Bogen bewegte sie sich<br />

unentdeckt am Solotanjäger vorbei und entschwand, während Lyra, Hermes und Leda mit <strong>der</strong><br />

Kampfsonde, die als Schutz vor ihnen schwebte, <strong>R1</strong> hinterher schlichen und ihren Weg mit<br />

größerer Vorsicht suchten.<br />

Inzwischen kurvten die Polizeiflugschrauber zahlreich am Himmel und warfen ihre Feuerkugeln<br />

auf den Weltraumfeind, <strong>der</strong> seine Stellung über <strong>der</strong> Straße verließ und sich auf den Luftkampf<br />

konzentrierte.<br />

Als <strong>R1</strong> das Kampfgelände um die Outside-Bar herum erreichte, hatte sich das Gros <strong>der</strong><br />

Solotankrieger bereits davongemacht. Lediglich ein S1-Kampfautomat verharrte, auf dem Dach<br />

des einzigen Hauses verschanzt, das auf dem Schlachtfeld nicht zertrümmert worden war. Von<br />

hier aus suchte <strong>der</strong> Solotankrieger den Abzug seiner Kampfeinheit zu decken.<br />

<strong>R1</strong> spuckte eine zweite Kampfsonde aus und jagte sie Richtung Haus, gleichzeitig feuerte sie<br />

ihre Strahlenkanone ab und begann brutal und systematisch die Hauswand unter <strong>der</strong> Stellung<br />

des S1-Kriegers herum zu pulverisieren.<br />

Der S1-Krieger setzte sich aus seiner Stellung ab und wollte rückwärts fliehen. Doch zu spät.<br />

Unter ihm gab <strong>der</strong> Dachboden nach, und er stürzte in das Stockwerk darunter, wo ihn die <strong>R1</strong>-<br />

Kampfsonde erwischte, sich in seinen Kopf verkrallte und mit ihrem Kampfstrahler vom Hals<br />

trennte. Wild ballerte <strong>der</strong> S1-Rumpf mit seiner Waffe blind in alle Richtungen, wankte einige<br />

Meter, fiel rückwärts und brach durch das nächste Stockwerk des einstürzenden Hauses.<br />

Der Kampf war beendet, die Solotan-Infanterie hatte sich verzogen, und auch <strong>der</strong><br />

Weltraumjäger enteilte in die Stratosphäre.<br />

Leda und ihr Anhang betraten das Schlachtfeld. Die Outside-Bar war ein Trümmerhaufen und<br />

ein Leichenfeld. Die Solotankrieger hatten ein Blutbad unter den Verteidigern und den<br />

Besuchern des Etablissements angerichtet. Ihnen war es darum gegangen, möglichst keinen<br />

zu verschonen.<br />

„Es ist das Privileg <strong>der</strong> Solotangötter einen noch gewaltigeren Blutdurst zu befriedigen, als ihn<br />

<strong>der</strong> Präsident des Landes o<strong>der</strong> einer seiner irdischen Geheimdienste je verspüren würden“,<br />

zollte Leda ihren Gegnern den nötigen Respekt.<br />

<strong>R1</strong> hatte an den Überresten <strong>der</strong> Theke neben den verstümmelten Körpern <strong>der</strong> Toten Platz<br />

genommen und untersuchte ihre Trophäe, den Kopf des S1-Kriegers.<br />

„Bei euch von <strong>der</strong> Zentrale muß man auf die erstaunlichsten Interessen gefaßt sein. Das<br />

Abschneiden von Köpfen scheint mir eine außergewöhnliche Marotte Ihrer <strong>R1</strong> zu sein“,<br />

wun<strong>der</strong>te sich Hermes.<br />

„In <strong>der</strong> Tat ist meine Waffenträgerin eine Spezialistin des Kopfabschneidens“, erläuterte Leda<br />

die Vorzüge ihrer Kriegerin, „<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>e Untersuchungsgegenstand meiner <strong>R1</strong> sind die<br />

Gehirne unserer Feinde, und auf diesem Gebiet leistet sie Hervorragendes.“<br />

Lyra setzte sich zu ihrer Meisterin an die Theke und fing für sie die Kampfsonden ein, die um<br />

ihrer Köpfe schwirrten. <strong>R1</strong> nahm sie, warf sie spielerisch wie<strong>der</strong> in die Luft und verschluckte<br />

sie dann.<br />

Polizeiflugschrauber landeten. Einige Roboter durchkämmten das Gebiet nach Überlebenden,<br />

an<strong>der</strong>e begannen sogleich, die Toten einzusammeln und Schicht für Schicht auf einen Haufen<br />

zusammenzutragen. Die Verwundeten kamen auf einen wesentlich kleineren Haufen daneben.<br />

„S1-Krieger haben einen entscheidenden Konstruktionsfehler“, erklärte <strong>R1</strong> dem Hermes, „wenn<br />

man ihnen die Köpfe abschneidet und unversehrt in seine Hände bekommt, kann man in den<br />

Schädeln noch Reste ihrer Fixierung ablesen. Unser S1-Kampfautomat war auf einen<br />

bemerkenswerten Kampfauftrag fixiert, er war auf <strong>der</strong> Jagd nach Perseus, dem verräterischen<br />

Techniker aus <strong>der</strong> biotechnischen Versuchsanstalt.“<br />

„Diese Erkenntnis gibt uns Raum für neue Schlußfolgerungen“, rief Hermes anerkennend aus,<br />

„die außergewöhnlichen Leistungen unserer <strong>R1</strong> geben den Ereignissen eine überraschende<br />

Wendung.“<br />

„Perseus war einmal ein Mann des Solotan-Konzerns“, überlegte Leda, „dann wurde er ein<br />

Mann des Technozentrums, und nun finden wir seine Spur unter den Rebellen, die sich für ihn<br />

massakrieren ließen. Ich finde diesen Fall bemerkenswert. Was immer Perseus für ein<br />

Geheimnis hat, ich werde dahinter kommen, denn, egal ob er ein Saboteur ist o<strong>der</strong> nicht, er hat<br />

mein persönliches Interesse geweckt.“<br />

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„Sie werden dahinter kommen“, bewun<strong>der</strong>te Hermes seine Kollegin, „ich war immer <strong>der</strong><br />

Überzeugung, daß Sie von <strong>der</strong> Zentrale den Sabotagefall lösen werden. Hier in <strong>der</strong> Provinz<br />

verspricht man sich von euch aus <strong>der</strong> Zentrale wahre Wun<strong>der</strong>dinge, und es macht mir<br />

außerordentliches Vergnügen, mit Ihnen zusammenarbeiten zu dürfen.“<br />

„Schade, daß sich unsere gemeinsame <strong>Zeit</strong> dem Ende nähert“, bedauerte Leda; dann machte<br />

sie sich mit ihren Geheimdienstlern auf zum Leichenberg, das bestialische Ergebnis des<br />

Überfalls zu inspizieren.<br />

Perseus, <strong>der</strong> Techniker, befand sich nicht unter den Toten. Die Verwundeten waren aufgrund<br />

ihrer erheblichen Verbrennungen in schlechter Verfassung und dämmerten ihrem Tod<br />

entgegen. Lediglich eine jüngere Rebellenkämpferin schien ansprechbar.<br />

<strong>R1</strong> zog sie aus dem Haufen, und Leda beugte sich über sie: „Sie wissen, wen <strong>der</strong> Solotan-<br />

Konzern bei Ihnen gesucht hat? Nennen Sie den Namen!“<br />

„Ihr Schweine vom Geheimdienst, ich kenne euch. Laßt mich in Ruhe. Ich weiß, daß ich<br />

sterben muß“, antwortete die Rebellin, „und ich weiß, was ihr von mir wollt, ihr verfluchten<br />

Hirnficker; bevor ich sterbe, wollt ihr Ungeheuer mir das Gehirn aussaugen.“<br />

„Sie müssen nicht sterben“, drohte Leda, „Sie könnten das Pech haben, weiterleben zu<br />

müssen. Wir könnten aus Ihnen einen Kretin machen, wie unsere liebe Lyra hier. Sie werden<br />

uns dann nicht mehr hassen können, Sie werden uns lieben müssen, am Ende werden Sie uns<br />

alles verraten haben, was Sie uns jetzt noch verheimlichen wollen. - Sie waren eine tapfere<br />

Kämpferin, jetzt aber sind Sie angeschossen, hilflos und uns ausgeliefert. Ich schlage Ihnen<br />

einen Deal vor. Sie beantworten uns unsere Fragen, als Gegenleistung töten wir Sie dafür.“<br />

<strong>R1</strong> winkte Lyra zu sich heran und drückte sie vor <strong>der</strong> Verwundeten in die Knie.<br />

„Bist du meine Freundin?“ fragte <strong>R1</strong> Lyra.<br />

„Ja“, sagte Lyra, „ich liebe dich.“<br />

„Sag <strong>der</strong> Person, sie soll uns unsere Fragen beantworten, Lyra“, befahl Leda.<br />

„Sagen Sie es ihnen, bitte, sagen Sie ihnen alles“, flehte Lyra die Verwundete an.<br />

„Verdammt, ihr Folterknechte“, entsetzte sich die Verwundete, faßte Lyra mit den Händen an<br />

die Schultern und drückte sie, „was haben sie dir angetan?!“<br />

„Verdammt“, stöhnte Lyra, schlug sich gegen die Schläfen, „ich glaube, ich erinnere mich nicht<br />

mehr...einst kannte ich dich, einst wußte ich, wer du bist. Sag mir, wer ich einst war, die dich<br />

kannte.“<br />

Die Verwundete stieß Lyra von sich. „Perseus“, sagte die Rebellin, „Perseus ist schon lange<br />

einer vom Wi<strong>der</strong>stand. Er ist in Sicherheit, in den Bergen, in unserem Hauptquartier. Der<br />

Solotan-Konzern will seinen Tod. Er hat ihn im Technozentrum auffliegen lassen, weil er<br />

irgendwie zu gefährlich wurde. Mehr weiß ich nicht.“<br />

„Gut gemacht“, sprach Hermes und schlug die Rebellin mit einem Eisenträger tot.<br />

„Das hätten Sie nicht tun dürfen“, empörte sich <strong>R1</strong>, „es ist unmoralisch, mit dem organisierten<br />

Wi<strong>der</strong>stand solche Geschäfte zu machen. Man schlägt Rebellen nicht einfach so tot. Diese<br />

Vorgehensweise ist unwissenschaftlich.“<br />

„Hör auf zu mäkeln, unsere Aufgabe ist hier beendet, wir fliegen ab“, kritisierte Leda ihre<br />

Partnerin.<br />

„Werden Sie die Spur weiterverfolgen?“ fragte Hermes.<br />

„Sicher, ich werde alle Spuren weiterverfolgen. So habe ich es immer gehalten. <strong>R1</strong> und ich<br />

suchen einen neuen Einsatzort auf; Sie halten hier die Stellung. Es hat mich gefreut, Ihre<br />

Bekanntschaft zu machen“, verabschiedete sich Leda, nahm Lyra hoch in ihre Arme, wandte<br />

sich mit ihr ab und führte sie zum nächsten Polizeiflugschrauber. „Früher warst du auch eine<br />

Besucherin <strong>der</strong> Outside-Bar“, erklärte Leda Lyra ihre Vergangenheit, „und die Menschen dort<br />

waren deine Freunde. Jetzt sind wir deine Freunde, jetzt sind wir deine neue Orientierung.“<br />

„Es tut so weh. Ich bin so dumm, so leer, daß ich im Schädel Durchzug habe“, beklagte sich<br />

Lyra, „kann man das nicht wegmachen?“<br />

Hinter ihnen feuerten die Roboter mit ihren Paralysewaffen auf die Verwundeten, bis sich auf<br />

dem Haufen nichts mehr rührte.<br />

Wir tanzen in die Luft hinauf.<br />

Leda feuerte ihre Druckpistole ab.<br />

Wir tanzen auf <strong>der</strong> Rübe, Lebenslust und Weltgericht, gebt den Kin<strong>der</strong>n Zuckerwatte, taumelt in die<br />

Miesanstalt und produziert die Superrübe, tanzen auf <strong>der</strong> Superrübe, gebt den Kin<strong>der</strong>n<br />

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Zuckerberge, taumelt in die Miesanstalt und produziert die Superriesenrübe, tanzen auf <strong>der</strong><br />

Riesenrübe, gebt den Kaninchen Zuckerwelten.<br />

Solotanrausch: Eines späten Sommertags bereisten wir den Gipfel unserer Unvernunft.<br />

Rauschhaft: Tanzen auf <strong>der</strong> Lebensinsel über Lavastein.<br />

Vulkanausbruch.<br />

Wir tanzen auf <strong>der</strong> Feuerflut.<br />

Die Heiligergeistmaschine ist ganz schön ins Laufen gekommen.<br />

Wir Staubaufwirbler stäuben glühenden Kohlenstaub.<br />

Wir suhlen uns im Fleischlichen, unsere Fühler versengen, kein klares Licht fragt unsern Sinn, nur<br />

eingebrannt, ein Schmoren, ein betäuben<strong>der</strong> Schmerz.<br />

Fallt nicht herab auf uns, Maschinenblöcke, zieht uns nicht durch euren Quirl, Leistungsrotoren,<br />

verheizt uns nicht Energiespeier. Zertretet uns nicht ihr Stiefel des Fortschritts, ihr deformierenden<br />

Gesichtsumwandler.<br />

„Aah“, schrie Leda und hechelte benommen, „schweigt am Spiegel, wir haben uns ausgeekelt, toter<br />

Hund, einsargen alle toten Viecher.“ Leda hielt inne, schüttelte den Kopf: „Scheiße, was ist los mit<br />

mir? Mir platzt <strong>der</strong> Kopf davon. Dieser Stoff ist irgendwie kaputt.“ Leda warf sich in ihren Sitz zurück<br />

und stöhnte hemmungslos.<br />

„Unsere Mehrfachatomisiermaschinen verpuffen völlig wirkungslos, wenn wir <strong>der</strong> Ameisenplage<br />

unintelligent zu Leibe rücken“, delirierte sie.<br />

„Mist, Dreck, du Schlampe, du hängst in meinem Kopf“, brüllte <strong>R1</strong> sie an und schaltete den<br />

Flugschrauber auf Autopilot „geh da raus aus mir, o<strong>der</strong> reiß dich endlich zusammen.“ <strong>R1</strong> drehte<br />

sich nach Leda um und schlug ihr gegen die Brust.<br />

Ausgetreten alle Vulkane, Ölzweige abgezündelt, Unkraut gejätet, ‘rausgerissen,<br />

Bäume kahlgestutzt, Blumen eingetopft, Rosenverschnitt, irgendwo Radieschen gepflückt.<br />

Benebelung.<br />

Zukunftstaumel, Hoffnungssarg. Solotanrausch speise unser Weltgericht.<br />

Wir gestrauchelten, wir verwachsenen Gehirne, unserer Schwundutopie gewiß, unserer<br />

Computerlandschaft, wie weit werden wir unseren Zun<strong>der</strong> verschleu<strong>der</strong>n, um als klägliche Flamme<br />

zu verenden. Am Ende Verkohltes, Verrauchtes, unwie<strong>der</strong>bringlich ins nackte Schwarz gesenkt,<br />

uns einsargend in jene Leere des Versprechens, von <strong>der</strong> im Nichts die Rede ist.<br />

Wir Berechneten, wir Gestrauchelten, wir Angepaßten, die bezwungenen Objekte unserer Willkür<br />

werfen sich auf uns zurück. Das Zerstörte <strong>der</strong> Welt ist auch unsere Zerstörung, und wir sind<br />

erblindet an unseren Eroberungen, die wir uns umstellt haben zur Umnachtung unseres Ichs.<br />

Aufgeklärt sind unsere Techniken, doch von unserer Logik bleibt abwaschbar <strong>der</strong> Inhalt; was wir<br />

synthetisieren in uns, ist Fremdartiges, Feindliches geworden.<br />

Unsere Städte sind Ruinen <strong>der</strong> Menschlichkeit, unsere Gesichter sind Ruinen.<br />

Der Kopf ist leer, daß er implodieren muß, gleichzeitig müssen die quellenden Gedärme<br />

zersprengen.<br />

„Sau du, hör auf damit“, funkte <strong>R1</strong> dazwischen und schlug wie<strong>der</strong> nach Leda.<br />

Nicht mehr weinen, mein Schatten, keine Schmerzkrümmung, meine Liebe, gib mir das Schweigen<br />

des Friedens.<br />

Wenn wir uns eine Leere belegen, und wir schenken uns die Wörter <strong>der</strong> Leere, und wir lehren uns<br />

unsere Leerbestimmung, wie leer wir sind: Wie vergeblich senken wir die Hohlheit unserer Gehirne<br />

in eine Sprachgestalt, eine verlorene Wüste, eine verwüstete Welt.<br />

Delirium.<br />

„Puh“, rief Leda und seufzte, „das Chemiezeug muß eine falsche Formel haben. Wenn das jetzt<br />

üblich wird, ist unsere Lebensqualität im Arsch.“<br />

„Manchmal hast du einen Schrottkopf, wie zum Wegschmeißen“, ekelte sich <strong>R1</strong>.<br />

„Das bin nicht ich“, protestierte Leda, „das ist <strong>der</strong> Stoff. Probier doch mal!“ Leda fuchtelte mit ihrer<br />

Druckpistole herum.<br />

„Ich habe mein eigenes Solotan“, wehrte <strong>R1</strong> ab und widmete sich wie<strong>der</strong> ihrem Fluggerät.<br />

„Und was ist mit dir, Lyra, willst du nicht <strong>Ridika</strong> davon überzeugen, daß ich völlig schuldlos bin?“<br />

belästigte Leda jetzt ihre Nachbarin.<br />

„Geh weg“, zeterte Lyra, „ich will von dir nichts abhaben, ich hole mir den Stoff von <strong>Ridika</strong>.“<br />

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Leda war deprimiert und wollte nachdenken, entschloß sich dann aber, sich abzulenken und eine<br />

Verbindung zum Generalstab <strong>der</strong> Grenztruppen herzustellen, um ihre baldige Ankunft<br />

anzukündigen.<br />

„Wir haben gute Nachrichten“, verkündete <strong>der</strong> Nachrichtenoffizier, „<strong>der</strong> Solotan-Konzern hat sich<br />

entschlossen, klein beizugeben, er will mit uns in Verhandlungen eintreten. Bei uns sind alle<br />

begeistert. In Zukunft werden die Solotan-Bonzen uns nicht mehr auf <strong>der</strong> Nase herumtanzen<br />

können.“<br />

Nun war Leda erst recht deprimiert und zog wie<strong>der</strong> ihre Druckpistole hervor, um sich eine neue<br />

Solotanladung einzuschieben.<br />

„Nicht schon wie<strong>der</strong> delirieren“, wies Lyra sie zurecht und ergriff sachte ihre Hand, um ihr vorsichtig<br />

das Gerät zu entwenden.<br />

„Trottel, willst du mir Vorschriften machen?!“ reagierte Leda tückisch, „soll ich dich jetzt gleich aus<br />

den Flugschrauber werfen? Dann sind wir dich endlich los! So eine dumme, lästige Person...Meinst<br />

du, wir brauchen dich noch?“<br />

„Ist jetzt gleich aus mit mir...“, Lyra zog enttäuscht ihre Hand zurück und blickte traurig drein, „ihr<br />

habt mir nie gesagt, warum ich bis heute weiterleben durfte.“<br />

„Bist du unglücklich bei uns?“ fragte Leda, nun schon wie<strong>der</strong> selbstbeherrscht.<br />

„Sag es mir“, beharrte Lyra.<br />

„Das ist unwichtig, glaube mir. Wenn du Angst hast, mußt du dir immer wie<strong>der</strong> sagen: das ist<br />

unwichtig! Versprichst du es mir?“<br />

„Ich habe Angst vor dir.“<br />

„Und? Versprichst du es mir?“<br />

„Du brauchst nicht mehr zu delirieren. Das verspreche ich dir.“<br />

Leda schmunzelte und schien besänftigt.<br />

Der Geheimdienst landete vor dem Hauptquartier <strong>der</strong> Grenztruppe des Landes.<br />

„Krieg“, brüllte <strong>der</strong> Generalstabschef, „im Süden werden wir den Gegner vernichtend schlagen, im<br />

Mittelabschnitt werden wir uns wacker halten, im Norden werden wir uns aus taktischen<br />

Erwägungen zurückziehen. In sieben Tagen werden wir das Verteidigungssystem ums feindliche<br />

Hauptquartier herum zerschlagen haben und bomben sie alle in den Sarg, und dann spätestens ist<br />

Schluß mit unserer Party.“<br />

Er umarmte Leda, die, gefolgt von <strong>R1</strong> und Lyra, verwun<strong>der</strong>t aus dem Flugschrauber geklettert war,<br />

während die Herrn Stabsoffiziere in süffisanter Manier sich Sekt ausschenkten und auf den<br />

Geheimdienst einen Toast aussprachen.<br />

Der Generalstabschef drückte auch <strong>R1</strong> aufs herzlichste und setzte seine Rede fort:<br />

„Vorbei ist die <strong>Zeit</strong>, wo ich dem Präsidenten die Kosten <strong>der</strong> zyklischen Verschrottung meiner<br />

Waffensysteme vorzurechnen hatte. Jetzt nimmt <strong>der</strong> Krieg das Zepter in die Hand. Krieg ist<br />

Rechnung, Planung, Schriftverkehr, Nachrichtensendung. Je<strong>der</strong> kann zeigen was in ihm steckt; wir<br />

haben sieben Tage aufreibende Kommandoarbeit zu leisten. Dienst und Selbstverpflichtung! Dies<br />

meine Freunde, ist die Erfüllung meines Lebenstraums, mich für die Sache des Vaterlands<br />

aufzuopfern.“<br />

„Krieg“, schrie ein Offizier und hob sein Glas, „<strong>der</strong> Globus ist wie angestochen, die Rän<strong>der</strong> fallen in<br />

die Wunde, so frißt sich alles in den Graben <strong>der</strong> Vernichtung. Krieg. Unsterblichen Heilsbefehls<br />

befiehlt <strong>der</strong> General und sachlich unbestechlich richtig. Unsterblichen Heilsbefehls auf seinen<br />

Lippen, fällt <strong>der</strong> Soldat ins schwarze Loch <strong>der</strong> Mündung des Gewehrs. Für welche Freiheit ich da<br />

kämpfe, für welche Hoffnung ich da kämpfe, sagt <strong>der</strong> Soldat, unsterblichen Heilsbefehls auf seinen<br />

Lippen. Nur für die höchsten Ideale, nur für die allerhöchsten Ideale kann ich meinem Feind den<br />

Kopf abschießen, und tut es mir dann leid, und laß ich mir dann selbst den Kopf abschießen, ist (es)<br />

aus, das Leid.<br />

Krieg ist ein Feuerzauber. Feuerberg zieht in das Land. Feuerberg zieht weiter, das Hin<strong>der</strong>nis wie<br />

abgeschmolzen. Was sagt mein in Asche überführter Feind? Gibt er mir recht? Ist die Frage längst<br />

mit ihm verstummt. Soviel mehr an mir noch ist, vergleiche ich mich mit <strong>der</strong> Asche, die zwischen<br />

meinen Fingern rinnt, soviel habe ich mir gut getan. Soviel Krieg hat mir schon immer gut getan.“<br />

„Hoch das Ideal“, rief ein Offizier, „wir kämpfen für den Sieg, und unser Lohn ist Solotan.“<br />

„Hoch“, riefen alle Offiziere, „unser Lohn ist Solotan.“<br />

„Verstehst du, was los ist?“ sendete <strong>R1</strong> an Leda, „<strong>der</strong> gesamte Generalstab muß ins Irrenhaus.“<br />

„Die haben hier verschmutzten Stoff im Hirn“, antwortete Leda nonakustisch.<br />

„Hoch, Exzellenz“, brüllten alle Offiziere und klatschten.<br />

Der Präsident baute sich in <strong>der</strong> Mitte seiner Offiziere als flimmerndes Hologramm auf, prostete<br />

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ihnen aufgeschlossen und weltmännisch zu und ließ sein Sektglas wie von Zauberhand<br />

verschwinden.<br />

„Der Solotan-Konzern fürchtet den Geheimdienst und seine gefährlichen Waffen. Dank dem<br />

Geheimdienst! Dank unserer Geheimagentin, Leda! Dank ihrem <strong>R1</strong>-Kampfautomaten! Dank für den<br />

unermüdlichen Einsatz, <strong>der</strong> Wahrheit im Lande zum Sieg zu verhelfen“, sprach salbungsvoll <strong>der</strong><br />

Präsident.<br />

Das Hologramm stabilisierte sich zu fester Form. Der Präsident trat auf Leda zu und schlug ihr mit<br />

beiden Händen anerkennend auf die Schultern, „gute Arbeit, Leda“, klopfte <strong>R1</strong> mit dem Zeigefinger<br />

symbolisch gegen die Schläfe, „guter Kampf, <strong>R1</strong>“ und<br />

kraulte, sich verlegen räuspernd, Lyra unterm Kinn, „guzzi, guzzi, neuerdings hält man sich einen<br />

Narren in <strong>der</strong> Truppe.“<br />

„Auf den Geheimdienst“, rief <strong>der</strong> Generalstabschef, „auf seine Exzellenz, den Präsidenten aller<br />

Geheimdienste des Landes.“<br />

Die Truppe erhob ihre Gläser, trank aus und warf die Gläser zu Boden, danach feuerte sie sich mit<br />

ihren Druckpistolen Solotan in die Gehirne.<br />

Der Präsident nickte selbstgefällig. „Erstmalig in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Menschheit macht <strong>der</strong> Solotan-<br />

Konzern einem Land <strong>der</strong> Erde das Angebot, Aktienanteile am größten Unternehmen aller <strong>Zeit</strong>en zu<br />

erwerben. Wir werden zukünftig bestes Solotan zu Vorzugspreisen erhalten. Wir werden hier unten<br />

die Nummer 1 sein, das mächtigste Land. Ich aber, euer Präsident, werde als ein Gott des 22.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts in den Olymp des Solotan-Konzerns aufsteigen. Ich werde Anteil haben an Ruhm und<br />

Macht und Ewigkeit.<br />

Leichten Herzens werden wir den Preis dafür bezahlen. Als Gegenleistung für all diese Wohltaten<br />

verlangt <strong>der</strong> Solotan-Konzern den Angriff auf das Hauptquartier <strong>der</strong> Allianz <strong>der</strong> Versager und<br />

Vernichtung aller Feinde. Vernichtung insbeson<strong>der</strong>e des häretischen Technikers Perseus. Krieg<br />

dem Verräter, Krieg den Mißlungenen und Unbrauchbaren. Krieg dem Abschaum des Wi<strong>der</strong>stands<br />

gegen die göttliche Ordnung.<br />

Ja, Freunde, ich werde ein Gott sein in <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Wissenden und Glorreichen, ein Sieger für<br />

immer und ewig und Meister. Erfüllung meiner Träume, Lohn meiner Mühe, Sieg meines Willens.<br />

Ich for<strong>der</strong>e den totalen Krieg. Einsatz meiner Superwaffe, Pestbazillus Faktor eine Million.“<br />

„Exzellenz, wir bewun<strong>der</strong>n Sie, Sieger für immer und ewig und Meister“, heuchelte Leda.<br />

„Superwaffe“, übertrumpfte sie <strong>R1</strong>, „geben Sie uns sogleich den Befehl, Exzellenz, dies soll die<br />

Stunde <strong>der</strong> Entscheidung sein. Wo ist <strong>der</strong> Knopf, auf den ich drücken kann?“<br />

„Bei aller Begeisterung, überstürzen wollen wir nichts. Setzen wir überlegt einen Schritt hinter den<br />

an<strong>der</strong>en“, beschwichtigte <strong>der</strong> Präsident, „erst machen wir den Vertrag im Angesicht <strong>der</strong> Institution<br />

des Weltgerichts, danach ergreifen wir die Initiative.“<br />

„Verfügen Sie über mich, Exzellenz“, rief Leda scheinbar begeistert, „bauen Sie im Augenblick ihres<br />

größten Triumphs auf meine Treue!“<br />

„Meine wackeren Geheimdienstler, wie kann ich euch belohnen?“ faßte in einer rhetorischen Geste<br />

<strong>der</strong> Präsident seine Rührung zusammen.<br />

„Wir haben einen großen Wunsch, Exzellenz, einen wirklich langgehegten Wunsch unserer<br />

Einsatzleiterin, den sie sich allerdings bis jetzt noch nicht an Sie zu stellen getraute“, ergriff <strong>R1</strong> die<br />

Gelegenheit, „geben Sie uns die Ehre, in ihrem Palast das bedeutende Kunstwerk ihrer Sammlung,<br />

„Leda mit dem Schwan“ im Original bewun<strong>der</strong>n zu dürfen. Lassen Sie uns dieses Kunstvergnügen<br />

mit Ihnen gemeinsam teilen. Erfüllen Sie uns diesen heißersehnten Traum, lassen Sie uns nicht<br />

mehr warten.“<br />

„Ah, meine Kunstsammlung. Im Kunstsinn treffen sich die Leidenschaften <strong>der</strong> verwandten Geister.<br />

Auf diese Freundschaft kann man bauen!“ zeigte sich <strong>der</strong> Präsident geneigt, „kommt zu mir, meine<br />

Treuen und bewun<strong>der</strong>t meine Schätze.“<br />

„Wir haben ihn im Sack, den Alten“, funkte <strong>R1</strong> an Leda und lächelte den Präsidenten an.<br />

„Wenn ich den Präsidenten im Original antreffe, meinst du, daß ich ihn dann zur Begrüßung küssen<br />

muß?“ sendete Leda zurück und neigte ihren Kopf andächtig zum Präsidenten.<br />

„Ekelhafte Vorstellung, nicht wahr?“ grinste <strong>R1</strong>.<br />

„Meine Damen und Herren! Stehen Sie stramm, <strong>der</strong> Präsident will sich verabschieden“, brüllte <strong>der</strong><br />

Generalstabschef. Alles stand stramm. Das Hologramm löste sich huldvoll auf.<br />

„Meinst du, er wird es schaffen?“ fragte Leda, blickte unsicher <strong>R1</strong> ins Gesicht, „wird er ein Gott des<br />

Solotan-Konzerns werden?“<br />

„Natürlich nicht“, lachte <strong>R1</strong> Leda aus.<br />

Leda zog erleichtert Lyra an sich und küßte sie übermütig auf die Stirn. „Ich übe schon mal.“<br />

Lyra reagierte wenig erfreut und klammerte sich ängstlich an <strong>R1</strong> fest.<br />

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„Abwärts“, triumphierte Leda im Fahrstuhl, „merkwürdig, wie tief man sinken muß, um oben<br />

anzukommen. Unser Präsident ist ein Sicherheitsfetischist und haust geheim wie ein Maulwurf 20<br />

Stockwerke unter <strong>der</strong> Erdoberfläche. Würdest du dir einen Palast unter dem Hauptquartier deiner<br />

Armee bauen?“<br />

„Üb’ doch noch mal“, <strong>R1</strong> spitzte ihre Lippen: „Mh, mh, mh“, simulierte Luftküsse.<br />

Es kam, wie es kommen mußte, <strong>der</strong> Präsident küßte Leda auf die rechte und die linke Wange und<br />

anschließend auf den Mund. Als Zugabe gab es, ganz wie es <strong>der</strong> Art des Präsidenten entsprach,<br />

eine Theorie über den Präsidentenkuß, <strong>der</strong> sich angeblich gegen Ende des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts unter<br />

Staatsoberhäuptern etabliert hatte, damit alle Beteiligten sich sicher sein konnten, daß sie sich als<br />

Original und nicht etwa nur als Hologramm begegneten.<br />

Angeblich habe Stalin, ein berühmter Massenmör<strong>der</strong> und Anhänger <strong>der</strong> Sozialversicherung, des<br />

sogenannten ‘Sozialismus', bei einem Geheimtreffen mit Hitler, anläßlich ihres Hitler-Stalin-Paktes,<br />

erstmals diese Hologrammprüfung ausprobieren wollen. Hitler habe den Kuß abgelehnt und sei<br />

wohl ein Hologramm gewesen.<br />

<strong>R1</strong> und Lyra, guzzi, küßte <strong>der</strong> Präsident nicht, denn Kriegsmaschinen und Narren als Hologramme<br />

auftreten zu lassen, galt als unübliche Energieverschwendung.<br />

Endlich öffneten sich die Tore zum Kunstkabinett, und die Gesellschaft trat vor das Bildnis <strong>der</strong> Leda<br />

mit dem Schwan von Correggio.<br />

„Fantastisch“, staunte Leda, „so eine Begegnung mit dem Schwan galt früher als eine mythische<br />

Befruchtung mit dem Göttlichen. Derartige Befruchtungen würden heutzutage, im<br />

Wissenschaftszeitalter, die Götter biotechnisch ausführen.“<br />

„Verstehe ich nicht“, reagierte <strong>R1</strong> höhnisch unsensibel, „was mag wohl <strong>der</strong> riesenhafte Schwan mit<br />

seinem langen, dicken Hals zwischen den Beinen <strong>der</strong> Leda anstellen?“<br />

<strong>R1</strong> trat näher an das Bild, prüfte die Nahtstelle <strong>der</strong> Leinwand, wo <strong>der</strong> Kopf <strong>der</strong> Leda ausgeschnitten<br />

und wie<strong>der</strong> rekonstruiert worden war und fuhr mit dem Finger den Ausschnitt entlang. „Wieso<br />

verknüpft man das Antike dieser Schwanszene mit dem mo<strong>der</strong>nen Geist des Kopfabschneidens?“<br />

„Im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t war es nur dem Besitzer erlaubt, die Bil<strong>der</strong> zu berühren. Das Anfassen galt als<br />

Sakrileg und löste den Lärm von Alarmsirenen aus“, warf <strong>der</strong> Präsident ein und fügte etwas pikiert<br />

hinzu: „Ich finde, Sie sollten die Finger von meinem Kunstwerk lassen.“<br />

Im Nebenraum polterte es prompt. Lyra hatte das Schwanenbild kalt gelassen und war<br />

weitergewan<strong>der</strong>t. Nun hielt sie den Hinterhereilenden eine Büchse hoch, die sie aus einem Stapel<br />

gleichartig etikettierter Büchsen gezogen hatte.<br />

„Hier steht ‘Kuhfurz’ drauf“, erheiterte sich Lyra.<br />

Der Präsident nahm Lyra vorsichtig die Dose ab. „Dies ist ein typisches Kunstwerk des<br />

ausgehenden 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Es heißt ‘hun<strong>der</strong>t Kuhfürze’ und wurde von dem berühmten<br />

Künstler ‘Wurmhutz’ erdacht. Jede Büchse enthält einen Kuhfurz und eine Meßsonde, die den<br />

Methangehalt des Furzes im Inneren des Blechs anzeigt.“<br />

„Was soll das? Ist das sinnvoll?“ fragte Leda irritiert.<br />

„So stellt sich die Frage nicht“, bedachte <strong>der</strong> Präsident, „ob die Kunst eines Sinns bedarf, war im 20.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t streitig. Alle Kunsttheorien des beginnenden Wissenschaftszeitalters wi<strong>der</strong>sprachen<br />

sich, sie waren sich lediglich in einem einzigen entscheidenden Punkt einig, es bestand das<br />

kategorische Verbot, das Schöne o<strong>der</strong> das Gute im Kunstwerk zu thematisieren. Nur wer dieses<br />

Tabu beachtete, durfte sich mo<strong>der</strong>ner Künstler nennen.“<br />

„Nun“, resümierte Leda, „immerhin ist dieses kategorische Verbot bis in die Gegenwart<br />

durchgehalten worden. Das Schöne und das Gute zählen bis heute nicht, insoweit ist die Mo<strong>der</strong>ne<br />

ohne Zweifel als erfolgreichste Stilrichtung aller <strong>Zeit</strong>en zu bezeichnen. Die Abschaffung <strong>der</strong> Kunst<br />

selber hätte nicht stilbilden<strong>der</strong> auf das Selbstverständnis <strong>der</strong> menschlichen Gesellschaft wirken<br />

können.“<br />

„Prost“, kommentierte Lyra den Vortrag, hatte schon wie<strong>der</strong> eine Konserve in die Hand genommen<br />

und zog an dem Verschluß, bis es knackte, um die entstandene Öffnung zu beriechen.<br />

„Heißt Kuhfurz und ist Kuhfurz“, stellte Lyra sachlich fest, „wo ist das Geheimnis?“<br />

„Die Dumpfbacke hat das Kunstwerk vernichtet“, entgeisterte sich <strong>der</strong> Präsident.<br />

„Was macht das schon, Sie haben doch noch 99 an<strong>der</strong>e Büchsen“, suchte <strong>R1</strong> den Präsidenten zu<br />

beschwichtigen.<br />

„Verstehen Sie nicht, das Kunstwerk heißt ‘100 Kuhfürze’, nicht 99 davon?!“ Der Präsident schlug<br />

sich mit <strong>der</strong> von ihm gehaltenen Konservendose auf die Stirn. „Ich glaube, ich bereue bereits ein<br />

bißchen, daß ich Leute wie Sie zu mir eingeladen habe, meinen Kunstsinn mit Ihnen zu teilen. Bei<br />

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Ihnen ist das zwecklos.“<br />

„Sie haben Recht, Exzellenz, das Kunstwerk ist vernichtet, <strong>der</strong> Kuhfurz ist weg“, korrigierte sich <strong>R1</strong>,<br />

„verzeihen Sie.“<br />

Lyra stellte schuldbewußt ihre angebrochene Büchse mit aller Vorsicht in den Stapel zurück.<br />

„Ich muß pissen“, äußerte sich <strong>der</strong> Präsident ausfallend, ließ seine Konservendose fallen und betrat<br />

die Toilette.<br />

<strong>R1</strong> folgte ihm.<br />

„Wieso müssen Sie mir auch noch aufs Klo folgen?“ zeigte sich <strong>der</strong> Präsident ein wenig überrascht.<br />

„Wir sind im Herrenklo! Sagen Sie mal, Sie haben doch nicht etwa da unten...verstehen Sie, was<br />

ich meine?<br />

„Exzellenz, ich bitte Sie, Sie glauben doch nicht im ernst, ich hätte da unten einen Schwanenhals“,<br />

gab sich <strong>R1</strong> etwas distinguiert ob <strong>der</strong> unzulässigen Frage.<br />

„Ist das witzig“, brach es lachend aus dem Präsidenten heraus, „ist das komisch - einen<br />

Schwanenhals...!“<br />

Der Präsident lachte noch immer, als <strong>R1</strong> ihm mit ihrer Druckpistole in den Nacken schoß und auf<br />

die Knie zwang. Langsam öffnete sie ihren Mund zum Riesenmaul und klammerte mit einem<br />

Riesenbiß den Kopf von seiner Exzellenz.<br />

„Bist du jetzt völlig durchgedreht?“ funkte Leda in die Aktion, „krieg’ dich wie<strong>der</strong> ein, du bist außer<br />

Kontrolle.“<br />

„Ich hab’s getan“, jubelte <strong>R1</strong>, „er blutet; ich mußte es tun, ich konnte nicht an<strong>der</strong>s, und ich fühle<br />

mich gut bei meiner Arbeit.“<br />

„Komm Lyra!“ zog Leda ihre Gefährtin von dem Büchsenkunstwerk weg, „geh <strong>Ridika</strong> hinterher und<br />

helfe ihr das Blut aufwischen. Es dürfen keine Spuren übrig bleiben.“<br />

Leda lächelte gelöst, begab sich zu Correggios Leda zurück und betrachtete das Werk versunken.<br />

„Wir sind Technokraten“, funkte Leda, „wir werden bis ans Ende gehen. Sauge ihn aus. Mach es<br />

richtig und gut, aber so, daß es keiner merkt. Mach ihn zur Marionette, aber nicht zum Idioten.“<br />

„Ich sauge ihn vollständig aus und programmiere ihn um“, funkte <strong>R1</strong>, „er wird mein Meisterwerk.<br />

Meine posthypnotischen Befehle werden ihn gefügig machen.“<br />

<strong>R1</strong> legte den ohnmächtigen Präsidenten ab. Lyra wischte mit Klopapier das Blut von seinem Mund<br />

und vom Boden. „Schwachkopf, Schwachkopf“, murmelte sie und wandte sich an <strong>R1</strong>: „Er soll mir<br />

nicht ähnlich werden. Ich will nicht, daß er etwas von mir bekommt.“<br />

„Das würde ich dir nicht antun“, beruhigte sie <strong>R1</strong> und schüttelte den Präsidenten wie<strong>der</strong> zu<br />

Bewußtsein.<br />

„Was ist los mit mir?“ artikulierte sich <strong>der</strong> Präsident benommen.<br />

„Sie hatten einen Schwächeanfall, Exzellenz.“<br />

<strong>R1</strong> half dem Ausgesaugten auf. „Sie haben sich eingepißt, Exzellenz, das tut uns jetzt aber wirklich<br />

leid. Sie sollten niemandem von ihrer Schwäche berichten. Wir müssen auf ihr Image achten.“<br />

„Wir beschützen Sie“, sagte Lyra, stützte mit <strong>R1</strong> den Präsidenten, <strong>der</strong> wankenden Schritts in den<br />

Saal zu Leda zurückkehrte.<br />

„Wo waren wir stehengeblieben? Ich erinnere mich nicht“, fragte <strong>der</strong> Präsident und machte<br />

überhaupt keinen souveränen Eindruck mehr.<br />

„Wir waren bei <strong>der</strong> Theorie des Küssens“, erinnerte sich Leda.<br />

„Nach meiner Theorie versuchten sich die Menschen im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t gegenseitig das Gehirn<br />

auszusaugen, wenn sie küßten, aber sie hatten noch nicht die geeigneten Mittel dazu“, behauptete<br />

<strong>R1</strong>.<br />

„Ich liebe Sie“, sagte <strong>der</strong> Präsident blöde.<br />

„Wir sind Ihre Diener“, sprach Leda, „verfügen Sie über uns, Exzellenz, geben Sie uns die neue<br />

Aufgabe, beim Solotan-Konzern die Einhaltung <strong>der</strong> Vertragsbestimmungen zu überprüfen. Wir<br />

wollen in <strong>der</strong> Welthauptstadt dabei sein, wenn Sie zum Solotangott werden. Wir wollen Ihnen auf<br />

dem Weg zum Solotangott nützlich sein.“<br />

„Ich will Solotangott sein“, blödelte <strong>der</strong> Präsident.<br />

„Ich sagte unauffällig“, funkte Leda, „du solltest in jedem Falle vermeiden, aus ihm einen Idioten zu<br />

machen. Du hast gepfuscht.“<br />

„Findest du? Ich denke, er ist sich selbst jetzt ähnlicher als vorher“, funkte <strong>R1</strong>.<br />

„Wir müssen ihn nachbessern“, entschied Leda, „<strong>der</strong> Generalstab kommt uns doch sofort auf die<br />

Schliche, wenn wir ihn nicht wie<strong>der</strong> hinkriegen.“<br />

„Ich guck nachher noch mal in sein Gehirn rein, wenn es dich beruhigt. Der wird schon wie<strong>der</strong>,<br />

beschwer dich nicht“, funkte <strong>R1</strong>, „und im übrigen bist du schuld. Wenn du dich dem Präsidenten<br />

gegenüber nicht immer wie eine dumme Gans benommen hättest, hätte ich es nicht nötig gehabt,<br />

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ihn auszusaugen. Klar haben sich alle beim Präsidenten eingeschleimt, weil’s üblich ist. Aber bei dir<br />

hatte man stets den Eindruck, du würdest es nicht aus bloßem Opportunismus tun, nicht aus reinem<br />

Kalkül, dir einen kleinen Vorteil zu ergattern. Bei dir hatte man das Gefühl, du könntest gar nicht<br />

an<strong>der</strong>s, du wärst von deinem Chef beherrscht.“<br />

„So bin ich gebaut; ich bin auf die Art funktionalisiert. Ich kann es mir nicht aussuchen.“<br />

„Es kann nicht sein, daß meine Meisterin von einem an<strong>der</strong>en Tier beherrscht wird, von einem Affen<br />

über ihr, von einem Oberaffen.“<br />

„Und nun ist die Situation gänzlich verfahren. Der Präsident beherrscht mich, ich beherrsche dich,<br />

und du beherrschst den idiotischen Präsidenten.“<br />

„Ich bin frei“, entgegnete <strong>R1</strong>.<br />

„Der Präsident stinkt“, mischte sich Lyra in die unhörbare Unterhaltung, „<strong>der</strong> Präsident muß die<br />

Hose wechseln.“<br />

„Uns bleibt nichts erspart“, klagte Leda, „benehmt euch bloß unauffällig.“<br />

„Zum Glück sind die Blechroboter hier einfach zu dämlich, um was zu merken“, lachte <strong>R1</strong>, während<br />

sie, an den Maschinen vorbei, den Wohntrakt des Präsidentenpalastes betraten, „zur Not<br />

programmieren wir die auch noch um.“<br />

Es gelang <strong>R1</strong>, den Präsidenten soweit wie<strong>der</strong> herzustellen, daß sein Verhalten keine größeren<br />

Auffälligkeiten mehr aufwies. Der Präsident erlaubte, gemäß seiner posthypnotischen Or<strong>der</strong>, die<br />

Weiterverfolgung des Technikers Perseus auf Rebellengebiet und erteilte Leda zusätzlich den<br />

offiziellen Auftrag, den Verhandlungen des Solotan-Konzerns mit den Vertretern des Präsidenten in<br />

<strong>der</strong> Welthauptstadt beizuwohnen.<br />

Nachdem Leda und <strong>R1</strong> ihre Autoritätsprobleme gelöst hatten und einer Weiterverfolgung aller<br />

Spuren des Sabotagefalls nichts mehr im Wege stand, wurde es <strong>Zeit</strong>, Lyra auf ihre neue<br />

Bestimmung und Aufgabe im Rebellengebiet vorzubereiten.<br />

„Wie du dir schon gedacht hast, haben wir dich nicht zu unserem bloßen Vergnügen mit<br />

herumgeschleppt. Son<strong>der</strong>n du bist wichtig“, erklärte Leda, „wir wollen dich ins Hauptquartier des<br />

Wi<strong>der</strong>stands einschleusen.<br />

In deinem früheren Leben, bevor du uns kennengelernt hast, warst du eine Hure und Informantin<br />

<strong>der</strong> Rebellen. Du hattest den Auftrag, den Forschungsleiter des Technozentrums nach neuen<br />

Waffenprojekten auszuhorchen.<br />

Nachdem wir dich umgedreht haben, scheinst du uns geeignet, den Kontakt zu Perseus<br />

herzustellen.<br />

Wie du mitbekommen hast, hat <strong>der</strong> Solotan-Konzern, nach anfänglichen Mißerfolgen im Kampf<br />

gegen uns, es durch einen geschickten Schachzug geschafft, den Präsidenten auf seine Seite zu<br />

ziehen und dadurch Perseus und die Rebellenorganisation ins Abseits zu stellen. Perseus ist<br />

handlungsunfähig und steht auf <strong>der</strong> Abschußliste. Allein durch unsere Maßnahmen gegen den<br />

Präsidenten erhält Perseus eine letzte Chance, sein Schicksal abzuwenden. Wir bringen ihn ins<br />

Spiel zurück.<br />

Der Präsident will Macht und Ewigkeit, seine Gier nach dem Absoluten hat ihn käuflich und<br />

berechenbar gemacht; wir Geheimagenten dagegen sind unbeirrbar darauf ausgerichtet, in <strong>der</strong><br />

Erkenntnis des Faktischen <strong>der</strong> Wahrheit zum Sieg zu verhelfen.<br />

Für uns ist Perseus ein Geheimnisträger und damit jemand, den es entwe<strong>der</strong> zu umwerben o<strong>der</strong> zu<br />

überwältigen gilt, statt, daß wir ihn voreilig zu vernichten suchen.<br />

Dein Auftrag lautet also, Perseus klarzumachen, daß er noch im Spiel ist, wenn er bereit ist, uns zu<br />

informieren.“<br />

Lyra, die Leda aufmerksam zugehört hatte, fühlte sich überfor<strong>der</strong>t und verunsichert. Sie wußte<br />

nicht, was sie von Ledas Ansprache halten sollte und schaute fragend nach <strong>R1</strong>.<br />

„Willst du uns nützlich sein und dich für uns aufopfern?“ fragte <strong>R1</strong>, „bist du bereit uns dein Leben zu<br />

geben und unsere Agentin zu sein? Willst du es?“<br />

„Ich bin so leer, so schwach“, klagte Lyra ihren Gefährtinnen, „ihr habt zuviel in mir zerstört. Ich bin<br />

doch bloß euer Pausenclown. Ich bin ungeeignet, mich zu opfern. Gebt mir meine Erinnerung<br />

wie<strong>der</strong>!“<br />

„Du bringst unsere Misere auf den Punkt, und wir haben deswegen auch ein schlechtes Gewissen.<br />

Ich muß dir ein Geständnis machen. Ich habe von dir nur eine unvollständige Erinnerung, ein<br />

residuales Wissen, weil die Transformation deiner gedanklichen Substanz in mein Gehirn<br />

mißlungen ist. Ich kann dich dir nicht vollständig zurückgeben“, bedauerte <strong>R1</strong>, „ich bin in <strong>der</strong><br />

Erkenntnis ein Vernichter, dies ist meine Wissenschaft. In dem Maße, in dem ich dir etwas<br />

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zurückgebe, mußt du mir ähnlich werden, als wärst du meine Schwester.<br />

Wenn ich den Tranformationsprozeß umkehre, wird es keine Gnade des Vergessens geben, wie ich<br />

sie den Ausgesaugten sonst zuzubilligen pflege. Du wirst den Schmerz des Transformationsaktes in<br />

dir behalten, wirst dich ‘als von mir gemacht‘ verstehen.<br />

Willst du eine solche Qual auf dich nehmen? Du hast die Wahl, eine Närrin zu bleiben o<strong>der</strong> ein<br />

reflektiertes Ich, eine Wissende. Doch im Wissen kannst du nur Verzweiflung finden. Willst du die<br />

Verzweiflung?“<br />

„Ich muß“, erkannte Lyra mutig, blickte ihre Freundinnen herausfor<strong>der</strong>nd an, kniete sich nie<strong>der</strong>,<br />

nahm <strong>R1</strong> die Druckpistole ab, setzte sie mit beiden Händen haltend rückwärts an ihren Nacken und<br />

feuerte.<br />

<strong>R1</strong> fing sie auf, stülpte sich über sie und begann die Prozedur <strong>der</strong> Übertragung so blutig wie noch<br />

nie.<br />

„Unsinn“, funkte Leda, „sie wird dir niemals gleich sein und auch keine Schwester. Du bist eine<br />

Waffe, ein Vernichtungsgehirn; sie aber ist bloß ein Mensch. Du bist gebaut, um zu triumphieren,<br />

sie dagegen wird nur leiden, wo du triumphierst.<br />

Glaube mir, wir haben sie versaut. Schon die Verbesserung des Präsidentenhirns kann ich nur als<br />

wenig gelungen gelten lassen; doch hier erscheint <strong>der</strong> Fall gänzlich aussichtslos. Wenn beim<br />

Gehirnexperiment etwas schiefgelaufen ist, kann man es nicht reparieren, man verschlimmbessert<br />

es nur.“<br />

„Du hast mich gebaut, doch seit du mich ins Leben gesetzt hast, hat sich vieles in mir auf eine<br />

Weise verän<strong>der</strong>t, die du nicht mehr verstehen kannst“, dachte <strong>R1</strong>, während sich unter ihr <strong>der</strong> Körper<br />

Lyras krankhaft schüttelte.<br />

<strong>R1</strong> ließ von Lyra ab und betrachtete ihr blutendes Gesicht. Lyra öffnete die Augen, welche gefroren<br />

schienen und war ganz starr.<br />

„Wer bist du?“ fragte Leda.<br />

„Ich war einst Lyra“, sprach Lyra.<br />

„Was bist du jetzt?“ fragte Leda<br />

„Ein transformiertes Ich, eine transformierte Erinnerung von mir“, sprach Lyra.<br />

„Wer ist <strong>Ridika</strong>?“ fragte Leda.<br />

„Was ist <strong>R1</strong>? <strong>R1</strong> ist ein Ungeheuer“, sprach Lyra.<br />

„Gut“, gab sich <strong>R1</strong> zufrieden, „wir geben dir zweierlei mit auf den Weg, erstens einen transitorisch<br />

kristallinen Stoff, <strong>der</strong> aus dir einen Sen<strong>der</strong> macht und zweitens Wellenlänge und Eingangscode,<br />

damit wir uns nonakustisch verständigen können.“<br />

Leda zog ihren Elektronenstift und ihre Druckpistole, hielt beides gegen Lyras Hals und drückte ab.<br />

„Der transitorische Stoff in deinem Blut enthält das genetische Konstruktionsprogramm und die<br />

Materialität, die dich zusammen befähigen, durch Willensenergie einen Sen<strong>der</strong> aus dir zu machen.<br />

Gleichzeitig bist du in <strong>der</strong> Lage, durch bloße Willensenergie dich im Gedankenakt vollständig zu<br />

negieren, indem du dein Gehirn zum Schmelzen bringst. Fortan wird dich, aufgrund dieser<br />

Sicherheitsschaltung, niemand mehr gegen deinen Willen manipulieren können. Wenn du willst,<br />

brennst du deinen Kopf weg und dazu noch ein Loch in die Wand.“<br />

Lyra blickte an sich herunter und befühlte ihren Körper prüfend mit den Händen.<br />

„Kann ich Kampfsonden bedienen?“ fragte Lyra nonakustisch.<br />

„Sie ist ein richtiges Monster geworden“, freute sich <strong>R1</strong>, „sie kann Kampfsonden bedienen.“<br />

„Dann kann’s gleich losgehen“, zeigte Lyra Einsatzfreude.<br />

„Falsch, völlig falsch“, funkte Leda, „schau tiefer in dich hinein. Du mußt wie<strong>der</strong> auf den Teppich<br />

‘runter. Gib dir Mühe, ein Mensch zu sein. Die Schwierigkeit ist, sich als Mensch auszuhalten. Ein<br />

Monster zu sein, ist nicht schwer, aber als Monster bist du völlig unbrauchbar, völlig mißlungen.<br />

Deine Rolle ist, ein Mensch zu sein.“<br />

„Es ist schwer“, funkte Lyra, „ich verstehe dich, aber es ist schwer auszuhalten - diese Zumutung -<br />

ein Mensch zu sein.“<br />

Leda lächelte verständig, beugte sich über Lyra und küßte sie auf die Stirn.<br />

„Von dir hat sie folglich auch was“, amüsierte sich <strong>R1</strong>.<br />

„Du siehst wirklich beschissen aus“, funkte Leda Lyra an, „also in den Spiegel solltest du nicht<br />

schauen. Na, wir haben dich vielleicht verhunzt, das geht auf keine Kuhhaut. Ich weiß nicht, was ich<br />

dazu sagen soll. Eine brauchbare Entschuldigung fällt mir nicht ein. Sag’ einfach, daß du uns<br />

trotzdem magst.“<br />

„Vielleicht sollte ich doch lieber vorher in den Spiegel blicken“, sendete Lyra zurück.<br />

„Wir haben uns zumindest Mühe gegeben“, funkte <strong>R1</strong>, „...irgendwie.“<br />

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Lyra an <strong>der</strong> Wand bewegte sich kaum merklich, starrte düstere Leere aus den Augen,<br />

ausdruckslose, grausame Augen, die kühlen.<br />

Lyra spähte in die Dunkelheit, verengte Pupillen, wenn die Lichter angehen, erst an <strong>der</strong> Straße,<br />

dann vor den Gebäuden des Hauptquartiers <strong>der</strong> Grenztruppen.<br />

Die Blicke zweier Augen drangen ungehin<strong>der</strong>t an die Dinge, sezierten scharf die Außenwelt, um<br />

sich wirklichkeitsgerecht an Freund und Feind zu orientieren.<br />

Lyra und die Auflösung <strong>der</strong> Konturen des Ichs am Schulungsort, den Bunkern, den Gräben, den<br />

Sicherungsanlagen.<br />

Lyra auf Abruf, eine Stimme, „ja“ - bewegte sich Lyras Mund kaum merklich, machte auf dem<br />

Absatz kehrt, lief an <strong>der</strong> Wand entlang. Ihr entgegen kamen Soldaten; Biester marschierten in Reih<br />

und Glied.<br />

Laßt sie laufen, Elektronengehirne. Die leidenschaftlichen Kräfte umfunktionalisiert, wird jedes<br />

Individuum wissenschaftlich zum angepaßten Objekt <strong>der</strong> gesellschaftlichen Wirklichkeit zivilisiert,<br />

um aus Lebewesen Apparate normgemäßer Handlungseffizienz zu produzieren.<br />

Gebe deiner Hoffnung eine Abfallgrube. Wir benutzen in einem einfachen Experiment unseren<br />

Polarisationsfilter zur Kontrolle für polarisiertes Licht. Wir drehen nach entsprechendem<br />

Versuchsaufbau den Analysator um seine optische Achse und prüfen, inwieweit wir Dunkelheit<br />

herstellen können. Wir wissen, welcher Natur die Wahrheit des Erblindens ist.<br />

Die Leerstelle ist ein Beziehungspunkt des Unbegrifflichen. Wir durchrationalisierten<br />

Lebewesen fürchten uns vor keinen Teufeln, haben keine Angst vorm Tod, Verlusten gönnen wir<br />

kein Achselzucken, können nicht trauern, freuen uns nie, wir lieben die Liebe nicht, riechen<br />

unbeeindruckt am Geld, sind an <strong>der</strong> Wahrheit nicht interessiert, haben unsere Affekte auskuriert,<br />

sämtliche Gefühle verschlafen, die Besinnung verloren, verloren den Spaß, nur unsere Motorik hält<br />

uns am Leben. Unser Hirnzucken ist ein Tremor, dessen Kotrolle die pharmazeutische Industrie<br />

übernimmt, womit wir, im Einklang mit den Gesetzen, sicheren Händen überantwortet sind und im<br />

Rhythmus exakt, einig <strong>der</strong> Welt.<br />

Lyra bewegte sich zum Hauptportal, zur Fahrbahn hin. Der Abend hatte eine jahreszeitlich<br />

unterkühlte Temperatur, worauf <strong>der</strong> Körper schwach reagierte. Die Augen blinzelten, die Ohren<br />

empfingen die Geräusche des heftigen Abendwinds und fanden zwischen ihnen ein Geräusch, das<br />

die Ankunft eines Bodenfahrzeugs ankündigte.<br />

Lyra war bereit zum Aufbruch.<br />

Das Fahrzeug hielt vor dem Hauptportal. <strong>R1</strong>, die Lyra das Gefährt besorgt hatte, überließ ihr das<br />

Steuer und entfernte sich.<br />

Lyra verließ ohne zurückzublicken das Hauptquartier.<br />

Die Straße war schlecht und streckenweise nur mit geländegängigem Fahrzeug vernünftig<br />

befahrbar. Die Ortschaften, die Lyra passierte, waren mit Soldaten vollgespickt. Doch die<br />

Ortschaften wurden weniger, bis Lyra schließlich durch Steinwüste rumpelte. Die Sonne brach aus<br />

<strong>der</strong> Erde und kroch am Horizont herauf. Ein Flugschrauber <strong>der</strong> Grenztruppe rauschte in <strong>der</strong> Ferne.<br />

Das Gelände stieg an, die Felsen zackiger, türmten sich aggressiv zu steilen Hin<strong>der</strong>nissen,<br />

Kunstwerken gleich von wahnsinniger Zerrissenheit und materieller Spröde. Die Reifen kreischten<br />

gequält und schleu<strong>der</strong>ten über das Geröll, so daß die Steine an den Unterboden prasselten.<br />

Nach vielen Kilometern: Verwil<strong>der</strong>te Bepflanzungen am Wegesrand, ein verfallenes Haus. Lyra<br />

stoppte, stieg aus und stellte die brüchige Eingangstür beiseite.<br />

„Früher lebte ich hier“, dachte Lyra, „nachdem <strong>der</strong> erste Feldzug des Präsidenten siegreich beendet<br />

war, verließ ich die Heimat, um in den Elendsquartieren <strong>der</strong> Ostküstenstädte zu überleben. Ich und<br />

all die an<strong>der</strong>en, die zu uns gehörten und die wir liebten und die wir an die selben Dinge glaubten,<br />

mußten auseinan<strong>der</strong>gehen, denn freie Menschen können vor den Augen <strong>der</strong> Mächtigen nur<br />

unberechtigt existieren. Die einen zogen in die Slums, die an<strong>der</strong>en in die Berge.“<br />

Lyra betrat den Wohnraum, stöberte in den Schubladen <strong>der</strong> morschen Schränke herum, ging<br />

weiter einen Flur entlang.<br />

„Wir feierten im Vorgarten einst Feste, ich, Marietta und die an<strong>der</strong>en“, dachte Lyra.<br />

Am Ende des Gangs wußte Lyra das Zimmer Mariettas. Marietta hatte eine Schachtel Fotografien<br />

unterm Bett liegen; Lyra zog sie hervor und betrachtete die Bil<strong>der</strong>.<br />

Wenn ich die Bil<strong>der</strong> sehe und aufwache - eine Explosion im Kopf - . Ich schließe meine Augen und<br />

kriege meine zweite Explosion im Kopf, ich sinke keuchend auf das staubverschmutzte Lager,<br />

verbiege mich. Wenn ich geträumt habe, muß das eine an<strong>der</strong>e Welt gewesen sein. Sich in Bil<strong>der</strong>n<br />

wie<strong>der</strong>sehen, im Andenken <strong>der</strong> Erinnerungsfotos. Sich als Fremde wie<strong>der</strong>sehen.<br />

Marietta und Ich.<br />

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28.07.2006


Marietta mit <strong>der</strong> von Hermes totgeschlagenen Rebellenkämpferin und Perseus abgelichtet in<br />

gemeinsam gefeierten Freudentagen.<br />

Lyra legte die Fotos weg, erhob sich wie<strong>der</strong>, wischte den von Staub ergrauten gegenüberliegenden<br />

Spiegel frei und blickte in die halbblinde Scheibe.<br />

Eine verfallene Wohnung in mir, ein verfallenes Haus, eine Abfallgrube. Mein Gesicht. Die<br />

Grimasse belehrt mich eines Besseren des nichtigen Gesichts. Beschreibung eines leeren Raums.<br />

Menschlein fährt ins Niemandsland.<br />

„Der Tod ist ein weißes Gebirge“, sagte Lyra, „jetzt zerrinnt in meinem Hirn die festgefügte Ordnung<br />

des Bewußten. Die <strong>Zeit</strong> mordet mich zielsicher.“<br />

Lyra stürzte aus dem Haus, lief querfeldein.<br />

Den aufgeweichten Boden treten, spätsommerliche, kühle Luft einfangen, frühherbstlichen Dunst<br />

auspusten. Sein stolperndes Herz zum Wassertümpel führen. Seinen Kopf in aufgeschwemmten<br />

Sand einlagern, mit seinen Füßen ausgebranntes Unterholz durchfurchen, seine Hände in den<br />

schwarzen Wäl<strong>der</strong>n wachsen lassen. Seine Augen in die Regenwolken kreisen, seine Nase an den<br />

Pflanzengrund erobern, seinen Ohren glücklich in das ferne Hügelland zur Flucht verhelfen. Seiner<br />

Haut dem unersättlichen Bedürfnis <strong>der</strong> Lebendigkeit empfehlen. Am Wassertümpel sich den Schlick<br />

in seine Sinne kriechen lassen, in eine triste, ungesichtige Umnachtung.<br />

Es muß doch auch für mich eine Vergangenheit geben, eine Erinnerung, eine Kindheit. Wie je<strong>der</strong><br />

trage auch ich die hellen Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Sommertage in mir, auch ich halte das Licht <strong>der</strong> Wärme in mir,<br />

diese flüchtigen Standbil<strong>der</strong> ganz <strong>der</strong> Empfindung, rieche die dichten Hecken voller gelber<br />

Honigblüten, an denen ich gelegentlich wie eine Biene saugte.<br />

Nichts, nichts mehr, nichts davon ist wahr, son<strong>der</strong>n nur das Gegenteil.<br />

Der Chirurg schneidet uns die kranken Teile weg. Der Architekt baut uns ein Haus. Der Agronom<br />

zieht seinen Weizen auf. Der Biologe legt ein Ei. Die Planiermaschine ebnet uns den Weg. Die<br />

Astronauten turnen auf dem Mars herum. Kindheit und Jugend sind verflossen. Die Herrlichkeit<br />

unwi<strong>der</strong>ruflich aufgegeben. Übrig bleibt das Feindliche. Ich lebe in Feindesland. Na ja, wir kennen<br />

das Spiel, eines Tages bekommt je<strong>der</strong> einen Magnetstreifen ins Gehirn gebrannt, in dem steht<br />

seine Geschichte ausdatiert. Die Daten sind geschützt vor ihrem Träger. Ja, es ist wahr - welch eine<br />

Ironie - am Ende bezeichnen wir als Dreck, was wir noch in den Händen halten, entsprechend sind<br />

wir nach dem Überfall zerschlagen, denn erobert o<strong>der</strong> korrumpiert. Ja, ich sehe den Riß in jedem<br />

Hirn, in jedem Blick, bis sich alles und jedes geteilt hat zur Bestandsaufnahme <strong>der</strong> Zerrissenheit. Ja,<br />

ich habe abgeschrieben eure bewußtseinsfaulen Trivialitäten bis zum Schmerzsyndrom eures<br />

Kitschgefühls, zur hohlen Nuß. Unwie<strong>der</strong>bringlich in Finsternis bin ich heruntergegurgelt, um euch<br />

zu spüren, da, wo ihr tot seid, wo ihr ganz und gar verrottet seid in eurem Lebensgefühl.<br />

Lyra erhob sich, schüttelte den Dreck ab, spazierte zurück zum Bodenfahrzeug. Es begann zu<br />

regnen.<br />

Was mache ich, wenn mein Lächeln nur noch Fassade ist, wenn ich gefallen bin, wie<strong>der</strong> aufstehe,<br />

zurück in die Welt, gezeichnet vom Realitätssinn meiner <strong>Zeit</strong>?<br />

Eine neue Aufgabe, ein leichter Gang, ist es Verrat o<strong>der</strong> nur Erinnerung an das, was ich verloren<br />

habe? Mein Wissen, so als wäre ich mit Bewußtsein neu geboren worden, habe mich geworfen auf<br />

schwarze Erde, Sand im Mund, zwischen den Zähnen, tritt mir vielleicht entgegen Schatten nur<br />

noch, verschwimmt, was Hoffnung war, in meinen Augen seicht zu Abglanz, Engel des Todes? ein<br />

literarisches Mädchen - o<strong>der</strong> bin ich schon Institution? Sinn? Ich? In mir fehlt ein Teil. Der Dissens<br />

in mir zu euch... liegt auf einer an<strong>der</strong>en Wiese - ein Körperhaftes.<br />

„Das Unsagbare sagen zu wollen, ist gleich sinnlos“, funkte Leda aus <strong>der</strong> Entfernung, „das<br />

Geheimnis bleibt Geheimnis.“<br />

Marietta, mit einer Paralysewaffe in <strong>der</strong> Hand, trat Lyra entgegen.<br />

„Bist du es, Lyra?“ fragte sie und heulte, „du bist die einzige von <strong>der</strong> Ostküste, die nach dem<br />

Überfall <strong>der</strong> Solotan-Ungeheuer noch übrig ist.“<br />

„Der Wi<strong>der</strong>stand dort ist zerschlagen, frag’ mich nichts dazu, es war grauenhaft.“ Lyra stieg in den<br />

Wagen, „bring’ mich zu Perseus.“<br />

Marietta führte Lyra auf geheimen Pfaden durch die Landschaft. Nach einer Weile wurde das<br />

Gelände unwegsam. Sie ließen das Automobil stehen, setzten ihre Reise zu Fuß fort.<br />

„Schöne Wildnis hier, weitab von an<strong>der</strong>en Menschenseelen“, bemerkte Lyra, beugte sich nach<br />

einem zitternden Ast.<br />

„Vorsicht“, witterte Marietta Feindliches, als auch schon <strong>der</strong> Ast, sich in ein Tierwesen verwandelnd,<br />

pfeilschnell auf Lyra zustieß und sie dazu brachte, unwillkürlich in einer Abwehrbewegung ihre<br />

Hand zu erheben. Mit einem Quietschen rammte das Tier seine Kiefern in den Ringfinger, biß ihn<br />

ab und versuchte behende wegzuschlengeln, bis Mariettas Paralysewaffe seinem Dasein den<br />

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28.07.2006


Todesschock versetzte.<br />

„Igitt, ein Labormutant“, schau<strong>der</strong>te es Lyra, wickelte ein Tuch um ihre Hand. „Vergiß nicht, mich<br />

daran zu erinnern, daß ich mir einen neuen Finger besorge.“<br />

„Sei froh, daß dir bloß ein entlaufener Experimentalkiller begegnet ist, ein Standart-Mißlungener,<br />

statt einer hun<strong>der</strong>tfüßigen Biowaffe, wie sie hier vermehrt durch den Dschungel flitzen.<br />

„Da, ein Sellerie auf acht Beinen“, rief Lyra und wollte es beherzt zermalmen.<br />

„Nicht zertreten“, wiegelte Marietta ab, „noch ein Standart-Mißlungener, <strong>der</strong> ist menschenähnlich<br />

und krabbelt gerne harmlos zwischen deinen Füßen herum.“ Marietta installierte einen<br />

elektromagnetischen Schirm gegen Insektenüberfälle und weiter gings.<br />

Nach Kilometern unverdrossenen Marsches zeigt Lyra Ermüdungserscheinungen, schüttelte<br />

demoralisiert ihren zerknitterten Anzug, blickte in die Runde. „Immergleiches, schnellwachsendes<br />

Resistenzgehölz aus den Laboratorien des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts“, erklärte Marietta, „kannst du dich<br />

erinnern? Damals gab es hier Landschaftsparks.“<br />

„Es gab für mich so etwas wie einen Traum früher“, entgegnete Lyra.<br />

„Kennst du noch den Wasserfall?“ versuchte Marietta Lyra zu erinnern.<br />

Lyra horchte auf. „Ja, ich höre etwas aus <strong>der</strong> Entfernung.“<br />

Noch eine kurze <strong>Zeit</strong> stolperten die Freundinnen zwischen Buschwerk und Wald, dann blickten die<br />

beiden auf eine Hügelformation, eine Schlucht und einen Wasserfall und oben, am Abhang, wo das<br />

Wasser in silberner Gischt in die Tiefe purzelte, war schemenhaft ein Mensch zu erkennen. Der<br />

Mann schwenkte ein Paralysegewehr, legte gen Himmel an und schoß einen Reptilienflügler ab.<br />

„Perseus ist gewalttätig geworden.“ Marietta zuckte mit den Schultern, und Lyra erschreckte sich,<br />

daß es so leicht war, ihn zu finden.<br />

Lyra sprang ins Wasser, griff den Reptilienflügler und kletterte die Anhöhe zu Perseus hinauf.<br />

Perseus wartete.<br />

„Ich als letzte, die noch lebt, habe ein Recht zu erfahren, warum an <strong>der</strong> Ostküste alle sterben<br />

mußten.“ Lyra legte das tote Vieh zu Perseus Füßen und setzte sich.<br />

„Auch unsere Vernichtung, die Vernichtung <strong>der</strong> gesamten Allianz in den Bergen ist geplant. Der<br />

Solotan-Konzern wird keine Mittel scheuen, einen <strong>der</strong>artigen Plan in die Tat umzusetzen“, erwi<strong>der</strong>te<br />

Perseus.<br />

„Der Solotan-Konzern hat sich hierfür extra den Präsidenten des Landes eingekauft. Der<br />

Generalstab <strong>der</strong> Grenztruppen plant den Angriff auf das Rebellenhauptquartier in einer<br />

Siebentageaktion und will seine Biowaffe, Faktor eine Million, einsetzen. Der<br />

Angriffsplan ist in meiner Hand“, sprach Lyra.<br />

Perseus: „Welchen Preis mußtest du dafür bezahlen?“<br />

Lyra: „Ich bin Sklavin <strong>der</strong> Geheimdienstleute, Leda und <strong>R1</strong>, die als Gegenleistung für den Verrat<br />

des Plans, das Geheimnis in Erfahrung bringen wollen, das du dem Solotan-Konzern gestohlen<br />

hast.“<br />

Perseus: „Was wollen die Geheimdienstleute damit anfangen?“<br />

Lyra: „Sie wollen das vollenden, was du begonnen hast, den Sturz <strong>der</strong> Solotan-Herrschaft.“<br />

Perseus: „Du kennst meine Geschichte. Als im letzten Feldzug <strong>der</strong> Präsident unsere Heimat erobert<br />

hatte, setzte ich mich ab zum Solotan-Konzern. Ich brachte viel über das Unternehmen in<br />

Erfahrung. Ich erfuhr seine Geheimnisse.“<br />

Lyra: „Du hast die chemische Formel von Solotan in deinem Besitz, nicht wahr?“<br />

Perseus: „Nein, es gibt kein Rezept <strong>der</strong> chemischen Solotanherstellung, das Geheimnis ist das<br />

Produktionssystem. Der Solotan-Konzern konstruiert im Weltraum aus Menschen Hirnstoffkühe,<br />

überdimensionierte, chemiefabrikgroße Gehirne, geniale, fantasiebegabte, superintelligente<br />

Stoffhersteller, <strong>der</strong>en Trachten, Denken, Handeln ganz allein auf die Erzeugung von immer wie<strong>der</strong><br />

neu wirksamen und verbesserten Hirnstoffvarianten ausgerichtet ist. Es müssen genetisch ganz<br />

beson<strong>der</strong>s disponierte Menschen sein, <strong>der</strong>en Gehirnstruktur geeignet ist, äußerste Intelligenz in<br />

einer ganz beson<strong>der</strong>s großen Gehirnmasse zu entwickeln. Die Intelligenz <strong>der</strong> Hirnstoffkühe ist<br />

autonom, selbstgenügsam, vollkommen weltentsinnt und hat als Lebenswirklichkeit nur die<br />

gehirneigene Hirnstoffproduktion, die sich am hormonbehandelten Lustorgan, dem Nucleus<br />

Accumbens orientiert.<br />

Damit das System am Funktionieren bleibt, ist <strong>der</strong> Solotan-Konzern beständig auf <strong>der</strong> Suche nach<br />

immer neuem Menschenmaterial. Aus diesem Grunde infiltriert <strong>der</strong> Solotan-Geheimdienst die<br />

Technozentren mit Agenten, die die Genproduktion <strong>der</strong> Erdenlän<strong>der</strong> überwachen und die<br />

geeigneten Menschen als sogenannte Botschafter des Wissens herausschleusen und in die Hand<br />

des Unternehmens bringen sollen.<br />

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Als <strong>der</strong> Solotan-Konzern herausfand, daß ich ihm auf die Schliche gekommen war und im<br />

Technozentrum den neuen Botschafter des Wissens suchte, brachten sie ihn in einer Blitzaktion in<br />

ihre Konzernzentrale in <strong>der</strong> Welthauptstadt und zerstörten den Genspeicher, <strong>der</strong> die Produktion<br />

eines Klons ermöglicht hätte. Damit scheiterte mein Plan, das Solotan-System zu stürzen, und ich<br />

floh in die Berge.“<br />

Lyra: „Wozu immer wie<strong>der</strong> neustrukturierte Hirnstoffkühe, statt sich mit Klonen zu begnügen?“<br />

Perseus: „Klone sind immer bloß zweite Wahl. Das Konsumentenhirn stumpft ab, die positive<br />

Rauschwirkung läßt nach. Es ist eine immer wie<strong>der</strong> neue, fantastische Anstrengung nötig, den Stoff<br />

zu variieren,<br />

umzuwandeln und chemisch zu verbessern, damit die stimulierende Wirkung nicht nachläßt. So<br />

braucht es auch immer wie<strong>der</strong> neuartiger Produzentenhirne mit neuen Fantasien, neuen<br />

chemischen Begabungen, um den Prozeß am Leben zu erhalten.“<br />

Lyra: „Wie findet die Umwandlung von Botschaftern des Wissens in Hirnstoffkühe statt?“<br />

Perseus: „Infektion durch Virusmutanten, die systematisch die Zellkerne des Objekts verän<strong>der</strong>n und<br />

Hormonbehandlung des Nucleus Accumbens.“<br />

Lyra: „Warum fürchtest du dich nicht vor meinen Geheimdienstleuten? Sie könnten dich je<strong>der</strong>zeit<br />

mit einer, von einem Flugzeug abgeschossenen Kampfsonde, ermorden, nachdem du alles<br />

verraten hast.“<br />

Perseus: „Ein Geheimnis, das man verrät, ist kein Geheimnis mehr. Wenn <strong>der</strong> Geheimdienst ein<br />

falsches Spiel spielt und mich tötet, erfahren alle Län<strong>der</strong> <strong>der</strong> Erde das System <strong>der</strong> Stoffherstellung.<br />

So lautet mein Testament. Im übrigen ist es ein gutes Zeichen, daß deine Agentenführer das<br />

Geschäft meiner Ermordung bis jetzt nicht in Angriff genommen haben, wo ich die ganze <strong>Zeit</strong> auf<br />

dem Präsentierteller stand.<br />

Lyra: „Was ist dein Trick? Wie führst du sie an <strong>der</strong> Nase herum?“<br />

Perseus lachte.<br />

Marietta: „Perseus tritt hier nur als Hologramm auf. Der angeblich von ihm erlegte Reptilienflügler<br />

war ferngesteuert. Eine gute Geheimagentin hätte sich so was aber denken können, meine Süße.“<br />

Perseus verschwand.<br />

„Siehst du, mein Herz, eine große Geheimagentin ist aus dir nicht geworden“, lachte Leda aus <strong>der</strong><br />

Entfernung und flog mit <strong>R1</strong> in ihrem Flugschrauber eine Runde um den Wasserfall. „Willst du mit<br />

uns kommen und unsere Sklavin sein o<strong>der</strong> in den Bergen bei Marietta bleiben? ...Na, wie ich sehe,<br />

kannst du dich nicht entscheiden; wir treffen die Entscheidung für dich.“<br />

„Wir haben dir als Abschiedsgeschenk einen neuen Finger besorgt“, funkte <strong>R1</strong> und warf ein<br />

Päckchen aus dem Flugschrauber.<br />

„Ich wünsch’ euch Glück im Kampf gegen den Solotan-Konzern“, funkte Lyra zurück und winkte den<br />

Abfliegenden nach.<br />

(Ende 1. Teil)<br />

Der zweite Teil ist auf Anfrage per E-Mail kostenlos als PDF-Datei zu erhalten<br />

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- lipinski@kulturserver-berlin.de -<br />

28.07.2006

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