Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
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<strong>Geniebegriffe</strong><br />
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft ................................................. 2<br />
Jean Paul: Vorschule der Ästhetik.................................................... 26<br />
Friedrich Hölderlin: Über die Verfahrungsweise<br />
des poetischen Geistes .................................................................... 36<br />
Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung ......... 54<br />
G.W.F. Hegel: Vorlesung über Ästhetik I.......................................... 57<br />
F.W.J Schelling: System des transzendentalen Idealismus ............. 74<br />
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung ............... 84<br />
Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil<br />
der Historie für das Leben .............................................................. 103<br />
Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches ................. 108<br />
Friedrich Nietzsche: Aus dem Nachlaß der 80er Jahre.................. 122<br />
Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren....................... 124<br />
Georges Bataille: Die Souveränität in Kunst und Literatur ............. 132<br />
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie ...................................... 144<br />
Michel Foucault: Was ist ein Autor? ............................................... 157<br />
<strong>Hans</strong>-<strong>Joachim</strong> <strong>Lenger</strong>: Cyberspace (Vortrag an der HFBK) .......... 178
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft<br />
Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S.224-257<br />
/224/<br />
§ 40. Vom Geschmacke als einer Art von sensus communis<br />
Man gibt oft der Urteilskraft, wenn nicht sowohl ihre Reflexion als<br />
vielmehr bloß das Resultat derselben bemerklich ist, den Namen eines<br />
Sinnes, und redet von einem Wahr-<br />
/225/<br />
heitssinne, von einem Sinne für Anständigkeit, Gerechtigkeit u.s.w.;<br />
ob man zwar weiß, wenigstens billig wissen sollte, daß es nicht ein<br />
Sinn ist, in welchem diese Begriffe ihren Sitz haben können, noch<br />
weniger, daß dieser zu einem Ausspruche allgemeiner Regeln die<br />
mindeste Fähigkeit habe: sondern daß uns von Wahrheit, Schicklichkeit,<br />
Schönheit oder Gerechtigkeit nie eine Vorstellung dieser Art in<br />
Gedanken kommen könnte, wenn wir uns nicht über die Sinne zu<br />
höhern Erkenntnisvermögen erheben könnten. Der gemeine Menschenverstand,<br />
den man, als bloß gesunden (noch nicht kultivierten)<br />
Verstand, für das geringste ansieht, dessen man nur immer sich von<br />
dem, welcher auf den Namen eines Menschen Anspruch macht, gewärtigen<br />
kann, hat daher auch die kränkende Ehre, mit dem Namen<br />
des Gemeinsinnes (sensus communis) belegt zu werden; und zwar<br />
so, daß man unter dem Worte gemein (nicht bloß in unserer Sprache,<br />
die hierin wirklich eine Zweideutigkeit enthält, sondern auch in mancher<br />
andern) so viel als das vulgäre, was man allenthalben antrifft,<br />
versteht, welches zu besitzen schlechterdings kein Verdienst oder<br />
Vorzug ist.<br />
Unter dem sensus communis aber muß man die Idee eines gemeinschaftlichen<br />
Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermögens verstehen,<br />
welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in<br />
Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte<br />
Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch der Illusion zu<br />
entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für<br />
objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluß<br />
haben würde. Dieses geschieht nun dadurch, daß man sein Urteil an<br />
anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile<br />
hält, und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem man bloß von<br />
den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälliger<br />
2
Weise anhängen, abstrahiert: welches wiederum dadurch bewirkt<br />
wird, daß man das, was in dem Vorstellungszustande Materie, d.i.<br />
Empfindung ist, so viel möglich weg-<br />
/226/<br />
läßt, und lediglich auf die formalen Eigentümlichkeiten seiner Vorstellung,<br />
oder seines Vorstellungszustandes, Acht hat. Nun scheint diese<br />
Operation der Reflexion vielleicht allzu künstlich zu sein, um sie<br />
dem Vermögen, welches wir den gemeinen Sinn nennen, beizulegen;<br />
allein sie sieht auch nur so aus, wenn man sie in abstrakten Formeln<br />
ausdrückt; an sich ist nichts natürlicher, als von Reiz und Rührung zu<br />
abstrahieren, wenn man ein Urteil sucht, welches zur allgemeinen<br />
Regel dienen soll.<br />
Folgende Maximen des gemeinen Menschenverstandes gehören<br />
zwar nicht hieher, als Teile der Geschmackskritik, können aber doch<br />
zur Erläuterung ihrer Grundsätze dienen. Es sind folgende: 1. Selbstdenken;<br />
2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich<br />
selbst einstimmig denken. Die erste ist die Maxime der vorurteilfreien,<br />
die zweite der erweiterten, die dritte der konsequenten Denkungsart.<br />
Die erste ist die Maxime einer niemals passiven Vernunft. Der Hang<br />
zur letztern, mithin zur Heteronomie der Vernunft, heißt das Vorurteil;<br />
und das größte unter allen ist, sich die Naturregeln, welche der<br />
Verstand ihr durch ihr eigenes wesentliches Gesetz zum Grunde legt,<br />
als nicht unterworfen vorzustellen: d.i. der Aberglaube. Befreiung vom<br />
Aberglauben heißt Aufklärung 1 ; weil, obschon diese Benennung auch<br />
der Befreiung von Vorurteilen überhaupt zukommt, jener doch vorzugsweise<br />
(in sensu eminenti) ein Vorurteil genannt zu werden verdient,<br />
indem<br />
/227/<br />
die Blindheit, worin der Aberglaube versetzt, ja sie wohl gar als Obliegenheit<br />
fordert, das Bedürfnis, von andern geleitet zu werden, mithin<br />
den Zustand einer passiven Vernunft vorzüglich kenntlich macht.<br />
Was die zweite Maxime der Denkungsart betrifft, so sind wir sonst<br />
wohl gewohnt, denjenigen eingeschränkt (borniert, das Gegenteil von<br />
erweitert) zu nennen, dessen Talente zu keinem großen Gebrauche<br />
(vornehmlich dem intensiven) zulangen. Allein hier ist nicht die Rede<br />
1 Man sieht bald, daß Aufklärung zwar in thesi leicht, in hypothesi aber<br />
eine schwere und langsam auszuführende Sache sei; weil mit seiner<br />
Vernunft nicht passiv, sondern jederzeit sich selbst gesetzgebend zu sein<br />
zwar etwas ganz Leichtes für den Menschen ist, der nur seinem wesentlichen<br />
Zwecke angemessen sein will, und das, was über seinen Verstand<br />
ist, nicht zu wissen verlangt; aber, da die Bestrebung zum letzteren kaum<br />
zu verhüten ist, und es an andern, welche diese Wißbegierde befriedigen<br />
zu können mit vieler Zuversicht versprechen, nie fehlen wird: so muß das<br />
bloß Negative (welches die eigentliche Aufklärung ausmacht) in der Denkungsart<br />
(zumal der öffentlichen) zu erhalten, oder herzustellen, sehr<br />
schwer sein.<br />
3
vom Vermögen des Erkenntnisses, sondern von der Denkungsart,<br />
einen zweckmäßigen Gebrauch davon zu machen: welche, so klein<br />
auch der Umfang und der Grad sei, wohin die Naturgabe des Menschen<br />
reicht, dennoch einen Mann von erweiterter Denkungsart anzeigt,<br />
wenn er sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils,<br />
wo zwischen so viele andere wie eingeklammert sind, wegsetzen,<br />
und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur<br />
bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt)<br />
über sein eigenes Urteil reflektiert. Die dritte Maxime, nämlich die der<br />
konsequenten Denkungsart, ist am schwersten zu erreichen, und<br />
kann auch nur durch die Verbindung beider ersten, und nach einer<br />
zur Fertigkeit gewordenen öfteren Befolgung derselben, erreicht werden.<br />
Man kann sagen: die erste dieser Maximen ist die Maxime des<br />
Verstandes; die zweite der Urteilskraft, die dritte der Vernunft. –<br />
Ich nehme den durch diese Episode verlassenen Faden wieder auf,<br />
und sage: daß der Geschmack mit mehrerem Rechte sensus communis<br />
genannt werden könne, als der gesunde Verstand; und daß<br />
die ästhetische Urteilskraft eher als die intellektuelle den Namen eines<br />
gemeinschaftlichen Sinnes 2 führen könne, wenn man ja das Wort<br />
Sinn von einer Wirkung der bloßen Reflexion auf das Gemüt brauchen<br />
will: denn da versteht man unter Sinn das Gefühl der Lust.<br />
/228/<br />
Man könnte sogar den Geschmack durch das Beurteilungsvermögen<br />
desjenigen, was unser Gefühl an einer gegebenen Vorstellung ohne<br />
Vermittelung eines Begriffs allgemein mitteilbar macht, definieren.<br />
Die Geschicklichkeit der Menschen, sich ihre Gedanken mitzuteilen,<br />
erfordert auch ein Verhältnis der Einbildungskraft und des Verstandes,<br />
um den Begriffen Anschauungen und diesen wiederum Begriffe<br />
zuzugesellen, die in ein Erkenntnis zusammenfließen; aber alsdann<br />
ist die Zusammenstimmung beider Gemütskräfte gesetzlich, unter<br />
dem Zwange bestimmter Begriffe. Nur da, wo Einbildungskraft in ihrer<br />
Freiheit den Verstand erweckt, und dieser ohne Begriffe die Einbildungskraft<br />
in ein regelmäßiges Spiel versetzt: da teilt sich die Vorstellung,<br />
nicht als Gedanke, sondern als inneres Gefühl eines zweckmäßigen<br />
Zustandes des Gemüts, mit.<br />
Der Geschmack ist also das Vermögen, die Mitteilbarkeit der Gefühle,<br />
welche mit gegebener Vorstellung (ohne Vermittelung eines Begriffs)<br />
verbunden sind, a priori zu beurteilen. Wenn man annehmen<br />
dürfte, daß die bloße allgemeine Mitteilbarkeit seines Gefühls an sich<br />
schon ein Interesse für uns bei sich führen müsse (welches man aber<br />
aus der Beschaffenheit einer bloß reflektierenden Urteilskraft zu<br />
schließen nicht berechtigt ist): so würde man sich erklären können,<br />
woher das Gefühl im Geschmacksurteile gleichsam als Pflicht jedermann<br />
zugemutet werde.<br />
2 Man könnte den Geschmack durch sensus communis aestheticus, den<br />
gemeinen Menschenverstand durch sensus communis logicus, bezeichnen.<br />
4
§ 41. Vom empirischen Interesse am Schönen<br />
Daß das Geschmacksurteil, wodurch etwas für schön erklärt wird,<br />
kein Interesse zum Bestimmungsgrunde haben müsse, ist oben hinreichend<br />
dargetan worden. Aber daraus folgt nicht, daß, nachdem es,<br />
als reines ästhetisches Urteil, gegeben worden, kein Interesse damit<br />
verbunden werden könne. Diese Verbindung wird aber immer nur in-<br />
/229/<br />
direkt sein können, d.i. der Geschmack muß allererst mit etwas anderem<br />
verbunden vorgestellt werden, um mit dem Wohlgefallen der<br />
bloßen Reflexion über einen Gegenstand noch eine Lust an der Existenz<br />
desselben (als worin alles Interesse besteht) verknüpfen zu<br />
können. Denn es gilt hier im ästhetischen Urteile, was im Erkenntnisurteile<br />
(von Dingen überhaupt) gesagt wird: a posse ad esse non<br />
valet consequentia. Dieses andere kann nun etwas Empirisches sein,<br />
nämlich eine Neigung, die der menschlichen Natur eigen ist; oder<br />
etwas Intellektuelles, als Eigenschaft des Willens, a priori durch Vernunft<br />
bestimmt werden zu können: welche beide ein Wohlgefallen am<br />
Dasein eines Objekts enthalten, und so den Grund zu einem Interesse<br />
an demjenigen legen können, was schon für sich und ohne Rücksicht<br />
auf irgend ein Interesse gefallen hat.<br />
Empirisch interessiert das Schöne nur in der Gesellschaft; und, wenn<br />
man den Trieb zur Gesellschaft als dem Menschen natürlich, die<br />
Tauglichkeit aber und den Hang dazu, d.i. die Geselligkeit, zur Erfordernis<br />
des Menschen, als für die Gesellschaft bestimmten Geschöpfs,<br />
also als zur Humanität gehörige Eigenschaft einräumt: so<br />
kann es nicht fehlen, daß man nicht auch den Geschmack als ein<br />
Beurteilungsvermögen alles dessen, wodurch man sogar sein Gefühl<br />
jedem andern mitteilen kann, mithin als Beförderungsmittel dessen,<br />
was eines jeden natürliche Neigung verlangt, ansehen sollte.<br />
Für sich allein würde ein verlassener Mensch auf einer wüsten Insel<br />
weder seine Hütte, noch sich selbst ausputzen, oder Blumen aufsuchen,<br />
noch weniger sie pflanzen, um sich damit auszuschmücken;<br />
sondern nur in Gesellschaft kommt es ihm ein, nicht bloß Mensch,<br />
sondern auch nach seiner Art ein feiner Mensch zu sein (der Anfang<br />
der Zivilisierung): denn als einen solchen beurteilt man denjenigen,<br />
welcher seine Lust andern mitzuteilen geneigt und geschickt ist, und<br />
den ein Objekt nicht befriedigt, wenn er das Wohlgefallen an demselben<br />
nicht in Gemeinschaft mit andern fühlen kann. Auch erwartet und<br />
fordert ein jeder die Rücksicht auf<br />
/230/<br />
allgemeine Mitteilung von jedermann, gleichsam als aus einem ursprünglichen<br />
Vertrage, der durch die Menschheit selbst diktiert ist;<br />
und so werden freilich anfangs nur Reize, z.B. Farben, um sich zu<br />
bemalen (Rocou bei den Karaiben und Zinnober bei den Irokesen),<br />
oder Blumen, Muschelschalen, schönfarbige Vogelfedern, mit der<br />
5
Zeit aber auch schöne Formen (als an Kanots, Kleidern, u.s.w.), die<br />
gar kein Vergnügen, d.i. Wohlgefallen des Genusses bei sich führen,<br />
in der Gesellschaft wichtig und mit großem Interesse verbunden: bis<br />
endlich die auf den höchsten Punkt gekommene Zivilisierung daraus<br />
beinahe das Hauptwerk der verfeinerten Neigung macht, und Empfindungen<br />
nur so viel wert gehalten werden, als sie sich allgemein<br />
mitteilen lassen; wo denn, wenn gleich die Lust, die jeder an einem<br />
solchen Gegenstande hat, nur unbeträchtlich und für sich ohne merkliches<br />
Interesse ist, doch die Idee von ihrer allgemeinen Mitteilbarkeit<br />
ihren Wert beinahe unendlich vergrößert.<br />
Dieses indirekt dem Schönen, durch Neigung zur Gesellschaft, angehängte,<br />
mithin empirische Interesse ist aber für uns hier von keiner<br />
Wichtigkeit, die wir nur darauf zu sehen haben, was auf das Geschmacksurteil<br />
a priori, wenn gleich nur indirekt, Beziehung haben<br />
mag. Denn, wenn auch in dieser Form sich ein damit verbundenes<br />
Interesse entdecken sollte, so würde Geschmack einen Übergang<br />
unseres Beurteilungsvermögens von dem Sinnengenuß zum Sittengefühl<br />
entdecken; und nicht allein, daß man dadurch den Geschmack<br />
zweckmäßig zu beschäftigen besser geleitet werden würde, es würde<br />
auch ein Mittelglied der Kette der menschlichen Vermögen a priori,<br />
von denen alle Gesetzgebung abhängen muß, als ein solches dargestellt<br />
werden. So viel kann man von dem empirischen Interesse an<br />
Gegenständen des Geschmacks und am Geschmack selbst wohl<br />
sagen, daß es, da dieser der Neigung frönt, obgleich sie noch so verfeinert<br />
sein mag, sich doch auch mit allen Neigungen und Leidenschaften,<br />
die in der Gesellschaft ihre größte Mannigfaltigkeit und<br />
höchste Stufe erreichen, gern zusammenschmelzen läßt, und das<br />
Interesse am Schönen, wenn es darauf ge-<br />
/231/<br />
gründet ist, einen nur sehr zweideutigen Übergang vom Angenehmen<br />
zum Guten abgeben könne. Ob aber dieser nicht etwa doch durch<br />
den Geschmack, wenn er in seiner Reinigkeit genommen wird, befördert<br />
werden könne, haben wir zu untersuchen Ursache.<br />
§ 42. Vom intellektuellen Interesse am Schönen<br />
Es geschah in gutmütiger Absicht, daß diejenigen, welche alle Beschäftigungen<br />
der Menschen, wozu diese die innere Naturanlage<br />
antreibt, gerne auf den letzten Zweck der Menschheit, nämlich das<br />
Moralisch-Gute richten wollten, es für ein Zeichen eines guten moralischen<br />
Charakters hielten, am Schönen überhaupt ein Interesse zu<br />
nehmen. Ihnen ist aber nicht ohne Grund von andern widersprochen<br />
worden, die sich auf die Erfahrung berufen, daß Virtuosen des Geschmacks,<br />
nicht allein öfter, sondern wohl gar gewöhnlich, eitel, eigensinnig,<br />
und verderblichen Leidenschaften ergeben, vielleicht noch<br />
weniger wie andere auf den Vorzug der Anhänglichkeit an sittliche<br />
Grundsätze Anspruch machen könnten; und so scheint es, daß das<br />
Gefühl für das Schöne nicht allein (wie es auch wirklich ist) vom moralischen<br />
Gefühl spezifisch unterschieden, sondern auch das Interes-<br />
6
se, welches man damit verbinden kann, mit dem moralischen schwer,<br />
keinesweges aber durch innere Affinität, vereinbar sei.<br />
Ich räume nun zwar gerne ein, daß das Interesse am Schönen der<br />
Kunst (wozu ich auch den künstlichen Gebrauch der Naturschönheiten<br />
zum Putze, mithin zur Eitelkeit, rechne) gar keinen Beweis einer<br />
dem Moralischguten anhänglichen, oder auch nur dazu geneigten<br />
Denkungsart abgebe. Dagegen aber behaupte ich, daß ein unmittelbares<br />
Interesse an der Schönheit der Natur zu nehmen (nicht bloß<br />
Geschmack haben, um sie zu beurteilen) jederzeit ein Kennzeichen<br />
einer guten Seele sei; und daß, wenn dieses Interesse habituell ist,<br />
es wenigstens eine dem moralischen Gefühl günstige Gemütsstimmung<br />
anzeige, wenn es<br />
/232/<br />
sich mit der Beschauung der Natur gerne verbindet. Man muß sich<br />
aber wohl erinnern, daß ich hier eigentlich die schönen Formen der<br />
Natur meine, die Reize dagegen, welche sie so reichlich auch mit<br />
jenen zu verbinden pflegt, noch zur Seite setze, weil das Interesse<br />
daran zwar auch unmittelbar, aber doch empirisch ist.<br />
Der, welcher einsam (und ohne Absicht, seine Bemerkungen andern<br />
mitteilen zu wollen) die schöne Gestalt einer wilden Blume, eines<br />
Vogels, eines Insekts u.s.w. betrachtet, um sie zu bewundern, zu<br />
lieben, und sie nicht gerne in der Natur überhaupt vermissen zu wollen,<br />
ob ihm gleich dadurch einiger Schaden geschähe, viel weniger<br />
ein Nutzen daraus für ihn hervorleuchtete, nimmt ein unmittelbares<br />
und zwar intellektuelles Interesse an der Schönheit der Natur. D. i.<br />
nicht allein ihr Produkt der Form nach, sondern auch das Dasein<br />
desselben gefällt ihm, ohne daß ein Sinnenreiz daran Anteil hätte,<br />
oder er auch ir gend einen Zweck damit verbände.<br />
Es ist aber hiebei merkwürdig, daß, wenn man diesen Liebhaber des<br />
Schönen insgeheim hintergangen, und künstliche Blumen (die man<br />
den natürlichen ganz ähnlich verfertigen kann) in die Erde gesteckt,<br />
oder künstlich geschnitzte Vögel auf Zweige von Bäumen gesetzt<br />
hätte, und er darauf den Betrug entdeckte, das unmittelbare Interesse,<br />
was er vorher daran nahm, alsbald verschwinden, vielleicht aber<br />
ein anderes, nämlich das Interesse der Eitelkeit, sein Zimmer für<br />
fremde Augen damit auszuschmücken, an dessen Stelle sich einfinden<br />
würde. Daß die Natur jene Schönheit hervorgebracht hat: dieser<br />
Gedanke muß die Anschauung und Reflexion begleiten; und auf diesem<br />
gründet sich allein das unmittelbare Interesse, was man daran<br />
nimmt. Sonst bleibt entweder ein bloßes Geschmacksurteil ohne alles<br />
Interesse, oder nur ein mit einem mittelbaren, nämlich auf die Gesellschaft<br />
bezogenen verbundenes übrig: welches letztere keine sichere<br />
Anzeige auf moralisch gute Denkungsart abgibt.<br />
/233/<br />
Dieser Vorzug der Naturschönheit vor der Kunstschönheit, wenn jene<br />
gleich durch diese der Form nach sogar übertroffen würde, dennoch<br />
7
allein ein unmittelbares Interesse zu erwecken, stimmt mit der geläuterten<br />
und gründlichen Denkungsart aller Menschen überein, die ihr<br />
sittliches Gefühl kultiviert haben. Wenn ein Mann, der Geschmack<br />
genug hat, um über Produkte der schönen Kunst mit der größten<br />
Richtigkeit und Feinheit zu urteilen, das Zimmer gern verläßt, in welchem<br />
jene, die Eitelkeit und allenfalls gesellschaftlichen Freuden unterhaltenden,<br />
Schönheiten anzutreffen sind, und sich zum Schönen<br />
der Natur wendet, um hier gleichsam Wollust für seinen Geist in einem<br />
Gedankengange zu finden, den er sich nie völlig entwickeln<br />
kann: so werden wir diese seine Wahl selber mit Hochachtung betrachten,<br />
und in ihm eine schöne Seele voraussetzen, auf die kein<br />
Kunstkenner und Liebhaber, um des Interesse willen, das er an seinen<br />
Gegenständen nimmt, Anspruch machen kann. – Was ist nun<br />
der Unterschied der so verschiedenen Schätzung zweierlei Objekte,<br />
die im Urteile des bloßen Geschmacks einander kaum den Vorzug<br />
streitig machen würden?<br />
Wir haben ein Vermögen der bloß ästhetischen Urteilskraft, ohne<br />
Begriffe über Formen zu urteilen, und an der bloßen Beurteilung derselben<br />
ein Wohlgefallen zu finden, welches wir zugleich jedermann<br />
zur Regel machen, ohne daß dieses Urteil sich auf einem Interesse<br />
gründet, noch ein solches hervorbringt. – Andererseits haben wir<br />
auch ein Vermögen einer intellektuellen Urteilskraft, für bloße Formen<br />
praktischer Maximen (sofern sie sich zur allgemeinen Gesetzgebung<br />
von selbst qualifizieren) ein Wohlgefallen a priori zu bestimmen, welches<br />
wir jedermann zum Gesetze machen, ohne daß unser Urteil<br />
sich auf irgend einem Interesse gründet, aber doch ein solches hervorbringt.<br />
Die Lust oder Unlust im ersteren Urteile heißt die des Geschmacks,<br />
die zweite des moralischen Gefühls.<br />
Da es aber die Vernunft auch interessiert, daß die Ideen (für die sie<br />
im moralischen Gefühle ein unmittelbares Interesse bewirkt) auch<br />
objektive Realität haben, d.i. daß die<br />
/234/<br />
Natur wenigstens eine Spur zeige, oder einen Wink gebe, sie enthalte<br />
in sich irgend einen Grund, eine gesetzmäßige Übereinstimmung<br />
ihrer Produkte zu unserm von allem Interesse unabhängigen Wohlgefallen<br />
(welches wir a priori für jedermann als Gesetz erkennen, ohne<br />
dieses auf Beweisen gründen zu können) anzunehmen: so muß die<br />
Vernunft an jeder Äußerung der Natur von einer dieser ähnlichen<br />
Übereinstimmung ein Interesse nehmen; folglich kann das Gemüt<br />
über die Schönheit der Natur nicht nachdenken, ohne sich dabei zugleich<br />
interessiert zu finden. Dieses Interesse aber ist der Verwandtschaft<br />
nach moralisch; und der, welcher es am Schönen der Natur<br />
nimmt, kann es nur sofern an demselben nehmen, als er vorher<br />
schon sein Interesse am Sittlichguten wohlgegründet hat. Wen also<br />
die Schönheit der Natur unmittelbar interessiert, bei dem hat man<br />
Ursache, wenigstens eine Anlage zu guter moralischer Gesinnung zu<br />
vermuten.<br />
Man wird sagen: diese Deutung ästhetischer Urteile auf Verwandtschaft<br />
mit dem moralischen Gefühl sehe gar zu studiert aus, um sie<br />
8
für die wahre Auslegung der Chiffreschrift zu halten, wodurch die Natur<br />
in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht. Allein erstlich ist<br />
dieses unmittelbare Interesse am Schönen der Natur wirklich nicht<br />
gemein, sondern nur denen eigen, deren Denkungsart entweder zum<br />
Guten schon ausgebildet, oder dieser Ausbildung vorzüglich empfänglich<br />
ist, und dann führt die Analogie zwischen dem reinen Geschmacksurteile,<br />
welches, ohne von irgend einem Interesse abzuhängen,<br />
ein Wohlgefallen fühlen läßt, und es zugleich a priori als der<br />
Menschheit überhaupt anständig vorstellt, mit dem moralischen Urteile,<br />
welches eben dasselbe aus Begriffen tut, auch ohne deutliches,<br />
subtiles und vorsätzliches Nachdenken, auf ein gleichmäßiges unmittelbares<br />
Interesse an dem Gegenstande des ersteren, so wie an dem<br />
des letzteren: nur daß jenes ein freies, dieses ein auf objektive Gesetze<br />
gegründetes Interesse ist. Dazu kommt noch die Bewunderung<br />
der Natur, die sich an ihren<br />
/235/<br />
schönen Produkten als Kunst, nicht bloß durch Zufall, sondern<br />
gleichsam absichtlich, nach gesetzmäßiger Anordnung und als<br />
Zweckmäßigkeit ohne Zweck, zeigt: welchen letzteren, da wir ihn<br />
äußerlich nirgend antreffen, wir natürlicher Weise in uns selbst, und<br />
zwar in demjenigen, was den letzten Zweck unseres Daseins ausmacht,<br />
nämlich der moralischen Be stimmung, suchen (von welcher<br />
Nachfrage nach dem Grunde der Möglichkeit einer solchen Naturzweckmäßigkeit<br />
aber allererst in der Teleologie die Rede sein wird).<br />
Daß das Wohlgefallen an der schönen Kunst im reinen Geschmacksurteile<br />
nicht eben so mit einem unmittelbaren Interesse verbunden ist,<br />
als das an der schönen Natur, ist auch leicht zu erklären. Denn jene<br />
ist entweder eine solche Nachahmung von dieser, die bis zur Täuschung<br />
geht: und alsdann tut sie die Wirkung als (dafür gehaltene)<br />
Naturschönheit; oder sie ist eine absichtlich auf unser Wohlgefallen<br />
sichtbarlich gerichtete Kunst: alsdann aber würde das Wohlgefallen<br />
an diesem Produkte zwar unmittelbar durch Geschmack Statt finden,<br />
aber kein anderes als mittelbares Interesse an der zum Grunde liegenden<br />
Ursache, nämlich einer Kunst, welche nur durch ihren Zweck,<br />
niemals an sich selbst, interessieren kann. Man wird vielleicht sagen,<br />
daß dieses auch der Fall sei, wenn ein Objekt der Natur durch seine<br />
Schönheit nur in sofern interessiert, als ihr eine moralische Idee beigesellet<br />
wird; aber nicht dieses, sondern die Beschaffenheit derselben<br />
an sich selbst, daß sie sich zu einer solchen Beigesellung qualifiziert,<br />
die ihr also innerlich zukommt, interessiert unmittelbar.<br />
Die Reize in der schönen Natur, welche so häufig mit der schönen<br />
Form gleichsam zusammenschmel zend angetroffen werden, sind<br />
entweder zu den Modifikationen des Lichts (in der Farbengebung)<br />
oder des Schalles (in Tönen) gehörig. Denn diese sind die einzigen<br />
Empfindungen, welche nicht bloß Sinnengefühl, sondern auch Reflexion<br />
über die Form dieser Modifikationen der Sinne verstatten, und so<br />
gleichsam eine Sprache, die die Natur zu uns führt, und die einen<br />
höhern Sinn zu haben scheint, in sich enthalten. So<br />
9
236/<br />
scheint die weiße Farbe der Lilie das Gemüt zu Ideen der Unschuld,<br />
und nach der Ordnung der sieben Färben, von der roten an bis zur<br />
violetten, 1) zur Idee der Erhabenheit, 2) der Kühnheit, 3) der Freimütigkeit,<br />
4) der Freundlichkeit, 5) der Bescheidenheit, 6) der Standhaftigkeit,<br />
und 7) der Zärtlichkeit zu stimmen. Der Gesang der Vögel<br />
verkündigt Fröhlichkeit und Zufriedenheit mit seiner Existenz. Wenigstens<br />
so deuten wir die Natur aus, es mag dergleichen ihre Absicht<br />
sein oder nicht. Aber dieses Interesse, welches wir hier an Schönheit<br />
nehmen, bedarf durchaus, daß es Schönheit der Natur sei; und es<br />
verschwindet ganz, sobald man bemerkt, man sei getäuscht, und es<br />
sei nur Kunst: sogar, daß auch der Geschmack alsdann nichts Schönes,<br />
oder das Gesicht etwas Reizendes mehr daran finden kann.<br />
Was wird von Dichtern höher gepriesen, als der bezaubernd schöne<br />
Schlag der Nachtigall, in einsamen Gebüschen, an einem stillen<br />
Sommerabende, bei dem sanften Lichte des Mon des? Indessen hat<br />
man Beispiele, daß, wo kein solcher Sänger angetroffen wird, irgend<br />
ein lustiger Wirt seine zum Genuß der Landluft bei ihm eingekehrten<br />
Gäste dadurch zu ihrer größten Zufriedenheit hintergangen hatte,<br />
daß er einen mutwilligen Burschen, welcher diesen Schlag (mit Schilf<br />
oder Rohr im Munde) ganz der Natur ähnlich nachzumachen wußte,<br />
in einem Gebüsche verbarg. Sobald man aber inne wird, daß es Betrug<br />
sei, so wird niemand es lange aushalten, diesem vorher für so<br />
reizend gehaltenen Gesänge zuzuhören; und so ist es mit jedem anderen<br />
Singvogel beschaffen. Es muß Natur sein, oder von uns dafür<br />
gehalten werden, damit wir an dem Schönen als einem solchen ein<br />
unmittelbares Interesse nehmen können; noch mehr aber, wenn wir<br />
gar andern zumuten dürfen, daß sie es daran nehmen sollen, welches<br />
in der Tat geschieht, indem wir die Denkungsart derer für grob<br />
und unedel halten, die kein Gefühl für die schöne Natur haben (denn<br />
so nennen wir die Empfänglichkeit eines Interesse an ihrer Betrachtung),<br />
und sich bei der Mahlzeit oder der Bouteille am Genüsse bloßer<br />
Sinnesempfindungen halten.<br />
/237/<br />
§ 43. Von der Kunst überhaupt<br />
1) Kunst wird von der Natur, wie Tun (facere) vom Handeln oder Wirken<br />
überhaupt (agere), und das Produkt, oder die Folge der erstern<br />
als Werk (opus) von der letztern als Wirkung (effectus) unterschieden.<br />
Von Rechtswegen sollte man nur die Hervorbringung durch Freiheit,<br />
d.i. durch eine Willkür, die ihren Handlungen Vernunft zum Grunde<br />
legt, Kunst nennen. Denn, ob man gleich das Produkt der Bienen (die<br />
regelmäßig gebaueten Wachsscheiben) ein Kunstwerk zu nennen<br />
beliebt, so geschieht dieses doch nur wegen der Analogie mit der<br />
letzteren; sobald man sich nämlich besinnt, daß sie ihre Arbeit auf<br />
keine eigene Vernunftüberlegung gründen, so sagt man alsbald, es<br />
ist ein Produkt ihrer Natur (des Instinkts), und als Kunst wird es nur<br />
ihrem Schöpfer zugeschrieben.<br />
10
Wenn man bei Durchsuchung eines Moorbruches, wie es bisweilen<br />
geschehen ist, ein Stück behauenes Holz antrifft, so sagt man nicht,<br />
es ist ein Produkt der Natur, sondern der Kunst; die hervorbringende<br />
Ursache derselben hat sich einen Zweck gedacht, dem dieses seine<br />
Form zu danken hat. Sonst sieht man wohl auch an allem eine Kunst,<br />
was so beschaffen ist, daß eine Vorstellung desselben in ihrer Ursache<br />
vor ihrer Wirklichkeit vorhergegangen sein muß, (wie selbst bei<br />
Bienen), ohne daß doch die Wirkung von ihr eben gedacht sein dürfe:<br />
wenn man aber etwas schlechthin ein Kunstwerk nennt, um es von<br />
einer Naturwirkung zu unterscheiden, so versteht man allemal darunter<br />
ein Werk der Menschen.<br />
2) Kunst als Geschicklichkeit des Menschen wird auch von der Wissenschaft<br />
unterschieden (Können vom Wissen), als praktisches vom<br />
theoretischen Vermögen, als Technik von der Theorie (wie die Feldmeßkunst<br />
von der Geometrie). Und da wird auch das, was man kann,<br />
sobald man nur weiß, was getan werden soll, und also nur die begehrte<br />
Wirkung genugsam kennt, nicht eben Kunst genannt. Nur das,<br />
was man, wenn man es auch auf das voll-<br />
/238/<br />
ständigste kennt, dennoch darum zu machen noch nicht sofort die<br />
Geschicklichkeit hat, gehört in so weit zur Kunst. Camper beschreibt<br />
sehr genau, wie der beste Schuh beschaffen sein müßte, aber er<br />
konnte gewiß keinen machen. 3<br />
3) Wird auch Kunst vom Handwerke unterschieden; die erste heißt<br />
freie, die andere kann auch Lohnkunst heißen. Man sieht die erste so<br />
an, als ob sie nur als Spiel, d.i. Beschäftigung, die für sich selbst angenehm<br />
ist, zweckmäßig ausfallen (gelingen) könne; die zweite so,<br />
daß sie als Arbeit, d.i. Beschäftigung, die für sich selbst unangenehm<br />
(beschwerlich), und nur durch ihre Wirkung (z.B. den Lohn) anlockend<br />
ist, mithin zwangsmäßig auferlegt werden kann. Ob in der<br />
Rangliste der Zünfte Uhrmacher für Künstler, dagegen Schmiede für<br />
Handwerker gelten sollen: das bedarf eines andern Gesichtspunkts<br />
der Beurteilung, als derjenige ist, den wir hier nehmen; nämlich die<br />
Proportion der Talente, die dem einen oder anderen dieser Geschäfte<br />
zum Grunde liegen müssen. Ob auch unter den sogenannten sieben<br />
freien Künsten nicht einige, die den Wissenschaften beizuzählen,<br />
manche auch, die mit Handwerken zu vergleichen sind, aufgeführt<br />
worden sein möchten: davon will ich hier nicht reden. Daß aber in<br />
allen freien Künsten dennoch etwas Zwangsmäßiges, oder, wie man<br />
es nennt, ein Mechanismus erforderlich sei, ohne welchen der Geist,<br />
der in der Kunst frei sein muß und allein das Werk belebt, gar keinen<br />
3 In meinen Gegenden sagt der gemeine Mann, wenn man ihm etwa eine<br />
solche Aufgabe vorlegt, wie Kolumbus mit seinem Ei: das ist keine Kunst,<br />
es ist nur eine Wissenschaft. D. i. wenn man es weiß, so kann man es;<br />
und eben dieses sagt er von allen vorgeblichen Künsten des Taschenspielers.<br />
Die des Seiltänzers dagegen wird er gar nicht in Abrede sein<br />
Kunst zu nennen.<br />
11
Körper haben und gänzlich verdunsten würde: ist nicht unratsam zu<br />
erinnern (z.B. in der Dichtkunst, die Sprachrichtigkeit und der Sprachreichtum,<br />
imgleichen die Prosodie und das Silbenmaß), da manche<br />
neuere Erzieher eine freie Kunst am besten zu befördern glauben,<br />
wenn sie allen Zwang von ihr wegnehmen, und sie aus Arbeit in bloßes<br />
Spiel verwandeln.<br />
/239/<br />
§ 44. Von der schönen Kunst<br />
Es gibt weder eine Wissenschaft des Schönen, sondern nur Kritik,<br />
noch schöne Wissenschaft, sondern nur schöne Kunst. Denn was die<br />
erstere betrifft, so würde in ihr wissenschaftlich, d.i. durch Beweisgründe<br />
ausgemacht werden sollen, ob etwas für schön zu halten sei<br />
oder nicht; das Urteil über Schönheit würde also, wenn es zur Wissenschaft<br />
gehörte, kein Geschmacksurteil sein. Was das zweite anlangt,<br />
so ist eine Wissenschaft, die, als solche, schön sein soll, ein<br />
Unding. Denn, wenn man in ihr als Wissenschaft nach Gründen und<br />
Beweisen fragte, so würde man durch geschmackvolle Aussprüche<br />
(Bonmots) abgefertigt. – Was den gewöhnlichen Ausdruck, schöne<br />
Wissenschaften, veranlaßt hat, ist ohne Zweifel nichts anders, als<br />
daß man ganz richtig bemerkt hat, es werde zur schönen Kunst in<br />
ihrer ganzen Vollkommenheit viel Wissenschaft, als z.B. Kenntnis<br />
alter Sprachen, Belesenheit der Autoren die für Klassiker gelten, Geschichte,<br />
Kenntnis der Altertümer u.s.w. erfordert, und deshalb diese<br />
historischen Wissenschaften, weil sie zur schönen Kunst die notwendige<br />
Vorbereitung und Grundlage ausmachen, zum Teil auch, weil<br />
darunter selbst die Kenntnis der Produkte der schönen Kunst (Beredsamkeit<br />
und Dichtkunst) begrif fen worden, durch eine Wortverwechselung,<br />
selbst schöne Wissenschaften genannt hat.<br />
Wenn die Kunst, dem Erkenntnisse eines möglichen Gegenstandes<br />
angemessen, bloß ihn wirklich zu machen die dazu erforderlichen<br />
Handlungen verrichtet, so ist sie mechanische, hat sie aber das Gefühl<br />
der Lust zur unmittelbaren Absicht, so heißt sie ästhetische<br />
Kunst. Diese ist entweder angenehme oder schöne Kunst. Das erste<br />
ist sie, wenn der Zweck derselben ist, daß die Lust die Vorstellungen<br />
als bloße Empfindungen, das zweite, daß sie dieselben als Erkenntnisarten<br />
begleite.<br />
Angenehme Künste sind die, welche bloß zum Genüsse abgezweckt<br />
werden; dergleichen alle die Reize sind, welche die Gesellschaft an<br />
einer Tafel vergnügen können: als unterhaltend<br />
/240/<br />
zu erzählen, die Gesellschaft in freimütige und lebhafte Gesprächigkeit<br />
zu versetzen, durch Scherz und Lachen sie zu einem gewissen<br />
Tone der Lustigkeit zu stimmen, wo, wie man sagt, manches ins Gelag<br />
hinein geschwatzt werden kann, und niemand über das, was er<br />
spricht, verantwortlich sein will, weil es nur auf die augenblickliche<br />
Unterhaltung, nicht auf einen bleibenden Stoff zum Nachdenken oder<br />
12
Nachsagen, angelegt ist. (Hiezu gehört denn auch die Art, wie der<br />
Tisch zum Genüsse ausgerüstet ist, oder wohl gar bei großen Gelagen<br />
die Tafelmusik: ein wunderliches Ding, welches nur als ein angenehmes<br />
Geräusch die Stimmung der Gemüter zur Fröhlichkeit unterhalten<br />
soll, und, ohne daß jemand auf die Komposition derselben<br />
die mindeste Aufmerksamkeit verwendet, die freie Gesprächigkeit<br />
eines Nachbars mit dem andern begünstigt.) Dazu gehören ferner<br />
alle Spiele, die weiter kein Interesse bei sich führen, als die Zeit unvermerkt<br />
verlaufen zu machen.<br />
Schöne Kunst dagegen ist eine Vorstellungsart, die für sich selbst<br />
zweckmäßig ist, und, obgleich ohne Zweck, dennoch die Kultur der<br />
Gemütskräfte zur geselligen Mitteilung befördert.<br />
Die allgemeine Mitteilbarkeit einer Lust führt es schon in ihrem Begriffe<br />
mit sich, daß diese nicht eine Lust des Genusses, aus bloßer Empfindung,<br />
sondern der Reflexion sein müsse; und so ist ästhetische<br />
Kunst, als schöne Kunst, eine solche, die die reflektierende Urteilskraft<br />
und nicht die Sinnenempfindung zum Richtmaße hat.<br />
§ 45. Schöne Kunst ist eine Kunst, sofern sie zugleich Natur zu<br />
sein scheint<br />
An einem Produkte der schönen Kunst muß man sich bewußt werden,<br />
daß es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit<br />
in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln<br />
so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei. Auf<br />
diesem Gefühle der Freiheit im Spiele unserer Erkenntnisvermögen,<br />
welches doch zugleich zweckmäßig sein muß, beruht diejenige Lust,<br />
/241/<br />
welche allein allgemein mitteilbar ist, ohne sich doch auf Begriffe zu<br />
gründen. Die Natur war schön, wenn sie zugleich als Kunst aussah;<br />
und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt<br />
sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht.<br />
Denn wir können allgemein sagen, es mag die Natur oder die Kunstschönheit<br />
betreffen: schön ist das, was in der bloßen Beurteilung<br />
(nicht in der Sinnenempfindung, noch durch einen Begriff) gefällt.<br />
Nun hat Kunst jederzeit eine bestimmte Absicht, etwas hervorzubringen.<br />
Wenn dieses aber bloße Empfindung (etwas bloß Subjektives)<br />
wäre, die mit Lust begleitet sein sollte, so würde dies Produkt, in der<br />
Beurteilung, nur vermittelst des Sinnengefühls gefallen. Wäre die<br />
Absicht auf die Hervorbringung eines bestimmten Objekts gerichtet,<br />
so würde, wenn sie durch die Kunst erreicht wird, das Objekt nur<br />
durch Begriffe gefallen. In beiden Fällen aber würde die Kunst nicht in<br />
der bloßen Beurteilung, d.i. nicht als schöne, sondern mechanische<br />
Kunst gefallen.<br />
Also muß die Zweckmäßigkeit im Produkte der schönen Kunst, ob sie<br />
zwar absichtlich ist, doch nicht absichtlich scheinen; d.i. schöne<br />
Kunst muß als Natur anzusehen sein, ob man sich ihrer zwar als<br />
Kunst bewußt ist. Als Natur aber erscheint ein Produkt der Kunst da-<br />
13
durch, daß zwar alle Pünktlichkeit in der Übereinkunft mit Regeln,<br />
nach denen allein das Produkt das werden kann, was es sein soll,<br />
angetroffen wird; aber ohne Peinlichkeit, ohne daß die Schulform<br />
durchblickt, d.i. ohne eine Spur zu zeigen, daß die Regel dem Künstler<br />
vor Augen geschwebt, und seinen Gemütskräften Fesseln angelegt<br />
habe.<br />
§ 46. Schöne Kunst ist Kunst des Genies<br />
Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt.<br />
Da das Talent, als angebornes produktives Vermögen des Künstlers,<br />
selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken:<br />
Genie ist die angeborne<br />
/242/<br />
Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel<br />
gibt.<br />
Was es auch mit dieser Definition für eine Bewandtnis habe, und ob<br />
sie bloß willkürlich, oder dem Begriffe, welchen man mit dem Worte<br />
Genie zu verbinden gewohnt ist, angemessen sei, oder nicht (welches<br />
in dem folgenden § erörtert werden soll): so kann man doch<br />
schon zum voraus beweisen, daß, nach der hier angenommenen<br />
Bedeutung des Worts, schöne Künste notwendig als Künste des Genies<br />
betrachtet werden müssen.<br />
Denn eine jede Kunst setzt Regeln voraus, durch deren Grundlegung<br />
allererst ein Produkt, wenn es künstlich heißen soll, als möglich vorgestellt<br />
wird. Der Begriff der schönen Kunst aber verstattet nicht, daß<br />
das Urteil über die Schönheit ihres Produkts von irgend einer Regel<br />
abgeleitet werde, die einen Begriff zum Bestimmungsgrunde habe,<br />
mithin einen Begriff von der Art, wie es möglich sei, zum Grunde lege.<br />
Also kann die schöne Kunst sich selbst nicht die Regel ausdenken,<br />
nach der sie ihr Produkt zu Stande bringen soll. Da nun gleichwohl<br />
ohne vorhergehende Regel ein Produkt niemals Kunst heißen<br />
kann, so muß die Natur im Subjekte (und durch die Stimmung der<br />
Vermögen desselben) der Kunst die Regel geben, d.i. die schöne<br />
Kunst ist nur als Produkt des Genies möglich.<br />
Man sieht hieraus, daß Genie 1) ein Talent sei, dasjenige, wozu sich<br />
keine bestimmte Regel geben läßt, hervorzubringen: nicht Geschicklichkeitsanlage<br />
zu dem, was nach irgend einer Regel gelernt werden<br />
kann; folglich daß Originalität seine erste Eigenschaft sein müsse. 2)<br />
Daß, da es auch originalen Unsinn geben kann, seine Produkte zugleich<br />
Muster, d.i. exemplarisch sein müssen; mithin, selbst nicht<br />
durch Nachahmung entsprungen, anderen doch dazu, d.i. zum<br />
Richtmaße oder Regel der Beurteilung, dienen müssen. 3) Daß es,<br />
wie es sein Produkt zu Stande bringe, selbst nicht beschreiben, oder<br />
wissenschaftlich anzeigen könne, sondern daß es als Natur die Regel<br />
gebe; und daher<br />
14
243/<br />
der Urheber eines Produkts, welches er seinem Genie verdankt,<br />
selbst nicht weiß, wie sich in ihm die Ideen dazu herbei finden, auch<br />
es nicht in seiner Gewalt hat, dergleichen nach Belieben oder planmäßig<br />
auszudenken, und anderen in solchen Vorschriften mitzuteilen,<br />
die sie in Stand setzen, gleichmäßige Produkte hervorzubringen.<br />
(Daher denn auch vermutlich das Wort Genie von genius, dem eigentümlichen<br />
einem Menschen bei der Geburt mitgegebenen schützenden<br />
und leitenden Geist, von dessen Eingebung jene originale Ideen<br />
herrührten, abgeleitet ist.) 4) Daß die Natur durch das Genie nicht der<br />
Wissenschaft, sondern der Kunst die Regel vorschreibe; und auch<br />
dieses nur, in sofern diese letztere schöne Kunst sein soll.<br />
§ 47. Erläuterung und Bestätigung obiger Erklärung vom Genie<br />
Darin ist jedermann einig, daß Genie dem Nachahmungsgeiste gänzlich<br />
entgegen zu setzen sei. Da nun Lernen nichts als Nachahmen<br />
ist, so kann die größte Fähigkeit, Gelehrigkeit (Kapazität), als Gelehrigkeit,<br />
doch nicht für Genie gelten. Wenn man aber auch selbst<br />
denkt oder dichtet, und nicht bloß was andere gedacht haben, auffaßt,<br />
ja sogar für Kunst und Wissenschaft manches erfindet: so ist<br />
doch dieses auch noch nicht der rechte Grund, um einen solchen<br />
(oftmals großen) Kopf (im Gegensatze mit dem, welcher, weil er niemals<br />
etwas mehr als bloß lernen und nachahmen kann, ein Pinsel<br />
heißt) ein Genie zu nennen: weil eben das auch hätte können gelernt<br />
werden, also doch auf dem natürlichen Wege des Forschens und<br />
Nachdenkens nach Regeln liegt, und von dem, was durch Fleiß vermittelst<br />
der Nachahmung erworben werden kann, nicht spezifisch<br />
unterschieden ist. So kann man alles, was Newton in seinem unsterblichen<br />
Werke der Prinzipien der Naturphilosophie, so ein großer Kopf<br />
auch erforderlich war, dergleichen zu erfinden, vorgetragen hat, gar<br />
wohl lernen; aber man kann<br />
/244/<br />
nicht geistreich dichten lernen, so ausführlich auch alle Vorschriften<br />
für die Dichtkunst, und so vor trefflich auch die Muster derselben sein<br />
mögen. Die Ursache ist, daß Newton alle seine Schritte, die er, von<br />
den ersten Elementen der Geometrie an, bis zu seinen großen und<br />
tiefen Erfindungen, zu tun hatte, nicht allein sich selbst, sondern jedem<br />
andern, ganz anschaulich und zur Nachfolge bestimmt vormachen<br />
könnte; kein Homer aber oder Wieland anzeigen kann, wie sich<br />
seine phantasiereichen und doch zugleich gedankenvollen Ideen in<br />
seinem Kopfe hervor und zusammen finden, darum weil er es selbst<br />
nicht weiß, und es also auch keinen andern lehren kann. Im Wissenschaftlichen<br />
also ist der größte Erfinder vom mühseligsten Nachahmer<br />
und Lehrlinge nur dem Grade nach, dagegen von dem, welchen<br />
die Natur für die schöne Kunst begabt hat, spezifisch unterschieden.<br />
Indes liegt hierin keine Herabsetzung jener großen Männer, denen<br />
das menschliche Geschlecht so viel zu verdanken hat, gegen die<br />
Günstlinge der Natur in Ansehung ihres Talents für die schöne Kunst.<br />
15
Eben darin, daß jener Talent zur immer fortschreitenden größeren<br />
Vollkommenheit der Erkenntnisse und alles Nutzens, der davon abhängig<br />
ist, imgleichen zur Belehrung anderer in eben denselben<br />
Kenntnissen gemacht ist, besteht ein großer Vorzug derselben vor<br />
denen, welche die Ehre verdienen, Genies zu heißen: weil für diese<br />
die Kunst irgendwo still steht, indem ihr eine Grenze gesetzt ist, über<br />
die sie nicht weiter gehen kann, die vermutlich auch schon seit lange<br />
her erreicht ist und nicht mehr erweitert werden kann; und überdem<br />
eine solche Geschicklichkeit sich auch nicht mitteilen läßt, sondern<br />
jedem unmittelbar von der Hand der Natur erteilt sein will, mit ihm<br />
also stirbt, bis die Natur einmal einen andern wiederum eben so begabt,<br />
der nichts weiter als eines Beispiels bedarf, um das Talent,<br />
dessen er sich bewußt ist, auf ähnliche Art wirken zu lassen.<br />
Da die Naturgabe der Kunst (als schönen Kunst) die Regel geben<br />
muß: welcherlei Art ist denn diese Regel? Sie kann in keiner Formel<br />
abgefaßt zur Vorschrift dienen; denn<br />
/245/<br />
sonst würde das Urteil über das Schöne nach Begriffen bestimmbar<br />
sein: sondern die Regel muß von der Tat, d.i. vom Produkt abstrahiert<br />
werden, an welchem andere ihr eigenes Talent prüfen mögen,<br />
um sich jenes zum Muster, nicht der Nachmachung, sondern der<br />
Nachahmung, dienen zu lassen. Wie dieses möglich sei, ist schwer<br />
zu erklären. Die Ideen des Künstlers erregen ähnliche Ideen seines<br />
Lehrlings, wenn ihn die Natur mit einer ähnlichen Proportion der Gemütskräfte<br />
versehen hat. Die Muster der schönen Kunst sind daher<br />
die einzigen Leitungsmittel, diese auf die Nachkommenschaft zu<br />
bringen: welches durch bloße Beschreibungen nicht geschehen<br />
könnte (vornehmlich nicht im Fache der redenden Künste); und auch<br />
in diesen können nur die in alten, toten, und jetzt nur als gelehrte<br />
aufbehaltenen Sprachen klassisch werden.<br />
Ob zwar mechanische und schöne Kunst, die erste als bloße Kunst<br />
des Fleißes und der Erlernung, die zweite als die des Genies, sehr<br />
von einander unterschieden sind: so gibt es doch keine schöne<br />
Kunst, in welcher nicht etwas Mechanisches, welches nach Regeln<br />
gefaßt und befolgt werden kann, und also etwas Schulgerechtes die<br />
wesentliche Bedingung der Kunst ausmachte. Denn etwas muß dabei<br />
als Zweck gedacht werden, sonst kann man ihr Produkt gar keiner<br />
Kunst zuschreiben; es wäre ein bloßes Produkt des Zufalls. Um aber<br />
einen Zweck ins Werk zu richten, dazu werden bestimmte Regeln<br />
erfordert, von denen man sich nicht frei sprechen darf. Da nun die<br />
Originalität des Talents ein (aber nicht das einzige) wesentliches<br />
Stück vom Charakter des Genies ausmacht: so glauben seichte Köpfe,<br />
daß sie nicht besser zeigen können, sie wären aufblühende Genies,<br />
als wenn sie sich vom Schulzwange aller Regeln lossagen, und<br />
glauben, man paradiere besser auf einem kollerichten Pferde, als auf<br />
einem Schulpferde. Das Genie kann nur reichen Stoff zu Produkten<br />
der schönen Kunst hergeben; die Verarbeitung desselben und die<br />
Form erfordert ein durch die Schule gebildetes Talent, um einen Ge-<br />
16
auch davon zu machen, der vor der Urteilskraft bestehen kann.<br />
Wenn aber jemand sogar in Sa chen der sorgfältigsten Ver-<br />
/246/<br />
nunftuntersuchung wie ein Genie spricht und entscheidet, so ist es<br />
vollends lächerlich; man weiß nicht recht, ob man mehr über den<br />
Gaukler, der um sich so viel Dunst verbreitet, wobei man nichts deutlich<br />
beurteilen, aber desto mehr sich einbilden kann, oder mehr über<br />
das Publikum lachen soll, welches sich treuherzig einbildet, daß sein<br />
Unvermögen, das Meisterstück der Einsicht deutlich erkennen und<br />
fassen zu können, daher komme, weil ihm neue Wahrheiten in ganzen<br />
Massen zugeworfen werden, wogegen ihm das Detail (durch<br />
abgemessene Erklärungen und schulgerechte Prüfung der Grundsätze)<br />
nur Stümperwerk zu sein scheint.<br />
§ 48. Vom Verhältnisse des Genies zum Geschmack<br />
Zur Beurteilung schöner Gegenstände, als solcher, wird Geschmack,<br />
zur schönen Kunst selbst aber, d.i. der Hervorbringung solcher Gegenstände,<br />
wird Genie erfordert.<br />
Wenn man das Genie als Talent zur schönen Kunst betrachtet (welches<br />
die eigentümliche Bedeutung des Worts mit sich bringt), und es<br />
in dieser Absicht in die Vermögen zergliedern will, die ein solches<br />
Talent auszumachen zusammen kommen müssen: so ist nötig, zuvor<br />
den Unterschied zwischen der Natur schönheit, deren Beurteilung nur<br />
Geschmack, und der Kunstschönheit, deren Möglichkeit (worauf in<br />
der Beurteilung eines dergleichen Gegenstandes auch Rücksicht<br />
genommen werden muß) Genie erfordert, genau zu bestimmen.<br />
Eine Naturschönheit ist ein schönes Ding; die Kunstschönheit ist eine<br />
schöne Vorstellung von einem Dinge.<br />
Um eine Naturschönheit als eine solche zu beurteilen, brauche ich<br />
nicht vorher einen Begriff davon zu haben, was der Gegenstand für<br />
ein Ding sein solle; d.i. ich habe nicht nötig, die materiale Zweckmäßigkeit<br />
(den Zweck) zu kennen, sondern die bloße Form ohne Kenntnis<br />
des Zwecks gefällt in der Beurteilung für sich selbst. Wenn aber<br />
der Ge-<br />
/247/<br />
genstand für ein Produkt der Kunst gegeben ist, und als solches für<br />
schön erklärt werden soll: so muß, weil Kunst immer einen Zweck in<br />
der Ursache (und deren Kausalität) voraussetzt, zuerst ein Begriff<br />
von dem zum Grunde gelegt werden, was das Ding sein soll; und, da<br />
die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in einem Dinge, zu einer<br />
innern Bestimmung desselben als Zweck, die Vollkommenheit des<br />
Dinges ist, so wird in der Beurteilung der Kunstschönheit zugleich die<br />
Vollkommenheit des Dinges in Anschlag gebracht werden müssen,<br />
17
wornach in der Beurteilung einer Naturschönheit (als einer solchen)<br />
gar nicht die Frage ist. – Zwar wird in der Beurteilung, vornehmlich<br />
der belebten Gegenstände der Natur, z.B. des Menschen oder eines<br />
Pferdes, auch die objektive Zweckmäßigkeit gemeiniglich mit in Betracht<br />
gezogen, um über die Schönheit derselben zu urteilen; alsdann<br />
ist aber auch das Urteil nicht mehr rein ästhetisch, d.i. bloßes Geschmacksurteil.<br />
Die Natur wird nicht mehr beurteilt, wie sie als Kunst<br />
erscheint, sondern sofern sie wirklich (obzwar übermenschliche)<br />
Kunst ist; und das teleologische Urteil dient dem ästhetischen zur<br />
Grundlage und Bedingung, worauf dieses Rücksicht nehmen muß. In<br />
einem solchen Falle denkt man auch, wenn z.B. gesagt wird: »das ist<br />
ein schönes Weib«, in der Tat nichts anders, als: die Natur stellt in<br />
ihrer Gestalt die Zwecke im weiblichen Baue schön vor; denn man<br />
muß noch über die bloße Form auf einen Begriff hinaussehen, damit<br />
der Gegenstand auf solche Art durch ein logisch-bedingtes ästhetisches<br />
Urteil gedacht werde.<br />
Die schöne Kunst zeigt darin eben ihre Vorzüglichkeit, daß sie Dinge,<br />
die in der Natur häßlich oder mißfällig sein würden, schön beschreibt.<br />
Die Furien, Krankheiten, Verwüstungen des Krieges, u.d.gl. können,<br />
als Schädlichkeiten, sehr schön beschrieben, ja sogar im Gemälde<br />
vorgestellt werden; nur eine Art Häßlichkeit kann nicht der Natur gemäß<br />
vorgestellt werden, ohne alles ästhetische Wohlgefallen, mithin<br />
die Kunstschönheit, zu Grunde zu richten: nämlich diejenige, welche<br />
Ekel erweckt. Denn, weil<br />
/248/<br />
in dieser sonderbaren, auf lauter Einbildung beruhenden Empfindung<br />
der Gegenstand gleichsam, als ob er sich zum Genüsse aufdränge,<br />
wider den wir doch mit Gewalt streben, vorgestellt wird: so wird die<br />
künstliche Vorstellung des Gegenstandes von der Natur dieses Gegenstandes<br />
selbst in unserer Empfindung nicht mehr unterschieden,<br />
und jene kann alsdann unmöglich für schön gehalten werden. Auch<br />
hat die Bildhauerkunst, weil an ihren Produkten die Kunst mit der Natur<br />
beinahe verwechselt wird, die unmittelbare Vorstellung häßlicher<br />
Gegenstände von ihren Bildungen ausgeschlossen, und dafür z.B.<br />
den Tod (in einem schönen Genius), den Kriegsmut (am Mars) durch<br />
eine Allegorie oder Attribute, die sich gefällig ausnehmen, mithin nur<br />
indirekt vermittelst einer Auslegung der Vernunft, und nicht für bloß<br />
ästhetische Urteilskraft, vorzustellen erlaubt.<br />
So viel von der schönen Vorstellung eines Gegenstandes, die eigentlich<br />
nur die Form der Darstellung eines Begriffs ist, durch welche dieser<br />
allgemein mitgeteilt wird. – Diese Form aber dem Produkte der<br />
schönen Kunst zu geben, dazu wird bloß Geschmack erfordert, an<br />
welchem der Künstler, nachdem er ihn durch mancherlei Beispiele<br />
der Kunst, oder der Natur, geübt und berichtigt hat, sein Werk hält,<br />
und, nach manchen oft mühsamen Versuchen, denselben zu befriedigen,<br />
diejenige Form findet, die ihm Genüge tut: daher diese nicht<br />
gleichsam eine Sache der Eingebung, oder eines freien Schwunges<br />
der Gemütskräfte, sondern einer langsamen und gar peinlichen<br />
18
Nachbesserung ist, um sie dem Gedanken angemessen und doch<br />
der Freiheit im Spiele derselben nicht nachteilig werden zu lassen.<br />
Geschmack ist aber bloß ein Beurteilungs-, nicht ein produktives Vermögen;<br />
und, was ihm gemäß ist, ist darum eben nicht ein Werk der<br />
schönen Kunst: es kann ein zur nützlichen und mechanischen Kunst,<br />
oder gar zur Wissenschaft gehöriges Produkt nach bestimmten<br />
Regeln sein, die gelernt werden können und genau befolgt werden<br />
müssen. Die gefällige Form aber, die man ihm gibt, ist nur das<br />
Vehikel der Mitteilung und eine Manier gleichsam des Vor-<br />
/249/<br />
trages, in Ansehung dessen man noch in gewissem Maße frei bleibt,<br />
wenn er doch übrigens an einen bestimmten Zweck gebunden ist. So<br />
verlangt man, daß das Tischgeräte, oder auch eine moralische Abhandlung,<br />
sogar eine Predigt diese Form der schönen Kunst, ohne<br />
doch gesucht zu scheinen, an sich haben müsse; man wird sie aber<br />
darum nicht Werke der schönen Kunst nennen. Zu der letzteren aber<br />
wird ein Gedicht, eine Musik, eine Bildergalerie u.d.gl. gezählt; und<br />
da kann man an einem seinsollenden Werke der schönen Kunst oftmals<br />
Genie ohne Geschmack, an einem andern Geschmack ohne<br />
Genie, wahrnehmen.<br />
§ 49. Von den Vermögen des Gemüts, welche das Genie ausmachen<br />
Man sagt von gewissen Produkten, von welchen man erwartet, daß<br />
sie sich, zum Teil wenigstens, als schöne Kunst zeigen sollten: sie<br />
sind ohne Geist; ob man gleich an ihnen, was den Geschmack betrifft,<br />
nichts zu tadeln findet. Ein Gedicht kann recht nett und elegant<br />
sein, aber es ist ohne Geist. Eine Geschichte ist genau und ordentlich,<br />
aber ohne Geist. Eine feierliche Rede ist gründlich und zugleich<br />
zierlich, aber ohne Geist. Manche Konversation ist nicht ohne Unterhaltung,<br />
aber doch ohne Geist; selbst von einem Frauenzimmer sagt<br />
man wohl, sie ist hübsch, gesprächig und artig, aber ohne Geist. Was<br />
ist denn das, was man hier unter Geist versteht?<br />
Geist, in ästhetischer Bedeutung, heißt das belebende Prinzip im<br />
Gemüte. Dasjenige aber, wodurch dieses Prinzip die Seele belebt,<br />
der Stoff, den es dazu anwendet, ist das, was die Gemütskräfte<br />
zweckmäßig in Schwung versetzt, d.i. in ein solches Spiel, welches<br />
sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt.<br />
Nun behaupte ich, dieses Prinzip sei nichts anders, als das Vermögen<br />
der Darstellung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee<br />
aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel<br />
zu denken veranlaßt,<br />
/250/<br />
ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat<br />
sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und ver-<br />
19
ständlich machen kann. – Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück<br />
(Pendant) von einer Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff<br />
ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat<br />
sein kann.<br />
Die Einbildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) ist nämlich<br />
sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer andern Natur, aus<br />
dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt. Wir unterhalten uns mit ihr, wo<br />
uns die Erfahrung zu alltäglich vorkommt; bilden diese auch wohl um:<br />
zwar noch immer nach analogischen Gesetzen, aber doch auch nach<br />
Prinzipien, die höher hinauf in der Vernunft liegen (und die uns eben<br />
sowohl natürlich sind, als die, nach welchen der Verstand die empirische<br />
Natur auffaßt); wobei wir unsere Freiheit vom Gesetze der Assoziation<br />
(welches dem empirischen Gebrauche jenes Vermögens<br />
anhängt) fühlen, nach welchem uns von der Natur zwar Stoff geliehen,<br />
dieser aber von uns zu etwas ganz anderem, nämlich dem, was<br />
die Natur übertrifft, verarbeitet werden kann.<br />
Man kann dergleichen Vorstellungen der Einbildungskraft Ideen nennen:<br />
eines Teils darum, weil sie zu etwas über die Erfahrungsgrenze<br />
hinaus Liegendem wenigstens streben, und so einer Darstellung der<br />
Vernunftbegriffe (der intellektuellen Ideen) nahe zu kommen suchen,<br />
welches ihnen den Anschein einer objektiven Realität gibt; andrerseits,<br />
und zwar hauptsächlich, weil ihnen, als innern Anschauungen,<br />
kein Begriff völlig adäquat sein kann. Der Dichter wagt es. Vernunftideen<br />
von unsichtbaren Wesen, das Reich der Seligen, das Höllenreich,<br />
die Ewigkeit, die Schöpfung u.d.gl. zu versinnlichen; oder auch<br />
das, was zwar Beispiele in der Erfahrung findet, z.B. den Tod, den<br />
Neid und alle Laster, imgleichen die Liebe, den Ruhm u.d.gl. über die<br />
Schranken der Erfahrung hinaus, vermittelst einer Einbildungskraft,<br />
die dem Vernunft-Vorspiele in Er-<br />
/251/<br />
reichung eines Größten nacheifert, in einer Vollständigkeit sinnlich zu<br />
machen, für die sich in der Natur kein Beispiel findet; und es ist eigentlich<br />
die Dichtkunst, in welcher sich das Vermögen ästhetischer<br />
Ideen in seinem ganzen Maße zeigen kann. Dieses Vermögen aber,<br />
für sich allein betrachtet, ist eigentlich nur ein Talent (der Einbildungskraft).<br />
Wenn nun einem Begriffe eine Vorstellung der Einbildungskraft untergelegt<br />
wird, die zu seiner Darstellung gehört, aber für sich allein so<br />
viel zu denken veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten Be<br />
griff zusammenfassen läßt, mithin den Begriff selbst auf unbegrenzte<br />
Art ästhetisch erweitert: so ist die Einbildungskraft hiebei schöpferisch,<br />
und bringt das Vermögen intellektueller Ideen (die Vernunft) in<br />
Bewegung, mehr nämlich bei Veranlassung einer Vorstellung zu denken<br />
(was zwar zu dem Begriffe des Gegenstandes gehört), als in ihr<br />
aufgefaßt und deutlich gemacht werden kann.<br />
Man nennt diejenigen Formen, welche nicht die Darstellung eines<br />
gegebenen Begriffs selber ausmachen, sondern nur, als Nebenvorstellungen<br />
der Einbildungskraft, die damit verknüpften Folgen und die<br />
20
Verwandtschaft desselben mit andern ausdrücken, Attribute (ästhetische)<br />
eines Gegenstandes, dessen Begriff, als Vernunftidee, nicht<br />
adäquat dargestellt werden kann. So ist der Adler Jupiters mit dem<br />
Blitze in den Klauen, ein Attribut des mächtigen Himmelskönigs, und<br />
der Pfau der prächtigen Himmelskönigin. Sie stellen nicht, wie die<br />
logischen Attribute, das was in unsern Begriffen von der Erhabenheit<br />
und Majestät der Schöpfung liegt, sondern etwas anderes vor, was<br />
der Einbildungskraft Anlaß gibt, sich über eine Menge von verwandten<br />
Vorstellungen zu verbreiten, die mehr denken lassen, als man in<br />
einem durch Worte bestimmten Begriff ausdrücken kann; und geben<br />
eine ästhetische Idee, die jener Vernunftidee statt logischer Darstellung<br />
dient, eigentlich aber um das Gemüt zu beleben, indem sie ihm<br />
die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen<br />
/252/<br />
eröffnet. Die schöne Kunst aber tut dieses nicht allein in der Malerei<br />
oder Bildhauerkunst (wo der Namen der Attribute gewöhnlich gebraucht<br />
wird); sondern die Dichtkunst und Beredsamkeit nehmen den<br />
Geist, der ihre Werke belebt, auch lediglich von den ästhetischen<br />
Attributen der Gegenstände her, welche den logischen zur Seite gehen,<br />
und der Einbildungskraft einen Schwung geben, mehr dabei,<br />
obzwar auf unentwickelte Art, zu denken, als sich in einem Begriffe,<br />
mithin in einem bestimmten Sprachausdrucke, zusammenfassen läßt.<br />
– Ich muß mich der Kürze wegen nur auf wenige Beispiele einschränken.<br />
Wenn der Große König sich In einem seiner Gedichte so ausdrückt:<br />
»Laßt uns aus dem Leben ohne Murren weichen und ohne etwas zu<br />
bedauern, indem wir die Welt noch alsdann mit Wohltaten überhäuft<br />
zurücklassen. So verbreitet die Sonne, nachdem sie ihren Tageslauf<br />
vollendet hat, noch ein mildes Licht am Himmel; und die letzten<br />
Strahlen, die sie in die Lüfte schickt, sind ihre letzten Seufzer für das<br />
Wohl der Welt«: so belebt er seine Vernunftidee, von weltbürgerlicher<br />
Gesinnung noch am Ende des Lebens, durch ein Attribut, welches<br />
die Einbildungskraft (in der Erinnerung an alle Annehmlichkeiten eines<br />
vollbrachten schönen Sommertages, die uns ein heiterer Abend<br />
ins Gemüt ruft) jener Vorstellung beigesellt, und welches eine Menge<br />
von Empfindungen und Nebenvorstellungen rege macht, für die sich<br />
kein Ausdruck findet. Andererseits kann sogar ein intellektueller Begriff<br />
umgekehrt zum Attribut einer Vorstellung der Sinne dienen, und<br />
so diese letztern durch die Idee des Übersinnlichen beleben; aber<br />
nur, indem das ästhetische, was dem Bewußtsein des letztern subjektiv<br />
anhänglich ist, hiezu gebraucht wird. So sagt z.B. ein gewisser<br />
Dichter in der Beschreibung eines schönen Morgens: »Die Sonne<br />
quoll hervor, wie Ruh aus Tugend quillt«. Das Bewußtsein der Tugend,<br />
wenn man sich auch nur in Gedanken in die Stelle eines Tugendhaften<br />
versetzt, verbreitet im Gemüte eine Menge erhabener<br />
und beruhigender Gefühle, und eine grenzenlose Aussicht in eine<br />
frohe Zu-<br />
21
253/<br />
kunft, die kein Ausdruck, welcher einem bestimmten Begriffe angemessen<br />
ist, völlig erreicht. 4<br />
Mit einem Worte, die ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe<br />
beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer<br />
solchen Mannigfaltigkeit der Teilvorstellungen in dem freien Gebrauche<br />
derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen<br />
bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, der also zu<br />
einem Begriffe viel Unnennbares hinzu denken läßt, dessen Gefühl<br />
die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem<br />
Buchstaben, Geist verbindet.<br />
Die Gemütskräfte also, deren Vereinigung (in gewissem Verhältnisse)<br />
das Genie ausmachen, sind Einbildungskraft und Verstand. Nur, da,<br />
im Gebrauch der Einbildungskraft zum Erkenntnisse, die Einbildungskraft<br />
unter dem Zwange des Verstandes und der Beschränkung<br />
unterworfen ist, dem Begriffe desselben angemessen zu sein; in ästhetischer<br />
Absicht aber die Einbildungskraft frei ist, um über jene Einstimmung<br />
zum Begriffe, doch ungesucht, reichhaltigen unentwickelten<br />
Stoff für den Verstand, worauf dieser in seinem Begriffe nicht<br />
Rücksicht nahm, zu liefern, welchen dieser aber, nicht sowohl objektiv<br />
zum Erkenntnisse, als subjektiv zur Belebung der Erkenntniskräfte,<br />
indirekt also doch auch zu Erkenntnissen anwendet: so besteht<br />
das Genie eigentlich in dem glücklichen Verhältnisse, welches keine<br />
Wissenschaft lehren und kein Fleiß erlernen kann, zu einem gegebenen<br />
Begriffe Ideen aufzufinden, und andrerseits zu diesen den Ausdruck<br />
zu treffen, durch den<br />
/254/<br />
die dadurch bewirkte subjektive Gemütsstimmung, als Begleitung<br />
eines Begriffs, anderen mitgeteilt werden kann. Das letztere Talent ist<br />
eigentlich dasjenige, was man Geist nennt; denn das Unnennbare in<br />
dem Gemütszustande bei einer gewissen Vorstellung auszudrücken<br />
und allgemein mitteilbar zu machen, der Ausdruck mag nun in Sprache,<br />
oder Malerei, oder Plastik bestehen: das erfordert ein Vermögen,<br />
das schnell vorübergehende Spiel der Einbildungskraft aufzufassen,<br />
und in einen Begriff (der eben darum original ist und zugleich<br />
eine neue Regel eröffnet, die aus keinen vorhergehenden Prinzipien<br />
oder Beispielen hat gefolgert werden können) zu vereinigen, der sich<br />
ohne Zwang der Regeln mitteilen läßt.<br />
4 Vielleicht ist nie etwas Erhabneres gesagt, oder ein Gedanke erhabener<br />
ausgedrückt worden, als in jener Aufschrift über dem Tempel der Isis (der<br />
Mutter Natur): »Ich bin alles was da ist, was da war, und was da sein<br />
wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt«. Segner benutzte<br />
diese Idee, durch eine sinnreiche seiner Naturlehre vorgesetzte<br />
Vignette, um seinen Lehrling, den er in diesen Tempel zu führen bereit<br />
war, vorher mit dem heiligen Schauer zu erfüllen, der das Gemüt zu feierlicher<br />
Aufmerksamkeit stimmen soll.<br />
22
* * *<br />
Wenn wir nach diesen Zergliederungen auf die oben gegebene Erklärung<br />
dessen, was man Genie nennt, zurücksehen, so finden wir:<br />
erstlich, daß es ein Talent zur Kunst sei, nicht zur Wissenschaft, in<br />
welcher deutlich gekannte Regeln vorangehen und das Verfahren in<br />
derselben bestimmen müssen; zweitens, daß es, als Kunsttalent,<br />
einen bestimmten Begriff von dem Produkte, als Zweck, mithin<br />
Verstand, aber auch eine (wenn gleich unbestimmte) Vorstellung von<br />
dem Stoff, d.i. der Anschauung, zur Darstellung dieses Begriffs, mithin<br />
ein Verhältnis der Einbildungskraft um Verstande voraussetze;<br />
daß es sich drittens nicht sowohl in der Ausführung des vorgesetzten<br />
Zwecks in Darstellung eines bestimmten Begriffs, als vielmehr im<br />
Vortrage, oder dem Ausdrucke ästhetischer Ideen, welche zu jener<br />
Absicht reichen Stoff enthalten, zeige, mithin die Einbildungskraft, in<br />
ihrer Freiheit von aller Anleitung der Regeln, dennoch als zweckmäßig<br />
zur Darstellung des gegebenen Begriffs vorstellig mache; daß<br />
endlich viertens die ungesuchte unabsichtliche subjektive Zweckmäßigkeit<br />
in der freien Übereinstimmung der Einbildungskraft zur Gesetzlichkeit<br />
des Verstandes eine solche Proportion und<br />
/255/<br />
Stimmung dieser Vermögen voraussetze, als keine Befolgung von<br />
Regeln, es sei der Wissenschaft oder mechanischen Nachahmung,<br />
bewirken, sondern bloß die Natur des Subjekts hervorbringen kann.<br />
Nach diesen Voraussetzungen ist Genie: die musterhafte Originalität<br />
der Naturgabe eines Subjekts im freien Gebrauche seiner Erkenntnisvermögen.<br />
Auf solche Weise ist das Produkt eines Genies (nach<br />
demjenigen, was in demselben dem Genie, nicht der möglichen Erlernung<br />
oder der Schule, zuzuschreiben ist) ein Beispiel nicht der<br />
Nachahmung (denn da würde das, was daran Genie ist und den<br />
Geist des Werks ausmacht, verloren gehen), sondern der Nachfolge<br />
für ein anderes Genie, welches dadurch zum Gefühl seiner eigenen<br />
Originalität aufgeweckt wird. Zwangsfreiheit von Regeln so in der<br />
Kunst auszuüben, daß diese dadurch selbst eine neue Regel bekommt,<br />
wodurch das Talent sich als musterhaft zeigt. Weil aber das<br />
Genie ein Günstling der Natur ist, dergleichen man nur als seltene<br />
Erscheinung anzusehen hat: so bringt sein Beispiel für andere gute<br />
Köpfe eine Schule her vor, d.i. eine methodische Unterweisung nach<br />
Regeln, soweit man sie aus jenen Geistesprodukten und ihrer Eigentümlichkeit<br />
hat ziehen können: und für diese ist die schöne Kunst<br />
sofern Nachahmung, der die Natur durch ein Genie die Regel gab.<br />
Aber diese Nachahmung wird Nachäffung, wenn der Schüler alles<br />
nachmacht, bis auf das, was das Genie als Mißgestalt nur hat zulassen<br />
müssen, weil es sich, ohne die Idee zu schwächen, nicht wohl<br />
wegschaffen ließ. Dieser Mut ist an einem Genie allein Verdienst; und<br />
eine gewisse Kühnheit im Ausdrucke und überhaupt manche Abweichung<br />
von der gemeinen Regel steht demselben wohl an, ist aber<br />
keinesweges nachahmungswürdig, sondern bleibt immer an sich ein<br />
23
Fehler, den man wegzuschaffen suchen muß, für welchen aber das<br />
Genie gleichsam privilegiert ist, da das Unnachahmliche seines Geistesschwunges<br />
durch ängstliche Behutsamkeit leiden würde. Das<br />
Manierieren ist eine andere Art von Nachäffung, nämlich der bloßen<br />
Eigentüm-<br />
/256/<br />
lichkeit (Originalität) überhaupt, um sich ja von Nachahmern so weit<br />
als möglich zu entfernen, ohne doch das Talent zu besitzen, dabei<br />
zugleich musterhaft zu sein. – Zwar gibt es zweierlei Art (modus)<br />
überhaupt der Zusammenstellung seiner Gedanken des Vertrages,<br />
deren die eine Manier (modus aestheticus), die andere Methode<br />
(modus logicus) heißt, die sich darin von einander unterscheiden:<br />
daß die erstere kein anderes Richtmaß hat, als das Gefühl der Einheit<br />
in der Darstellung, die andere aber hierin bestimmte Prinzipien<br />
befolgt; für die schöne Kunst gilt also nur die erstere. Allein manieriert<br />
heißt ein Kunstprodukt nur alsdann, wenn der Vortrag seiner Idee in<br />
demselben auf die Sonderbarkeit angelegt und nicht der Idee angemessen<br />
gemacht wird. Das Prangende (Preziöse), das Geschrobene<br />
und Affektierte, um sich nur vom Gemeinen (aber ohne Geist) zu unterscheiden,<br />
sind dem Benehmen desjenigen ähnlich, von dem man<br />
sagt, daß er sich sprechen höre, oder welcher steht und geht, als ob<br />
er auf einer Bühne wäre, um angegafft zu werden, welches jederzeit<br />
einen Stümper verrät.<br />
§ 50. Von der Verbindung des Geschmacks mit Genie in Produkten<br />
der schönen Kunst<br />
Wenn die Frage ist, woran in Sachen der schönen Kunst mehr gelegen<br />
sei, ob daran, daß sich an ihnen Genie, oder ob, daß sich Geschmack<br />
zeige, so ist das eben so viel, als wenn gefragt würde, ob<br />
es darin mehr auf Einbildung, als auf Urteilskraft ankomme. Da nun<br />
eine Kunst in Ansehung des ersteren eher eine geistreiche, in Ansehung<br />
des zweiten aber allein eine schöne Kunst genannt zu werden<br />
verdient: so ist das letztere wenigstens als unumgängliche Bedingung<br />
(conditio sine qua non) das Vornehmste, worauf man in Beurteilung<br />
der Kunst als schöne Kunst zusehen hat. Reich und original an<br />
Ideen zu sein, bedarf es nicht so notwendig zum Behuf der Schönheit,<br />
aber wohl der Ange-<br />
/257/<br />
messenheit jener Einbildungskraft in ihrer Freiheit zu der Gesetzmäßigkeit<br />
des Verstandes. Denn aller Reichtum der ersteren bringt in<br />
ihrer gesetzlosen Freiheit nichts als Unsinn hervor; die Urteilskraft ist<br />
aber das Vermögen, sie dem Verstande anzupassen.<br />
Der Geschmack ist, so wie die Urteilskraft überhaupt, die Disziplin<br />
(oder Zucht) des Genies, beschneidet diesem sehr die Flügel und<br />
macht es gesittet oder geschliffen; zugleich aber gibt er diesem eine<br />
Leitung, worüber und bis wie weit es sich verbreiten soll, um zweck-<br />
24
mäßig zu bleiben; und, indem er Klarheit und Ordnung in die Gedankenfülle<br />
hineinbringt, macht er die Ideen haltbar, eines daurenden<br />
zugleich auch allgemeinen Beifalls, der Nachfolge anderer, und einer<br />
immer fortschreitenden Kultur, fähig. Wenn also im Widerstreite beiderlei<br />
Eigenschaften an einem Produkte etwas aufgeopfert werden<br />
soll, so müßte es eher auf der Seite des Genies geschehen: und die<br />
Urteilskraft, welche in Sachen der schönen Kunst aus eigenen Prinzipien<br />
den Ausspruch tut, wird eher der Freiheit und dem Reichtum der<br />
Einbildungskraft, als dem Verstande Abbruch zu tun erlauben.<br />
Zur schönen Kunst würden also Einbildungskraft, Verstand, Geist und<br />
Geschmack erforderlich sein. 5<br />
5 Die drei ersteren Vermögen bekommen durch das vierte allererst ihre<br />
Vereinigung. Hume gibt in seiner Geschichte den Engländern zu verstehen,<br />
daß, obzwar sie in ihren Werken keinem Volke in der Welt in Ansehung<br />
der Beweistümer der drei ersteren Eigenschaften, abgesondert betrachtet,<br />
etwas nachgäben, sie doch in der, welche sie vereinigt, ihren<br />
Nachbaren, den Franzosen, nachstehen müßten.<br />
25
Jean Paul: Vorschule der Ästhetik<br />
In: Werke, Bd. 5, München: Carl <strong>Hans</strong>er, 1959-1963. S.56-67<br />
/56/<br />
III. Programm: Über das Genie<br />
§ 11 Vielkräftigkeit desselben<br />
Der Glaube von instinkmäßiger Einkräftigkeit des Genies konnte nur<br />
durch die Verwechslung des philosophischen und poetischen mit<br />
dem Kunsttriebe der Virtuosen kommen und bleiben. Den Malern,<br />
Tonkünstlern, ja dem Mechaniker muß allerdings ein Organ angeboren<br />
sein, das ihnen die Wirklichkeit zugleich zum<br />
/57/<br />
Gegenstande und zum Werkzeuge der Darstellung zuführt; die Oberherrschaft<br />
eines Organs und einer Kraft, z.B. in Mozart, wirkt alsdann<br />
mit der Blindheit und Sicherheit des Instinktes.<br />
Wer das Genie, das Beste, was die Erde hat, den Wecker der schlafenden<br />
Jahrhunderte, in »merkliche Stärke der untern Seelenkräfte«<br />
setzt, wie Adelung, und wer, wie dieser in seinem Buche über den<br />
Stil, sich ein Genie auch ohne Verstand denken kann: der denkt sich<br />
es eben – ohne Verstand. Unsere Zeit schenkt mir jeden Krieg mit<br />
dieser Sünde gegen den heiligen Geist. Wie verteilen nicht Shakespeare,<br />
Schiller u.a. alle einzelne Kräfte an einzelne Charaktere, und<br />
wie müssen sie nicht oft auf einer Seite witzig, scharfsinnig, verständig,<br />
vernunftend, feurig, gelehrt und alles sein, noch dazu bloß, damit<br />
der Glanz dieser Kräfte nur wie Juwelen spiele, nicht wie LichtEndchen<br />
der Notdurft erhelle! – Nur das einseitige Talent gibt wie eine<br />
Klaviersaite unter dem Hammerschlage einen Ton; aber das Genie<br />
gleicht einer Windharfen-Saite; eine und dieselbe spielet sich selber<br />
zu mannigfachem Tönen vor dem mannigfachen Anwehen. Im Genius<br />
6 stehen alle Kräfte auf einmal in Blüte; und die Phantasie ist darin<br />
6 Dies gilt vom philosophischen ebenfalls, den ich (gegen Kant) vom poetischen<br />
nicht spezifisch unterscheiden kann, man sehe die noch nicht<br />
widerlegten Gründe davon im Kampaner Tal S. 51 etc. Die erfindenden<br />
Philosophen waren alle dichterisch, d.h. die echt-systematischen. Etwas<br />
anderes sind die sichtenden, welche aber nie ein organisches System<br />
erschaffen, sondern höchstens bekleiden, ernähren, amputieren u.s.w.<br />
Der Unterschied der Anwendung verwandter Genialität aber bedarf einer<br />
eignen schweren Erforschung.<br />
26
nicht die Blume, sondern die Blumengöttin, welche die zusammenstäubenden<br />
Blumenkelche für neue Mischungen ordnet, gleichsam<br />
die Kraft voll Kräfte. Das Dasein dieser Harmonie und dieser Harmonistin<br />
begehren und verbürgen zwei große Erscheinungen des Genius.<br />
§ 12 Besonnenheit<br />
Die erste ist die Besonnenheit. Sie setzt in jedem Grade ein Gleichgewicht<br />
und einen Wechselstreit zwischen Tun und Leiden,<br />
/58/<br />
zwischen Subund Objekt voraus. In ihrem gemeinsten Grade, der<br />
den Menschen vom Tier, und den Wachen vom Schläfer absondert,<br />
fodert sie das Äquilibrieren zwischen äußerer und innerer Welt; im<br />
Tiere verschlingt die äußere die innere, im bewegten Menschen diese<br />
oft jene. Nun gibt es eine höhere Besonnenheit, die, welche die innere<br />
Welt selber entzweit und entzweiteilt in ein Ich und in dessen<br />
Reich, in einen Schöpfer und dessen Welt. Diese göttliche Besonnenheit<br />
ist so weit von der gemeinen unterschieden wie Vernunft von<br />
Verstand, eben die Eltern von beiden. Die gemeine geschäftige Besonnenheit<br />
ist nur nach außen gekehrt und ist im höhern Sinne immer<br />
außer sich, nie bei sich, ihre Menschen haben mehr Bewußtsein<br />
als Selbstbewußtsein, welches letzte ein ganzes Sichselbersehen<br />
des zuund des abgewandten Menschen in zwei Spiegeln zugleich ist.<br />
So sehr sondert die Besonnenheit des Genies sich von der andern<br />
ab, daß sie sogar als ihr Gegenteil öfters erscheint, und daß diese<br />
ewige fortbrennende Lampe im Innern, gleich Begräbnis-Lampen,<br />
auslöscht, wenn sie äußere Luft und Welt berührt. 7 – Aber was vermittelt<br />
sie? Gleichheit setzet stärker Freiheit voraus als Freiheit<br />
Gleichheit. Die innere Freiheit der Besonnenheit wird für das Ich<br />
durch das Wechseln und Bewegen großer Kräfte vermittelt und gelassen,<br />
wovon keine sich durch Übermacht zu einem After-Ich konstituiert,<br />
und die es gleichwohl so bewegen und beruhigen kann, daß<br />
sich nie der Schöpfer ins Geschöpf verliert.<br />
Daher ist der Dichter, wie der Philosoph, ein Auge; alle Pfeiler in ihm<br />
sind Spiegelpfeiler; sein Flug ist der freie einer Flamme, nicht der<br />
Wurf durch eine leidenschaftlich-springende Mine. Daher kann der<br />
wildeste Dichter ein sanfter Mensch sein – man schaue nur in Shakespeares<br />
himmelklares Angesicht oder noch lieber in dessen großes<br />
Dramen-Epos –; ja der Mensch kann umgekehrt<br />
7 Denn Unbesonnenheit im Handeln, d.i. das Vergessen der persönlichen<br />
Verhältnisse verträgt sich so gut mit dichtender und denkender Besonnenheit,<br />
dass ja im Traume und Wahnsinne, wo jenes Vergessen am<br />
stärksten waltet, Reflektieren und Dichten häufig eintreten. Das Genie ist<br />
in mehr als einem Sinne ein Nachtwandler: in seinem hellen Traume<br />
vermag es mehr als der Wache und besteigt jede Höhe der Wirklichkeit<br />
im Dunkeln; aber raubt ihm die träumerische Welt, so stürzt es in der<br />
wirklichen.<br />
27
59/<br />
auf dem Sklavenmarkte des Augenblicks jede Minute verkauft werden<br />
und doch dichtend sich sanft und frei erheben, wie Guido im<br />
Sturme seiner Persönlichkeit seine milden Kinder und Engelsköpfe<br />
ründete und auflockte, gleich dem Meere voll Ströme und Wellen, das<br />
dennoch ein ruhendes reines Morgen und Abendrot gen Himmel<br />
haucht. Nur der unverständigte Jüngling kann glauben, geniales Feuer<br />
brenne als leidenschaftliches, so wie etwan für die Büste des<br />
nüchtern-dichterischen Platons die Büste des Bacchus ausgegeben<br />
wird. Der ewig zum Schwindel bewegte Alfieri fand auf Kosten seiner<br />
Schöpfungen weniger Ruhe in als außer sich. Der rechte Genius beruhigt<br />
sich von innen; nicht das hochauffahrende Wogen, sondern die<br />
glatte Tiefe spiegelt die Welt.<br />
Diese Besonnenheit des Dichters, welche man bei den Philosophen<br />
am liebsten voraussetzt, bekräftiget die Verwandtschaft beider. In<br />
wenigen Dichtern und Philosophen leuchtete sie aber so hell als in<br />
Platon, der eben beides war; von seinen scharfen Charakteren an bis<br />
zu seinen Hymnen und Ideen hinauf, diesen Sternbildern eines unterirdischen<br />
Himmels. Man begreift die Möglichkeit, wie man zwanzig<br />
Anfänge seiner Republik nach seinem Tode finden konnte, wenn man<br />
im Phädrus, der alle unsere Rhetoriken verurteilt, die besonnene<br />
spielende Kritik erwägt, womit Sokrates den Hymnus auf die Liebe<br />
zergliedert. Die geniale Ruhe gleicht der sogenannten Unruhe, welche<br />
in der Uhr bloß für das Mäßigen und dadurch für das Unterhalten<br />
der Bewegung arbeitet. Was fehlte unserem großen Herder bei einem<br />
solchen Scharf-, Tiefund Vielund Weitsinne zum höhern Dichter?<br />
Nur die letzte Ähnlichkeit mit Platon; daß nämlich seine Lenkfedern<br />
(pennae rectrices) im abgemessenen Verhältnis gegen seine<br />
gewaltigen Schwungfedern (remiges) gestanden hätten.<br />
Mißverstand und Vorurteil ists, aus dieser Besonnenheit gegen den<br />
Enthusiasmus des Dichters etwas zu schließen; denn er muß ja im<br />
Kleinsten zugleich Flammen werfen und an die Flammen den Wärmemesser<br />
legen; er muß mitten im Kriegfeuer aller Kräfte die zarte<br />
Waage einzelner Silben festhalten und muß (in<br />
/60/<br />
einer andern Metapher) den Strom seiner Empfindungen gegen die<br />
Mündung eines Rheins zu leiten. Nur das Ganze wird von der Begeisterung<br />
er zeugt, aber die Teile werden von der Ruhe erzogen. Beleidigt<br />
übrigens z.B. der Philosoph den Gott in sich, weil er, so gut er<br />
kann, einen Standpunkt nach dem andern zu ersteigen sucht, um in<br />
dessen Licht zu blicken, und ist Philosophieren über das Gewissen<br />
gegen das Gewissen? – Wenn Besonnenheit als solche könnte zu<br />
groß werden: so stände ja der besonnene Mensch hinter dem sinnlosen<br />
Tiere und dem unbesonnenen Kinde, und der Unendliche, der<br />
obwohl uns unfaßbar, nichts sein kann, was er nicht weiß, hinter dem<br />
Endlichen!<br />
28
Gleichwohl muß jenem Mißverstand und Vorurteil ein Verstand und<br />
Urteil vorund unterliegen. Denn der Mensch achtet (nach Jacobi) nur<br />
das, was nicht mechanisch nachzumachen ist; die Besonnenheit aber<br />
scheint eben immer nachzumachen und mit Willkür und Heucheln<br />
göttliche Eingebung und Empfindung nachzuspielen und folglich –<br />
aufzuheben. Und hier braucht man die Beispiele ruchloser Geistes-<br />
Gegenwart nicht aus dem Denken, Dichten und Tun der ausgeleerten<br />
Selbstlinge jetziger Zeit zu holen, sondern die alte gelehrte Welt<br />
reicht uns besonders aus der rhetorischen und humanistischen in<br />
ihren frechen kalten Anleitungen, wie die schönsten Empfindungen<br />
darzustellen sind, besonnene Gliedermänner wie aus Gräbern zu<br />
Exempeln. Mit vergnügter ruhmliebender Kälte wählt und bewegt z.B.<br />
der alte Schulmann seine nötigen Muskeln und Tränendrüsen (nach<br />
Peucer oder Morhof), um mit einem leidenden Gesicht voll Zähren in<br />
einer Threnodie auf das Grab eines Vorfahrers öffentlich herabzusehen<br />
aus dem Schul-Fenster, und zählt mit dem Regenmesser vergnügt<br />
jeden Tropfen.<br />
Wie unterscheidet sich nun die göttliche Besonnenheit von der sündigen?<br />
– Durch den Instinkt des Unbewußten und die Liebe dafür.<br />
§ 13 Der Instinkt des Menschen<br />
Das Mächtigste im Dichter, welches seinen Werken die gute und die<br />
böse Seele einbläset, ist gerade das Unbewußte. Daher wird ein großer<br />
wie Shakespeare Schätze öffnen und geben, welche er so wenig<br />
wie sein Körperherz selber sehen konnte, da die göttliche Weisheit<br />
immer ihr All in der schlafenden Pflanze und im Tierinstinkt ausprägt<br />
und in der beweglichen Seele ausspricht. Überhaupt sieht die Besonnenheit<br />
nicht das Sehen, sondern nur das abgespiegelte oder zergliederte<br />
Auge; und das Spiegeln spiegelt sich nicht. Wären wir uns<br />
unserer ganz bewußt, so wären wir unsre Schöpfer und schrankenlos.<br />
Ein unauslöschliches Gefühl stellet in uns etwas Dunkles, was<br />
nicht unser Geschöpf, sondern unser Schöpfer ist, über alle unsre<br />
Geschöpfe. So treten wir, wie es Gott auf Sinai befahl, vor ihn mit<br />
einer Decke über den Augen.<br />
Wenn man die Kühnheit hat, über das Unbewußte und Unergründliche<br />
zu sprechen: so kann man nur dessen Dasein, nicht dessen Tiefe<br />
bestimmen wollen. Zum Glück kann ich im folgenden mit Platons<br />
und Jacobis Musenpferden pflügen, obwohl für eignen Samen.<br />
Der Instinkt oder Trieb ist der Sinn der Zukunft; er ist blind, aber nur,<br />
wie das Ohr blind ist gegen Licht und das Auge taub gegen Schall. Er<br />
bedeutet und enthält seinen Gegenstand ebenso wie die Wirkung der<br />
Ursache; und wär' uns das Geheimnis aufgetan, wie die mit der gegebenen<br />
Ursache notwendig ganz und zugleich gegebene Wirkung<br />
doch in der Zeit erst der Ursache nachfolget: so verständen wir auch,<br />
wie der Instinkt zugleich seinen Gegenstand fodert, bestimmt, kennt<br />
und doch entbehrt. Jedes Gefühl der Entbehrung setzt die Verwandtschaft<br />
mit dem Entbehrten, also schon dessen teilweisen Besitz vor-<br />
29
aus 8 ; aber doch nur wahre Entbehrung macht den Trieb, eine Ferne<br />
die Richtung möglich. Es gibt, wie körperlich organische, so geistig<br />
/61/<br />
organische Zirkel; wie z.B. Freiheit und Notwendigkeit oder Wollen<br />
und Denken sich wechselseitig voraussetzen.<br />
Nun gibt es im reinen Ich so gut einen Sinn der Zukunft oder Instinkt<br />
wie im unreinen Ich und am Tiere, und sein Gegenstand ist zugleich<br />
so entlegen als gewiß; es müßte denn gerade im Menschen-Herzen<br />
die allgemeine Wahrhaftigkeit der Natur die erste Lüge sagen. Dieser<br />
Instinkt des Geistes – welcher seine Gegenstände ewig ahnet und<br />
fodert ohne Rücksicht auf Zeit, weil sie über jede hinauswohnen –<br />
macht es möglich, daß der Mensch nur die Worte Irdisch, Weltlich,<br />
Zeitlich u.s.w. aussprechen und verstehen kann; denn nur jener Instinkt<br />
gibt ihnen durch die Gegensätze davon den Sinn. Wenn sogar<br />
der gewöhnlichste Mensch das Leben und alles Irdische nur für ein<br />
Stück, für einen Teil ansieht: so kann nur eine Anschauung und Voraussetzung<br />
eines Ganzen in ihm diese Zerstückung setzen und messen.<br />
Sogar dem gemeinsten Realisten, dessen Ideen und Tage sich<br />
auf Raupenfüßen und Raupenringen fortwälzen, macht ein unnennbares<br />
Etwas das breite Leben zu enge; er muß dieses Leben entweder<br />
für ein verworren-tierisches, oder für ein peinlich-lügendes, oder<br />
für ein leeres zeit-vertreibendes Spiel ausrufen, oder, wie die ältern<br />
Theologen, für ein gemein-lustiges Vorspiel zu einem Himmel-Ernst,<br />
für die kindische Schule eines künftigen Throns, folglich für das Widerspiel<br />
der Zukunft. So wohnt schon in irdischen, ja erdigen Herzen<br />
etwas ihnen Fremdes, wie auf dem Harze die Koral len-Insel, welche<br />
vielleicht die frühsten SchöpfungWasser absetzten.<br />
Es ist einerlei, wie man diesen überirdischen Engel des innern Lebens,<br />
diesen Todesengel des Weltlichen im Menschen nennt oder<br />
seine Zeichen aufzählt: genug, wenn man ihn nur nicht in seinen Verkleidungen<br />
verkennt. Bald zeigt er sich den in Schuld und Leib tief<br />
eingehüllten Menschen als ein Wesen, vor dessen Gegenwert, nicht<br />
vor dessen Wirkung wir uns entsetzen 9 ; wir nennen das Gefühl Geisterfurcht,<br />
und das Volk sagt bloß: »Die Gestalt, das Ding lässet sich<br />
hören«, ja oft, um das Unendliche auszudrücken, bloß: es. Bald zeigt<br />
sich der Geist als den Unendlichen,<br />
/62/<br />
und der Mensch betet. Wär' er nicht, wir wären mit den Gärten der<br />
Erde zufrieden; aber er zeigt uns in tiefen Himmeln die rechten Paradiese.<br />
– Er zieht die Abendröte vom romantischen Reiche weg, und<br />
8 Denn reine Negation oder Leerheit schlösse jedes entgegengesetzte<br />
Bestreben aus, und die negative Größe wirkte wie eine positive.<br />
9 Unsichtbare Loge, I. 278.<br />
30
wir blicken in die schimmernden Mond-Länder voll Nachtblumen,<br />
Nachtigallen, Funken, Feen und Spiele hinein.<br />
Es gab zuerst Religion – Todesfurchtgriechisches Schicksal – Aberglauben<br />
– und Prophezeiung 10 – und den Durst der Liebe den Glauben<br />
an einen Teufel – die Romantik, diese verkörperte Geisterwelt,<br />
so wie die griechische Mythologie, diese vergötterte Körperwelt.<br />
Was wird nun der göttliche Instinkt in gemeiner Seele vollends werden<br />
und tun in der genialen?<br />
§ 14 Instinkt des Genies oder genialer Stoff<br />
Sobald im Genius die übrigen Kräfte höher stehen, so muß auch die<br />
himmlische über alle, wie ein durchsichtiger reiner Eisberg über dunkle<br />
Erden-Alpen, sich erheben. Ja eben dieser hellere Glanz des überirdischen<br />
Triebes wirft jenes Licht durch die ganze Seele, das man<br />
Besonnenheit nennt; der augenblickliche Sieg über das Irdische, über<br />
dessen Gegenstände und unsere Triebe dahin, ist eben der Charakter<br />
des Göttlichen, ein Vernichtungkrieg ohne Möglichkeit des Vertrags,<br />
wie ja schon der moralische Geist in uns als ein unendlicher<br />
nichts außer sich für groß erkennt. Sobald alles eben und gleich gemacht<br />
worden, ist das Übersehen der Besonnenheit leicht.<br />
Hier ist nun der Streit, ob die Poesie Stoff bedürfe oder nur mit Form<br />
regiere, leichter zu schließen. Allerdings gibt es einen äußern mechanischen<br />
Stoff, womit uns die Wirklichkeit (die äußere und die psychologische)<br />
umgibt und oft überbauet, welcher, ohne Veredlung<br />
durch Form, der Poesie gleichgültig ist und gar<br />
/63/<br />
nichts; so daß es einerlei bleibt, ob die leere Seele einen Christus<br />
oder dessen Verräter Judas besinge.<br />
Aber es gibt ja etwas Höheres, als was der Tag wiederholt. Es gibt<br />
einen innern Stoff gleichsam angeborne unwillkürliche Poesie, um<br />
welche die Form nicht die Folie, sondern nur die Fassung legt. Wie<br />
der sogenannte kategorische Imperativ (das Bild der Form, so wie die<br />
äußere Handlung das Bild des äußern Stoffs) der Psyche nur den<br />
Scheideweg zeigt, ihr aber nicht das weiße Roß 11 vorspannen kann,<br />
das ihn geht und das schwarze überzieht; und wie die Psyche das<br />
weiße zwar lenken und pflegen, aber nicht erschaffen kann: ebenso<br />
ists mit dem Musenpferd, das am Ende jenes weiße ist, nur mir Flügeln.<br />
Dieser Stoff macht die geniale Originalität, welche der Nachah-<br />
10 Prophezeiung, oder deren Ganzes, Allwissenheit, ist nach unserm Gefühl<br />
etwas Höheres als bloßes vollständiges Erkennen der Ursache, mit welchem<br />
ja der Schluß oder vielmehr die Ansicht der Wirkung sofort gegeben<br />
wäre; denn alsdann wäre sie nicht ein Antizipieren oder Vernichten<br />
der Zeit, sondern ein bloßes Anschauen, d.h. Erleben derselben.<br />
11 Platon bildet bekanntlich mit dem weißen das moralische Genie in uns<br />
ab, und mit dem schwarzen Kants Radikal-Böses.<br />
31
mer bloß in der Form und Manier sucht; so wie er zugleich die geniale<br />
Gleichheit erzeugt; denn es gibt nur ein Göttliches, obwohl vielerlei<br />
Menschliches. Wie Jacobi den philosophischen Tiefsinn aller Zeiten<br />
konzentrisch findet, aber nicht den philosophischen Scharfsinn 12 : so<br />
stehen die dichterischen Genies zwar wie Sterne bei ihrem Aufgange<br />
anfangs scheinbar weiter auseinander, aber in der Höhe, im Scheitelpunkt<br />
der Zeit, rücken sie wie die Sterne zusammen. Hundert Lichter<br />
in einem Zimmer geben nur ein zusammengeflossenes Licht, obwohl<br />
hundert Schatten (Nachahmer). Was gegen den Nachahmer<br />
erkältet, ja oft erbittert, ist nicht etwan ein Raub an witzigen, bildlichen,<br />
erhabenen Gedanken seines Musters – denn nicht selten sind<br />
sie sein eignes Erzeugnis –, sondern es ist das, oft wider Willen der<br />
Parodie verwandte, Nachspielen des Heiligsten im Urbilde, das Nachmachen<br />
des Angebornen. Eben diese Adoption des fremden<br />
Allerheiligsten kann nicht die elterliche Wärme für dasselbe erstatten;<br />
daher der Nachahmer seine Wärme gegen die Nebensachen, die ihm<br />
verwandter sind, ausdrückt und an diesen die Zieraten vervielfältigt;<br />
je kälter, je geschmückter. So ist gerade die kalte Sonne Siberiens<br />
den ganzen Tag mit vielen Nebensonnen und Ringen umzogen.<br />
/64/<br />
Das Herz des Genies, welchem alle andere Glanz und Hülfkräfte nur<br />
dienen, hat und gibt ein echtes Kennzeichen, nämlich neue Welt oder<br />
Lebens-Anschauung. Das Talent stellet nur Teile dar, das Genie das<br />
Ganze des Lebens, bis sogar in einzelnen Sentenzen, welche bei<br />
Shakespeare häufig von der Zeit und Welt, bei Homer und andern<br />
Griechen von den Sterblichen, bei Schiller von dem Leben sprechen.<br />
Die höhere Art der Weltanschauung bleibt als das Feste und Ewige<br />
im Autor und Menschen unverrückt, indes alle einzelnen Kräfte in den<br />
Ermattungen des Lebens und der Zeit wechseln und sinken können;<br />
ja der Genius muß schon als Kind die neue Welt mit andern Gefühlen<br />
als andere aufgenommen und daraus das Gewebe der künftigen Blüten<br />
anders gesponnen haben, weil ohne den frühern Unterschied<br />
kein gewachsener denkbar wäre. Eine Melodie geht durch alle Absätze<br />
des Lebens-Liedes. Nur die äußere Form erschafft der Dichter<br />
in augenblicklicher Anspannung; aber den Geist und Stoff trägt er<br />
durch ein halbes Leben, und in ihm ist entweder jeder Gedanke Gedicht<br />
oder gar keiner.<br />
Dieser Weltgeist des Genius beseelet, wie jeder Geist, alle Glieder<br />
eines Werks, ohne ein einzelnes zu bewohnen. Er kann sogar den<br />
Reiz der Form durch seinen höhern entbehrlich machen, und der<br />
Goethesche z.B. würde uns, wie im nachlässigsten Gedichte, so in<br />
der Reichs-Prose doch anreden. Sobald nur eine Sonne dasteht, so<br />
zeigt sie mit einem Stiftchen so gut die Zeit als mit einem Obeliskus.<br />
Dies ist der Geist, der nie Beweise gibt 13 , nur sich und seine An-<br />
12 Jacobi über Spinoza. Neue Auflage S. 17.<br />
13 Über das Ganze des Lebens oder Seins gibt es nur Anschauungen; über<br />
Teile Beweise, welche sich auf jene gründen.<br />
32
schauung, und dann vertrauet auf den verwandten, und heruntersieht<br />
auf den feindselig geschaffnen.<br />
Manchem göttlichen Gemüte wird vom Schicksal eine unförmliche<br />
Form aufgedrungen, wie dem Sokrates der Satyr-Leib; denn über die<br />
Form, nicht über den innern Stoff regiert die Zeit. So hing der poetische<br />
Spiegel, womit Jakob Böhme Himmel und Erde wiedergibt, in<br />
einem dunklen Orte; auch mangelt dem Glase an einigen Stellen die<br />
Folie. So ist der große Hamann ein tiefer Himmel voll teleskopischer<br />
Sterne, und manche Nebelflecken löset kein Auge auf.<br />
/65/<br />
Darum kamen manche reiche Werke dem Stilistiker, der nur nach<br />
Leibern gräbt und nicht Geister sucht, so arm vor, als die majestätischen<br />
hohen Schweizergebirge dem Bergknappen gegen tiefe Bergwerke<br />
erscheinen. Er sagt, er vermöge wenig oder nichts aus Werken<br />
dieser Art zu ziehen und zu exzerpieren; was so viel ist, als wenn er<br />
klagte, er könne mit und von der Freundschaft nichts weiter gewinnen<br />
als die Freundschaft selber. So kann es philosophische Werke geben,<br />
welche uns philosophischen Geist einhauchen, ohne in besondern<br />
philosophischen Paragraphen Stoff abzusetzen, z.B. einige von<br />
Hemsterhuis und Lessing. So kam über eben diesen besonnenen<br />
Lessing, welcher früher über poetische Gegenstände mehr dachte als<br />
sang, eigentlich nur in seinem Nathan und seinem Falk der dichterische<br />
Pfingstgeist, ein paar Gedichte, welche der gemeine Kritiker<br />
seinem Alter gern vergibt, an die Emilie Galotti sich haltend. Freilich<br />
die poetische Seele läßt sich, wie unsere, nur am ganzen Körper zeigen,<br />
aber nicht an einzelnen, obwohl von ihr belebten Fußzehen und<br />
Fingern, welche etwan ein Beispielsammler ausrisse und hinhielte mit<br />
den Worten: seht, wie regt sich das Spinnenbein!<br />
§ 15 Das geniale Ideal<br />
Wenn es der gewöhnliche Mensch gut meint mit seinen Gefühlen, so<br />
knüpfet er – wie sonst jeder Christ es tat – das feiste Leben geradezu<br />
einem zweiten ätherischen nach dem Tode glaubend an, welches<br />
eben zu jenem wie Geist zu Körper passet, nur aber so wenig durch<br />
vorherbestimmte Harmonie, Einfluß, Gelegenheit mit ihm verbunden<br />
ist, daß anfangs der Leib allein erscheint und waltet, hinterher der<br />
Geist. Je weiter ein Wesen vom Mittelpunkte absteht, desto breiter<br />
laufen ihm dessen Radien auseinander; und ein dumpfer hohler Polype<br />
müßte, wenn er sich ausspräche, mehr Widersprüche in der<br />
Schöpfung finden als alle Seefahrer.<br />
Und so findet man denn bei dem Volke innere und äußere Welt, Zeit<br />
und Ewigkeit als sittliche oder christliche Antithese bei dem Philosophen<br />
als fortgesetzten Gegensatz, nur mit wechselnder<br />
/66/<br />
33
Vernichtung der einen Welt durch die andere – bei dem bessern<br />
Menschen als wechselndes Verfinstern, wie zwischen Mond und Erde<br />
herrscht; bald ist am Janus-Kopfe des Menschen, welcher nach<br />
entgegengesetzten Welten schauet, das eine Augenpaar, bald das<br />
andere zugeschlossen oder zugedeckt.<br />
Wenn es aber Menschen gibt, in welchen der Instinkt des Göttlichen<br />
deutlicher und lauter spricht als in andern; – wenn er in ihnen das<br />
Irdische anschauen lehrt (anstatt in andern das Irdische ihn); – wenn<br />
er die Ansicht des Ganzen gibt und beherrscht: so wird Harmonie und<br />
Schönheit von beiden Welten widerstrahlen und die zu einem Ganzen<br />
machen, da es vor dem Göttlichen nur eines und keinen Widerspruch<br />
der Teile gibt. Und das ist der Genius; und die Aussöhnung<br />
beider Welten ist das sogenannte Ideal. Nur durch Himmelskarten<br />
können Erdkarten gemacht werden; nur durch den Standpunkt von<br />
oben herab (denn der von unten hinauf schneidet ewig den Himmel<br />
mit einer breiten Erde entzwei) entsteht uns eine ganze Himmelskugel,<br />
und die Erdkugel selber wird zwar klein, aber rund und glänzend<br />
darin schwimmen. Daher kann das bloße Talent, das ewig die Götterwelt<br />
zum Nebenplaneten oder höchstens zum Saturn-Ring einer<br />
erdigen Welt erniedrigt, niemals ideal runden und mit dem Teil kein<br />
All ersetzen und erschaffen. Wenn die Greise der Prose, gleich leiblichen<br />
versteinert und voll Erde 14 , uns die Armut, den Kampf mit dem<br />
bürgerlichen Leben oder dessen Siege sehen lassen: so wird uns so<br />
eng und bang beim Gesicht, als müßten wir die Not wirklich erleben;<br />
und in der Tat erlebt man ja doch das Gemälde und dessen Wirkung;<br />
und so fehlt immer ihrem Schmerze ein Himmel und sogar ihrer<br />
Freude ein Himmel. Sogar das Erhabne der Wirklichkeit treten sie<br />
platt, z.B. (wie Leichenpredigten zeigen) das Grab, nämlich das Sterben,<br />
dieses Verleben zwischen zwei Welten, und so die Liebe, die<br />
Freundschaft. Man begegne wenigstens in dem Wundfieber der Wirklichkeit<br />
ihnen nicht, die mit dem Wundpinsel ihrer Dicht-Prose ein<br />
neues ins<br />
/67/<br />
alte impfen, und durch deren Poesien echte nötig werden, um die<br />
falsche nur zu verschmerzen.<br />
Wenn hingegen der Genius uns über die Schlachtfelder des Lebens<br />
führt: so sehen wir so frei hinüber, als wenn der Ruhm oder die Vaterlandsliebe<br />
vorausginge mit den zurückflatternden Fahnen; und neben<br />
ihm gewinnt die Dürftigkeit wie vor einem Paar Liebenden eine arkadische<br />
Gestalt. Überall macht er das Leben frei und den Tod schön;<br />
auf seiner Kugel sehen wir, wie auf dem Meer, die tragenden Segel<br />
früher als das schwere Schiff. Auf diese Weise versöhnet, ja vermählt<br />
er – wie die Liebe und die Jugend – das unbehülfliche Leben mit dem<br />
ätherischen Sinn, so wie am Ufer eines stillen Wassers der äußere<br />
14 Bekanntlich werden im Alter die Gefäße Knorpel und die Knorpel Knochen,<br />
und es kommt so lange Erde in den Körper, bis der Körper in die<br />
Erde kommt.<br />
34
und der abgespiegelte Baum aus einer Wurzel nach zwei Himmeln zu<br />
wachsen scheinen<br />
35
Friedrich Hölderlin: Über die Verfahrungsweise des poetischen<br />
Geistes<br />
In: Sämtliche Werke. Bd.4, Stuttgart: Cotta, 1946-1962, S.251-276<br />
/251/<br />
Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist, wenn er die gemeinschaftliche<br />
Seele, die allem gemein und jedem eigen ist, gefühlt<br />
und sich zugeeignet, sie festgehalten, sich ihrer versichert hat, wenn<br />
er ferner der freien Bewegung, des harmonischen Wechsels und<br />
Fortstrebens, worin der Geist sich in sich selber und in anderen zu<br />
reproduzieren geneigt ist, wenn er des schönen im Ideale des Geistes<br />
vorgezeichneten Progresses und seiner poetischen Folgerungsweise<br />
gewiß ist, wenn er eingesehen hat, daß ein notwendiger Widerstreit<br />
entstehe zwischen der ursprünglichsten Forderung des Geistes,<br />
die auf Gemeinschaft und einiges Zugleichsein aller Teile geht,<br />
und zwischen der anderen Forderung, welche ihm gebietet, aus sich<br />
heraus zu gehen, und in einem schönen Fortschritt und Wechsel sich<br />
in sich selbst und in anderen zu reproduzieren, wenn dieser Widerstreit<br />
ihn immer festhält und fortzieht, auf dem Wege zur Ausführung,<br />
wenn er ferner eingesehen hat, daß einmal jene Gemeinschaft und<br />
Verwandtschaft aller Teile, jener geistige Gehalt gar nicht fühlbar wäre,<br />
wenn diese nicht dem sinnlichen Gehalte, dem Grade nach, auch<br />
den harmonischen Wechsel abgerechnet, auch bei der Gleichheit der<br />
geistigen Form (des Zugleich- und Beisammenseins), verschieden<br />
wären, daß ferner jener harmonische Wechsel, jenes Fortstreben,<br />
wieder nicht fühlbar und ein leeres leichtes Schattenspiel wäre, wenn<br />
die wechselnden Teile, auch bei der Verschiedenheit des sinnlichen<br />
Gehalts, nicht in der sinnlichen Form sich unter dem Wechsel und<br />
Fortstreben gleich bleiben, wenn er eingesehen hat, daß jener Widerstreit<br />
zwischen geistigem Gehalt (zwischen der Verwandtschaft<br />
aller Teile) und geistiger Form (dem<br />
/252/<br />
Wechsel aller Teile), zwischen dem Verweilen und Fortstreben des<br />
Geistes, sich dadurch löse, daß eben beim Fortstreben des Geistes,<br />
beim Wechsel der geistigen Form die Form des Stoffes in allen Teilen<br />
identisch bleibe, und daß sie eben so viel ersetze, als von ursprünglicher<br />
Verwandtschaft und Einigkeit der Teile verloren werden muß im<br />
harmonischen Wechsel, daß sie den objektiven Gehalt ausmache im<br />
Gegensatze gegen die geistige Form, und dieser ihre völlige Bedeutung<br />
gebe, daß auf der anderen Seite der materielle Wechsel des<br />
Stoffes, der das Ewige des geistigen Gehalts begleitet, die Mannigfaltigkeit<br />
desselben die Forderungen des Geistes, die er in seinem Fort-<br />
36
schritt macht, und die durch die Forderung der Einigkeit und Ewigkeit<br />
in jedem Momente aufgehalten sind, befriedige, daß eben dieser materielle<br />
Wechsel die objektive Form, die Gestalt ausmache im Gegensatze<br />
gegen den geistigen Gehalt; wenn er eingesehen hat, daß andererseits<br />
der Widerstreit zwischen dem materiellen Wechsel, und<br />
der materiellen Identität, dadurch gelöst werde, daß der Verlust von<br />
materieller Identität 15 , von leidenschaftlichem, die Unterbrechung fliehendem<br />
Fortschritt<br />
/253/<br />
ersetzt wird durch den immerforttönenden allesausgleichenden geistigen<br />
Gehalt, und der Verlust an materieller Mannigfaltigkeit, der<br />
durch das schnellere Fortstreben zum Hauptpunkt und Eindruck,<br />
durch diese materielle Identität entsteht, ersetzt wird, durch die immerwechselnde<br />
idealische geistige Form; wenn er eingesehen hat,<br />
wie umgekehrterweise eben der Widerstreit zwischen geistigem ruhigem<br />
Gehalt und geistiger wechselnder Form, so viel sie unvereinbar<br />
sind, so auch der Widerstreit zwischen materiellem Wechsel und materiellem<br />
identischem Fortstreben zum Hauptmoment, so viel sie unvereinbar<br />
sind, das eine wie das andere fühlbar macht, wenn er endlich<br />
eingesehen hat, wie der Widerstreit des geistigen Gehalts und<br />
der idealischen Form einerseits, und des materiellen Wechsels und<br />
identischen Fortstrebens andererseits sich vereinigen in den Ruhepunkten<br />
und Hauptmomenten, und so viel sie in diesen nicht verein-<br />
15 materielle Identität? sie muß ursprünglich das im Stoffe sein, vor dem<br />
materiellen Wechsel, was im Geiste die Einigkeit vor dem idealischen<br />
Wechsel ist, sie muß der sinnliche Berührungspunkt aller Teile sein. Der<br />
Stoff muß nämlich auch, wie der Geist, vom Dichter zu eigen gemacht,<br />
und festgehalten werden, mit freiem Interesse, wenn er einmal in seiner<br />
ganzen Anlage gegenwärtig ist, wenn der Eindruck, den er auf den Dichter<br />
gemacht, das erste Wohlgefallen, das auch zufällig sein könnte, untersucht,<br />
und als rezeptiv für die Behandlung des Geistes und wirksam,<br />
angemessen gefunden worden ist, für den Zweck, daß der Geist sich in<br />
sich selber und in anderen reproduziere, wenn er nach dieser Untersuchung<br />
wieder empfunden, und in allen seinen Teilen wieder hervorgerufen,<br />
und in einer noch unausgesprochenen gefühlten Wirkung begriffen<br />
ist. Und diese Wirkung ist eigentlich die Identität des Stoffs, weil in ihr<br />
sich alle Teile konzentrieren. Aber sie ist unbestimmt gelassen, der Stoff<br />
ist noch unentwickelt. Er muß in allen seinen Teilen deutlich ausgesprochen,<br />
und eben hiedurch in der Lebhaftigkeit seines Totaleindrucks geschwächt<br />
werden. Er muß dies, denn in der unausgesprochenen Wirkung<br />
ist er wohl dem Dichter, aber nicht anderen gegenwärtig, überdies hat<br />
dies in der unausgesprochenen Wirkung der Geist noch nicht wirklich reproduziert,<br />
sie gibt ihm nur die Fähigkeit, die im Stoffe dazu liegt, zu erkennen,<br />
und ein Streben, die Reproduktion zu realisieren. Der Stoff muß<br />
also verteilt, der Totaleindruck muß aufgehalten, und die Identität ein<br />
Fortstreben von einem Punkte zum andern werden, wo denn der Totaleindruck<br />
sich wohl also findet, daß der Anfangspunkt und Mittelpunkt und<br />
Endpunkt in der innigsten Beziehung stehen, so daß beim Beschlusse<br />
der Endpunkt auf den Anfangspunkt und dieser auf den Mittelpunkt zurückkehrt.<br />
37
ar sind, eben in diesen auch und ebendeswegen fühlbar und gefühlt<br />
werden, wenn er dieses eingesehen hat, so kommt ihm alles an auf<br />
die Rezeptivität des Stoffs zum idealischen Gehalt und zur idealischen<br />
Form. Ist er des einen gewiß und mächtig wie des andern, der<br />
Rezeptivität des Stoffs, wie des Geistes, so kann es im Hauptmomente<br />
nicht fehlen.<br />
/254/<br />
Wie muß nun der Stoff beschaffen sein, der für das Idealische, für<br />
seinen Gehalt, für die Metapher, und seine Form, den Übergang, vorzüglich<br />
rezeptiv ist?<br />
Der Stoff ist entweder eine Reihe Voll Begebenheiten, oder Anschauungen,<br />
Wirklichkeiten, subjektiv oder objektiv zu beschreiben,<br />
zu malen, oder er ist eine Reihe von Bestrebungen, Vorstellungen,<br />
Gedanken, oder Leidenschaften, Notwendigkeiten, subjektiv oder<br />
objektiv zu bezeichnen, oder eine Reihe von Phantasien, Möglichkeiten,<br />
subjektiv oder objektiv zu bilden. 16 In allen drei Fällen muß er der<br />
idealischen Behandlung fähig sein, wenn nämlich ein echter Grund<br />
zu den Begebenheiten, zu den Anschauungen, die erzählt, beschrieben,<br />
oder zu den Gedanken und Leidenschaften, welche gezeichnet,<br />
oder zu den Phantasien, welche gebildet werden sollen, vorhanden<br />
ist, wenn die Begebenheiten oder Anschauungen hervorgehn aus<br />
rechten Bestrebungen, die Gedanken und Leidenschaften aus einer<br />
rechten Sache, die Phantasien aus schöner Empfindung. Dieser<br />
Grund des Gedichts, seine Bedeutung, soll den Übergang bilden zwischen<br />
dem Ausdruck, dem Dargestellten, dem sinnlichen Stoffe, dem<br />
eigentlich Ausgesprochenen im Gedichte, und zwischen dem Geiste,<br />
der idealischen Behandlung. Die Bedeutung des Gedichts kann<br />
zweierlei heißen, so wie auch der Geist, das Idealische, wie auch der<br />
Stoff, die Darstellung, zweierlei heißen, nämlich in so fern es angewandt<br />
oder unangewandt verstanden wird. Unangewandt sagen diese<br />
Worte nichts aus, als die poetische Verfahrungsweise, wie sie genialisch<br />
und vom Urteile geleitet in jedem echtpoetischen Geschäfte<br />
bemerkbar ist; angewandt bezeichnen jene Worte die Angemessenheit<br />
des jedesmaligen<br />
/255/<br />
poetischen Wirkungskreises zu jener Verfahrungsweise, die Möglichkeit,<br />
die im Elemente liegt, jene Verfahrungsweise zu realisieren, so<br />
daß man sagen kann, im jedesmaligen Elemente liege objektiv und<br />
reell Idealisches dem Idealischen, Lebendiges dem Lebendigen, Indi-<br />
16 Ist die Empfindung Bedeutung, so ist die Darstellung bildlich, und die<br />
geistige Behandlung zeigt sich episodisch. Ist die intellektuelle Anschauung<br />
Bedeutung, so ist der Ausdruck, das Materielle, leidenschaftlich, die<br />
geistige Behandlung zeigt sich mehr im Stil. Ist die Bedeutung ein eigentlicherer<br />
Zweck, so ist der Ausdruck sinnlich, die freie Behandlung metaphorisch.<br />
38
viduelles dem Individuellen gegenüber, und es fragt sich nur, was<br />
unter diesem Wirkungskreise zu verstehen sei. Er ist das, worin und<br />
woran das jedesmalige poetische Geschäft und Verfahren sich realisiert,<br />
das Vehikel des Geistes, wodurch er sich in sich selbst und in<br />
andern reproduziert. An sich ist der Wirkungskreis größer als der<br />
poetische Geist, aber nicht für sich selber. Insofern er im Zusammenhange<br />
der Welt betrachtet wird, ist er größer; insofern er vom Dichter<br />
festgehalten, und zugeeignet ist, ist er subordiniert. Er ist der Tendenz<br />
nach, dem Gehalte seines Strebens nach dem poetischen Geschäfte<br />
entgegen, und der Dichter wird nur zu leicht durch seinen<br />
Stoff irre geführt, indem dieser aus dem Zusammenhange der lebendigen<br />
Welt genommen der poetischen Beschränkung widerstrebt,<br />
indem er dem Geiste nicht bloß als Vehikel dienen will; indem, wenn<br />
er auch recht gewählt ist, sein nächster und erster Fortschritt in<br />
Rücksicht auf ihn Gegensatz und Sporn ist in Rücksicht auf die dichterische<br />
Erfüllung, so daß sein zweiter Fortschritt zum Teil unerfüllt,<br />
zum Teil erfüllt werden muß. p. p.<br />
Es muß sich aber zeigen, wie dieses Widerstreits ungeachtet, in dem<br />
der poetische Geist bei seinem Geschäfte mit dem jedesmaligen<br />
Elemente und Wirkungskreise steht, dieser dennoch jenen begünstige,<br />
und wie sich jener Widerstreit auflöse, wie in dem Elemente, das<br />
sich der Dichter zum Vehikel wählt, dennoch eine Rezeptivität für das<br />
poetische Geschäft liege, und wie er alle Forderungen, die ganze<br />
poetische Verfahrungsweise in ihrem Metaphorischen, ihrem Hyperbolischen,<br />
und ihrem Charakter in sich realisiere in Wechselwirkung<br />
mit dem Elemente, das zwar in seiner anfänglichen Tendenz widerstrebt,<br />
und gerade entgegengesetzt ist, aber im Mittelpunkte sich mit<br />
jenen vereiniget.<br />
/256/<br />
Zwischen dem Ausdrucke (der Darstellung) und der freien idealischen<br />
Behandlung liegt die Begründung und Bedeutung des Gedichts.<br />
Sie ists, die dem Gedichte seinen Ernst, seine Festigkeit, seine<br />
Wahrheit gibt, sie sichert das Gedicht davor, daß die freie idealische<br />
Behandlung nicht zur leeren Manier, und Dar stellung nicht zur<br />
Eitelkeit werde. Sie ist das Geistigsinnliche, das Formalmaterielle,<br />
des Gedichts; und wenn die idealische Behandlung in ihrer Metapher,<br />
ihrem Übergang, ihren Episoden, mehr vereinigend ist, hingegen der<br />
Ausdruck, die Darstellung in ihren Charakteren, ihrer Leidenschaft,<br />
ihren Individualitäten, mehr trennend, so stehet die Bedeutung zwischen<br />
beiden, sie zeichnet sich aus dadurch, daß sie sich selber<br />
überall entgegengesetzt ist: daß sie, statt daß der Geist alles der<br />
Form nach Entgegengesetzte vergleicht, alles Einige trennt, alles<br />
Freie festsetzt, alles Besondere verallgemeinert, weil nach ihr das<br />
Behandelte nicht bloß ein individuelles Ganze, noch ein mit seinem<br />
Harmonischentgegengesetzten zum Ganzen verbundenes Ganze,<br />
sondern ein Ganzes überhaupt ist und die Verbindung mit dem Harmonischentgegengesetzten<br />
auch möglich ist durch ein der individuellen<br />
Tendenz nach, aber nicht der Form nach Entgegengesetztes; daß<br />
sie durch Entgegensetzung, durch das Berühren der Extreme vereiniget,<br />
indem diese sich nicht dem Gehalte nach, aber in der Richtung<br />
39
und dem Grade der Entgegensetzung vergleichbar sind, so daß sie<br />
auch das Widersprechendste vergleicht, und durchaus hyperbolisch<br />
ist, daß sie nicht fortschreitet durch Entgegensetzung in der Form, wo<br />
aber das erste dem zweiten dem Gehalte nach verwandt ist, sondern<br />
durch Entgegensetzung im Gehalt, wo aber das erste dem zweiten<br />
der Form nach gleich ist, so daß naive und heroische und idealische<br />
Tendenz, im Objekt ihrer Tendenz, sich widersprechen, aber in der<br />
Form des Widerstreits und Strebens vergleichbar sind, und einig<br />
nach dem Gesetze der Tätigkeit, also einig im Allgemeinsten, im Leben.<br />
Eben dadurch, durch dieses hyperbolische Verfahren, nach welchem<br />
das Idealische, harmonisch Entgegengesetzte und Verbundene,<br />
/257/<br />
nicht bloß als dieses, als schönes Leben, sondern auch als Leben<br />
überhaupt betrachtet, also auch als eines andern Zustandes fähig<br />
betrachtet wird, und zwar nicht eines andern harmonischentgegengesetzten,<br />
sondern eines geradentgegengesetzten, eines Äußersten, so<br />
daß dieser neue Zustand mit dem vorigen nur vergleichbar ist durch<br />
die Idee des Lebens überhaupt, – eben dadurch gibt der Dichter dem<br />
Idealischen einen Anfang, eine Richtung, eine Bedeutung. Das Idealische<br />
in dieser Gestalt ist der subjektive Grund des Gedichts, von<br />
dem aus, auf den zurückgegangen wird, und da das innere idealische<br />
Leben in verschiedenen Stimmungen aufgefaßt, als Leben überhaupt,<br />
als ein Verallgemeinbares, als ein Festsetzbares, als ein<br />
Trennbares betrachtet werden kann, so gibt es auch verschiedene<br />
Arten des subjektiven Begründens; entweder wird die idealische<br />
Stimmung als Empfindung aufgefaßt, dann ist sie der subjektive<br />
Grund des Gedichts, die Hauptstimmung des Dichters beim ganzen<br />
Geschäfte, und eben weil sie als Empfindung festgehalten ist, wird<br />
sie durch das Begründen als ein Verallgemeinbares betrachtet, –<br />
oder sie wird als Streben festgesetzt, dann wird sie die Hauptstimmung<br />
des Dichters beim ganzen Geschäfte, und daß sie als Streben<br />
festgesetzt ist, macht, daß sie als Erfüllbares durch das Begründen<br />
betrachtet wird, oder wird sie als intellektuale Anschauung festgehalten,<br />
dann ist diese die Grundstimmung des Dichters beim ganzen<br />
Geschäfte, und eben daß sie als diese festgehalten worden ist,<br />
macht, daß sie als Realisierbares betrachtet wird. Und so fordert und<br />
bestimmt die subjektive Begründung eine objektive, und bereitet sie<br />
vor. Im ersten Fall wird also der Stoff als Allgemeines zuerst, im zweiten<br />
als Erfüllendes, im dritten als Geschehendes, aufgefaßt werden.<br />
Ist das freie idealische poetische Leben einmal so fixiert, und ist ihm,<br />
je nachdem es fixiert war, seine Bedeutsamkeit gegeben, als Verallgemeinbares,<br />
als Erfüllbares, als Realisierbares, ist es, auf diese Art,<br />
durch die Idee des Lebens überhaupt, mit seinem direkt Entgegengesetzten<br />
verbunden, und hyperbolischgenommen, so fehlt in der Verfahrungsweise<br />
/258/<br />
40
des poetischen Geistes noch ein wichtiger Punkt, wodurch er seinem<br />
Geschäfte nicht die Stimmung, den Ton, auch nicht die Bedeutung<br />
und Richtung, aber die Wirklichkeit gibt.<br />
Als reines poetisches Leben betrachtet, bleibt nämlich seinem Gehalte<br />
nach, als vermöge des Harmonischen überhaupt und des zeitlichen<br />
Mangels ein mit Harmonischentgegengesetzten Verbundenes,<br />
das poetische Leben sich durchaus einig, und nur im Wechsel der<br />
Formen ist es entgegengesetzt, nur in der Art, nicht im Grunde seines<br />
Fortstrebens, es ist nur geschwungner oder zielender oder geworfner,<br />
nur zufällig mehr oder weniger unterbrochen; als durch die poetische<br />
Reflexion vermöge der Idee des Lebens überhaupt und des<br />
Mangels in der Einigkeit bestimmtes und begründetes Leben betrachtet,<br />
fängt es mit einer idealisch charakteristischen Stimmung an, es<br />
ist nun nicht mehr ein mit Harmonischentgegengesetzten Verbundenes<br />
überhaupt, es ist als solches in bestimmter Form vorhanden, und<br />
schreitet fort im Wechsel der Stimmungen, wo jedesmal die nachfolgende<br />
durch die vorhergehende bestimmt, und ihr dem Gehalt nach,<br />
das heißt, den Organen nach, in denen sie begriffen, entgegengesetzt<br />
und insofern individueller allgemeiner voller ist, so daß die verschiedenen<br />
Stimmungen nur in dem, worin das Reine seine Entgegensetzung<br />
findet, nämlich in der Art des Fortstrebens, verbunden<br />
sind, als Leben überhaupt, so daß das rein poetische Leben nicht<br />
mehr zu finden ist, denn in jeder der wechselnden Stimmungen ist es<br />
in besonderer Form also mit seinem Geradentgegenge setzten verbunden,<br />
also nicht mehr rein, im Ganzen ist es nur als fortstrebendes<br />
und nach dem Gesetze des Fortstrebens nur als Leben überhaupt<br />
vorhanden, und es herrscht auf diesem Gesichtspunkte durchaus ein<br />
Widerstreit von Individuellem (Materialem), Allgemeinem (Formalem)<br />
und Reinem.<br />
Das Reine in jeder besondern Stimmung begriffenes widerstreitet<br />
dem Organ, in dem es begriffen, es widerstreitet dem Reinen des<br />
andern Organs, es widerstreitet dem Wechsel.<br />
/259/<br />
Das Allgemeine widerstreitet als besonderes Organ (Form), als charakteristische<br />
Stimmung dem Reinen, welches es in dieser Stimmung<br />
begreift, es widerstreitet als Fortstreben im Ganzen dem Reinen,<br />
welches in ihm begriffen ist, es widerstreitet als charakteristische<br />
Stimmung der zunächst liegenden.<br />
Das Individuelle widerstreitet dem Reinen, welches es begreift, es<br />
widerstreitet der zunächst liegenden Form, es widerstreitet als Individuelles<br />
dem Allgemeinen des Wechsels.<br />
Die Verfahrungsweise des poetischen Geistes bei seinem Geschäfte<br />
kann also unmöglich hiemit enden. Wenn sie die wahre ist, so muß<br />
noch etwas anders in ihr aufzufinden sein, und es muß sich zeigen,<br />
daß die Verfahrungsart, welche dem Gedichte seine Bedeutung gibt,<br />
nur der Übergang vom Reinen zu diesem Aufzufindenden, so wie<br />
rückwärts von diesem zum Reinen ist. (Verbindungsmittel zwischen<br />
Geist und Zeichen.)<br />
41
Wenn nun das dem Geiste direkt entgegengesetzte, das Organ, worin<br />
er enthalten und wodurch alle Entgegensetzung möglich ist, könnte<br />
betrachtet und begriffen werden, nicht nur als das, wodurch das<br />
Harmonischverbundene formal entgegengesetzt, sondern, wodurch<br />
es auch formal verbunden ist, wenn es könnte betrachtet und begriffen<br />
werden, nicht nur als das, wodurch die verschiedenen unharmonischen<br />
Stimmungen materiell entgegengesetzt und formal verbunden,<br />
sondern wodurch sie auch materiell verbunden und formal entgegengesetzt<br />
sind, wenn es könnte betrachtet und begriffen werden<br />
nicht nur als das, was als verbindendes bloß formales Leben überhaupt,<br />
und als besonderes und materielles nicht verbindend, nur entgegensetzend<br />
und trennend, ist, wenn es als materielles als verbindend,<br />
wenn das Organ des Geistes könnte betrachtet werden als<br />
dasjenige, welches, um das Harmonischentgegengesetzte möglich<br />
zu machen, REZEPTIV sein muß so wohl für das eine, wie für das<br />
andre Harmonischentgegengesetzte, daß es also, insofern es für das<br />
rein poetische Leben formale Entgegensetzung<br />
/260/<br />
ist, auch formale Verbindung sein muß, daß es, insofern es für das<br />
bestimmte poetische Leben und seine Stimmungen material entgegensetzend<br />
ist, auch material verbindend sein muß, daß das begrenzende<br />
und bestimmende nicht bloß negativ, daß es auch positiv<br />
ist, daß es zwar bei harmonisch Verbundenem abgesondert betrachtet<br />
dem einen wie dem andern entgegengesetzt ist, aber beide zusammengedacht<br />
die Vereinigung von beiden ist, dann wird derjenige<br />
Akt des Geistes, welcher in Rücksicht auf die Bedeutung nur einen<br />
durchgängigen Widerstreit zur Folge hatte, ein ebenso vereinigender<br />
sein, als er entgegensetzend war.<br />
Wie wird er aber in dieser Qualität begriffen? als möglich und als<br />
Notwendig? Nicht bloß durch das Leben überhaupt, denn so ist er es,<br />
insofern er bloß als material entgegensetzend und formal verbindend,<br />
das Leben direkt bestimmend, betrachtet wird. Auch nicht bloß durch<br />
die Einigkeit überhaupt, denn so ist er es, insofern er bloß als formal<br />
entgegensetzend betrachtet wird, aber im Begriffe der Einheit des<br />
Einigen, so daß von Harmonischverbundenem eines wie das andere<br />
im Punkte der Entgegensetzung und Vereinigung vorhanden ist, und<br />
daß IN DIESEM PUNKTE DER GEIST IN SEINER UNENDLICHKEIT<br />
FÜHLBAR ist, der durch die Entgegensetzung als Endliches erschien,<br />
daß das Reine, das dem Organ an sich widerstritt, in eben<br />
diesem Organ sich selber gegenwärtig und so erst ein Lebendiges<br />
ist, daß, wo es in verschiedenen Stimmungen vorhanden ist, die unmittelbar<br />
auf die Grundstimmung folgende nur der verlängerte Punkt<br />
ist, der dahin, nämlich zum Mittelpunkte führt, wo sich die harmonisch<br />
entgegengesetzten Stimmungen begegnen, daß also gerade im<br />
stärksten Gegensatz, im Gegensatz der ersten idealischen und zweiten<br />
künstlich reflektierten Stimmung, in der materiellsten Entgegensetzung<br />
(die zwischen harmonisch verbundenem im Mittelpunkte zusammentreffendem,<br />
im Mittelpunkte gegenwärtigem Geist und Leben<br />
liegt), daß gerade in dieser materiellsten Entgegensetzung, welche<br />
sich selbst entgegengesetzt ist (in Beziehung<br />
42
261/<br />
auf den Vereinigungspunkt, wohin sie strebt), in den widerstreitenden<br />
fortstrebenden Akten des Geistes, wenn sie nur aus dem wechselseitigen<br />
Charakter der harmonischentgegengesetzten Stimmungen entstehen,<br />
daß gerade da das Unendlichste sich am fühlbarsten, am<br />
negativpositivsten und hyperbolisch darstellt, daß durch diesen Gegensatz<br />
der Darstellung des Unendlichen im widerstreitenden Fortstreben<br />
zum Punkt, und seines Zusammentreffens im Punkt die simultane<br />
Innigkeit und Unterscheidung der harmonischentgegengesetzten<br />
lebendigen zum Grunde liegenden Empfindung ersetzt und<br />
zugleich klarer von dem freien Bewußtsein und gebildeter, allgemeiner,<br />
als eigene Welt der Form nach, als Welt in der Welt, und so als<br />
Stimme des Ewigen zum Ewigen dargestellt wird.<br />
Der Poetische Geist kann also in der Verfahrungs weise, die er bei<br />
seinem Geschäfte beobachtet, sich nicht begnügen, in einem harmonischentgegengesetzten<br />
Leben, auch nicht bei dem Auffassen und<br />
Festhalten desselben durch hyperbolische Entgegensetzung, wenn<br />
er so weit ist, wenn es seinem Geschäfte weder an harmonischer<br />
Einigkeit noch an Bedeutung und Energie gebricht, weder an harmonischem<br />
Geiste überhaupt, noch an harmonischem Wechsel gebricht,<br />
so ist notwendig, wenn das Einige nicht entweder (sofern es an sich<br />
selbst betrachtet werden kann) als ein Ununterscheidbares sich<br />
selbst aufheben und zur leeren Unendlichkeit werden soll, oder wenn<br />
es nicht in einem Wechsel von Gegensätzen, seien diese auch noch<br />
so harmonisch, seine Identität verlieren, also nichts Ganzes und Einiges<br />
mehr sein, sondern in eine Unendlichkeit isolierter Momente<br />
(gleichsam eine Atomenreihe) zerfallen soll, – ich sage: so ist notwendig,<br />
daß der poetische Geist bei seiner Einigkeit, und harmonischem<br />
Progreß auch einen unendlichen Gesichtspunkt sich gebe,<br />
beim Geschäfte, eine Einheit, wo im harmonischen Progreß und<br />
Wechsel alles vor und rückwärts gehe, und durch seine durchgängige<br />
charakteristische Beziehung auf diese Einheit nicht bloß objektiven<br />
Zusammenhang,<br />
/262/<br />
für den Betrachter, auch gefühlten und fühlbaren Zusammenhang<br />
und Identität im Wechsel der Gegensätze gewinne, und es ist seine<br />
letzte Aufgabe, beim harmonischen Wechsel einen Faden, eine Erinnerung<br />
zu haben, damit der Geist nie im einzelnen Momente, und<br />
wieder einem einzelnen Momente, sondern in einem Momente wie im<br />
andern fortdauernd, und in den verschiedenen Stimmungen sich gegenwärtig<br />
bleibe, so wie er sich ganz gegenwärtig ist, IN DER UN-<br />
ENDLICHEN EINHEIT, welche einmal Scheidepunkt des Einigen als<br />
Einigen, dann aber auch Vereinigungspunkt des Einigen als Entgegengesetzten,<br />
endlich auch beedes zugleich ist, so daß in ihr das<br />
Harmonischentgegengesetzte weder als Einiges entgegengesetzt,<br />
noch als Entgegengesetztes vereinigt, sondern als beedes in Einem,<br />
als einig entgegengesetztes unzertrennlich gefühlt, und als gefühltes<br />
erfunden wird. Dieser Sinn ist eigentlich poetischer Charakter, weder<br />
43
Genie noch Kunst, poetische Individualität, und dieser allein ist die<br />
Identität der Begeisterung, ihr die Vollendung des Genie und der<br />
Kunst, die Vergegenwärtigung des Unendlichen, der göttliche Moment<br />
gegeben.<br />
Sie ist also nie bloß Entgegensetzung des Einigen, auch nie bloß<br />
Beziehung Vereinigung des Entgegengesetzten und Wechselnden,<br />
Entgegengesetztes und Einiges ist in ihr unzertrennlich. Wenn dies<br />
ist, so kann sie in ihrer Reinheit und subjektiven Ganzheit, als ursprünglicher<br />
Sinn, zwar in den Akten des Entgegensetzens und Vereinigens,<br />
womit sie in harmonischentgegengesetztem Leben wirksam<br />
ist, passiv sein, aber in ihrem letzten Akt, wo das Harmonischentgegengesetzte<br />
als Harmonisches entgegengesetztes, das Einige als<br />
Wechselwirkung in ihr als Eines begriffen ist, in diesem Akte kann<br />
und darf sie schlechterdings nicht durch sich selbst begriffen, sich<br />
selber zum Objekte werden, wenn sie nicht statt einer unendlich einigen<br />
und lebendigen Einheit, eine tote und tötende Einheit, ein unendlich<br />
positives Gewordenes sein soll; denn wenn Einigkeit und Entgegensetzung<br />
in ihr unzertrennlich verbunden und Eines ist, so kann sie<br />
der Reflexion<br />
/263/<br />
weder als entgegensetzbares Einiges, noch als vereinbares Entgegengesetztes<br />
erscheinen, sie kann also gar nicht erscheinen, oder<br />
nur im Charakter eines positiven Nichts, eines unendlichen Stillstands,<br />
und es ist die Hyperbel aller Hyperbeln der kühnste und letzte<br />
Versuch des poetischen Geistes, wenn er in seiner Verfahrungsweise<br />
ihn je macht, die ursprüngliche poetische Individualität, das poetische<br />
Ich aufzufassen, ein Versuch, wodurch er diese Individualität und ihr<br />
reines Objekt, das Einige, und Lebendige, harmonische, wechselseitig<br />
wirksame Leben aufhöbe, und doch muß er es, denn da er alles,<br />
was er in seinem Geschäfte ist, mit Freiheit sein soll, und muß, indem<br />
er eine eigene Welt schafft, und der Instinkt natürlicherweise zur eigentlichen<br />
Welt, in der er da ist, gehört, da er also alles mit Freiheit<br />
sein soll, so muß er auch dieser seiner Individualität sich versichern.<br />
Da er aber sie nicht durch sich selbst und an sich selbst erkennen<br />
kann, so ist ein äußeres Objekt notwendig und zwar ein solches, wodurch<br />
die reine Individualität, unter mehreren besondern weder bloß<br />
entgegensetzenden, noch bloß beziehenden, sondern poetischen<br />
Charakteren, die sie annehmen kann, irgend Einen anzunehmen bestimmt<br />
werde, so daß also sowohl an der reinen Individualität, als an<br />
den andern Charakteren, die jetzt gewählte Individualität und ihr<br />
durch den jetzt gewählten Stoff bestimmter Charakter erkennbar und<br />
mit Freiheit festzuhalten ist.<br />
(Innerhalb der subjektiven Natur kann das Ich nur als Entgegensetzendes,<br />
oder als Beziehendes, innerhalb der subjektiven Natur kann<br />
es sich aber nicht als poetisches Ich in dreifacher Eigenschaft erkennen,<br />
denn so wie es innerhalb der subjektiven Natur erscheint, und<br />
von sich selber unterschieden wird, und an und durch sich selber<br />
unterschieden, so muß das erkannte immer nur mit dem Erkennenden<br />
und der Erkenntnis beeder zusammengenommen jene dreifache<br />
44
Natur des poetischen Ich ausmachen, und weder als Erkanntes aufgefaßt<br />
vom Erkennenden, noch als Erkennendes aufgefaßt vom Erkennenden,<br />
noch als Erkanntes und Erkennendes aufgefaßt, von der<br />
/264/<br />
Erkenntnis, noch als Erkenntnis aufgefaßt vom Erkennenden, in keiner<br />
dieser drei abgesondert gedachten Qualitäten wird es als reines<br />
poetisches Ich in seiner dreifachen Natur, als entgegensetzend das<br />
Harmonischentgegengesetzte, als (formal) vereinigend das Harmonischentgegengesetzte,<br />
als in Einem begreifend das Harmonischentgegengesetzte,<br />
die Entgegensetzung und Vereinigung, erfunden, im<br />
Gegenteile bleibt es mit und für sich selbst im realen Widerspruche. 17<br />
– Also nur, insofern es nicht von sich selber und an und<br />
17 Es ist sich als material Entgegengesetztes hiemit (für ein drittes aber<br />
nicht für sich selbst) formal Vereinendes (als Erkanntes), als Entgegensetzendes<br />
hiemit (für ein drittes) formal Vereinigtes, als Erkennen des<br />
schlechterdings nicht begreiflich in seinem realen Widerstreit; als Entgegengesetztes,<br />
formal Vereinendes, als Entgegensetzendes, formal Vereinigtes<br />
in der Erkenntnis, im material Vereinigten und Entgegengesetzten<br />
entgegengesetzt, also Indem nämlich das Ich in seiner subjektiven<br />
Natur sich von sich selber unterscheidet und sich setzt als entgegensetzende<br />
Einheit im Harmonischentgegengesetzten, insofern dieses harmonisch<br />
ist, oder als vereinende Einheit im Harmonischentgegengesetzten,<br />
insofern dieses entgegengesetzt ist, so muß es entweder die Realität des<br />
Gegensatzes, des Unterschiedes, in dem es sich selbst erkennt, leugnen,<br />
und das Unterscheiden innerhalb der subjektiven Natur entweder für<br />
eine Täuschung und Willkür erklären, die es sich selbst als Einheit<br />
macht, um seine Identität zu erkennen, dann ist auch die Identität, als<br />
daraus erkannt, eine Täuschung, es erkennt sich nicht oder es ist nicht<br />
Einheit, nimmt die Unterscheidung von sich selber für (dogmatisch) real<br />
an, daß nämlich das Ich als Unterscheidendes oder als Vereinendes sich<br />
verhalte, je nachdem es, in seiner subjektiven Natur, ein zu Unterscheidendes<br />
oder ein zu Vereinendes vorfinde; es setzt sich also als Unterscheidendes<br />
und als Vereinendes abhängig, und weil dies in seiner subjektiven<br />
Natur stattfinden soll, von der es nicht abstrahieren kann, ohne<br />
sich aufzuheben, absolut abhängig in seinen Akten, so daß es weder als<br />
Entgegensetzendes noch als Vereinendes sich selbst, seinen Akt erkennt.<br />
In diesem Falle kann es sich wieder nicht als identisch erkennen,<br />
weil die verschiedenen Akte, in denen es vorhanden ist, nicht seine Akte<br />
sind, es kann sich nicht einmal setzen als in diesen Akten begriffen, denn<br />
diese Akte hängen nicht von ihm ab, nicht das Ich ist das von sich selber<br />
unterschiedene, sondern seine Natur ists, in der es sich als getriebenes<br />
so verhält. Aber wenn nun auch das Ich sich setzen wollte als identisch<br />
mit dem Harmonischentgegengesetzten seiner Natur (den Widerspruch<br />
zwischen Kunst und Genie, Freiheit und organischer Notwendigkeit, diesen<br />
ewigen Knoten mit dem Schwert zerhauen), so hilft es nichts; denn<br />
ist der Unterschied des Entgegensetzens und Vereinens nicht reell, so ist<br />
weder das Ich in seinem harmonischentgegengesetzten Leben, noch das<br />
harmonischentgegengesetzte Leben im Ich als Einheit erkennbar; ist er<br />
reell, so ist wiederum weder das Ich im Harmonischentgegengesetzten<br />
als Einheit durch sich erkennbar, denn es ist ein getriebnes, noch ist das<br />
Harmonischentgegengesetzte als Einheit erkennbar in seinem Ich, denn<br />
45
266/<br />
durch sich selber unterschieden wird, wenn es durch ein drittes bestimmt<br />
unterscheidbar gemacht wird, und wenn dieses dritte, insoferne<br />
es mit Freiheit erwählt war, insofern auch in seinen Einflüssen und<br />
Bestimmungen die reine Individualität nicht aufhebt, sondern //<br />
von dieser betrachtet werden kann, wo sie dann zugleich sich selbst<br />
als ein durch eine Wahl Bestimmtes, empirisch Individualisiertes und<br />
Charakterisiertes betrachtet, nur dann ist es möglich, daß das Ich im<br />
harmonischentgegengesetzten Leben als Einheit, und umgekehrt das<br />
Harmonisch-Entgegengesetzte, als Einheit im Ich erscheine und in<br />
schöner Individualität zum Objekte werde.)<br />
a) Wie ist es aber möglich? im Allgemeinen?<br />
b) Wenn es auf solche Art möglich wird, daß das Ich sich in poetischer<br />
Individualität erkenne und verhalte, welches Resultat entspringt<br />
daraus für die poetische Darstellung? (Es erkennt in den dreierlei<br />
subjektiven und objektiven Versuchen das Streben zu reiner Einheit.)<br />
a) Wenn der Mensch in diesem Alleinsein, in diesem Leben mit sich<br />
selbst, diesem widersprechenden Mittelzustande zwischen natürlichem<br />
Zusammenhange mit einer natürlich vorhandenen Welt, und<br />
zwischen dem höheren Zusammenhange mit einer auch natürlich<br />
vorhandenen, aber mit freier Wahl zur Sphäre erkornen voraus erkannten<br />
und in allen ihren Einflüssen nicht ohne seinen Willen ihn<br />
bestimmenden Welt, wenn er in jenem Mittelzustande zwischen<br />
Kindheit und reifer Humanität, zwischen mechanisch schönem und<br />
menschlich schönem, mit Freiheit schönem Leben gelebt hat, und<br />
diesen Mittelzustand erkannt und erfahren, wie er schlechterdings im<br />
Widerspruche mit sich selber, im notwendigen Widerstreite 1) des<br />
Strebens zur reinen Selbstheit und Identität, 2) des Strebens zur Bedeutenheit<br />
und Unterscheidung, 3) des Strebens zur Harmonie<br />
verbleiben, und wie in diesem Widerstreite jede dieser Bestrebungen<br />
sich aufheben und als unrealisierbar sich zeigen muß, wie er also<br />
resignieren, in Kindheit zurückfallen oder in fruchtlosen Widersprüchen<br />
mit sich selber sich aufreiben muß, wenn er in diesem Zustande<br />
verharrt, so ist Eines, was ihn aus dieser traurigen Alternative zieht,<br />
und das Problem, frei zu sein, wie ein Jüngling, und in der Welt zu<br />
dies ist, als getriebenes, nicht als Einheit erkennbar. Alles kommt also<br />
darauf an, daß das Ich nicht bloß mit seiner subjektiven Natur, von der<br />
es nicht abstrahieren kann, ohne sich aufzuheben, in Wechselwirkung<br />
bleibe, sondern daß es sich mit Freiheit ein Objekt wähle, von dem es,<br />
wenn es will, abstrahieren kann, um von diesem durchaus angemessen<br />
bestimmt zu werden und es zu bestimmen. Hierin liegt die Möglichkeit,<br />
daß das Ich im harmonischentgegengesetzten Leben als Einheit, und<br />
das Harmonisch-Entgegengesetzte, als Einheit erkennbar werde im Ich<br />
in reiner (poetischer) Individualität. Zur freien Individualität, zur Einheit<br />
und Identität in sich selbst gebracht wird das reine subjektive Leben erst<br />
durch die Wahl seines Gegenstands.<br />
46
leben wie ein Kind, der Unabhängigkeit eines kultivierten Menschen,<br />
und<br />
/267/<br />
der Akkommodation eines gewöhnlichen Menschen, löst sich auf in<br />
Befolgung der Regel:<br />
Setze dich mit freier Wahl in harmonische Entgegensetzung mit einer<br />
äußeren Sphäre, so wie du in dir selber in harmonischer Entgegensetzung<br />
bist, von Natur, aber unerkennbarerweise, solange du in dir<br />
selbst bleibst.<br />
Denn hier, in Befolgung dieser Regel ist ein wichtiger Unterschied<br />
von dem Verhalten im vorigen Zustande.<br />
Im vorigen Zustande, in dem des Alleinseins nämlich, konnte darum<br />
die harmonischentgegengesetzte Natur nicht zur erkennbaren Einheit<br />
werden, weil das Ich, ohne sich aufzuheben, sich weder als tätige<br />
Einheit setzen und erkennen könnte, ohne die Realität der Unterscheidung,<br />
also die Realität des Erkennens aufzuheben, noch als<br />
leidende Einheit, ohne die Realität der Einheit, ihr Kriterium der Identität,<br />
nämlich die Tätigkeit aufzuheben, und daß das Ich, indem es<br />
seine Einheit im Harmonischentgegengesetzten, und das Harmonischentgegengesetzte<br />
in seiner Einheit zu erkennen strebt, sich so<br />
absolut und dogmatisch als tätige Einheit, oder als leidende Einheit<br />
setzen muß, entstehet daher, weil es, um sich selber durch sich selber<br />
zu erkennen, die natürliche innige Verbindung, in der es mit sich<br />
selber steht, und wodurch das Unterscheiden ihm erschwert wird, nur<br />
durch eine unnatürliche (sich selber aufhebende) Unterscheidung<br />
ersetzen kann, weil es so von Natur Eines in seiner Verschiedenheit<br />
mit sich selber ist, daß die zur Erkenntnis notwendige Verschiedenheit,<br />
die es sich durch Freiheit gibt, nur in Extremen möglich ist, also<br />
nur in Streben in Denkversuchen, die auf diese Art realisiert, sich<br />
selber aufheben würden, weil es, um seine Einheit im (subjektiven)<br />
Harmonischentgegengesetzten,<br />
/268/<br />
und das (subjektive) Harmonisch-Entgegengesetzte in seiner Einheit<br />
zu erkennen, notwendigerweise von sich selber abstrahieren muß,<br />
insofern es im (subjektiven) Harmonischentgegengesetzten gesetzt<br />
ist, und auf sich reflektieren, insofern es nicht im (subjektiven) Harmonischentgegengesetzten<br />
gesetzt ist, und umgekehrt, da es aber<br />
diese Abstraktion von seinem Sein im (subjektiven) Harmonischentgegengesetzten,<br />
und diese Reflexion aufs Nichtsein in ihm nicht machen<br />
kann, ohne sich und das Harmonischentgegengesetzte, ohne<br />
das subjektive Harmonische und Entgegengesetzte und die Einheit<br />
aufzuheben, so müssen auch die Versuche, die es auf diese Art dennoch<br />
macht, solche Versuche sein, die, wenn sie auf diese Art realisiert<br />
würden, sich selbst aufhöben.<br />
Dies ist also der Unterschied zwischen dem Zustande des Alleinseins<br />
(der Ahndung seines Wesens) und dem neuen Zustande, wo sich der<br />
47
Mensch mit einer äußern Sphäre, durch freie Wahl in harmonische<br />
Entgegensetzung setzt, daß er, eben weil er mit dieser nicht so innig<br />
verbunden ist, von dieser abstrahieren und von sich, insofern er in ihr<br />
gesetzt ist, und auf sich reflektieren kann, insofern er nicht in ihr gesetzt<br />
ist, dies ist der Grund, warum er aus sich herausgeht, dies die<br />
Regel für seine Verfahrungsart in der äußern Welt. Auf diese Art erreicht<br />
er seine Bestimmung, welche ist – Erkenntnis des Harmonischentgegengesetzten<br />
in ihm, in seiner Einheit und Individualität,<br />
und hinwiederum Erkenntnis seiner Identität, seiner Einheit und Individualität<br />
im Harmonischentgegengesetzten. Dies ist die wahre Freiheit<br />
seines Wesens, und wenn er an dieser äußerlichen harmonischentgegengesetzten<br />
Sphäre nicht zu sehr hängt, nicht identisch mit ihr<br />
wird, wie mit sich selbst, so daß er nimmer von ihr abstrahieren kann,<br />
noch auch zu sehr an sich sich hängt, und von sich als Unabhängigem<br />
zu wenig abstrahieren kann, wenn er weder auf sich zu sehr<br />
reflektiert, noch auf seine Sphäre und Zeit zu sehr reflektiert, dann ist<br />
er auf dem rechten Wege seiner Bestimmung. Die Kindheit des gewöhnlichen<br />
Lebens, wo er identisch mit der Welt war, und gar nicht<br />
von ihr abstrahieren konnte, ohne Freiheit war, deswegen ohne Erkenntnis<br />
seiner selbst im Harmonischentgegengesetzten, noch des<br />
Harmonischentgegengesetzten in ihm selbst, an sich betrachtet ohne<br />
Festigkeit, Selbstständigkeit,<br />
/269/<br />
eigentliche Identität im reinen Leben, diese Zeit wird von ihm, als die<br />
Zeit der Wün sche, betrachtet werden, wo der Mensch sich im Harmonischentgegengesetzten<br />
und jenes in ihm selber als Einheit zu<br />
erkennen strebt, dadurch daß er sich dem objektiven Leben ganz<br />
hingibt; wo aber sich die Unmöglichkeit einer erkennbaren Identität im<br />
Harmonischentgegengesetzten objektiv zeigt, wie sie subjektiv schon<br />
gezeigt worden ist. Denn, da er in diesem Zustande sich gar nicht in<br />
seiner subjektiven Natur kennt, bloß objektives Leben im Objektiven<br />
ist, so kann er die Einheit im Harmonischentgegengesetzten nur dadurch<br />
zu erkennen streben, daß er in seiner Sphäre, von der er so<br />
wenig abstrahieren kann, als der subjektive Mensch von seiner subjektiven<br />
Sphäre, eben so verfährt wie dieser in der seinen. Er ist in ihr<br />
gesetzt als in Harmonischentgegengesetztem. Er muß sich zu erkennen<br />
streben, sich von sich selber in ihr zu unterscheiden suchen, indem<br />
er sich zum Entgegensetzenden macht, insoferne sie harmonisch<br />
ist, und zum Vereinenden, insofern sie entgegengesetzt ist.<br />
Aber wenn er sich in dieser Verschiedenheit zu erkennen strebt, so<br />
muß er entweder die Realität des Widerstreits, in dem er sich mit sich<br />
selber findet, vor sich selber leugnen, und dies widerstreitende Verfahren<br />
für eine Täuschung und Willkür halten, die bloß dahin sich<br />
äußert, damit er seine Identität im Harmonischentgegengesetzten<br />
erkenne, aber dann ist auch diese seine Identität, als Erkanntes, eine<br />
Täuschung, oder er hält jene Unterscheidung für reell, daß er nämlich<br />
als Vereinendes und als Unterscheidendes sich verhalte, je<br />
nachdem er in seiner objektiven Sphäre ein zu Unterscheidendes<br />
oder zu Vereinendes vorfinde, setzt sich also als Vereinendes und als<br />
Unterscheidendes abhängig und weil dies in seiner objektiven Sphäre<br />
48
stattfinden soll, von der er nicht abstrahieren kann, ohne sich selber<br />
aufzuheben, absolut abhängig, so daß er weder als Vereinendes,<br />
noch als Entgegensetzendes sich selber seinen Akt erkennt. In diesem<br />
Falle kann er sich wieder nicht erkennen, als identisch, weil die<br />
verschiedenen Akte, in denen er sich findet, nicht seine Akte sind. Er<br />
kann<br />
/270/<br />
sich gar nicht erkennen, er ist kein Unterscheidbares, seine Sphäre<br />
ist es, in der er sich mechanisch so verhält. Aber wenn er nun auch<br />
als identisch mit dieser sich setzen wollte, den Widerstreit des Lebens<br />
und der Personalität, den er immer zu vereinigen und in Einem<br />
zu erkennen strebt und streben muß, in höchster Innigkeit auflösen,<br />
so hilft es nichts, insofern er sich so in seiner Sphäre verhält, daß er<br />
nicht von ihr abstrahieren kann, denn er kann sich ebendeswegen<br />
nur in Extremen von Gegensätzen des Unterscheidens und Vereinens<br />
erkennen, weil er zu innig in seiner Sphäre lebt.<br />
Der Mensch sucht also in einem zu subjektiven Zustande, wie in einem<br />
zu objektiven vergebens seine Bestimmung zu erreichen, welche<br />
darin besteht, daß er sich als Einheit in Göttlichem-<br />
Harmonischentgegengesetztem enthalte 'so wie umgekehrt, das<br />
Göttliche, Einige, Harmonischentgegengesetzte, in sich, als Einheit<br />
enthalten erkenne. Denn dies ist allein in schöner heiliger, göttlicher<br />
Empfindung möglich, in einer Empfindung, welche darum schön ist,<br />
weil sie weder bloß angenehm und glücklich, noch bloß erhaben und<br />
stark, noch bloß einig und ruhig, sondern alles zugleich ist, und allein<br />
sein kann, in einer Empfindung, welche darum heilig ist, weil sie weder<br />
bloß uneigennützig ihrem Objekte hingegeben, noch bloß<br />
uneigennützig auf ihrem innern Grunde ruhend, noch bloß<br />
uneigennützig zwischen ihrem innern Grunde und ihrem Objekte<br />
schwebend, sondern alles zugleich ist und allein sein kann, in einer<br />
Empfindung, welche darum göttlich ist, weil sie weder bloßes<br />
Bewußtsein, bloße Reflexion (subjektive, oder objektive,) mit Verlust<br />
des innern und äußern Lebens noch bloßes Streben (subjektiv oder<br />
objektiv bestimmtes) mit Verlust der innern und äußern Harmonie,<br />
noch bloße Harmonie, wie die intellektuale Anschauung und ihr<br />
mythisches bildliches Subjekt, Objekt, mit Verlust des Bewußtseins,<br />
und der Einheit, sondern weil sie alles dies zugleich ist, und allein<br />
sein kann, in einer Empfindung, welche darum transzendental ist und<br />
dies allein sein kann, weil sie in Vereinigung und Wechselwir kung<br />
der genannten<br />
/271/<br />
Eigenschaften weder zu angenehm und sinnlich, noch zu energisch<br />
und wild, noch zu innig und schwärmerisch, weder zu uneigennützig,<br />
d.h. zu selbstvergessen ihrem Objekte hingegeben, noch zu uneigennützig,<br />
d.h. zu eigenmächtig auf ihrem innern Grunde ruhend,<br />
noch zu eigennützig, d.h. zu unentschieden, und leer und unbestimmt<br />
zwischen ihrem innern Grunde und ihrem Objekte schwebend, weder<br />
zu reflektiert, sich ihrer zu bewußt, zu scharf und ebendeswegen ih-<br />
49
es innern und äußern Grundes unbewußt, noch zu bewegt, zu sehr<br />
in ihrem innern und äußern Grunde begriffen, ebendeswegen der<br />
Harmonie des Innern und Äußern unbewußt, noch zu harmonisch,<br />
ebendeswegen sich ihrer selbst, und des innern und äußern Grundes<br />
zu wenig bewußt, ebendeswegen zu unbestimmt, und des eigentlich<br />
Unendlichen, welches durch sie als eine bestimmte wirkliche Unendlichkeit,<br />
als außerhalb liegend bestimmt wird, weniger empfänglich,<br />
und geringerer Dauer fähig. Kurz, sie ist, weil sie in dreifacher Eigenschaft<br />
vorhanden ist, und dies allein sein kann, weniger einer Einseitigkeit<br />
ausgesetzt in irgend einer der drei Eigenschaften. Im Gegenteil<br />
erwachsen aus ihr ursprünglich alle die Kräfte, welche jene Eigenschaften<br />
zwar bestimmter und erkennbarer, aber auch isolierter besitzen,<br />
so wie sich jene Kräfte, und ihre Eigenschaften und Äußerungen<br />
auch wieder in ihr konzentrieren, und in ihr und durch gegenseitigen<br />
Zusammenhang und lebendige für sich selbst bestehende Bestimmtheit,<br />
als Organe von ihr, und Freiheit, als zu ihr gehörig und<br />
nicht in ihrer Beschränktheit auf sich selber eingeschränkt, und Vollständigkeit,<br />
als in ihrer Ganzheit begriffen, gewinnen, jene drei Eigenschaften<br />
mögen als Bestrebungen, das Harmonischentgegengesetzte<br />
in der lebendigen Einheit oder diese in jenem zu erkennen, im<br />
subjektiveren oder objektiveren Zustande sich äußern. Denn eben<br />
diese verschiedenen Zustände gehen auch aus ihr als der Vereinigung<br />
derselben hervor.<br />
/272/<br />
Wink für die Darstellung und Sprache.<br />
Ist die Sprache nicht, wie die Erkenntnis, von der die Rede war, und<br />
von der gesagt wurde, daß in ihr, als Einheit, das Einige enthalten<br />
seie, und umgekehrt? und daß sie dreifacher Art sei p. p.<br />
Muß nicht für das eine wie für das andere der schönste Moment da<br />
liegen, wo der eigentliche Ausdruck, die geistigste Sprache, das lebendigste<br />
Bewußtsein, wo der Übergang von einer bestimmten Unendlichkeit<br />
zur allgermeineren liegt?<br />
Liegt nicht eben hierin der feste Punkt, wodurch der Folge der Zeichnung,<br />
ihre Verhältnisart, und den Lokalfarben wie der Beleuchtung ihr<br />
Charakter und Grad bestimmt wird?<br />
Wird nicht alle Beurteilung der Sprache sich darauf reduzieren, daß<br />
man nach DEN SICHERSTEN UND MÖGLICH UNTRÜGLICHSTEN<br />
KENNZEICHEN sie prüft, ob sie die Sprache einer echten schön beschriebenen<br />
Empfindung sei?<br />
So wie die Erkenntnis die Sprache ahndet, so erinnert sich die Sprache<br />
der Erkenntnis.<br />
Die Erkenntnis ahndet die Sprache, nachdem sie 1) noch unreflektierte<br />
reine Empfindung des Lebens war, der bestimmten Unendlichkeit,<br />
worin sie enthalten ist, 2) nachdem sie sich in den Dissonanzen des<br />
innerlichen Reflektierens und Strebens und Dichtens wiederholt hatte,<br />
und nun, nach diesen vergebenen Versuchen, sich innerlich wiederzufinden<br />
und zu reproduzieren, nach diesen verschwiegenen<br />
50
Ahndungen, die auch ihre Zeit haben müssen, über sich selbst hinausgeht,<br />
und in der ganzen Unendlichkeit sich wiederfindet, d.h.<br />
durch die stofflose reine Stimmung, gleichsam durch den Widerklang<br />
der ursprünglichen lebendigen Empfindung, den sie gewann und gewinnen<br />
konnte, durch die gesamte Wirkung aller innerlichen Versuche,<br />
durch diese höhere göttliche Empfänglichkeit ihres ganzen innern<br />
und äußern Lebens mächtig und inne wird. In eben diesem<br />
/273/<br />
Augenblicke, wo sich die ursprüngliche lebendige, nun zur reinen<br />
eines Unendlichen empfänglichen Stimmung geläuterte Empfindung,<br />
als Unendliches im Unendlichen, als geistiges Ganze im lebendigen<br />
Ganzen befindet, in diesem Augenblicke ist es, wo man sagen kann,<br />
daß die Sprache geahndet wird, und wenn nun wie in der ursprünglichen<br />
Empfindung eine Reflexion erfolgt, so ist sie nicht mehr auflösend<br />
und verallgemeinernd, verteilend, und ausbildend, bis zur bloßen<br />
Stimmung, sie gibt dem Herzen alles wieder, was sie ihm nahm,<br />
sie ist belebende Kunst, wie sie zuvor vergeistigende Kunst war, und<br />
mit einem Zauberschlage um den andern ruft sie das verlorene Leben<br />
schöner hervor, bis es wieder so ganz sich fühlt, wie es sich ursprünglich<br />
fühlte. Und wenn es der Gang und die Bestimmung des<br />
Lebens überhaupt ist, aus der ursprünglichen Einfalt sich zur höchsten<br />
Form zu bilden, wo dem Menschen ebendeswegen das unendliche<br />
Leben gegenwärtig ist, und wo er als das abstrakteste alles nur<br />
um so inniger aufnimmt, dann aus dieser höchsten Entgegensetzung<br />
und Vereinigung des Lebendigen und Geistigen, des formalen und<br />
des materialen Subjekt-Objekts, dem Geistigen sein Leben, dem Lebendigen<br />
seine Gestalt, dem Menschen seine Liebe und sein Herz<br />
und seiner Welt den Dank wiederzubringen, und endlich nach erfüllter<br />
Ahndung, und Hoffnung, wenn nämlich in der Äußerung jener höchste<br />
Punkt der Bildung, die höchste Form im höchsten Leben vorhanden<br />
war, und nicht bloß an sich selbst, wie im Anfang der eigentlichen<br />
Äußerung, noch im Streben, wie im Fortgang derselben, wo die<br />
Äußerung das Leben aus dem Geiste und aus dem Leben den Geist<br />
hervorruft, sondern wo sie das ursprüngliche Leben in der höchsten<br />
Form gefunden hat, wo Geist und Leben auf beiden Seiten gleich ist,<br />
und ihren Fund, das Unendliche im Unendlichen, erkennt, nach dieser<br />
letzten und dritten Vollendung, die nicht bloß ursprüngliche Einfalt,<br />
des Herzens und Lebens, wo sich der Mensch unbefangen als in<br />
einer beschränkten Unendlichkeit fühlt, auch nicht bloß errungene<br />
Einfalt des Geistes,<br />
/274/<br />
wo eben jene Empfindung, zur reinen formalen Stimmung ge läutert,<br />
die ganze Unendlichkeit des Lebens aufnimmt (und Ideal ist), sondern<br />
die aus dem unendlichen Leben wiederbelebter Geist, nicht<br />
Glück, nicht Ideal, sondern gelungenes Werk, und Schöpfung ist, und<br />
nur in der Äußerung gefunden werden und außerhalb der Äußerung<br />
nur in dem aus ihrer bestimmten ursprünglichen Empfindung hervorgegangenen<br />
Ideale gehofft werden kann, wie endlich nach dieser<br />
51
dritten Vollendung, wo die bestimmte Unendlichkeit so weit ins Leben<br />
gerufen, die unendliche so weit vergeistigt ist, daß eines an Geist und<br />
Leben dem andern gleich ist, wie nach dieser dritten Vollendung das<br />
Bestimmte immer mehr belebt, das Unendliche immer mehr vergeistigt<br />
wird, bis die ursprüngliche Empfindung eben so als Leben endigt,<br />
wie sie in der Äußerung als Geist anfing, und sich die höhere<br />
Unendlichkeit, aus der sie ihr Leben nahm, eben so vergeistigt, wie<br />
sie in der Äußerung als Lebendiges vorhanden war, –<br />
also wenn dies der Gang und die Bestimmung des Menschen überhaupt<br />
zu sein scheint, so ist ebendasselbe der Gang und die Bestimmung<br />
aller und jeder Poesie, und wie auf jener Stufe der Bildung,<br />
wo der Mensch aus ursprünglicher Kindheit hervorgegangen in entgegengesetzten<br />
Versuchen zur höchsten Form, zum reinen Widerklang<br />
des ersten Lebens emporgerungen hat, und so als unendlicher<br />
Geist im unendlichen Leben sich fühlt, wie der Mensch auf dieser<br />
Stufe der Bildung erst eigentlich das Leben antritt und sein Wirken<br />
und seine Bestimmung ahndet, so ahndet der Dichter, auf jener Stufe,<br />
wo er auch aus einer ursprünglichen Empfindung, durch entgegengesetzte<br />
Versuche, sich zum Ton, zur höchsten reinen Form derselben<br />
Empfindung emporgerungen hat und ganz in seinem ganzen<br />
inneren und äußeren Leben mit jenem Tone sich begriffen sieht, auf<br />
dieser Stufe ahndet er seine Sprache, und mit ihr die eigentliche<br />
Vollendung für die jetzige und zugleich für alle Poesie.<br />
/275/<br />
Es ist schon gesagt worden, daß auf jener Stufe eine neue Reflexion<br />
eintrete, welche dem Herzen alles wieder gebe, was sie ihm genommen<br />
habe, welche für den Geist des Dichters und seines zukünftigen<br />
Gedichts belebende Kunst sei, wie sie für die ursprüngliche Empfindung<br />
des Dichters und seines Gedichts seie vergeistigende Kunst<br />
gewesen. Das Produkt dieser schöpferischen Reflexion ist die Sprache.<br />
Indem sich nämlich der Dichter mit dem reinen Tone seiner ursprünglichen<br />
Empfindung in seinem ganzen innern und äußern Leben<br />
begriffen fühlt, und sich umsieht in seiner Welt, ist ihm diese<br />
eben so neu und unbekannt,<br />
die Summe aller seiner Erfahrungen, seines Wissens, seines Anschauens,<br />
seines Denkens, Kunst und Natur, wie sie in ihm und außer<br />
ihm sich darstellt, alles ist wie zum erstenmale, ebendeswegen<br />
unbegriffen, unbestimmt, in lauter Stoff und Leben aufgelöst, ihm<br />
gegenwärtig, und es ist vorzüglich wichtig, daß er in diesem Augenblicke<br />
nichts als gegeben annehme, von nichts positivem ausgehe,<br />
daß die Natur und Kunst, so wie er sie kennen gelernt hat und sieht,<br />
nicht eher spreche, ehe für ihn eine Sprache da ist, d.h. ehe das jetzt<br />
Unbekannte und Ungenannte in seiner Welt ebendadurch für ihn bekannt<br />
und namhaft wird, daß es mit seiner Stimmung verglichen und<br />
als übereinstimmend erfunden worden ist, denn wäre vor der Reflexion<br />
auf den unendlichen Stoff und die unendliche Form irgend eine<br />
Sprache der Natur und Kunst für ihn in bestimmter Gestalt da, so<br />
wäre er insofern nicht innerhalb seines Wirkungskreises, er träte aus<br />
seiner Schöpfung heraus, und die Sprache der Natur oder der Kunst,<br />
52
jeder modus exprimendi der einen oder der andern wäre erstlich, insofern<br />
sie nicht seine Sprache, nicht aus seinem Leben und aus seinem<br />
Geiste hervorgegangenes Produkt, sondern als Sprache der<br />
Kunst, sobald sie in bestimmter Gestalt mir gegenwärtig ist, schon<br />
zuvor ein bestimmender Akt der schöpferischen Reflexion des Künstlers,<br />
welcher darin bestand, daß er aus seiner Welt, aus der Summe<br />
seines äußern und innern Lebens, das mehr oder weniger auch das<br />
/276/<br />
meinige ist, daß er aus dieser Welt den Stoff nahm, um die Töne seines<br />
Geistes zu bezeichnen, aus seiner Stimmung das zum Grunde<br />
liegende Leben durch dies verwandte Zeichen hervorzu rufen, daß er<br />
also, insofern er mir dieses Zeichen nennt, aus meiner Welt den Stoff<br />
entlehnt, mich veranlaßt, diesen Stoff in das Zeichen überzutragen,<br />
wo dann derjenige wichtige Unterschied zwischen mir als bestimmtem<br />
und ihm als bestimmendem ist, daß er, indem er sich verständlich<br />
und faßlich macht, von der leblosen, immateriellen, ebendeswegen<br />
weniger entgegensetzbaren und bewußtloseren Stimmung fortschreitet,<br />
ebendadurch, daß er sie erklärt 1) in ihrer Unendlichkeit der<br />
Zusammenstimmung durch eine sowohl der Form als Materie nach<br />
verhältnismäßige Totalität verwandten Stoffs, und durch idealisch<br />
wechselnde Welt, 2) in ihrer Bestimmtheit und eigentlichen Endlichkeit<br />
durch die Darstellung und Aufzählung ihres eigenen Stoffs, 3) in<br />
ihrer Tendenz, ihrer Allgemeinheit im Besondern, durch den Gegensatz<br />
ihres eigenen Stoffs zum unendlichen Stoff, 4) in ihrem Maß, in<br />
der schönen Bestimmtheit und Einheit und Festigkeit ihrer unendlichen<br />
Zusammenstimmung, in ihrer unendlichen Identität und Individualität,<br />
und Haltung, in ihrer poetischen Prosa eines allbegrenzenden<br />
Moments, wohin und worin sich negativ und ebendeswegen ausdrücklich<br />
und sinnlich alle genannten Stücke beziehen und vereinigen,<br />
nämlich die unendliche Form mit dem unendlichen Stoffe dadurch,<br />
daß durch jenen Moment die unendliche Form ein Gebild, den<br />
Wechsel des Schwächern und Stärkern, der unendliche Stoff einen<br />
Wohlklang annimmt, einen Wechsel des Hellern und Leisern, und<br />
sich beede in der Langsamkeit und Schnelligkeit endlich im Stillstande<br />
der Bewegung negativ vereinigen, immer durch ihn und die ihm<br />
zum Grunde liegende Tätigkeit, die unendliche schöne Reflexion,<br />
welche in der durchgängigen Begrenzung zugleich durchgängig beziehend<br />
und vereinigend ist.<br />
53
Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung<br />
In: Sämtliche Werke, Band 1–5, 3. Auflage, München: <strong>Hans</strong>er, 1962.<br />
Bd.5, S.704-706<br />
/704/<br />
Naiv muß jedes wahre Genie sein, oder es ist keines. Seine Naivetät<br />
allein macht es zum Genie, und was es im Intellektuellen und Ästhetischen<br />
ist, kann es im Moralischen nicht verleugnen. Unbekannt mit<br />
den Regeln, den Krücken der Schwachheit und den Zuchtmeistern<br />
der Verkehrtheit, bloß von der Natur oder dem Instinkt, seinem schützenden<br />
Engel, geleitet, geht es ruhig und sicher durch alle Schlingen<br />
des falschen Geschmackes, in welchen, wenn es nicht so klug ist, sie<br />
schon von weitem zu vermeiden, das Nichtgenie unausbleiblich verstrickt<br />
wird. Nur dem Genie ist es gegeben, außerhalb des Bekannten<br />
noch immer zu Hause zu sein und die Natur zu erweitern, ohne über<br />
sie hinauszugehen. Zwar begegnet letzteres zuweilen auch den<br />
größten Genies, aber nur, weil auch diese ihre phantastischen Augenblicke<br />
haben, wo die schützende Natur sie verläßt, weil die Macht<br />
des Beispiels sie hinreißt oder der verderbte Geschmack ihrer Zeit<br />
sie verleitet.<br />
Die verwickeltsten Aufgaben muß das Genie mit anspruchloser Simplizität<br />
und Leichtigkeit lösen; das Ei des Kolumbus gilt von jeder genialischen<br />
Entscheidung. Dadurch allein legitimiert es sich als Genie,<br />
daß es durch Einfalt über die verwickelte Kunst triumphiert. Es verfährt<br />
nicht nach erkannten Prinzipien, sondern nach Einfällen und<br />
Gefühlen; aber seine Einfälle sind Eingebungen eines Gottes (alles,<br />
was die gesunde Natur tut, ist göttlich), seine Gefühle<br />
/705/<br />
sind Gesetze für alle Zeiten und für alle Geschlechter der Menschen.<br />
Den kindlichen Charakter, den das Genie in seinen Werken abdrückt,<br />
zeigt es auch in seinem Privatleben und in seinen Sitten. Es ist<br />
schamhaft, weil die Natur dieses immer ist: aber es ist nicht dezent,<br />
weil nur die Verderbnis dezent ist. Es ist verständig, denn die Natur<br />
kann nie das Gegenteil sein; aber es ist nicht listig, denn das kann<br />
nur die Kunst sein. Es ist seinem Charakter und seinen Neigungen<br />
treu, aber nicht sowohl weil es Grundsätze hat, als weil die Natur bei<br />
allem Schwanken immer wieder in die vorige Stelle rückt, immer das<br />
alte Bedürfnis zurückbringt. Es ist bescheiden, ja blöde, weil das<br />
Genie immer sich selbst ein Geheimnis bleibt, aber es ist nicht ängstlich,<br />
weil es die Gefahren des Weges nicht kennt, den es wandelt.<br />
Wir wissen wenig von dem Privatleben der größten Genies, aber<br />
auch das wenige, was uns z.B. von Sophokles, von Archimed, von<br />
Hippokrates und aus neueren Zeiten von Ariost, Dante und Tasso,<br />
54
von Raphael, von Albrecht Dürer, Cervantes, Shakespeare, von Fielding,<br />
Sterne u.a. aufbewahrt worden ist, bestätigt diese Behauptung.<br />
Ja, was noch weit mehr Schwierigkeit zu haben scheint, selbst der<br />
große Staatsmann und Feldherr werden, sobald sie durch ihr Genie<br />
groß sind, einen naiven Charakter zeigen. Ich will hier unter den Alten<br />
nur an Epaminondas und Julius Cäsar, unter den Neuern nur an<br />
Heinrich IV. von Frankreich, Gustav Adolf von Schweden und den Zar<br />
Peter den Großen erinnern. Der Herzog von Marlborough, Turenne,<br />
Vendôme zeigen uns alle diesen Charakter. Dem andern Geschlecht<br />
hat die Natur in dem naiven Charakter seine höchste Vollkommenheit<br />
angewiesen. Nach nichts ringt die weibliche Gefallsucht so sehr als<br />
nach dem Schein des Naiven; Beweis genug, wenn man auch sonst<br />
keinen hätte, daß die größte Macht des Geschlechts auf dieser Eigenschaft<br />
beruhet. Weil aber die herrschenden Grundsätze bei der<br />
weiblichen Erziehung mit diesem Charakter in ewigem Streit liegen,<br />
so ist es dem Weibe im Moralischen ebenso schwer als dem Mann<br />
im Intellektuellen, mit den Vorteilen der guten Erziehung jenes herrliche<br />
Geschenk der Natur unverloren zu behalten; und die Frau, die<br />
mit einem geschickten Betragen für die große Welt dieses Naive der<br />
Sitten verknüpft, ist ebenso hochachtungswürdig<br />
/706/<br />
als der Gelehrte, der mit der ganzen Strenge der Schule genialische<br />
Freiheit des Denkens verbindet.<br />
Aus der naiven Denkart fließt notwendigerweise auch ein naiver Ausdruck<br />
sowohl in Worten als Bewegungen, und es ist das wichtigste<br />
Bestandstück der Grazie. Mit dieser naiven Anmut drückt das Genie<br />
seine erhabensten und tiefsten Gedanken aus; es sind Göttersprüche<br />
aus dem Mund eines Kindes. Wenn der Schulverstand, immer vor<br />
Irrtum bange, seine Worte wie seine Begriffe an das Kreuz der<br />
Grammatik und Logik schlägt, hart und steif ist, um ja nicht unbestimmt<br />
zu sein, viele Worte macht, um ja nicht zu viel zu sagen, und<br />
dem Gedanken, damit er ja den Unvorsichtigen nicht schneide, lieber<br />
die Kraft und die Schärfe nimmt, so gibt das Genie dem seinigen mit<br />
einem einzigen glücklichen Pinselstrich einen ewig bestimmten, festen<br />
und dennoch ganz freien Umriß. Wenn dort das Zeichen dem<br />
Bezeichneten ewig heterogen und fremd bleibt, so springt hier wie<br />
durch innere Notwendigkeit die Sprache aus dem Gedanken hervor<br />
und ist so sehr eins mit demselben, daß selbst unter der körperlichen<br />
Hülle der Geist wie entblößet erscheint. Eine solche Art des Ausdrucks,<br />
wo das Zeichen ganz in dem Bezeichneten verschwindet,<br />
und wo die Sprache den Gedanken, den sie ausdrückt, noch gleichsam<br />
nackend läßt, da ihn die andre nie darstellen kann, ohne ihn<br />
zugleich zu verhüllen, ist es, was man in der Schreibart vorzugsweise<br />
genialisch und geistreich nennt.<br />
Frei und natürlich, wie das Genie in seinen Geisteswerken, drückt<br />
sich die Unschuld des Herzens im lebendigen Umgang aus. Bekanntlich<br />
ist man im gesellschaftlichen Leben von der Simplizität und<br />
strengen Wahrheit des Ausdrucks in demselben Verhältnis wie von<br />
der Einfalt der Gesinnungen abgekommen, und die leicht zu verwun-<br />
55
dende Schuld sowie die leicht zu verführende Einbildungskraft haben<br />
einen ängstlichen Anstand notwendig gemacht. Ohne falsch zu sein,<br />
redet man öfters anders, als man denkt; man muß Umschweife nehmen,<br />
um Dinge zu sagen, die nur einer kranken Eigenliebe Schmerz<br />
bereiten, nur einer verderbten Phantasie Gefahr bringen können.<br />
56
G.W.F. Hegel: Vorlesung über Ästhetik I<br />
In: Theorie Werkausgabe Bd. 13, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970,<br />
S.362-385<br />
/362/<br />
C. DER KÜNSTLER<br />
Wir haben in diesem ersten Teile zunächst die allgemeine Idee des<br />
Schönen, sodann das mangelhafte Dasein derselben in der Schönheit<br />
der Natur betrachtet, um drittens zum Ideal als der adäquaten<br />
Wirklichkeit des Schönen hindurchzudringen. Das Ideal entwickelten<br />
wir erstens selbst wieder seinem allgemeinen Begriff nach, der uns<br />
zweitens jedoch auf die bestimmte Darstellungsweise desselben führte.<br />
Indem nun aber das Kunstwerk aus dem Geiste entspringt, so<br />
bedarf es einer produzierenden subjektiven Tätigkeit, aus welcher es<br />
hervorgeht und als Produkt derselben für anderes, für die Anschauung<br />
und die Empfindung des Publikums ist. Diese Tätigkeit ist die<br />
Phantasie des Künstlers. Wir haben deshalb als dritte Seite des Ideals<br />
jetzt zum Schluß noch zu besprechen, wie das Kunstwerk dem<br />
subjektiven Inneren angehört, als dessen Erzeugnis es noch nicht zur<br />
Wirklichkeit herausgeboren ist, sondern sich erst in der schöpferischere<br />
Subjektivität, im Genie und Talent des Künstlers gestaltet.<br />
Doch brauchen wir eigentlich eher dieser Seite nur deshalb zu erwähnen,<br />
um von ihr zu sagen, daß sie aus dem Kreise philosophischer<br />
Betrachtung auszuschließen sei oder doch nur wenige allgemeine<br />
Bestimmungen liefere, obschon es eine häufig aufgeworfene<br />
Frage ist, wo denn der Künstler diese Gabe und Fähigkeit der Konzeption<br />
und Ausführung hernehme, wie er das Kunstwerk mache.<br />
Man möchte gleichsam ein Rezept, eine Vorschrift dafür haben, wie<br />
man es anstellen, in welche Umstände und Zustände man sich versetzen<br />
müsse, um Ähnliches hervorzubringen. So befragte der<br />
/363/<br />
Kardinal von Este Ariosto über seinen Rasenden Roland: »Meister<br />
Ludwig, wo habt ihr all das verdammte Zeug her?« Raffael, ähnlich<br />
befragt, antwortete in einem bekannten Briefe, er strebe einer gewissen<br />
Idea nach.<br />
Die näheren Beziehungen können wir nach drei Gesichtspunkten<br />
betrachten, indem wir<br />
erstens den Begriff des künstlerischen Genies und der Begeisterung<br />
feststellen,<br />
zweitens von der Objektivität dieser schaffenden Tätigkeit sprechen<br />
und<br />
drittens den Charakter der wahren Originalität zu ermitteln suchen.<br />
57
1. Phantasie, Genie und Begeisterung<br />
Bei der Frage nach dem Genie handelt es sich sogleich um eine nähere<br />
Bestimmung desselben; denn Genie ist ein ganz allgemeiner<br />
Ausdruck, welcher nicht nur in betreff auf Künstler, sondern ebensosehr<br />
von großen Feldherren und Königen als auch von den Heroen<br />
der Wissenschaft gebraucht wird. Wir können aυch hier wieder drei<br />
Seiten bestimmter unterscheiden.<br />
a. Die Phantasie<br />
Was erstens das allgemeine Vermögen zur künstlerischen Produktion<br />
angeht, so ist, wenn einmal von Vermögen soll geredet werden, die<br />
Phantasie als diese hervorstechend künstlerische Fähigkeit zu bezeichnen.<br />
Dann muß man sich jedoch sogleich hüten, die Phantasie<br />
mit der bloß passiven Einbuldungskraft zu verwechseln. Die Phantasie<br />
ist schaffend.<br />
α) Zu dieser schöpferischen Tätigkeit gehört nun zunächst die Gabe<br />
und der Sinn für das Auffassen der Wirklichkeit und ihrer Gestalten,<br />
welche durch das aufmerksame Hören und Sehen die mannigfaltigsten<br />
Bilder des Vorhandenen dem Geiste einprägen, sowie das aufbewahrende<br />
Gedächtnis für die bunte Welt dieser vielgestaltigen Bilder.<br />
Der Künstler<br />
/364/<br />
ist deshalb von dieser Seite her nicht an selbstgemachte Einbildungen<br />
verwiesen, sondern von dem flachen sogenannten Idealen<br />
ab hat er an die Wirklichkeit heranzutreten. Ein idealischer Anfang in<br />
der Kunst und Poesie ist immer sehr verdächtig, denn der Künstler<br />
hat aus der Überfülle des Lebens und nickt aus der Überfülle abstrakter<br />
Allgemeinheit zu schöpfen, indem in der Kunst nicht wie in der<br />
Philosophie der Gedanke, sondern die wirkliche äußere Gestaltung<br />
das Element der Produktion abgibt. In diesem Element muß sich daher<br />
der Künstler befinden und heimisch werden . Er muß viel gesehen,<br />
viel gehört und viel in sich aufbewahrt haben, wie überhaupt die<br />
großen Individuen sich fast immer durch ein großes Gedächtnis auszuzeichnen<br />
pflegen. Denn was den Menschen interessiert, das behält<br />
er, und ein tiefer Geist breitet das Feld seiner Interessen über unzählige<br />
Gegenstände aus. Goethe z. B. hat in solcher Weise angefangen<br />
und den Kreis seiner Anschauungen sein ganzes Leben hindurch<br />
mehr und mehr erweitert. Diese Gabe und dieses Interesse einer<br />
bestimmten Auffassung des Wirklichen in seiner realen Gestalt sowie<br />
das Festhalten des Erschauten also ist das nächste Erfordernis. Mit<br />
der genauen Bekanntschaft der Außengestalt ist nun umgekehrt<br />
ebensosehr die gleiche Vertrautheit mit dem Innern des Menschen,<br />
mit den Leidenschaften des Gemüts und allen Zwecken der menschli<br />
chen Brust, zu verbinden, und zu dieser doppelten Kenntnis muß sich<br />
die Bekanntschaft mit der Art und Weise fügen, wie das Innere des<br />
Geistes sich ín der Realität ausdrückt und durch deren Äußerlichkeit<br />
58
hindurchscheint.<br />
β) Zweitens aber bleibt die Phantasie nicht bei diesem bloßen Aufnehmen<br />
der äußeren und inneren Wirklichkeit stehen, denn zum<br />
idealen Kunstwerk gehört nicht nur das Erscheinen des inneren Geistes<br />
in der Realität äußerer Gestalten, sondern die an und für sich<br />
seiende Wahrheit und Vernünftigkeit des Wirklichen ist es, welche zur<br />
äußeren Erscheinung gelangen soll. Diese Vernünftigkeit seines bestimmten<br />
Gegenstandes, den er erwählt hat, muß nicht nur<br />
/365/<br />
in dem Bewußtsein des Künstlers gegenwärtig sein und ihn bewegen,<br />
sondern er muß das Wesentliche und Wahrhaftige seinem ganzen<br />
Umfang und seiner ganzen Tiefe nach durch-sonnen haben. Denn<br />
ohne Nachdenken bringt der Mensch sich das, was in ihm ist, nicht<br />
zum Bewußtsein, und so merkt man es auch jedem großen Kunstwerk<br />
an, daß der Stoff nach allen Richtungen hin lange und tief erwogen<br />
und durchdacht ist. Aus der Leichtfertigkeit der Phantasie geht<br />
kein gediegenes Werk hervor. Damit soll jedoch nicht gesagt sein,<br />
daß der Künstler das Wahrhaftige aller Dinge, welches wie in der<br />
Religion, so auch in der Philosophie und Kunst die allgemeine Grundlage<br />
ausmacht, in Form philosophischer Gedanken ergreifen müsse.<br />
Philosophie ist ihm nicht notwendig, und denkt er in philosophischer<br />
Weise, so treibt er damit ein der Kunst in betreff auf die Form des<br />
Wissens gerade entgegengesetztes Geschäft. Denn die Aufgabe der<br />
Phantasie besteht allein darin, sich von jener inneren Vernünftigkeit<br />
nicht in Form allgemeiner Sätze und Vorstellungen, sondern in konkreter<br />
Gestalt und individueller Wirklichkeit ein Bewußtsein zu geben.<br />
Was daher in ihm lebt und gärt, muß der Künstler sich in den Formen<br />
und Erscheinungen, deren Bild und Gestalt er in sich aufgenommen<br />
hat, darstellen, indem er sie zu seinem Zwecke insoweit zu bewältigen<br />
weiß, daß sie das in sich selbst Wahrhaftige nun auch ihrerseits<br />
aufzunehmen und vollständig auszudrücken befähigt werden. — Bei<br />
dieser Ineinanderarbeitung des vernünftigen Inhalts und der realen<br />
Gestalt hat sich der Künstler einerseits die wache Besonnenheit des<br />
Verstandes, andererseits die Tiefe des Gemüts und der beseelenden<br />
Empfindung zu Hilfe zu nehmen. Es ist deshalb eine Abgeschmacktheit,<br />
zu meinen, Gedichte wie die Homerischen seien dem Dichter im<br />
Schlafe gekommen. Ohne Besonnenheit, Sonderung, Unterscheidung<br />
vermag der Künstler keinen Gehalt, den er gestalten soll, zu<br />
beherrschen, und es ist töricht, zu glauben, der echte Künstler wisse<br />
nicht, was er tut. Ebenso nötig ist ihm die Konzentration des Gemüts.<br />
/366/<br />
.γ) Durch diese Empfindung nämlich, die das Ganze durch-dringt und<br />
beseelt, hat der Künstler seinen Stoff und dessen Gestaltung als sein<br />
eigenstes Selbst, als innerstes Eigentum seiner als Subjekt. Denn<br />
das bildliche Veranschaulichen entfremdet jeden Gehalt zur Äußerlichkeit,<br />
und die Empfindung erst hält ihn in subjektiver Einheit mit<br />
59
dem inneren Selbst. Nach dieser Seite hin muß der Künstler sich<br />
nicht nur viel in der Welt umgesehen und mit ihren äußeren und inneren<br />
Erscheinungen bekannt gemacht haben, sondern es muß auch<br />
vieles und Großes durch seine eigene Brust gezogen, sein Herz muß<br />
schon tief ergriffen und bewegt worden sein, er muß viel durchgemacht<br />
und durchgelebt haben, ehe er die echten Tiefen des Lebens<br />
zu konkreten Erscheinungen herauszubilden imstande ist. Deshalb<br />
braust wohl in der Jugend der Genius auf, wie dies bei Goethe und<br />
Schiller z. B. der Fall war, aber das Mannes- und Greisenalter erst<br />
kann die echte Reife des Kunstwerks zur Vollendung bringen.<br />
b. Das Talent und Genie<br />
Diese produktive Tätigkeit nun der Phantasie, durch welche der<br />
Künstler das an und für sich Vernünftige in sich selbst als sein eigenstes<br />
Werk zur realen Gestalt herausarbeitet, ist es, die Genie, Talent<br />
usf. genannt wird.<br />
α) Welche Seiten zum Genie gehören, haben wir daher soeben bereits<br />
betrachtet. Das Genie ist die allgemeine Fähigkeit zur wahren<br />
Produktion des Kunstwerks sowie die Energie der Ausbildung und<br />
Betätigung derselben. Ebensosehr aber ist diese Befähigung und<br />
Energie zugleich nur als subjektive, denn geistig produzieren kann<br />
nur ein selbstbewußtes Subjekt, das sich ein solches Hervorbringen<br />
zum Zwecke setzt. Näher jedoch pflegt man noch einen bestimmten<br />
Unterschied zwischen Genius und Talent zu machen. Und in der Tat<br />
sind beide auch nicht unmittelbar identisch, obschon ihre Identität<br />
zum vollkommenen künstlerischen Schaffen notwendig ist. Die Kunst<br />
nämlich, insofern sie überhaupt individualisiert und zur realen Erscheinung<br />
ihrer Produkte<br />
/367/<br />
herauszutreten hat, fordert nun auch zu den besonderen Arten dieser<br />
Verwirklichung unterschiedene besondere Fähigkeiten. Eine solche<br />
kann man als Talent bezeichnen, wie der eine z. B. ein Talent zum<br />
vollendeten Violinspiel hat, der andere zum Gesang usf. Ein bloßes<br />
Talent aber kann es nur in einer so ganz vereinzelten Seite der Kunst<br />
zu etwas Tüchtigem bringen und fordert, um in sich selber vollendet<br />
zu sein, dennoch immer wieder die allgemeine Kunstbefähigung und<br />
Beseelung, welche der Genius allein verleiht. Talent ohne Genie daher<br />
kommt nicht weit über die äußere Fertigkeit hinaus.<br />
β) Talent und Genie nun ferner, heißt es gewöhnlich, müßten dem<br />
Menschen angeboren sein. Auch hierin liegt eine Seite, mit der es<br />
seine Richtigkeit hat, obschon sie in anderer Beziehung ebensosehr<br />
wieder falsch ist. Denn der Mensch als Mensch ist auch zur Religion<br />
z. B., zum Denken, zur Wissenschaft geboren, d. h. er hat als<br />
Mensch die Fähigkeit, ein Bewußtsein von Gott zu erhalten und zur<br />
denkenden Erkenntnis zu kommen. Es braucht dazu nichts als der<br />
Geburt überhaupt und der Erziehung, Bildung, des Fleißes. Mit der<br />
Kunst verhält es sich anders; sie fordert eine spezifische Anlage, in<br />
welche auch ein natürliches Moment als wesentlich hineinspielt. Wie<br />
60
die Schönheit selber die im Sinnlichen und Wirklichen realisierte Idee<br />
ist und das Kunstwerk das Geistige zur Unmittelbarkeit des Daseins<br />
für Auge und Ohr herausstellt, so muß auch der Künstler nicht in der<br />
ausschließlich geistigen Form des Denkens, sondern innerhalb der<br />
Anschauung und Empfindung und näher in bezug auf ein sinnliches<br />
Material und im Elemente desselben gestalten. Dies künstlerische<br />
Schaffen schließt deshalb, wie die Kunst überhaupt, die Seite der<br />
Unmittelbarkeit und Natürlichkeit in sich, und diese Seite ist es, welche<br />
das Subjekt nicht in sich selbst hervorbringen kann, sondern als<br />
unmittelbar gegeben in sich vorfinden muß. Dies allein ist die Bedeutung,<br />
in welcher man sagen kann, das Genie und Talent müsse angeboren<br />
sein.<br />
/368/<br />
ln ähnlicher Art sind auch die verschiedenen Künste mehr oder weniger<br />
nationell und stehen mit der Naturseite eines Volks im Zusammenhange.<br />
Die Italiener z. B. haben Gesang und Melodie fast von<br />
Natur, bei den nordische n Völkern dagegen ist die Musik und Oper,<br />
obgleich sie die Ausbildung derselben sich mit großem Erfolg haben<br />
angelegentlich sein lassen, ebensowenig als die Orangenbäume vollständig<br />
einheimisch geworden. Den Griechen ist die schönste Ausgestaltung<br />
der epischen Dichtkunst und vor allem die Vollendung der<br />
Skulptur eigen, wogegen die Römer keine eigentlich selbständige<br />
Kunst besaßen, sondern sie erst von Griechenland her in ihren Boden<br />
verpflanzen mußten. Am allgemeinsten verbreitet ist daher überhaupt<br />
die Poesie, weil in ihr das sinnliche Material und dessen Formierung<br />
die wenigsten Anforderungen macht. Innerhalb der Poesie<br />
ist wiederum das Volkslied am meisten nationell und an Seiten der<br />
Natürlichkeit geknüpft, weshalb das Volkslied auch den Zeiten geringer<br />
geistiger Ausbildung angehört und am meisten die Unbefangenheit<br />
des Natürlichen bewahrt. Goethe hat in allen Formen und Gattungen<br />
der Poesie Kunstwerke produziert, das Innigste aber und Unabsichtlichste<br />
sind seine ersten Lieder. Zu ihnen gehört die geringste<br />
Kultur. Die Neugriechen z. B. sind ηοch jetzt ein dichtendes, singendes<br />
Volk. Was heut oder gestern Tapferes geschehen, ein Todesfall,<br />
die besonderen Umstände desselben, ein Begräbnis, jedes Abenteuer,<br />
eine einzelne Unterdrückung von seiten der Türken — alles und<br />
jedes wird bei ihnen sogleich zum Liede, und man hat viele Beispiele,<br />
daß oft an dem Tage einer Schlacht schon Lieder auf den neuerrungenen<br />
Sieg gesungen wurden. Fauriel 18 hat eine Sammlung neugriechischer<br />
Lieder herausgegeben, zum Teil aus dem Munde der Frauen,<br />
Ammen und Kindermädchen, die sich nicht genug verwundern<br />
konnten, daß er über ihre Lieder erstaunte. — In dieser Weise hängt<br />
die Kunst und ihre bestimmte Produktionsart mit der<br />
/369/<br />
18 Claude Charles Fauriel, 1772-1844, französischer Philologe<br />
61
estimmten Nationalität der Völker zusammen. So sind die Improvisatoren<br />
hauptsächlich in Italien einheimisch und von bewunderungswürdigem<br />
Talent. Ein Italiener improvisiert noch heute fünfaktige<br />
Dramen, und dabei ist nichts Auswendiggelerntes, sondern alles entspringt<br />
aus der Kenntnis menschlicher Leidenschaften und Situationen<br />
und aus tiefer gegenwärtiger Begeisterung. Ein armer Improvisator,<br />
als er eine geraume Zeit gedichtet hatte und endlich um-herging,<br />
um von den Umstehenden in einen schlechten Hut Geld einzusammeln,<br />
war noch so in Eifer und Feuer, daß er zu deklamieren nicht<br />
aufhören konnte und mit den Armen und Händen so lange fortgestikulierte<br />
und schwenkte, bis am Ende all sein zusammengebetteltes<br />
Geld verschüttet war.<br />
y) Zum Genie nun drittens gehört, weil es diese Seite der Natürlichkeit<br />
in sich faßt, auch die Leichtigkeit der inneren Produktion und der<br />
äußeren technischen Geschicklichkeit in Ansehung bestimmter Künste.<br />
Man spricht in dieser Beziehung z. B. bei einem Dichter viel von<br />
der Fessel des Versmaßes und Reims oder bei einem Maler von den<br />
mannigfaltigen Schwierigkeiten, welche Zeichnung, Farbenkenntnis,<br />
Schatten und Licht der Erfindung und Ausführung in den Weg legten.<br />
Allerdings gehört zu allen Künsten ein weitläufiges Studium, ein anhaltender<br />
Fleiß, eine vielfach ausgebildete Fertigkeit; je größer jedoch<br />
und reichhaltiger das Talent und Genie ist, desto weniger weiß<br />
es von einer Mühseligkeit im Erwerben der für die Produktion notwendigen<br />
Geschicklichkeiten. Denn der echte Künstler hat den natürlichen<br />
Trieb und das unmittelbare Bedürfnis, alles, was er in seiner<br />
Empfindung und Vorstellung hat, sogleich zu gestalten. Diese Gestaltungsweise<br />
ist seine Art der Empfindung und Anschauung, welche er<br />
mühelos als das eigentliche ihm angemessene Organ in sich findet.<br />
Ein Musiker z. B. kann das Tiefste, was sich in ihm regt und bewegt,<br />
nur in Melodien kundgeben, und was er empfindet, wird ihm unmittelbar<br />
zur Melodie, wie es dem Maler zu Gestalt und Farbe und<br />
/370/<br />
dem Dichter zur Poesie der Vorstellung wird, die ihre Gebilde in wohllautende<br />
Worte kleidet. Und diese Gestaltungsgabe besitzt er nicht<br />
nur als theoretische Vorstellung, Einbildungskraft und Empfindung,<br />
sondern ebenso unmittelbar auch als praktische Empfindung, d. h.<br />
als Gabe wirklicher Ausführung. Beides ist im echten Künstler verbunden.<br />
Was in seiner Phantasie lebt, kommt ihm dadurch gleichsam<br />
in die Finger, wie es uns in den Mund kommt, herauszusagen, was<br />
wir denken, oder wie unsere innersten Gedanken, Vorstellungen und<br />
Empfindungen unmittelbar an uns selber in Stellung- und Gebärden<br />
erscheinen. Der echte Genius ist seit jeher mit den Außenseiten der<br />
technischen Ausführung leicht zustande gekommen und hat auch<br />
selbst das ärmste und scheinbar ungefügigste Material so weit bezwungen,<br />
daß es die inneren Gestalten der Phantasie in sich aufzunehmen<br />
und dar zustellen genötigt wurde. Was in dieser Weise unmittelbar<br />
in ihm liegt, muß der Künstler zwar zur vollständigen Fertigkeit<br />
durchüben, die Möglichkeit unmittelbarer Ausführung jedoch muß<br />
ebensosehr als Naturgabe in ihm sein; sonst bringt es die bloß eingelernte<br />
Fertigkeit nie zu einem lebendigen Kunstwerk. Beide Seiten,<br />
62
die innere Produktion und deren Realisierung, gehen dem Begriff der<br />
Kunst gemäß durchweg Hand in Hand.<br />
c. Die Begeisterung<br />
Die Tätigkeit der Phantasie und technischen Ausführung nun, als<br />
Zustand im Künstler für sieh betrachtet , ist das, was man drittens<br />
Begeisterung zu nennen gewohnt ist.<br />
α) In betreff auf sie fragt es sich zunächst nach der Art ihrer Entstehung,<br />
rücksichtlich welcher die verschiedenartigsten Vorstellungen<br />
verbreitet sind.<br />
αα) Insofern das Genie überhaupt im engsten Zusammenhange des<br />
Geistigen und Natürlichen steht, hat man geglaubt, daß die Begeisterung<br />
vornehmlich durch sinnliche Anregung könne zuwege gebracht<br />
werden. Aber die Wärme des Bluts macht's nicht allein, Champagner<br />
gibt noch keine<br />
/371/<br />
Poesie; wie Marmontel z. B. erzählt, er habe in der Champagne in<br />
einem Keller bei sechstausend Flaschen vor sich gehabt, und es sei<br />
ihm doch nichts Poetisches zugeflossen. Ebenso kann sich das beste<br />
Genie oft genug morgens und abends beim frischen Wehen der Lüfte<br />
ins grüne Gras legen und in den Himmel sehen und wird doch von<br />
keiner sanften Begeisterung angehaucht werden.<br />
ββ) Umgekehrt läßt sich die Begeisterung ebensowenig durch die<br />
bloß geistige Absicht zur Produktion hervorrufen. Wer sich bloß vornimmt,<br />
begeistert zu sein, um ein Gedicht zu machen oder ein Bild zu<br />
malen und eine Melodie zu erfinden, ohne irgendeinen Gehalt schon<br />
zu lebendiger Anregung in sich zu tragen, und nun erst hier und dort<br />
nach einem Stoffe umhersuchen muß, der wird aus dieser bloßen<br />
Absicht heraus, alles Talentes unerachtet, noch keine schöne Konzeption<br />
zu fassen oder ein gediegenes Kunstwerk hervorzubringen<br />
imstande sein. Weder jene nur sinnliche Anregung noch der bloße<br />
Wille und Entschluß verschafft echte Begeisterung, und solche Mittel<br />
anzuwenden beweist nur, daß das Gemüt und die Phantasie noch<br />
kein wahrhaftes Interesse in sich gefaßt haben. Ist dagegen der<br />
künstlerische Trieb rechter Art, so hat sich dies Interesse schon im<br />
voraus auf einen bestimmten Gegenstand und Gehalt geworfen und<br />
ihn festgehalten.<br />
γγ) Die wahre Begeisterung deshalb entzündet sich an irgendeinem<br />
bestimmten Inhalt, den die Phantasie, um ihn künstlerisch auszudrücken,<br />
ergreift, und ist der Zustand dieses tätigen Ausgestalten<br />
selbst – sowohl im subjektiven Innern als auch in der objektiven Ausführung<br />
des Kunstwerks; denn für diese gedoppelte Tätigkeit ist Begeisterung<br />
notwendig. Da läßt sich nun wieder die Frage aufwerfen,<br />
in welcher Weise solch ein Stoff an den Künstler kommen müsse.<br />
Auch in dieser Beziehung gibt es mehrfache Ansichten. Wie oft hört<br />
man nicht die Forderung aufstellen, der Künstler habe seinen Stoff<br />
nur aus sich selber zu schöpfen. Allerdings kann dies der Fall sein,<br />
63
wenn z. B. der Dichter »wie<br />
/372/<br />
der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet«. Der eigene Frohsinn ist<br />
dann der Anlaß, der auch zugleich aus dem Innern heraus sich selbst<br />
als Stoff und Inhalt darbieten kann, indem er zum künstlerischen Genuß<br />
der eigenen Heiterkeit treibt. Dann ist auch »das Lied, das aus<br />
der Kehle dringt, ein Lohn, der reichlich lohnet«. Auf der anderen Seite<br />
jedoch sind oft die größten Kunstwerke auf eine ganz äußerliche<br />
Veranlassung geschaffen worden. Die Preisgesänge Pindars z. B.<br />
sind häufig aus Aufträgen entstanden, ebenso ist den Künstlern für<br />
Gebäude und Gemälde der Zweck und Gegenstand unzähligemal<br />
aufgegeben worden, und sie haben sich doch dafür zu begeistern<br />
vermocht. Ja, es ist sogar eine vielfach zu vernehmende Klage der<br />
Künstler, daß es ihnen an Stoffen fehle, die sie bearbeiten könnten.<br />
Eine solche Äußerlichkeit und deren Anstoß zur Produktion ist hier<br />
das Moment der Natürlichkeit und Unmittelbarkeit, welche zum Begriff<br />
des Talents gehört und sich in Rücksicht auf den Beginn der Begeisterung<br />
daher gleichfalls hervorzutun hat . Die Stellung des Künstlers<br />
ist nach dieser Seite hin von der Art, daß er eben als natürliches<br />
Talent in Verhältnis zu einem vorgefundenen gegebenen Stoffe tritt,<br />
indem er sich durch einen äußeren Anlaß, durch ein Begebnis, oder<br />
wie Shakespeare z. B. durch Sagen, alte Balladen, Novellen, Chroniken<br />
in sich aufgefordert findet, diesen Stoff zu gestalten und sich<br />
überhaupt darauf zu äußern. Die Veranlassung also zur Produktion<br />
kann ganz von außen kommen, und das einzig wichtige Erfordernis<br />
ist nur, daß der Künstler ein wesentliches Interesse fasse und den<br />
Gegenstand in sich lebendig werden lasse. Dann kommt die Begeisterung<br />
des Genies von .selbst. Und ein echt lebendiger Künstler<br />
findet eben durch diese Lebendigkeit tausend Veranlassungen zur<br />
Tätigkeit und Begeisterung — Veranlassungen, an welchen andere,<br />
ohne davon berührt zu werden, vorübergehen.<br />
β) Fragen wir weiter, worin die künstlerische Begeisterung bestehe,<br />
so ist sie nichts anderes, als von der Sache ganz er-<br />
/373/<br />
füllt zu werden, ganz in der Sache gegenwärtig zu sein und nicht eher<br />
zu ruhen, als bis die Kunstgestalt ausgeprägt und in sich abgerundet<br />
ist.<br />
γ) Wenn nun aber der Künstler in dieser Weise den Gegenstand ganz<br />
zu dem seinigen hat werden lassen, muß er umgekehrt seine subjektive<br />
Besonderheit und deren zufällige Partikularitäten zu vergessen<br />
wissen und sich seinerseits ganz in den Stoff versenken, so daß er<br />
als Subjekt nur gleichsam die Form ist für das Formieren des Inhaltes,<br />
der ihn ergriffen hat. Eine Begeisterung, in welcher sich das Subjekt<br />
als Subjekt aufspreizt und geltend macht, statt das Organ und die<br />
64
lebendige Tätigkeit der Sache selber zu sein, ist eine schlechte Begeisterung.<br />
— Dieser Punkt führt uns zu der sogenannten Objektivität<br />
künstlerischer Hervorbringungen hinüber.<br />
2. Die Objektivität der Darstellung<br />
a) Im gewöhnlichen Sinne des Wortes wird die Objektivität so verstanden,<br />
daß im Kunstwerk jeder Inhalt die Form der sonst schon<br />
vorhandenen Wirklichkeit annehmen und uns in dieser bekannten<br />
Außengestalt entgegentreten müsse. Wollten wir uns mit solch einer<br />
Objektivität begnügen, so könnten wir auch Kotzebue einen objektiven<br />
Dichter nennen. Bei ihm finden wir die gemeine Wirklichkeit<br />
durchweg wieder. Der Zweck der Kunst aber ist es gerade, sowohl<br />
den Inhalt als die Erscheinungsweise des Alltäglichen abzustreifen<br />
und nur das an und für sich Vernünftige zu dessen wahrhafter Außengestalt<br />
durch geistige Tätigkeit aus dem Innern herauszuarbeiten.<br />
— Auf die bloß äußerliche Objektivität daher, der die<br />
volle Substanz des Inhalts abgeht, hat der Künstler nicht loszugehen.<br />
Denn die Auffassung des sonst schon Vorhandenen kann weiter hinauf<br />
zwar in sich selbst von höchster Lebendigkeit sein und, wie wir<br />
schon früher an einigen Beispielen aus Goethes Jugendwerken sahen,<br />
durch ihre innere Beseelung eine große Anziehung ausüben;<br />
wenn<br />
/374/<br />
ihr aber ein echter Gehalt abgeht, so bringt sie es dennoch nicht zur<br />
wahren Schönheit der Kunst.<br />
b) Eine zweite Art macht sich deshalb das Äußerliche als solches<br />
nicht zum Zweck, sondern der Künstler hat seinen Gegenstand mit<br />
tiefer Innerlichkeit des Gemüts ergriffen. Dies Innere aber bleibt so<br />
sehr verschlossen und konzentriert, daß es sich nicht zur bewußten<br />
Klarheit hervorringen und zur wahren Entfaltung kommen kann. Die<br />
Beredsamkeit des Pathos beschränkt sich darauf, sich durch äußerliche<br />
Erscheinungen, an welche es anklingt, ahnungsreich anzudeuten,<br />
ohne die Kraft und Bildung zu haben, die volle Natur des Inhalts<br />
explizieren zu können. Volkslieder besonders gehören dieser<br />
Weise der Darstellung an. Äußerlich einfach, deuten sie auf ein weiteres,<br />
tiefes Gefühl hin, das ihnen zugrunde liegt, doch sich nicht<br />
deutlich auszusprechen vermag, indem die Kunst hier selbst noch<br />
nicht zu der Bildung gekommen ist, ihren Gehalt in offener Durchsichtigkeit<br />
zutage zu bringen, und sich damit begnügen muß, denselben<br />
durch Äußerlichkeiten für die Ahnung des Gemüts erratbar zu machen.<br />
Das Herz bleibt in sich gedrungen und gepreßt und spiegelt<br />
sich, um dem Herzen verständlich zu sein, nur an ganz endlichen<br />
äußeren Umständen und Erscheinungen ab, die allerdings sprechend<br />
sind, wenn ihnen auch nur eine ganz leise Wendung auf das Gemüt<br />
und die Empfindung hin gegeben wird. Auch Goethe hat in solcher<br />
Weise höchst vortreffliche Lieder geliefert. »Schäfers Klagelied« z. B.<br />
ist eins der schönsten dieser Art. Das von Schmerz und Sehnsucht<br />
gebrochene Gemüt gibt sich in lauter äußerlichen Zügen stumm und<br />
verschlossen kund, und dennoch klingt die konzentrierteste Tiefe der<br />
Empfindung unausgesprochen hiηdurch. Im »Erlkönig« und so vielen<br />
65
anderen herrscht derselbe Ton. Dieser Ton jedoch kann auch bis zur<br />
Barbarei der Stumpfheit herunterkommen, die das Wesen. der Sache<br />
und Situation sich nicht zum Bewußtsein gelangen läßt und sich nur<br />
an teils rohe, teils abgeschmackte Äußerlichkeiten hält. Wie es z. B.<br />
in dem Tambours-Gesellen aus Des Knaben<br />
/375/<br />
Wunderhorn heißt: »O Galgen, du hohes Haus!« oder: »Adje, Herr<br />
Korporal«, was denn als höchst rührend ist gepriesen worden. Wenn<br />
dagegen Goethe singt [»Blumengruß«]:<br />
Der Strauß, den ich gepflücket,<br />
Grüße dich vieltausendmal!<br />
Ich habe mich oft gebücket,<br />
Ach, wohl eintausendmal,<br />
Und ihn ans Herz gedrücket<br />
Wie hunderttausendmal! –<br />
so ist hier die Innigkeit in einer ganz anderen Weise angedeutet, die<br />
nichts Triviales und in sich selbst Widriges vor unsere Anschauung<br />
stellt. Was aber überhaupt dieser ganzen Art der Objektivität abgeht,<br />
ist das wirkliche, klare Heraustreten der Empfindung und Leidenschaft,<br />
welche in der echten Kunst nicht jene verschlossene Tiefe<br />
bleiben darf, die nur leise anklingend sich durch das Äußere hindurchzieht,<br />
sondern sich vollständig entweder für sich herauskehren<br />
oder das Äußere, in welches sie sich hineinlegt, hell und ganz durchscheinen<br />
muß. Schiller z. B. ist bei seinem Pathos mit der ganzen<br />
Seele dabei, aber mit einer großen Seele, welche sich in das Wesen<br />
der Sache einlebt und deren Tiefen zugleich aufs freieste und glänzendste<br />
in der Fülle des Reichtums und Wohlklanges auszusprechen<br />
vermag.<br />
c) In dieser Beziehung können wir, dem Begriff des Ideals gemäß,<br />
auch hier von seiten der subjektiven Äußerung die wahre Objektivität<br />
dahin feststellen, daß von dem echten Gehalt; der den Künstler begeistert,<br />
nichts in dem subjektiven Inneren zurückbehalten, sondern<br />
alles vollständig, und zwar in einer Weise entfaltet werden muß, in<br />
welcher die allgemeine Seele und Substanz des erwählten Gegenstandes<br />
ebensosehr hervorgehoben als die individuelle Gestaltung<br />
desselben in sich vollendet abgerundet und der ganzen Darstellung<br />
nach von jener Seele und Substanz durchdrungen erscheint. Denn<br />
das Höchste und Vortrefflichste ist nicht etwa das Unaussprechbare,<br />
so daß der Dichter in sich noch von größerer Tiefe wäre, als das<br />
Werk dartut, sondern seine<br />
/376/<br />
Werke sind das Beste des Künstlers und das Wahre; was er ist, das<br />
66
ist er, was aber nur im Innern bleibt, da s ist er nicht.<br />
3. Manier, Stil und Originalität<br />
Wie sehr nun aber vom Künstler eine Objektivität in dem soeben angedeuteten<br />
Sinne muß gefordert werden, so ist die Darstellung dennoch<br />
das Werk seiner Begeisterung. Denn er hat sich als Subjekt<br />
ganz mit dem Gegenstande zusammengeschlossen und die Kunstverkörperung<br />
aus der inneren Lebendigkeit seines Gemüts und seiner<br />
Phantasie heraus geschaffen. Diese Identität der Subjektivität<br />
des Künstlers und der wahren Objektivität der Darstellung ist die dritte<br />
Hauptseite, die wir noch kurz betrachten müssen, insofern sich in<br />
ihr das vereinigt zeigt, was wir bisher als Ge nie und Objektivität ge<br />
sondert haben. Wir können diese Einheit als den Begriff der echten<br />
Originalität bezeichnen.<br />
Ehe wir jedoch bis zur Feststellung dessen vordringen, was dieser<br />
Begriff in sich enthält, haben wir noch zwei Punkte ins Auge zu fassen,<br />
deren Einseitigkeit aufzuheben ist, wenn die wahre Originalität<br />
soll hervortreten können. Dies ist die subjektive Manier und der Stil.<br />
a. Die subjektive Manier<br />
Die bloße Manier muß wesentlich von der Originalität unterschieden<br />
werden. Denn die Manier betrifft :nur die partikulären und dadurch<br />
zufälligen Eigentümlichkeiten des Künstlers, die statt der Sache<br />
selbst und deren idealer Darstellung in der Produktion des Kunstwerks<br />
hervortreten und sich geltend machen.<br />
α) Manier in diesem Sinne betrifft dann nicht die allgemeinen Arten<br />
der Kunst, welche an und für sich eine unterschiedene Darstellungsweise<br />
erfordern, wie z. B. der Landschaftsmaler die Gegenstände<br />
anders aufzufassen hat als der historische Maler, der epische Dichter<br />
anders als der lyrische<br />
/377/<br />
oder dramatische, — sondern Manier ist eine nur diesem Subjekt<br />
angehörige Konzeption und zufällige Eigentümlichkeit der Ausführung,<br />
welche sogar bis dahin fortgehen kann, mit dem wahren Begriff<br />
des Ideals in direkten Widerspruch zu geraten. Von dieser Seite her<br />
betrachtet, ist die Manier das Schlechteste, dem sich der Künstler<br />
hingeben kann, indem er sich nur in seiner beschränkten Subjektivität<br />
als solcher gehenläßt. Die Kunst aber hebt überhaupt die bloße Zufälligkeit<br />
des Gehalts sowohl als der äußeren Erscheinung auf und<br />
macht daher auch an den Künstler die Forderung, daß er die zufälligen<br />
Partikularitäten seiner subjektiven Eigentümlichkeit in sich austilge.<br />
β) Deshalb stellt sich denn auch zweitens die Manier nicht etwa der<br />
wahren Kunstdarstellung direkt entgegen, sondern behält sich mehr<br />
nur die äußeren Seiten als Spielraum vor. Am meisten gewinnt sie in<br />
der Malerei und Musik ihren Platz, weil diese Künste für die Auffas-<br />
67
sung und Ausführung die größte Breite äußerlicher Seiten darbieten.<br />
Eine eigentümliche, dem besonderen Künstler und dessen Nachfolgern<br />
und Schülern angehörige und durch häufige Wiederholung bis<br />
zur Gewohnheit ausgebildete Darstellungsweise macht hier die Manier<br />
aus, welche sich nach zwei Seiten hin zu er-gehen die Gelegenheit<br />
hat.<br />
αα) Die erste Seite betrifft die Auffassung. Der Ton der Luft z. B., der<br />
Baumschlag, die Verteilung des Lichts und Schattens, der ganze Ton<br />
der Färbung überhaupt läßt in der Malerei eine unendliche Mannigfaltigkeit<br />
zu. Besonders in der Art der Färbung und Beleuchtung finden<br />
wir deshalb auch bei den Malern die größte Verschiedenheit und eigentümlichste<br />
Auffassungsweise. Dies kann etwa auch ein Farbton<br />
sein, den wir im allgemeinen in der Natur nicht wahrnehmen, weil wir<br />
unsere Aufmerksamkeit, obschon er vorkommt, nicht darauf gerichtet<br />
haben. Diesem oder jenem Künstler aber ist er aufgefallen, er hat ihn<br />
sich angeeignet und ist nun alles in dieser Art der Färbung und Beleuchtung<br />
zu sehen und wiederzugeben gewohnt geworden. Wie mit<br />
der Fär-<br />
/378/<br />
bung kann es ihm dann auch mit den Gegenständen selber, ihrer<br />
Gruppierung, Stellung, Bewegung gehen. Bei de n Niederländern<br />
hauptsächlich treffen wir diese Seite der Manier häufig an; van der<br />
Neers Nachtstücke z. B. und sei ne Behandlung des Mondlichts, van<br />
der Goyens Sandhügel in so vielen seiner Landschaften, der immer<br />
wiederkehrende Glanz des Atlas und anderer Seidenstoffe auf so<br />
vielen Bildern anderer Meister gehören in diese Kategorie.<br />
ββ) Weiter sodann erstreckt die Manier sich auf die Exekution, auf die<br />
Führung des Pinsels, den Auftrag, die Verschmelzung der Farben<br />
usw.<br />
yy) Indem nun aber solch eine spezifische Art der Auffassung und<br />
Darstellung durch die stets sich erneuernde Wiederkehr zur Gewohnheit<br />
verallgemeinert und dem Künstler zur anderen Natur wird,<br />
liegt die Gefahr nahe, daß die Manier, je spezieller sie ist, um so<br />
leichter zu einer seelenlosen und dadurch kahlen Wiederholung und<br />
Fabrikation ausartet, bei welcher der Künstler nicht mehr mit vollem<br />
Sinn und ganzer Begeisterung dabei ist. Dann sinkt die Kunst zu einer<br />
bloßen Handgeschicklichkeit und Handwerksfertigkeit herunter,<br />
und die an sich selbst nicht verwerfliche Manier kann zu etwas Nüchternem<br />
und Leblosem werden.<br />
y) Die echtere Manier hat sich deshalb dieser beschränkten Besonderheit<br />
zu entheben und in sich selbst so zu erweitern, daß dergleichen<br />
spezielle Behandlungsarten sich ni cht zu einer bloßen Gewohnheitssache<br />
abtöten können, indem sich der Künstler in allgemeinerer<br />
Weise an die Natur der Sache hält und sich diese allgemeinere<br />
Behandlungsart, wie deren Begriff es mit sich führt, zu eigen zu<br />
machen versteht. In diesem Sinne kann man es z. B. bei Goethe Manier<br />
nennen, daß er nicht nur gesellschaftliche Gedichte, sondern<br />
68
auch sonstige ernsthaftere Anfänge durch eine heitere Wendung geschickt<br />
zu beendigen weiß, um das Ernsthafte der Betrachtung oder<br />
Situation wieder aufzuheben oder zu entfernen. Auch Horaz in seinen<br />
Briefen folgt dieser Manier. Dies ist eine Wendung der Konversation<br />
und geselligen Behaglichkeit<br />
/379/<br />
überhaupt, welche, um nicht tiefer ins Zeug hineinzugeraten, an sich<br />
hält, abbricht und das Tiefere selbst wieder mit Gewandtheit ins Heitere<br />
hinüberspielt. Auch diese Auffassungsweise ist zwar Manier und<br />
gehört zur Subjektivität der Behandlung, aber zu einer Subjektivität,<br />
die allgemeinerer Art ist und ganz so verfährt, wie es innerhalb der<br />
beabsichtigten Darstellungsart notwendig ist. Von dieser letzten Stufe<br />
der Manier aus können wir zur Betrachtung des Stils hinüberschreiten.<br />
b. Stil<br />
»Le style c'est l'homme même« ist ein bekanntes französisches Wort.<br />
Hier heißt Stil überhaupt die Eigentümlichkeit des Subjekts, welche<br />
sich in seiner Ausdrucksweise, der Art seiner Wendungen usf. vollständig<br />
zu erkennen gibt. Umgekehrt sucht Herr von Rumohr (Italienische<br />
Forschungen 19 , Bd. I, S. 87) den Ausdruck Stil »als ein zur<br />
Gewohnheit gediehenes Sichfügen in die inneren Forderungen des<br />
Stoffes (zu) erklären, in welchem der Bildner seine Gestalten wirklich<br />
bildet, der Maler sie erscheinen macht«, und teilt in dieser Beziehung<br />
höchst wichtige Bemerkungen über die Darstellungsweise mit, welche<br />
das bestimmte sinnliche Material der Skulptur z. B. erlaubt oder<br />
verbietet. Jedoch braucht man das Wort Stil nicht bloß auf diese Seite<br />
des sinnlichen Elementes zu beschränken, sondern kann es auf<br />
diejenigen Bestimmungen und Gesetze künstlerischer Darstelluilg<br />
ausdehnen, welche aus der Natur einer Kunstgattung, innerhalb derer<br />
ein Gegenstand zur Ausführung kommt, hervorgehen. In dieser<br />
Rücksicht unterscheidet man in der Musik Kirchenstil und Opernstil,<br />
in der Malerei historischen Stil von dem der Genremalerei. Der Stil<br />
betrifft dann eine Darstellungsweise, welche den Bedingungen ihres<br />
Materials ebensosehr nachkommt, als sie den Forderungen bestimmter<br />
Kunstgattungen und deren aus dem Begriff der<br />
/380/<br />
Sache herfließen den Gesetzen durchgängig entspricht . Der Mangel<br />
an Stil in dieser weiteren Wortbedeutung ist dann entweder das Unvermögen,<br />
sich eine solche in sich selbst notwendige Darstellungsweise<br />
aneignen zu können, oder die subjektive Willkür, statt des Gesetzmäßigen<br />
nur der eigenen Beliebigkeit freien Lauf zu lassen und<br />
eine schlechte Manier an die Stelle zu setzen. Deshalb ist es auch,<br />
19 Siehe Fn. 1, S. 145<br />
69
wie schon Herr von Rumohr bemerkt, unstatthaft, die Stilgesetze der<br />
einen Kunstgattung auf die der anderen zu übertragen, wie es Mengs<br />
z. B. in seiner bekannten Musenversammlung in der Villa Albani tat,<br />
wo er »die kolorierten Formen seines Apollo im Prinzipe der Skulptur<br />
auffaßte und ausführte«. In ähnlicher Wei se sieht man es vielen Dürerschen<br />
Gemälden an, daß Dürer den Stil des Holzschnittes sich<br />
ganz zu eigen gemacht und auch in der Malerei besonders im Faltenwurf<br />
vor sich hatte.<br />
c. Originalität<br />
Die Originalität nun endlich besteht nicht nur im Befolgen der Gesetze<br />
des Stils, sondern in der subjektiven Begeisterung, welche, statt<br />
sich der bloßen Manier hinzugeben, einen an und für sich vernünftigen<br />
Stoff ergreift und den selben ebensosehr im Wesen und Begriff<br />
einer bestimmten Kunstgattung als dem allgemeinen Begriff des Ideals<br />
gemäß von innen her aus der künstlerischen Subjektivität heraus<br />
gestaltet.<br />
a) Die Originalität ist deshalb identisch mit der wahren Objektivität<br />
und schließt das Subjektive und Sachliche der Darstellung in der<br />
Weise zusammen, daß beide Seiten nichts Fremdes mehr gegeneinander<br />
behalten. In der einen Beziehung daher macht sie die eigenste<br />
Innerlichkeit des Künstlers aus, nach der an deren Seite hin gibt sie<br />
jedoch nichts als die Natur des Gegenstandes, so daß jene Eigentümlichkeit<br />
nur als die Eigentümlichkeit der Sache selbst erscheint<br />
und gleichmäßig aus dieses wie die Sache aus der produktiven Subjektivität<br />
hervorgeht.<br />
/381/<br />
ß) Die Originalität ist deshalb vor allem von der Willkür bloßer Einfälle<br />
abzuscheiden. Denn gewöhnlich pflegt man unter Originalität nur das<br />
Hervorbringen von Absonderlichkeiten zu verstehen, wie sie nur gerade<br />
diesem Subjekt eigentümlich sind und keinem anderen würden<br />
zu Sinne kommen. Das ist dann aber nur eine schlechte Partikularität.<br />
Niemand z. B. ist in dieser Bedeutung des Wortes origineller als<br />
die Engländer, d. h. jeder legt sich auf eine bestimmte Narrheit, die<br />
ihm kein vernünftiger Mensch nachmachen wird, und nennt sich im<br />
Bewußtsein seiner Narrheit originell.<br />
Hiermit hängt denn auch die besonders heutigentags gerühmte Originalität<br />
des Witzes und Humors zusammen. In ihr geht der Künstler<br />
von seiner eigenen Subjektivität aus und kehrt immer wieder zu derselben<br />
zurück, so daß das eigentliche Objekt der Darstellung nur als<br />
eine äußerliche Veranlassung behandelt wird, um den Witzen, Späßen,<br />
Einfällen und Sprüngen der subjektivsten Laune vollen Spielraum<br />
zu geben. Dann fällt aber der Gegenstand und dies Subjektive<br />
auseinander, und mit dem Stoff wird durchaus willkürlich verfahren,<br />
damit ja die Partikularität des Künstlers als Hauptsache hervorleuchten<br />
könne. Solch ein Humor kann voll Geist und tiefer Empfindung<br />
sein und tritt gewöhnlich als höchst imponierend auf, ist aber im ganzen<br />
leichter, als man glaubt. Denn den vernünftigen Lauf der Sache<br />
70
stets zu unterbrechen, willkürlich anzufangen, fortzugehen, zu enden,<br />
eine Reihe von Witzen und Empfindungen bunt durcheinanderzuwürfeln<br />
und dadurch Karikaturen der Phantasie zu erzeugen ist leichter,<br />
als ein in sich gediegenes Ganzes im Zeugnis des wahren Ideals aus<br />
sich zu entwickeln und abzurunden. Der gegenwärtige Humor aber<br />
liebt es, die Widerwärtigkeit eines ungezogenen Talentes herauszukehren,<br />
und schwankt von wirklichem Humor denn auch ebensosehr<br />
zur Plattheit und Faselei herüber. Wahrhaften Humor hat es selten<br />
gegeben; jetzt aber sollen die mattesten Trivialitäten, wenn sie nur<br />
die äußere Farbe und<br />
Prätention des Humors haben, für geistreich und tief gelten. Shakespeare<br />
dagegen hat großen und tiefen Humor, und dennoch fehlt es<br />
auch bei ihm nicht an Flachheiten. Ebenso überrascht auch Jean<br />
Pauls Humor oft durch die Tiefe des Witzes und Schönheit der Empfindung,<br />
ebensooft aber auch in entgegengesetzter Weise durch barocke<br />
Zusammenstellungen von Gegenständen, welche zusammenhangslos<br />
auseinanderliegen und deren Beziehungen, zu welchen der<br />
Hum or sie kombiniert, sich kaum entziffern lassen. Dergleichen hat<br />
selbst der größte Humorist nicht im Gedächtnis prαsent, und so sieht<br />
man es denn auch den Jean Paulschen Kombinationen häufig an,<br />
daß sie nicht aus der Kraft des Genies hervorgegangen, sondern<br />
äußerlich zusammengetragen sind. Jean Paul hat deshalb auch, um<br />
immer neues Material zu haben, in alle Bücher der verschiedensten<br />
Art, botanische, juristische, Reisebeschreibungen, philosophische,<br />
hineingesehen, was ihn frappierte, sogleich notiert, augenblickliche<br />
Einfälle dazugeschrieben und, wenn es nun darauf ankam, selber<br />
ans Erfinden zu gehen, äußerlich das Heterogenste — brasilianische<br />
Pflanzen und das alte Reichskammergericht — zueinandergebracbt.<br />
Das ist dann besonders als Originalität gepriesen oder als Humor,<br />
der alles und jedes zulasse, entschuldigt worden. Die wahre Originalität<br />
aber schließt solche Willkür gerade von sich aus.<br />
Bei dieser Gelegenheit können wir denn auch wieder der Ironie gedenken,<br />
welche sich hauptsächlich dann als die höchste Originalität<br />
auszugeben liebt, wenn es ihr mit keinem Inhalt mehr Ernst ist und<br />
sie ihr Geschäft des Spaßes nur des Spaßes wegen teibt. Nach einer<br />
anderen Seite hin bringt sie in ihren Datstellungen eine Menge Äußerlichkeiten<br />
zusammen, deren innersten Sinn der Dichter für sich<br />
behält, wo denn die List und das Große darin bestehen soll, daß die<br />
Vorstellung verbreitet wird, gerade in diesen Zusammentragungen<br />
und Äußerlichkeiten sei die Poesie der Poesie und alles Tiefste und<br />
Vortrefflichste verborgen, das sich nur eben seiner Tiefe wegen nicht,<br />
aussprechen lasse. So wurde z. B.<br />
/383/<br />
in Friedrich von Schlegels Gedichten zur Zeit, als er sich einbildete,<br />
ein Dichter zu sein, dies Nichtgesagte als das Beste ausgegeben;<br />
doch diese Poesie der Poesie ergab sich gerade als die platteste<br />
Prosa.<br />
71
y) Das wahrhafte Kunstwerk muß von dieser schiefen Originalität<br />
befreit werden, denn es erweist seine echte Originalität nur dadurch,<br />
daß es als die eine eigene Schöpfung eines Geistes erscheint, der<br />
nichts von außen her aufliest und zusammenflickt, sondern das Ganze<br />
im strengen Zusammenhange aus einem Guß, in einem Tone sich<br />
durch sich selber produzieren läßt, wie die Sache sich in sich selbst<br />
zusammengeeint hat. Finden sich dagegen die Szenen und Motive<br />
nicht durch sich selber, sondern bloß von außen her zueinander, so<br />
ist die innere Notwendigkeit ihrer Einigung nicht vorhanden, und sie<br />
erscheinen nur als zufällig durch ein drittes, fremdes Subjekt verknüpft.<br />
So ist Goethes Götz besonders seiner großen Originalität wegen<br />
bewundert worden, und allerdings hat Goethe, wie schon oben<br />
gesagt ist, mit vieler Kühnheit in diesem Werke alles geleugnet und<br />
mit Füßen getreten, was von den damaligen Theorien der schönen<br />
Wissenschaften als Kunstgesetz festgestellt war. Dennoch ist die<br />
Ausführung nicht von wahrhafter Originalität. Denn man sieht diesem<br />
Jugendwerke noch die Armut eigenen Stoffs an, so daß nun viele<br />
Züge und ganze Szenen, statt aus dem großen Inhalte selber herausgearbeitet<br />
zu sein, hier und dort aus den Interessen der Zeit, in<br />
der es verfaßt ist, zusammengerafft und äußerlich eingefügt erscheinen.<br />
Die Szene z. B. des Götz mit dem Bruder Martin, welcher auf<br />
Luther hindeutet, enthält nur Vorstellungen, welche Goethe aus dem<br />
geschöpft hat, worüber man in dieser Periode in Deutschland die<br />
Mönche wieder zu bedauern anfing: daß sie keinen Wein trinken dürften,<br />
schläfrig verdauten, dadurch mancherlei Begierden anheimfielen<br />
und überhaupt die drei unerträglichen Gelübde, der Armut, Keuschheit<br />
und des Gehorsams, ablegen müßten. Dagegen begeistert sich<br />
Bruder Martin für das ritterliche Leben Götzens: wie dieser mit der<br />
/384/<br />
Beute seiner Feinde beladen sich erinnere: »Den stach ich vom<br />
Pferd, eh er schießen konnte, und den rannt ich samt dem Pferd nieder«,<br />
und dann auf sein Schloß komme und sein Weib finde; er trinkt<br />
auf Frau Elisabeths Gesundheit — und wischt sich die Augen. — Mit<br />
diesen zeitlichen Gedanken aber hat Luther nicht angefangen, sondern<br />
eine ganz andere Tiefe der religiösen Anschauung und Überzeugung<br />
aus Augustin als ein frommer Mönch geschöpft. In derselbigen<br />
Weise folgen dann gleich in den nächsten Szenen pädagogische<br />
Zeitbeziehungen, die insbesondere Basedow 20 in Anregung gebracht<br />
hatte. Die Kinder z. B., hieß es dam als, lernten viel unverstandenes<br />
Zeug, die rechte Methode aber bestände darin, sie durch Anschauung<br />
und Erfahrung Realien zu lehren. Karl nun sagt seinem Vater<br />
ganz so, wie es zu Goethes Jugendzeit Mode war, auswendig her:<br />
»Jaxthausen ist ein Dorf und Schloß an der Jaxt, gehört seit zweihundert<br />
Jahren den Herrn von Berlichingen erb- und eigentümlich<br />
zu«; als jedoch Götz ihn fragt: »Kennst du den Herrn von Berlichingen?«,<br />
sieht der Bub ihn starr an und kennt vor lauter Gelehrsamkeit<br />
20 Johann Bernhard Basedow, 1723-1790, Pädagoge<br />
72
seinen eigenen Vater nicht. Götz versichert, er kannte alle Pfade,<br />
Weg und Furten, eh er wußte, wie Fluß, Dorf und Burg hieß. Dies<br />
sind fremdartige Anhängsel, welche den Stoff selbst nichts angehen;<br />
während da, wo derselbe nun in seiner eigentümlichen Tiefe hätte<br />
gefaßt werden können, im Gespräche z.B. Götzen und Weislingens,<br />
nur kalte prosaische Reflexionen über die Zeit zum Vorschein kommen.<br />
Ein ähnliches Anfügen von einzelnen Zügen, die aus dem Inhalte<br />
nicht hervorgehen, finden wir selbst noch in den Wahlverwandtschaften<br />
wieder: die Parkanlagen, die lebenden Bilder und Pendelschwingungen,<br />
das Metallfühlen, die Kopfschmerzen, das ganze aus der<br />
Chemie entlehnte Bild der chemischen Verwandtschaften sind von<br />
dieser Art. Im Roman, der in einer bestimmten prosaischen Zeit<br />
spielt, ist<br />
/385/<br />
dergleichen freilich eher zu gestatten, besonders wenn es wie bei<br />
Goethe so geschickt und anmutig benutzt wird, und außerdem kann<br />
sich ein Kunstwerk nicht von der Bildung seiner Zeit durchweg frei<br />
machen; aber ein anderes ist es, diese Bildung selber abspiegeln, ein<br />
anderes, die Materialien unabhängig vom eigentlichen Inhalt der Darstellung<br />
äußerlich aufsuchen und zusammenbringen. Die echte Originalität<br />
des Künstlers wie des Kunstwerks liegt nur darin, von der<br />
Vernünftigkeit des in sich selber wahren Gehalts beseelt zu sein. Hat<br />
der Künstler diese objektive Vernunft ganz zur seinigen gemacht,<br />
ohne sie von innen oder außen her mit fremden Partikularitäten zu<br />
vermischen und zu verunreinigen, dann allein gibt er in dem gestalteten<br />
Gegenstande auch sich selbst in seiner wahrsten Subjektivität,<br />
die nur der lebendige Durchgangspunkt für das in sich selber abgeschlossene<br />
Kunstwerk sein will. Denn in allem wahrhaftigen Dichten,<br />
Denken und Tun läßt die echte Freiheit das Substantielle als eine<br />
Macht in sich walten, welche zugleich so sehr die eigenste Macht des<br />
subjektiven Denkens und Wollens selber ist, daß in der vollendeten<br />
Versöhnung beider kein Zwiespalt mehr übrigzubleiben vermag. So<br />
zehrt zwar die Originalität der Kunst jede zufällige Besonderheit auf,<br />
aber sie verschlingt sie nur, damit der Künstler ganz dem Zuge und<br />
Schwunge seiner von der Sache allein erfüllten Begeisterung des<br />
Genius folgen und statt der Beliebigkeit und leeren Willkür sein wahres<br />
Selbst in seiner der Wahrheit nach vollbrachten Sache darstellen<br />
könne. Keine Manier zu haben war von jeher die einzig große Manier,<br />
und in diesem Sinne allein sind Homer, Sophokles, Raffael, Shakespeare<br />
originell zu nennen.<br />
73
F.W.J Schelling: System des transzendentalen Idealismus<br />
In: Werke. Auswahl in drei Bänden. Bd.II, Leipzig: Fritz Eckardt 1907,<br />
S.286-298<br />
/286/<br />
Sechster Hauptabschnitt.<br />
Deduktion eines allgemeinen Organs der Philosophie, oder<br />
Hauptsätze der Philosophie der Kunst nach Grundsätzen des<br />
transzendentalen Idealismus<br />
§ 1. Deduktion des Kunstprodukts überhaupt<br />
Die postulierte Anschauung soll zusammenfassen, was in der Erscheinung<br />
der Freiheit und was in der Anschauung des Naturprodukts<br />
getrennt existiert, nämlich Identität des Bewußten und Bewußtlosen<br />
im Ich und Bewußtsein dieser Identität. Das Produkt dieser Anschauung<br />
wird also einerseits an das Naturprodukt, andererseits an<br />
das Freiheitsprodukt grenzen, und die Charaktere beider in sich vereinigen<br />
müssen. Kennen wir das Produkt der Anschauung, so kennen<br />
wir auch die Anschauung selbst, wir brauchen also nur das Produkt<br />
abzuleiten, um die Anschauung abzuleiten.<br />
Das Produkt wird mit dem Freiheitsprodukt gemein haben, daß es ein<br />
mit Bewußtsein Hervorgebrachtes, mit dem Naturprodukt, daß es ein<br />
bewußtlos Hervorgebrachtes ist. In der ersten Rücksicht wird es also<br />
das Umgekehrte des organischen Naturprodukts sein. Wenn aus<br />
dem organischen Produkt die bewußtlose (blinde) Tätigkeit als bewußte<br />
reflektiert wird, so wird umgekehrt aus dem Produkt, von welchem<br />
hier die Rede<br />
/287/<br />
ist, die bewußte Tätigkeit als bewußtlose (objektive) reflektiert werden,<br />
oder, wenn das organische Produkt mir die bewußtlose Tätigkeit<br />
als bestimmt durch die bewußte reflektiert, so wird umgekehrt das<br />
Produkt, welches hier abgeleitet wird, die bewußte Tätigkeit als bestimmt<br />
durch die bewußtlose reflektieren. Kürzer: die Natur fängt bewußtlos<br />
an und endet bewußt, die Produktion ist nicht zweckmäßig,<br />
wohl aber das Produkt. Das Ich in der Tätigkeit, von welcher hier die<br />
Rede ist, muß mit Bewußtsein (subjektiv) anfangen, und im Bewußtlosen<br />
oder objektiv enden, das Ich ist bewußt der Produktion nach,<br />
bewußtlos in Ansehung des Produkts.<br />
74
Wie sollen wir uns nun aber eine solche Anschauung transzendental<br />
erklären, in welcher die bewußtlose Tätigkeit durch die bewußte bis<br />
zur vollkommenen Identität mit ihr gleichsam hindurchwirkt? – Wir<br />
reflektieren vorerst darauf, daß die Tätigkeit eine bewußte sein soll.<br />
Nun ist es aber schlechthin unmöglich, daß mit Bewußtsein etwas<br />
Objektives hervorgebracht werde, was doch hier verlangt wird. Objektiv<br />
ist nur, was bewußtlos entsteht, das eigentlich Objektive in jener<br />
Anschauung muß also auch nicht mit Bewußtsein hinzugebracht<br />
werden können. Wir können uns hierüber unmittelbar auf die Beweise<br />
berufen, die schon wegen des freien Handelns geführt worden sind,<br />
daß nämlich das Objektive in demselben durch etwas von der Freiheit<br />
Unabhängiges hinzukomme. Der Unterschied ist nur der, [a)] daß<br />
im freien Handeln die Identität beider Tätigkeiten aufgehoben sein<br />
muß, eben darum, damit das Handeln als frei erscheine, [hier dagegen<br />
im Bewußtsein selbst ohne Negation desselben beide als Eins<br />
erscheinen sollen]. Auch [b)] können die beiden Tätigkeiten im freien<br />
Handeln nie absolut identisch werden, weshalb auch das Objekt des<br />
freien Handelns notwendig ein unendliches, nie vollständig realisiertes<br />
ist, denn wäre es vollständig realisiert, so fielen die bewußte und<br />
objektive Tätigkeit in Eins zusammen, d.h. die Erscheinung der Freiheit<br />
hörte auf. Was nun durch die Freiheit schlechthin unmöglich war,<br />
soll durch das jetzt postulierte Handeln möglich sein, welches aber<br />
eben um diesen Preis aufhören muß ein freies Handeln zu sein, und<br />
ein solches wird, in welchem Freiheit und Notwendigkeit<br />
/288/<br />
absolut vereinigt sind. Nun sollte aber doch die Produktion mit Bewußtsein<br />
geschehen, welches unmöglich ist, ohne daß beide [Tätigkeiten]<br />
getrennt seien. Hier ist also ein offenbarer Widerspruch. [Ich<br />
stelle ihn nochmals dar]. Bewußte und bewußtlose Tätigkeit sollen<br />
absolut Eins sein im Produkt, gerade wie sie es im organischen Produkt<br />
auch sind, aber sie sollen auf andere Art Eines sein, beide sollen<br />
Eines sein für das Ich selbst. Dies ist aber unmöglich, außer wenn<br />
das Ich sich der Produktion bewußt ist. Aber ist das Ich der Produktion<br />
sich bewußt, so müssen beide Tätigkeiten getrennt sein, denn<br />
dies ist notwendige Bedingung des Bewußtseins der Produktion. Beide<br />
Tätigkeiten müssen also Eines sein, denn sonst ist keine Identität,<br />
beide müssen getrennt sein, denn sonst ist Identität, aber nicht für<br />
das Ich. Wie ist dieser Widerspruch aufzulösen?<br />
Beide Tätigkeiten müssen getrennt sein zum Behuf des Erscheinens,<br />
des Objektivwerdens der Produktion, gerade so, wie sie im freien<br />
Handeln zum Behuf des Objektivwerdens des Anschauens getrennt<br />
sein müssen. Aber sie können nicht ins Unendliche getrennt sein, wie<br />
beim freien Handeln, weil sonst das Objektive niemals eine vollständige<br />
Darstellung jener Identität wäre. 21 Die Identität beider sollte aufgehoben<br />
sein nur zum Behuf des Bewußtseins, aber die Produktion<br />
21 Das, was für das freie Handeln in einem unendlichen Progressus liegt,<br />
soll in der gegenwärtigen Hervorbringung eine Gegenwart sein, in einem<br />
Endlichen wirklich, objektiv werden.<br />
75
soll in Bewußtlosigkeit enden; also muß es einen Punkt geben, wo<br />
beide in Eins zusammenfallen, und umgekehrt, wo beide in Eines<br />
zusammenfallen, muß die Produktion aufhören als eine freie zu erscheinen.<br />
22<br />
Wenn dieser Punkt in der Produktion erreicht ist, so muß. das Produzieren<br />
absolut aufhören, und es muß dem Produzierenden unmöglich<br />
sein weiter zu produzieren, denn die Bedingung alles Produzierens<br />
ist eben die Entgegensetzung der bewußten und der bewußtlosen<br />
Tätigkeit, diese sollen hier aber absolut zusammentreffen,<br />
/289/<br />
es soll also in der Intelligenz aller Streit aufgehoben, aller Widerspruch<br />
vereinigt sein. 23<br />
Die Intelligenz wird also in einer vollkommenen Anerkennung der im<br />
Produkt ausgedrückten Identität, als einer solchen, deren Prinzip in<br />
ihr selbst liegt, d.h. sie wird in einer vollkommenen Selbstanschauung<br />
enden. 24 Da es nun die freie Tendenz zur Selbstanschauung in jener<br />
Identität war, welche die Intelligenz ursprünglich mit sich selbst entzweite,<br />
so wird das Gefühl, was jene Anschauung begleitet, das Gefühl<br />
einer unendlichen Befriedigung sein. Aller Trieb zu produzieren,<br />
steht mit der Vollendung des Produkts stille, alle Widersprüche sind<br />
aufgehoben, alle Rätsel gelöst. Da die Produktion ausgegangen war<br />
von Freiheit, d.h. von einer unendlichen Entgegensetzung der beiden<br />
Tätigkeiten, so wird die Intelligenz jene absolute Vereinigung beider,<br />
in welcher die Produktion endet, nicht der Freiheit zuschreiben können,<br />
denn gleichzeitig mit der Vollendung des Produkts ist alle Erscheinung<br />
der Freiheit hinweggenommen; sie wird sich durch jene<br />
Vereinigung selbst überrascht und beglückt fühlen, d.h. sie gleichsam<br />
als freiwillige Gunst einer höheren Natur ansehen, die das Unmögliche<br />
durch sie möglich gemacht hat.<br />
Dieses Unbekannte aber, was hier die objektive und die bewußte<br />
Tätigkeit in unerwartete Harmonie setzt, ist nichts anderes als jenes<br />
Absolute 25 , welches den allgemeinen Grund der prästabilierten Harmonie<br />
zwischen dem Bewußten und dem Bewußtlosen enthält. Wird<br />
also jenes Absolute reflektiert aus dem Produkt, so wird es der Intelligenz<br />
erscheinen als etwas, das über ihr ist, und was selbst entgegen<br />
der Freiheit zu dem, was mit Bewußtsein und Absicht begonnen war,<br />
das Absichtslose hinzubringt.<br />
22 Da ist die freie Tätigkeit ganz übergegangen in das Objektive, das Notwendige.<br />
Die Produktion also ist im Beginn frei, das Produkt dagegen erscheint<br />
als absolute Identität der freien Tätigkeit mit der notwendigen.<br />
23 der letzte Passus: Wenn dieser Punkt usw. ist im Handexemplar durch-<br />
gestrichen.<br />
24 Denn sie (die Intelligenz) ist selbst das Produzierende; zugleich aber hat<br />
sich diese Identität von ihr ganz losgerissen: sie ist ihr völlig objektiv geworden,<br />
d. i. sie ist sich selbst völlig objektiv geworden.<br />
25 das Urselbst.<br />
76
Dieses unveränderlich Identische, was zu keinem Bewußtsein gelangen<br />
kann und nur aus dem Produkt widerstrahlt, ist<br />
/290/<br />
für das Produzierende eben das, was für das Handelnde das Schicksal<br />
ist, d.h. eine dunkle unbekannte Gewalt, die zu dem Stückwerk<br />
der Freiheit das Vollendete oder das Objektive hinzubringt; und wie<br />
jene Macht, welche durch unser freies Handeln ohne unser Wissen,<br />
und selbst wider unsern Willen, nicht vorgestellte Zwecke realisiert,<br />
Schicksal genannt wird, so wird das Unbegreifliche, was ohne Zutun<br />
der Freiheit und gewissermaßen der Freiheit entgegen, in welcher<br />
ewig sich flieht, was in jener Produktion vereinigt ist, zu dem Bewußten<br />
das Objektive hinzubringt, mit dem dunkeln Begriff des Genies<br />
bezeichnet.<br />
Das postulierte Produkt ist kein anderes als das Genieprodukt 26 ,<br />
oder, da das Genie nur in der Kunst möglich ist, das Kunstprodukt.<br />
Die Deduktion ist vollendet, und wir haben zunächst nichts zu tun, als<br />
durch vollständige Analysis zu zeigen, daß alle Merkmale der postulierten<br />
Produktion in der ästhetischen zusammentreffen.<br />
Daß alle ästhetische Produktion auf einem Gegensatz von Tätigkeiten<br />
beruhe, läßt sich schon aus der Aussage aller Künstler, daß sie<br />
zur Hervorbringung ihrer Werke unwillkürlich getrieben werden, daß<br />
sie durch Produktion derselben nur einen unwiderstehlichen Trieb<br />
ihrer Natur befriedigen, mit Recht schließen, denn wenn jeder Trieb<br />
von einem Widerspruch ausgeht, so, daß, den Widerspruch gesetzt,<br />
die freie Tätigkeit unwillkürlich wird, so muß auch der künstlerische<br />
Trieb aus einem solchen Gefühl eines inneren Widerspruchs hervorgehen.<br />
Dieser Widerspruch aber, da er den ganzen Menschen mit<br />
allen seinen Kräften in Bewegung setzt, ist ohne Zweifel ein Widerspruch,<br />
der das Letzte in ihm, die Wurzel seines ganzen Daseins, 27<br />
angreift. Es ist gleichsam, als ob in den seltenen Menschen, welche<br />
vor andern Künstler sind im höchsten Sinne des Worts, jenes unveränderlich<br />
Identische, auf welches alles Dasein aufgetragen ist, seine<br />
Hülle, mit der es sich in andern umgibt, abgelegt habe, und so wie es<br />
unmittelbar von den Dingen affiziert wird, ebenso<br />
/291/<br />
auch unmittelbar auf alles zurückwirke. Es kann also nur der Widerspruch<br />
zwischen dem Bewußten und dem Bewußtlosen im freien<br />
Handeln sein, welcher den künstlerischen Trieb in Bewegung setzt,<br />
sowie es hinwiederum nur der Kunst gegeben sein kann, unser unendliches<br />
Streben zu befriedigen und auch den letzten und äußersten<br />
Widerspruch in uns aufzulösen.<br />
26 Produkt des Genies.<br />
27 das wahre An sich.<br />
77
So wie die ästhetische Produktion ausgeht vom Gefühl eines scheinbar<br />
unauflöslichen Widerspruchs, ebenso endet sie nach dem Bekenntnis<br />
aller Künstler, und aller, die ihre Begeisterung teilen, im Gefühl<br />
einer unendlichen Harmonie, und daß dieses Gefühl, was die<br />
Vollendung begleitet, zugleich eine Rührung ist, beweist schon, daß<br />
der Künstler die vollständige Auflösung des Widerspruchs, die er in<br />
seinem Kunstwerk erblickt, nicht [allein] sich selbst, sondern einer<br />
freiwilligen Gunst seiner Natur zuschreibt, die, so unerbittlich sie ihn<br />
in Widerspruch mit sich selbst setzte, ebenso gnädig den Schmerz<br />
dieses Widerspruchs von ihm hinwegnimmt; 28 denn so wie der Künstler<br />
unwillkürlich, und selbst mit innerem Widerstreben zur Produktion<br />
getrieben wird (daher bei den Alten die Aussprüche: pati Deum usw.,<br />
daher überhaupt die Vorstellung von Begeisterung durch fremden<br />
Anhauch), ebenso kommt auch das Objektive zu seiner Produktion<br />
gleichsam ohne sein Zutun, d.h. selbst bloß objektiv, hinzu. Ebenso<br />
wie der verhängnisvolle Mensch nicht vollführt, was er will, oder beabsichtigt,<br />
sondern was er durch ein unbegreifliches Schicksal, unter<br />
dessen Einwirkung er steht, vollführen muß, so scheint der Künstler,<br />
so absichtsvoll er ist, doch in Ansehung dessen, was das eigentlich<br />
Objektive in seiner Hervorbringung ist, unter der Einwirkung einer<br />
Macht zu stehen, die ihn von allen andern Menschen absondert, und<br />
ihn Dinge auszusprechen oder darzustellen zwingt, die er selbst nicht<br />
vollständig durchsieht, und deren Sinn unendlich ist. Da nun jenes<br />
absolute Zusammentreffen der beiden sich fliehenden Tätigkeiten<br />
schlechthin nicht weiter erklärbar, sondern bloß eine Erscheinung ist,<br />
die, obschon unbegreiflich, 29 doch nicht geleugnet werden<br />
/292/<br />
kann, so ist die Kunst die einzige und ewige Offenbarung, die es gibt,<br />
und das Wunder, das, wenn es auch nur Einmal existiert hätte, uns<br />
von der absoluten Realität jenes Höchsten überzeugen müßte.<br />
Wenn nun ferner die Kunst durch zwei voneinander völlig verschiedene<br />
Tätigkeiten vollendet wird, so ist das Genie weder die eine noch<br />
die andere, sondern das, was über beiden ist. Wenn wir in der einen<br />
jener beiden Tätigkeiten, der bewußten nämlich, das suchen müssen,<br />
was insgemein Kunst genannt wird, was aber nur der eine Teil derselben<br />
ist, nämlich dasjenige an ihr, was mit Bewußtsein, Überlegung<br />
und Reflexion ausgeübt wird, was auch gelehrt und gelernt, durch<br />
Oberlieferung und durch eigne Übung erreicht werden kann, so werden<br />
wir dagegen in dem Bewußtlosen, was in die Kunst mit eingeht,<br />
dasjenige suchen müssen, was an ihr nicht gelernt, nicht durch<br />
Übung, noch auf andere Art erlangt werden, sondern allein durch<br />
freie Gunst der Natur angeboren sein kann, und welches dasjenige<br />
ist, was wir mit Einem Wort die Poesie in der Kunst nennen können.<br />
28 Im Handexemplar: sondern einer freiwilligen Gunst seiner Natur, also<br />
einem Zusammentreffen der bewußtlosen Tätigkeit mit der bewußten zuschreibt.<br />
29 vom Standpunkt der bloßen Reflexion.<br />
78
Es erhellt aber eben daraus von selbst, daß es eine höchst unnütze<br />
Frage wäre, welchem von den beiden Bestandteilen der Vorzug vor<br />
dem andern zukomme, da in der Tat jeder derselben ohne den andern<br />
keinen Wert hat, und nur beide zusammen das Höchste hervorbringen.<br />
Denn obgleich das, was nicht durch Übung erreicht wird,<br />
sondern mit uns geboren ist, allgemein als das Herrlichere betrachtet<br />
wird, so haben doch die Götter auch die Ausübung jener ursprünglichen<br />
Kraft an das ernstliche Bemühen der Menschen, an den Fleiß<br />
und die Überlegung so fest geknüpft, daß die Poesie, selbst wo sie<br />
angeboren ist, ohne die Kunst nur gleichsam tote Produkte hervorbringt,<br />
an welchen kein menschlicher Verstand sich ergötzen kann,<br />
und welche durch die völlig blinde Kraft, die darin wirksam ist, alles<br />
Urteil und selbst die Anschauung von sich zurückstoßen. Es läßt sich<br />
vielmehr umgekehrt noch eher erwarten, daß Kunst ohne Poesie, als<br />
daß Poesie ohne Kunst etwas zu leisten vermöge, teils weil nicht<br />
leicht ein Mensch von Natur ohne alle Poesie, obgleich viele ohne<br />
alle Kunst sind, teils weil das anhaltende Studium der Ideen großer<br />
Meister den ursprünglichen Mangel an objektiver<br />
/293/<br />
Kraft einigermaßen zu ersetzen imstande ist, obgleich dadurch immer<br />
nur ein Schein von Poesie entstehen kann, der an seiner Oberflächlichkeit<br />
im Gegensatz gegen die unergründliche Tiefe, welche<br />
der wahre Künstler, obwohl er mit der größten Besonnenheit arbeitet,<br />
unwillkürlich in sein Werk legt, und welche weder er noch irgend ein<br />
anderer ganz zu durchdringen vermag, so wie an vielen anderen<br />
Merkmalen, z.B. dem großen Wert, den er auf das bloß Mechanische<br />
der Kunst legt, an der Armut der Form, in welcher er sich bewegt,<br />
usw. leicht unterscheidbar ist.<br />
Es erhellt nun aber auch von selbst, daß ebensowenig als Poesie<br />
und Kunst einzeln und für sich, ebensowenig auch eine abgesonderte<br />
Existenz beider das Vollendete hervorbringen könne 30 daß also, weil<br />
die Identität beider nur ursprünglich sein kann, und durch Freiheit<br />
schlechthin unmöglich und unerreichbar ist, das Vollendete nur durch<br />
das Genie möglich sei, welches eben deswegen für die Ästhetik dasselbe<br />
ist, was das Ich für die Philosophie, nämlich das Höchste absolut<br />
Reelle, was selbst nie objektiv wird, aber Ursache alles Objektiven<br />
ist.<br />
§ 2. Charakter des Kunstprodukts<br />
a) Das Kunstwerk reflektiert uns die Identität der bewußten und der<br />
bewußtlosen Tätigkeit. Aber der Gegensatz dieser beiden ist ein unendlicher,<br />
und er wird aufgehoben ohne alles Zutun der Freiheit. Der<br />
Grundcharakter des Kunstwerks ist also eine bewußtlose Unendlichkeit<br />
[Synthesis von Natur und Freiheit]. Der Künstler scheint in sei-<br />
30 Keines vor dem andern hat eine Priorität. Eben nur die Indifferenz beider<br />
(der Kunst und der Poesie) ist es, die in dem Kunstwerk reflektiert wird.<br />
79
nem Werk außer dem, was er mit offenbarer Absicht darein gelegt<br />
hat, instinktmäßig gleichsam eine Unendlichkeit dargestellt zu haben,<br />
welche ganz zu entwickeln kein endlicher Verstand fähig ist. Um uns<br />
nur durch Ein Beispiel deutlich zu machen, so ist die griechische Mythologie,<br />
von der es unleugbar ist, daß sie einen unendlichen Sinn<br />
/294/<br />
und Symbole für alle Ideen in sich schließt, unter einem Volk und auf<br />
eine Weise entstanden, welche beide eine durchgängige Absichtlichkeit<br />
in der Erfindung und in der Harmonie, mit der alles zu Einem<br />
großen Ganzen vereinigt ist, unmöglich annehmen lassen. So ist es<br />
mit jedem wahren Kunstwerk, indem jedes, als ob eine Unendlichkeit<br />
von Absichten darin wäre, einer unendlichen Auslegung fähig ist, wobei<br />
man doch nie sagen kann, ob diese Unendlichkeit im Künstler<br />
selbst gelegen habe, oder aber bloß im Kunstwerk liege. Dagegen in<br />
dem Produkt, welches den Charakter des Kunstwerks nur heuchelt,<br />
Absicht und Regel an der Oberfläche liegen und so beschränkt und<br />
umgrenzt erscheinen, daß das Produkt nichts anderes als der getreue<br />
Abdruck der bewußten Tätigkeit des Künstlers und durchaus<br />
nur ein Objekt für die Reflexion, nicht aber für die Anschauung ist,<br />
welche im Angeschauten sich zu vertiefen liebt, und nur auf dem Unendlichen<br />
zu ruhen vermag.<br />
b) Jede ästhetische Produktion geht aus vom Gefühl eines unendlichen<br />
Widerspruchs, also muß auch das Gefühl, was die Vollendung<br />
des Kunstprodukts begleitet, das Gefühl einer solchen Befriedigung<br />
sein, und dieses Gefühl muß auch wiederum in das Kunstwerk selbst<br />
übergehen. Der äußere Ausdruck des Kunstwerks ist also der Ausdruck<br />
der Ruhe und der stillen Größe, selbst da, wo die höchste<br />
Spannung des Schmerzes oder der Freude ausgedrückt werden soll.<br />
c) Jede ästhetische Produktion geht aus von einer an sich unendlichen<br />
Trennung der beiden Tätigkeiten, welche in jedem freien Produzieren<br />
getrennt sind. Da nun aber diese beiden Tätigkeiten im Produkt<br />
als vereinigt dargestellt werden sollen, so wird durch dasselbe<br />
ein Unendliches endlich dargestellt. Aber das Unendliche endlich<br />
dargestellt ist Schönheit. Der Grundcharakter jedes Kunstwerks, welcher<br />
die beiden vorhergehenden in sich begreift, ist also die Schönheit,<br />
und ohne Schönheit ist kein Kunstwerk. Denn ob es gleich erhabene<br />
Kunstwerke gibt, und Schönheit und Erhabenheit in gewisser<br />
Rücksicht sich entgegengesetzt sind, indem eine Naturszene z.B.<br />
schön sein kann, ohne deshalb erhaben zu sein, und umgekehrt, so<br />
ist doch der Gegensatz zwischen Schönheit und Erhabenheit ein solcher,<br />
/295/<br />
der nur in Ansehung des Objekts, nicht aber in Ansehung des Subjekts<br />
der Anschauung stattfindet, indem der Unterschied des schönen<br />
und erhabenen Kunstwerks nur darauf beruht, daß, wo Schönheit ist,<br />
der unendliche Widerspruch im Objekt selbst aufgehoben ist, anstatt<br />
daß, wo Erhabenheit ist, der Widerspruch nicht im Objekt selbst ver-<br />
80
einigt, sondern nur bis zu einer Höhe gesteigert ist, bei welcher er in<br />
der Anschauung unwillkürlich sich aufhebt, welches dann ebensoviel<br />
ist, als ob er im Objekt aufgehoben wäre. 31 Es läßt sich auch sehr<br />
leicht zeigen, daß die Erhabenheit auf demselben Widerspruch beruht,<br />
auf welchem auch die Schönheit beruht, indem immer, wenn ein<br />
Objekt erhaben genannt wird, durch die bewußtlose Tätigkeit eine<br />
Größe aufgenommen wird, welche in die bewußte aufzunehmen unmöglich<br />
ist, wodurch denn das Ich mit sich selbst in einen Streit versetzt<br />
wird, welcher nur in einer ästhetischen Anschauung enden<br />
kann, welche beide Tätigkeiten in unerwartete Harmonie setzt, nur<br />
daß die Anschauung, welche hier nicht im Künstler, sondern im anschauenden<br />
Subjekt selbst liegt, völlig unwillkürlich ist, indem das<br />
Erhabene (ganz anders als das bloß Abenteuerliche, was der Einbildungskraft<br />
gleichfalls einen Widerspruch vorhält, welchen aber aufzulösen<br />
nicht der Mühe wert ist) alle Kräfte des Gemüts in Bewegung<br />
setzt, um den die ganze intellektuelle Existenz bedrohenden Widerspruch<br />
aufzulösen.<br />
Nachdem nun die Charaktere des Kunstwerks abgeleitet sind, so ist<br />
zugleich auch der Unterschied desselben von allen andern Produkten<br />
ins Licht gesetzt.<br />
Denn vom organischen Naturprodukt unterscheidet sich das Kunstprodukt<br />
hauptsächlich dadurch, [a) daß das organische Wesen noch<br />
ungetrennt darstellt, was die ästhetische Produktion nach der Trennung,<br />
aber vereinigt darstellt; b)] daß die organische Produktion nicht<br />
vom Bewußtsein, also auch nicht von dem unendlichen<br />
/296/<br />
Widerspruch ausgeht, welcher Bedingung der ästhetischen Produktion<br />
ist. Das organische Naturprodukt wird also, [wenn Schönheit<br />
durchaus Auflösung eines unendlichen Widerstreits], auch nicht notwendig<br />
schön sein, und wenn es schön ist, so wird die Schönheit,<br />
weil ihre Bedingung in der Natur nicht als existierend gedacht werden<br />
kann, als schlechthin zufällig erscheinen, woraus sich das ganz eigentümliche<br />
Interesse an der Naturschönheit, nicht insofern sie<br />
Schönheit überhaupt, sondern insofern sie bestimmt Naturschönheit<br />
ist, erklären läßt. Es erhellt daraus von selbst, was von der Nachahmung<br />
der Natur als Prinzip der Kunst zu halten sei, da, weit entfernt,<br />
daß die bloß zufällig schöne Natur der Kunst die Regel gebe, vielmehr,<br />
was die Kunst in ihrer Vollkommenheit hervorbringt, Prinzip<br />
und Norm für die Beurteilung der Naturschönheit ist.<br />
Wodurch sich das ästhetische Produkt vom gemeinen Kunstprodukt<br />
unterscheide, ist leicht zu beurteilen, da alle ästhetische Hervorbringung<br />
in ihrem Prinzip eine absolut freie ist, indem der Künstler zu<br />
31 Statt des letzten Passus im Handexemplar: Denn ob es gleich erhabene<br />
Kunstwerke gibt, und die Erhabenheit der Schönheit entgegengesetzt zu<br />
werden pflegt, so ist kein wahrer, objektiver Gegensatz zwischen Schönheit<br />
und Erhabenheit; das wahrhaft und absolut Schöne ist immer auch<br />
erhaben, das Erhabene (wenn dies wahrhaft) ist auch schön.<br />
81
derselben zwar durch einen Widerspruch, aber nur durch einen solchen,<br />
der in dem Höchsten seiner eignen Natur liegt, getrieben werden<br />
kann, anstatt daß jede andere Hervorbringung durch einen Widerspruch<br />
veranlaßt wird, der außer dem eigentlich Produzierenden<br />
liegt, und also auch jede einen Zweck außer sich hat. 32 Aus jener<br />
Unabhängigkeit von äußern Zwecken entspringt jene Heiligkeit und<br />
Reinheit der Kunst, welche so weit geht, daß sie nicht etwa nur die<br />
Verwandtschaft mit allem, was bloß Sinnenvergnügen ist, welches<br />
von der Kunst zu verlangen der eigentliche Charakter der Barbarei<br />
ist, oder mit dem Nützlichen, welches von der Kunst zu fordern nur<br />
einem Zeitalter möglich ist, das die höchsten Efforts des menschlichen<br />
Geistes in ökonomische Erfindungen setzt31, sondern selbst<br />
die Verwandtschaft mit allem, was zur Moralität gehört, ausschlägt,<br />
ja selbst die Wissenschaft, welche in Ansehung ihrer Uneigennützigkeit<br />
am nächsten an die Kunst grenzt, bloß darum, weil sie immer auf<br />
einen Zweck außer sich<br />
/297/<br />
geht, und zuletzt selbst nur als Mittel für das Höchste (die Kunst) dienen<br />
muß, weit unter sich zurückläßt.<br />
Was insbesondere das Verhältnis der Kunst zur Wissenschaft betrifft,<br />
so sind sie beide in ihrer Tendenz so sehr entgegengesetzt, daß,<br />
wenn die Wissenschaft je ihre ganze Aufgabe gelöst hätte, wie sie<br />
die Kunst immer gelöst hat, beide in Eines zusammenfallen und<br />
übergehen müßten, welches der Beweis völlig entgegengesetzter<br />
Richtungen ist. Denn obgleich die Wissenschaft in ihrer höchsten<br />
Funktion mit der Kunst eine und dieselbe Aufgabe hat, so ist doch<br />
diese Aufgabe, wegen der Art sie zu lösen, für die Wissenschaft eine<br />
unendliche, so, daß man sagen kann, die Kunst sei das Vorbild der<br />
Wissenschaft, und wo die Kunst sei, soll die Wissenschaft erst hinkommen.<br />
Es läßt sich eben daraus auch erklären, warum und inwiefern<br />
es in Wissenschaften kein Genie gibt, nicht etwa, als ob es unmöglich<br />
wäre, daß eine wissenschaftliche Aufgabe genialisch gelöst<br />
werde, sondern weil dieselbe Aufgabe, deren Auflösung durch Genie<br />
gefunden werden kann, auch mechanisch auflösbar ist, dergleichen<br />
z.B. das Newtonische Gravitationssystem ist, welches eine genialische<br />
Erfin dung sein konnte, und in seinem ersten Erfinder Kepler<br />
wirklich war, aber ebensogut auch eine ganz szientifische Erfindung<br />
sein konnte, was es auch durch Newton geworden ist. Nur das, was<br />
die Kunst hervorbringt, ist allein und nur durch Genie möglich, weil in<br />
jeder Aufgabe, welche die Kunst aufgelöst hat, ein unendlicher Widerspruch<br />
vereinigt ist. Was die Wissenschaft hervorbringt, kann<br />
durch Genie hervorgebracht sein, aber es ist nicht notwendig dadurch<br />
hervorgebracht. Es ist und bleibt daher in Wissenschaften problematisch,<br />
d.h. man kann wohl immer bestimmt sagen, wo es nicht ist,<br />
aber nie, wo es ist. Es gibt nur wenige Merkmale, aus welchen in<br />
Wissenschaften sich auf Genie schließen läßt; (daß man darauf<br />
32 (absoluten Übergang ins Objektive).<br />
82
schließen muß, zeigt schon eine ganz eigne Bewandtnis der Sache).<br />
Es ist z.B. sicherlich da nicht, wo ein Ganzes, dergleichen ein System<br />
ist, teilweise, und gleichsam durch Zusammensetzung, entsteht. Man<br />
müßte also umgekehrt Genie da voraussetzen, wo offenbar die Idee<br />
des Ganzen den einzelnen Teilen vorangegangen ist. Denn da die<br />
Idee des Ganzen doch<br />
/298/<br />
nicht deutlich werden kann, als dadurch, daß sie in den einzelnen<br />
Teilen sich entwickelt, und doch hinwiederum die einzelnen Teile nur<br />
durch die Idee des Ganzen möglich sind, so scheint hier ein Widerspruch<br />
zu sein, der nur durch einen Akt des Genies, d.h. durch ein<br />
unerwartetes Zusammentreffen der bewußt losen mit der bewußten<br />
Tätigkeit, möglich ist. Ein anderer Vermutungsgrund des Genies in<br />
Wissenschaften wäre, wenn einer Dinge sagt und Dinge behauptet,<br />
deren Sinn er, entweder der Zeit nach, in der er gelebt hat, oder seinen<br />
sonstigen Äußerungen nach, unmöglich ganz durchsehen konnte,<br />
wo er also etwas scheinbar mit Bewußtsein aussprach, was er<br />
doch nur bewußtlos aussprechen konnte. Allein daß auch diese Vermutungsgründe<br />
höchst trüglich sein können, ließe sich sehr leicht auf<br />
verschiedene Art beweisen.<br />
Das Genie ist dadurch von allem anderen, was bloß Talent oder Geschicklichkeit<br />
ist, abgesondert, daß durch dasselbe ein Widerspruch<br />
aufgelöst wird, der absolut und sonst durch nichts anderes auflösbar<br />
ist. In allem, auch dem gemeinsten und alltäglichsten Produzieren<br />
wirkt mit der bewußten Tätigkeit eine bewußtlose zusammen; aber<br />
nur ein Produzieren, dessen Bedingung ein unendlicher Gegensatz<br />
beider Tätigkeiten war, ist ein ästhetisches und nur durch Genie mögliches.<br />
83
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung<br />
In: Werke in zehn Bänden, Zürich: Diogenes, 1977, S.445-469<br />
Kapitel 31. 33 Vom Genie<br />
/445/<br />
Die überwiegende Fähigkeit zu der in den beiden vorhergegangenen<br />
Kapiteln geschilderten Erkenntnißweise, aus welcher alle ächten<br />
Werke der Künste, der Poesie und selbst der Philosophie entspringen,<br />
ist es eigentlich, die man mit dem Namen des Genies bezeichnet.<br />
Da dieselbe demnach zu ihrem Gegenstande die (Platonischen)<br />
Ideen hat, diese aber nicht in abstracto, sondern nur anschaulich<br />
aufgefaßt werden; so muß das Wesen des Genies in der Vollkommenheit<br />
und Energie der anschauenden Erkenntniß liegen. Dem entsprechend<br />
hören wir als Werke des Genies am entschiedensten solche<br />
bezeichnen, welche unmittelbar von der Anschauung ausgehn<br />
und an die Anschauung sich wenden, also die der bildenden Künste,<br />
und nächstdem die der Poesie, welche ihre Anschauungen durch die<br />
Phantasie vermittelt. – Auch macht sich schon hier<br />
/446/<br />
die Verschiedenheit des Genies vom bloßen Talent bemerkbar, als<br />
welches ein Vorzug ist, der mehr in der größern Gewandtheit und<br />
Schärfe der diskursiven, als der intuitiven Erkenntniß liegt. Der damit<br />
Begabte denkt rascher und richtiger als die Uebrigen; das Genie hingegen<br />
schaut eine andere Welt an, als sie Alle, wiewohl nur indem es<br />
in die auch ihnen vorliegende tiefer hineinschaut, weil sie in seinem<br />
Kopfe sich objektiver, mithin reiner und deutlicher darstellt.<br />
Der Intellekt ist, seiner Bestimmung nach, bloß das Medium der Motive:<br />
demzufolge faßt er ursprünglich an den Dingen nichts weiter auf,<br />
als ihre Beziehungen zum Willen, die direkten, die indirekten, die<br />
möglichen. Bei den Thieren, wo es fast ganz bei den direkten bleibt,<br />
ist eben darum die Sache am augenfälligsten: was auf ihren Willen<br />
keinen Bezug hat, ist für sie nicht da. Deshalb sehn wir bisweilen mit<br />
Verwunderung, daß selbst kluge Thiere etwas an sich Auffallendes<br />
gar nicht bemerken, z.B. über augenfällige Veränderungen an unserer<br />
Person oder Umgebung kein Befremden äußern. Beim Normalmenschen<br />
kommen nun zwar die indirekten, ja die möglichen Beziehungen<br />
zum Willen hinzu, deren Summe den Inbegriff der nützlichen<br />
Kenntnisse ausmacht; aber in den Beziehungen bleibt auch hier die<br />
Erkenntniß stecken. Daher eben kommt es im normalen Kopfe nicht<br />
33 Dieses Kapitel bezieht sich auf § 29 des ersten Bandes.<br />
84
zu einem ganz rein objektiven Bilde der Dinge; weil seine Anschauungskraft,<br />
sobald sie nicht vom Willen angespornt und in Bewegung<br />
gesetzt wird, sofort ermattet und unthätig wird, indem sie nicht Energie<br />
genug hat, um aus eigener Elasticität und zwecklos die Welt rein<br />
objektiv aufzufassen. Wo hingegen dies geschieht, wo die vorstellende<br />
Kraft des Gehirns einen solchen Ueberschuß hat, daß ein reines,<br />
deutliches, objektives Bild der Außenwelt sich zwecklos darstellt, als<br />
welches für die Absichten des Willens unnütz, in den höhern Graden<br />
sogar störend ist, und selbst ihnen schädlich werden kann; – da ist<br />
schon wenigstens die Anlage zu jener Abnormität vorhanden, die der<br />
Name des Genies bezeichnet, welcher andeutet, daß hier ein dem<br />
Willen, d.i. dem eigentlichen Ich, Fremdes, gleichsam ein von außen<br />
hinzukommender Genius, thätig zu werden scheint. Aber ohne Bild<br />
zu reden: das Genie besteht darin, daß die erkennende Fähigkeit<br />
bedeutend stärkere Entwickelung erhalten hat, als der Dienst des<br />
Willens, zu welchem allein sie ursprünglich entstanden ist, erfordert.<br />
/447/<br />
Daher könnte, der Strenge nach, die Physiologie einen solchen Ueberschuß<br />
der Gehirnthätigkeit und mit ihr des Gehirns selbst, gewissermaaßen<br />
den monstris per excessum beizählen, welche sie bekanntlich<br />
den monstris per defectum und denen per situm mutatum<br />
nebenordnet. Das Genie besteht also in einem abnormen Uebermaaß<br />
des Intellekts, welches seine Benutzung nur dadurch finden<br />
kann, daß es auf das Allgemeine des Daseyns verwendet wird; wodurch<br />
es alsdann dem Dienste des ganzen Menschengeschlechts<br />
obliegt, wie der normale Intellekt dem des Einzelnen. Um die Sache<br />
recht faßlich zu machen, könnte man sagen: wenn der Normalmensch<br />
aus 2/3 Wille und 1/3 Intellekt besteht; so hat hingegen das<br />
Genie 2/3 Intellekt und 1/3 Wille. Dies ließe sich dann noch durch ein<br />
chemisches Gleichniß erläutern: die Basis und die Säure eines Mittelsalzes<br />
unterscheiden sich dadurch, daß in jeder von Beiden das<br />
Radikal zum Oxygen das umgekehrte Verhältniß, von dem im andern,<br />
hat. Die Basis nämlich, oder das Alkali, ist dies dadurch, daß in<br />
ihr das Radikal überwiegend ist gegen das Oxygen, und die Säure ist<br />
dies dadurch, daß in ihr das Oxygen das Ueberwiegende ist. Eben so<br />
nun verhalten sich, in Hinsicht auf Willen und Intellekt, Normalmensch<br />
und Genie. Daraus entspringt zwischen ihnen ein durchgreifender<br />
Unterschied, der schon in ihrem ganzen Wesen, Thun und<br />
Treiben sichtbar ist, recht eigentlich aber in ihren Leistungen an den<br />
Tag tritt. Noch könnte man als Unterschied hinzufügen, daß, während<br />
jener totale Gegensatz zwischen den chemischen Stoffen die stärkste<br />
Wahlverwandtschaft und Anziehung zu einander begründet, beim<br />
Menschengeschlecht eher das Gegentheil sich einzufinden pflegt.<br />
Die zunächst liegende Aeußerung, welche ein solcher Ueberschuß<br />
der Erkenntnißkraft hervorruft, zeigt sich meistentheils in der ursprünglichsten<br />
und grundwesentlichsten, d.i. der anschauenden Erkenntniß,<br />
und veranlaßt die Wiederholung derselben in einem Bilde:<br />
so entsteht der Maler und der Bildhauer. Bei diesen ist demnach der<br />
Weg zwischen der genialen Auffassung und der künstlerischen Produktion<br />
der kürzeste: daher ist die Form, in welcher hier das Genie<br />
85
und seine Thätigkeit sich darstellt, die einfachste und seine Beschreibung<br />
am leichtesten. Dennoch ist eben hier die Quelle nachgewiesen,<br />
aus<br />
/448/<br />
welcher alle ächten Produktionen, in jeder Kunst, auch in der Poesie,<br />
ja, in der Philosophie, ihren Ursprung nehmen; wiewohl dabei der<br />
Hergang nicht so einfach ist.<br />
Man erinnere sich hier des im ersten Buche erhaltenen Ergebnisses,<br />
daß alle Anschauung intellektual ist und nicht bloß sensual. Wenn<br />
man nun die hier gegebene Auseinandersetzung dazu bringt und<br />
zugleich auch billig berücksichtigt, daß die Philosophie des vorigen<br />
Jahrhunderts das anschauende Erkenntnißvermögen mit dem Namen<br />
der »untern Seelenkräfte« bezeichnete; so wird man, daß Adelung,<br />
welcher die Sprache seiner Zeit reden mußte, das Genie in »eine<br />
merkliche Stärke der untern Seelenkräfte« setzte, doch nicht so<br />
grundabsurd, noch des bittern Hohnes würdig finden, womit Jean<br />
Paul, in seiner Vorschule der Aesthetik, es anführt. So große Vorzüge<br />
das eben erwähnte Werk dieses bewunderungswürdigen Mannes<br />
auch hat; so muß ich doch bemerken, daß überall, wo eine theoretische<br />
Erörterung und überhaupt Belehrung der Zweck ist, die beständig<br />
witzelnde und in lauter Gleichnissen einherschreitende Darstellung<br />
nicht die angemessene seyn kann.<br />
Die Anschauung nun aber ist es, welcher zunächst das eigentliche<br />
und wahre Wesen der Dinge, wenn auch noch bedingterweise, sich<br />
aufschließt und offenbart. Alle Begriffe, alles Gedachte, sind ja nur<br />
Abstraktionen, mithin Theilvorstellungen aus jener, und bloß durch<br />
Wegdenken entstanden. Alle tiefe Erkenntniß, sogar die eigentliche<br />
Weisheit, wurzelt in der anschaulichen Auffassung der Dinge; wie wir<br />
dies in den Ergänzungen zum ersten Buch ausführlich betrachtet haben.<br />
Eine anschauliche Auffassung ist allemal der Zeugungsproceß<br />
gewesen, in welchem jedes ächte Kunstwerk, jeder unsterbliche Gedanke,<br />
den Lebensfunken erhielt. Alles Urdenken geschieht in Bildern.<br />
Aus Begriffen hingegen entspringen die Werke des bloßen Talents,<br />
die bloß vernünftigen Gedanken, die Nachahmungen und<br />
überhaupt alles auf das gegenwärtige Bedürfniß und die Zeitgenossenschaft<br />
allein Berechnete.<br />
Wäre nun aber unsere Anschauung stets an die reale Gegenwart der<br />
Dinge gebunden; so würde ihr Stoff gänzlich unter der Herrschaft des<br />
Zufalls stehn, welcher die Dinge selten zur rechten Zeit herbeibringt,<br />
selten zweckmäßig ordnet und meistens sie in sehr mangelhaften<br />
Exemplaren uns vorführt. Deshalb bedarf<br />
/449/<br />
es der Phantasie, um alle bedeutungsvollen Bilder des Lebens zu<br />
vervollständigen, zu ordnen, auszumalen, festzuhalten und beliebig<br />
zu wiederho len, je nachdem es die Zwecke einer tief eindringenden<br />
Erkenntniß und des bedeutungsvollen Werkes, dadurch sie mit-<br />
86
getheilt werden soll, erfordern. Hierauf beruht der hohe Werth der<br />
Phantasie, als welche ein dem Genie unentbehrliches Werkzeug ist.<br />
Denn nur vermöge derselben kann dieses, je nach den Erfordernissen<br />
des Zusammenhanges seines Bildens, Dichtens, oder Denkens,<br />
jeden Gegenstand oder Vorgang sich in einem lebhaften Bilde vergegenwärtigen<br />
und so stets frische Nahrung aus der Urquelle aller Erkenntniß,<br />
dem Anschaulichen, schöpfen. Der Phantasiebegabte vermag<br />
gleichsam Geister zu citiren, die ihm, zur rechten Zeit, die<br />
Wahrheiten offenbaren, welche die nackte Wirklichkeit der Dinge nur<br />
schwach, nur selten und dann meistens zur Unzeit darlegt. Zu ihm<br />
verhält sich daher der Phantasielose, wie zum freibeweglichen, ja<br />
geflügelten Thiere die an ihren Felsen gekittete Muschel, welche abwarten<br />
muß, was der Zufall ihr zuführt. Denn ein Solcher kennt keine<br />
andere, als die wirkliche Sinnesanschauung: bis sie kommt nagt er<br />
an Begriffen und Abstraktionen, welche doch nur Schaalen und Hülsen,<br />
nicht der Kern der Erkenntniß sind. Er wird nie etwas Großes<br />
leisten; es wäre denn im Rechnen und der Mathematik. – Die Werke<br />
der bildenden Künste und der Poesie, imgleichen die Leistungen der<br />
Mimik, können auch angesehn werden als Mittel, Denen, die keine<br />
Phantasie haben, diesen Mangel möglichst zu ersetzen, Denen aber,<br />
die damit begabt sind, den Gebrauch derselben zu erleichtern.<br />
Obgleich demnach die eigenthümliche und wesentliche Erkenntnißweise<br />
des Genies die anschauende ist; so machen den eigentlichen<br />
Gegenstand derselben doch keineswegs die einzelnen Dinge aus,<br />
sondern die in diesen sich aussprechenden (Platonischen) Ideen, wie<br />
deren Auffassung im 29. Kapitel analysirt worden. Im Einzelnen stets<br />
das Allgemeine zu sehn, ist gerade der Grundzug des Genies; während<br />
der Normalmensch im Einzelnen auch nur das Einzelne als solches<br />
erkennt, da es nur als solches der Wirklichkeit angehört, welche<br />
allein für ihn Interesse, d.h. Beziehungen zu seinem Willen hat. Der<br />
Grad, in welchem Jeder im einzelnen Dinge nur dieses, oder aber<br />
schon ein mehr oder minder Allgemeines, bis zum Allgemeinsten<br />
/450/<br />
der Gattung hinauf, nicht etwan denkt, sondern geradezu erblickt, ist<br />
der Maaßstab seiner Annäherung zum Genie. Diesem entsprechend<br />
ist auch nur das Wesen der Dinge überhaupt, das Allgemeine in ihnen,<br />
das Ganze, der eigentliche Gegenstand des Genies: die Untersuchung<br />
der einzelnen Phänomene ist das Feld der Talente, in den<br />
Realwissenschaften, deren Gegenstand eigentlich immer nur die Beziehungen<br />
der Dinge zu einander sind.<br />
Was im vorhergegangenen Kapitel ausführlich ge zeigt worden, daß<br />
nämlich die Auffassung der Ideen dadurch bedingt ist, daß das Erkennende<br />
das reine Subjekt der Erkenntniß sei, d.h. daß der Wille<br />
gänzlich aus dem Bewußtseyn verschwinde, bleibt uns hier gegenwärtig.<br />
– Die Freude, welche wir an manchen, die Landschaft uns vor<br />
Augen bringenden Liedern Goethes, oder an den Naturschilderungen<br />
Jean Pauls haben, beruht darauf, daß wir dadurch der Objektivität<br />
jener Geister, d.h. der Reinheit theilhaft werden, mit welcher in ihnen<br />
die Welt als Vorstellung sich von der Welt als Wille gesondert und<br />
87
gleichsam ganz davon abgelöst hatte. – Daraus, daß die Erkenntnißweise<br />
des Genies wesentlich die von allem Wollen und seinen Beziehungen<br />
gereinigte ist, folgt auch, daß die Werke desselben nicht aus<br />
Absicht oder Willkür hervorgehn, sondern es dabei geleitet ist von<br />
einer instinktartigen Nothwendigkeit. – Was man das Regewerden<br />
des Genius, die Stunde der Weihe, den Augenblick der Begeisterung<br />
nennt, ist nichts Anderes, als das Freiwerden des Intellekts, wann<br />
dieser, seines Dienstes unter dem Willen einstweilen enthoben, jetzt<br />
nicht in Unthätigkeit oder Abspannung versinkt, sondern, auf eine<br />
kurze Weile, ganz allein, aus freien Stücken, thätig ist. Dann ist er<br />
von der größten Reinheit und wird zum klaren Spiegel der Welt:<br />
denn, von seinem Ursprung, dem Willen, völlig abgetrennt, ist er jetzt<br />
die in einem Bewußtseyn koncentrirte Welt als Vorstellung selbst. In<br />
solchen Augenblicken wird gleichsam die Seele unsterblicher Werke<br />
erzeugt. Hingegen ist bei allem absichtlichen Nachdenken der Intellekt<br />
nicht frei, da ja der Wille ihn leitet und sein Thema ihm vorschreibt.<br />
Der Stämpel der Gewöhnlichkeit, der Ausdruck von Vulgarität, welcher<br />
den allermeisten Gesichtern aufgedrückt ist, besteht eigentlich<br />
darin, daß die strenge Unterordnung ihres Erkennens unter ihr Wollen,<br />
die feste Kette, welche Beide zusammenschließt,<br />
/451/<br />
und die daraus folgende Unmöglichkeit, die Dinge anders als in Beziehung<br />
auf den Willen und seine Zwecke aufzufassen, darin sichtbar<br />
ist. Hingegen liegt der Ausdruck des Genies, welcher die augenfällige<br />
Familienähnlichkeit aller Hochbegabten ausmacht, darin, daß man<br />
das Losgesprochenseyn, die Manumission des Intellekts vom Dienste<br />
des Willens, das Vorherrschen des Erkennens über das Wollen, deutlich<br />
darauf liest: und weil alle Pein aus dem Wollen hervorgeht, das<br />
Erkennen hingegen an und für sich schmerzlos und heiter ist; so<br />
giebt dies ihren hohen Stirnen und ihrem klaren, schauenden Blick,<br />
als welche dem Dienste des Willens und seiner Noth nicht unterthan<br />
sind, jenen Anstrich großer, gleichsam überirdischer Heiterkeit, welcher<br />
zu Zeiten durchbricht und sehr wohl mit der Melancholie der<br />
übrigen Gesichtszüge, besonders des Mundes, zusammenbesteht, in<br />
dieser Verbin dung aber treffend bezeichnet werden kann durch das<br />
Motto des Jordanus Brunus: In tristitia hilaris, in hilaritate tristis.<br />
Der Wille, welcher die Wurzel des Intellekts ist, widersetzt sich jeder<br />
auf irgend etwas Anderes als seine Zwecke gerichteten Thätigkeit<br />
desselben. Daher ist der Intellekt einer rein objektiven und tiefen Auffassung<br />
der Außenwelt nur dann fähig, wann er sich von dieser seiner<br />
Wurzel wenigstens einstweilen abgelöst hat. So lange er derselben<br />
noch verbunden bleibt, ist er aus eigenen Mitteln gar keiner Thätigkeit<br />
fähig, sondern schläft in Dumpfheit, so oft der Wille (das Interesse)<br />
ihn nicht weckt und in Bewegung setzt. Geschieht dies jedoch,<br />
so ist er zwar sehr tauglich, dem Interesse des Willens gemäß, die<br />
Relationen der Dinge zu erkennen, wie dies der kluge Kopf thut, der<br />
immer auch ein aufgeweckter, d.h. vom Wollen lebhaft erregter Kopf<br />
seyn muß; aber er ist eben deshalb nicht fähig, das rein objektive<br />
88
Wesen der Dinge zu erfassen. Denn das Wollen und die Zwecke machen<br />
ihn so einseitig, daß er an den Dingen nur das sieht, was sich<br />
darauf bezieht, das Uebrige aber theils verschwindet, theils verfälscht<br />
ins Bewußtseyn tritt. So wird z.B. ein in Angst und Eile Reisender den<br />
Rhein mit seinen Ufern nur als einen Queerstrich, die Brücke darüber<br />
nur als einen diesen schneidenden Strich sehn. Im Kopfe des von<br />
seinen Zwecken erfüll ten Menschen sieht die Welt aus, wie eine<br />
schöne Gegend auf einem Schlachtfeldplan aussieht. Freilich sind<br />
dies Extreme,<br />
/452/<br />
der Deutlichkeit wegen genommen: allein auch jede nur geringe Erregung<br />
des Willens wird eine geringe, jedoch stets jenen analoge<br />
Verfälschung der Erkenntniß zur Folge haben. In ihrer wahren Farbe<br />
und Gestalt, in ihrer ganzen und richtigen Bedeutung kann die Welt<br />
erst dann hervortreten, wann der Intellekt, des Wollens ledig, frei über<br />
den Objekten schwebt und ohne vom Willen angetrieben zu seyn,<br />
dennoch energisch thätig ist. Allerdings ist dies der Natur und Bestimmung<br />
des Intellekts entgegen, also gewissermaaßen widernatürlich,<br />
daher eben überaus selten: aber gerade hierin liegt das Wesen<br />
des Genies, als bei welchem allein jener Zustand in hohem Grade<br />
und anhaltend Statt findet, während er bei den Uebrigen nur annäherungsund<br />
ausnahmsweise eintritt. – In dem hier dargelegten Sinne<br />
nehme ich es, wenn Jean Paul (»Vorschule der Aesthetik«, § 12) das<br />
Wesen des Genies in die Besonnenheit setzt. Nämlich der Normalmensch<br />
ist in den Strudel und Tumult des Lebens, dem er durch seinen<br />
Willen angehört, eingesenkt: sein Intellekt ist erfüllt von den Dingen<br />
und den Vorgängen des Lebens; aber diese Dinge und das Leben<br />
selbst, in objektiver Bedeutung, wird er gar nicht gewahr; wie der<br />
Kaufmann auf der Amsterdammer Börse vollkommen vernimmt was<br />
sein Nachbar sagt, aber das dem Rauschen des Meeres ähnliche<br />
Gesumme der ganzen Börse, darüber der entfernte Beobachter erstaunt,<br />
gar nicht hört. Dem Genie hingegen, dessen Intellekt vom<br />
Willen, also von der Person, abgelöst ist, bedeckt das diese Betreffende<br />
nicht die Welt und die Dinge selbst; sondern es wird ihrer deutlich<br />
inne, es nimmt sie, an und für sich selbst, in objektiver Anschauung,<br />
wahr: in diesem Sinne ist es besonnen.<br />
Diese Besonnenheit ist es, welche den Maler befähigt, die Natur, die<br />
er vor Augen hat, treu auf der Leinwand wiederzugeben, und den<br />
Dichter, die anschauliche Gegenwart, mittelst abstrakter Begriffe,<br />
genau wieder hervorzurufen, indem er sie ausspricht und so zum<br />
deutlichen Bewußtseyn bringt; imgleichen Alles, was die Uebrigen<br />
bloß fühlen, in Worten auszudrücken. – Das Thier lebt ohne alle Besonnenheit.<br />
Bewußtseyn hat es, d.h. es erkennt sich und sein Wohl<br />
und Wehe, dazu auch die Gegenstände, welche solche veranlassen.<br />
Aber seine Erkenntniß bleibt stets subjektiv, wird nie objektiv: alles<br />
darin Vorkommende scheint sich ihm von selbst zu verstehn und<br />
kann ihm daher nie weder zum Vorwurf (Objekt der Darstellung),<br />
noch zum<br />
89
453/<br />
Problem (Objekt der Meditation) werden. Sein Bewußtseyn ist also<br />
ganz immanent. Zwar nicht von gleicher, aber doch von verwandter<br />
Beschaffenheit ist das Bewußtseyn des gemeinen Menschenschlages,<br />
indem auch seine Wahrnehmung der Dinge und der Welt überwiegend<br />
subjektiv und vorherrschend immanent bleibt. Es nimmt die<br />
Dinge in der Welt wahr, aber nicht die Welt; sein eigenes Thun und<br />
Leiden, aber nicht sich. Wie nun, in unendlichen Abstufungen, die<br />
Deutlichkeit des Bewußtseyns sich steigert, tritt mehr und mehr die<br />
Besonnenheit ein, und dadurch kommt es allmälig dahin, daß bisweilen,<br />
wenn auch selten und dann wieder in höchst verschiedenen<br />
Graden der Deutlichkeit, es wie ein Blitz durch den Kopf fährt, mit<br />
»was ist das Alles?« oder auch mit »wie ist es eigentlich beschaffen?«<br />
Die erstere Frage wird, wenn sie große Deutlichkeit und anhaltende<br />
Gegenwart erlangt, den Philosophen, und die andere, eben so,<br />
den Künstler oder Dichter machen. Dieserhalb also hat der hohe Beruf<br />
dieser Beiden seine Wurzel in der Besonnenheit, die zunächst aus<br />
der Deutlichkeit entspringt, mit welcher sie der Welt und ihrer selbst<br />
inne werden und dadurch zur Besinnung darüber kommen. Der ganze<br />
Hergang aber entspringt daraus, daß der Intellekt, durch sein Uebergewicht,<br />
sich vom Willen, dem er ursprünglich dienstbar ist, zu<br />
Zeiten losmacht.<br />
Die hier dargelegten Betrachtungen über das Genie schließen sich<br />
ergänzend an die im 22. Kapitel enthaltene Darstellung des in der<br />
ganzen Reihe der Wesen wahrnehmbaren, immer weitern Auseinandertretens<br />
des Willens und des Intellekts. Dieses eben erreicht im<br />
Genie seinen höchsten Grad, als wo es bis zur völligen Ablösung des<br />
Intellekts von seiner Wurzel, dem Willen, geht, so daß der Intellekt<br />
hier völlig frei wird, wodurch allererst die Welt als Vorstellung zur vollkommenen<br />
Objektivation gelangt. –<br />
Jetzt noch einige die Individualität des Genies betreffende Bemerkungen.<br />
– Schon Aristoteles hat, nach Cicero (Tusc., I, 33), bemerkt,<br />
omnes ingeniosos melancholicos esse; welches sich, ohne Zweifel,<br />
auf die Stelle in des Aristoteles Problemata, 30, I, bezieht. Auch Goethe<br />
sagt:<br />
Meine Dichtergluth war sehr gering,<br />
So lang ich dem Guten entgegenging:<br />
/454/<br />
Dagegen brannte sie lichterloh,<br />
Wann ich vor drohendem Uebel floh. –<br />
Zart Gedicht, wie Regenbogen,<br />
Wird nur auf dunkeln Grund gezogen:<br />
Darum behagt dem Dichtergenie<br />
90
Das Element der Melancholie. Dies ist daraus zu erklären, daß, da<br />
der Wille seine ursprüngliche Herrschaft über den Intellekt stets wieder<br />
geltend macht, dieser, unter ungünstigen persönlichen Verhältnissen,<br />
sich leichter derselben entzieht; weil er von widerwärtigen<br />
Umständen sich gern ab wendet, gewissermaaßen um sich zu zerstreuen,<br />
und nun mit desto größerer Energie sich auf die fremde Außenwelt<br />
richtet, also leichter rein objektiv wird. Günstige persönliche<br />
Verhältnisse wirken umgekehrt. Im Ganzen und Allgemeinen jedoch<br />
beruht die dem Genie beigegebene Melancholie darauf, daß der Wille<br />
zum Leben, von je hellerem Intellekt er sich beleuchtet findet, desto<br />
deutlicher das Elend seines Zustandes wahrnimmt. – Die so häufig<br />
bemerkte trübe Stimmung hochbegabter Geister hat ihr Sinnbild am<br />
Montblanc, dessen Gipfel meistens bewölkt ist; aber wann bisweilen,<br />
zumal früh Morgens, der Wolkenschleier reißt und nun der Berg vom<br />
Sonnenlichte roth, aus seiner Himmelshöhe über den Wolken, auf<br />
Chamouni herabsieht; dann ist es ein Anblick, bei welchem Jedem<br />
das Herz im tiefsten Grunde aufgeht. So zeigt auch das meistens<br />
melancholische Genie zwischendurch die schon oben geschilderte,<br />
nur ihm mögliche, aus der vollkommensten Objektivität des Geistes<br />
entspringende, eigenthümliche Heiterkeit, die wie ein Lichtglanz auf<br />
seiner hohen Stirne schwebt: in tristitia hilaris, in hilaritate tristis. –<br />
Alle Pfuscher sind es, im letzten Grunde, dadurch, daß ihr Intellekt,<br />
dem Willen noch zu fest verbunden, nur unter dessen Anspornung in<br />
Thätigkeit geräth, und daher eben ganz in dessen Dienste bleibt. Sie<br />
sind demzufolge keiner andern, als persönlicher Zwecke fähig. Diesen<br />
gemäß schaffen sie schlechte Gemälde, geistlose Gedichte,<br />
seichte, absurde, sehr oft auch unredliche Philosopheme, wann es<br />
nämlich gilt, durch fromme Unredlichkeit, sich hohen Vorgesetzten zu<br />
empfehlen. All ihr Thun und Denken ist also persönlich. Daher gelingt<br />
es ihnen<br />
/455/<br />
höchstens, sich das Aeußere, Zufällige und Beliebige fremder, ächter<br />
Werke als Manier anzueignen, wo sie dann, statt des Kerns, die<br />
Schaale fassen, jedoch vermeinen, Alles erreicht, ja, jene übertroffen<br />
zu haben. Wird dennoch das Mißlingen offenbar; so hofft Mancher,<br />
es durch seinen guten Willen am Ende doch zu erreichen. Aber gerade<br />
dieser gute Wille macht es unmöglich; weil derselbe doch nur auf<br />
persönliche Zwecke hinausläuft: bei solchen aber kann es weder mit<br />
Kunst, noch Poesie, noch Philosophie je Ernst werden. Auf Jene paßt<br />
daher ganz eigentlich die Redensart: sie stehn sich selbst im Lichte.<br />
Ihnen ahndet es nicht, daß allein der von der Herrschaft des Willens<br />
und allen seinen Projekten losgerissene und dadurch frei thätige Intellekt,<br />
weil nur er den wahren Ernst verleiht, zu ächten Produktionen<br />
befähigt: und das ist gut für sie; sonst sprängen sie ins Wasser. – Der<br />
gute Wille ist in der Moral Alles; aber in der Kunst ist er nichts: da gilt,<br />
wie schon das Wort andeutet, allein das Können. – Alles kommt zuletzt<br />
darauf an, wo der eigentliche Ernst des Menschen liegt. Bei fast<br />
Allen liegt er ausschließlich im eigenen Wohl und dem der Ihrigen;<br />
91
daher sie dies und nichts Anderes zu fördern im Stande sind; weil<br />
eben kein Vorsatz, keine willkürliche und absichtliche Anstrengung,<br />
den wahren, tiefen, eigentlichen Ernst verleiht, oder ersetzt, oder richtiger<br />
verlegt. Denn er bleibt stets da, wo die Natur ihn hingelegt hat:<br />
ohne ihn aber kann Alles nur halb betrieben werden. Daher sorgen,<br />
aus dem selben Grunde, geniale Individuen oft schlecht für ihre eigene<br />
Wohlfahrt. Wie ein bleiernes Anhängsel einen Körper immer wieder<br />
in die Lage zurückbringt, die sein durch dasselbe determinirter<br />
Schwerpunkt erfordert; so zieht der wahre Ernst des Menschen die<br />
Kraft und Aufmerksamkeit seines Intellekts immer dahin zurück, wo<br />
er liegt: alles Andere treibt der Mensch ohne wahren Ernst. Daher<br />
sind allein die höchst seltenen, abnormen Menschen, deren wahrer<br />
Ernst nicht im Persönlichen und Praktischen, sondern im Objektiven<br />
und Theoretischen liegt, im Stande, das Wesentliche der Dinge und<br />
der Welt, also die höchsten Wahrheiten, aufzufassen und in irgend<br />
einer Art und Weise wiederzugeben. Denn ein solcher außerhalb des<br />
Individui, in das Objektive fallender Ernst desselben ist etwas der<br />
menschlichen Natur Fremdes, etwas Unnatürliches, eigentlich Uebernatürliches:<br />
jedoch allein durch ihn ist ein Mensch groß, und<br />
/456/<br />
demgemäß wird alsdann sein Schaffen einem von ihm verschiedenen<br />
Genius zugeschrieben, der ihn in Besitz nehme. Einem solchen Menschen<br />
ist sein Bilden, Dichten oder Denken Zweck, den Uebrigen ist<br />
es Mittel. Diese suchen dabei ihre Sache, und wissen, in der Regel,<br />
sie wohl zu fördern, da sie sich den Zeitgenossen anschmiegen, bereit,<br />
den Bedürfnissen und Launen derselben zu dienen: daher leben<br />
sie meistens in glücklichen Umständen; Jener oft in sehr elenden.<br />
Denn sein persönliches Wohl opfert er dem objektiven Zweck: er<br />
kann eben nicht anders; weil dort sein Ernst liegt. Sie halten es umgekehrt:<br />
darum sind sie klein; er aber ist groß. Demgemäß ist sein<br />
Werk für alle Zeiten, aber die Anerkennung desselben fängt meistens<br />
erst bei der Nachwelt an: sie leben und sterben mit ihrer Zeit. Groß<br />
überhaupt ist nur Der, welcher bei seinem Wirken, dieses sei nun ein<br />
praktisches, oder ein theoretisches, nicht seine Sache sucht; sondern<br />
allein einen objektiven Zweck verfolgt: er ist es aber selbst dann<br />
noch, wann, im Praktischen, dieser Zweck ein mißverstandener, und<br />
sogar wenn er, in Folge davon, ein Verbrechen seyn sollte. Daß er<br />
nicht sich und seine Sache sucht, dies macht ihn, unter allen Umständen,<br />
groß. Klein hingegen ist alles auf persönliche Zwecke gerichtete<br />
Treiben; weil der dadurch in Thätigkeit Versetzte sich nur in<br />
seiner eigenen, verschwindend kleinen Person erkennt und findet.<br />
Hingegen wer groß ist, erkennt sich in Allem und daher im Ganzen:<br />
er lebt nicht, wie Jener, allein im Mikrokosmos, sondern noch mehr<br />
im Makrokosmos. Darum eben ist das Ganze ihm angelegen, und er<br />
sucht es zu erfassen, um es darzustellen, oder um es zu erklären,<br />
oder um praktisch darauf zu wirken. Denn ihm ist es nicht fremd; er<br />
fühlt daß es ihn angeht. Wegen dieser Ausdehnung seiner Sphäre<br />
nennt man ihn groß. Demnach gebührt nur dem wahren Helden, in<br />
irgend einem Sinn, und dem Genie jenes erhabene Prädikat: es besagt,<br />
daß sie, der menschlichen Natur entgegen, nicht ihre eigene<br />
92
Sache gesucht, nicht für sich, sondern für Alle gelebt haben. – Wie<br />
nun offenbar die Allermeisten stets klein seyn müssen und niemals<br />
groß seyn können; so ist doch das Umgekehrte nicht möglich, daß<br />
nämlich Einer durchaus, d.h. stets und jeden Augenblick, groß sei:<br />
/457/<br />
Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht,<br />
Und die Gewohnheit nennt er seine Amme.<br />
Jeder große Mann nämlich muß dennoch oft nur das Individuum<br />
seyn, nur sich im Auge haben, und das heißt klein seyn. Hierauf beruht<br />
die sehr richtige Bemerkung, daß kein Held es vor seinem Kammerdiener<br />
bleibt; nicht aber darauf, daß der Kammerdiener den Helden<br />
nicht zu schätzen verstehe; – welches Goethe, in den »Wahlverwandtschaften«<br />
(Bd. 2, Kap. 5), als Einfall der Ottilie auftischt. –<br />
Das Genie ist sein eigener Lohn: denn das Beste was Einer ist, muß<br />
er nothwendig für sich selbst seyn. »Wer mit einem Talente, zu einem<br />
Talente geboren ist, findet in demselben sein schönstes Daseyn«,<br />
sagt Goethe. Wenn wir zu einem großen Mann der Vorzeit hinaufblicken,<br />
denken wir nicht: »Wie glücklich ist er, von uns Allen noch<br />
jetzt bewundert zu werden«; sondern: »Wie glücklich muß er gewesen<br />
seyn im unmittelbaren Genuß eines Geistes, an dessen zurückgelassenen<br />
Spuren Jahrhunderte sich erquicken.« Nicht im Ruhme,<br />
sondern in Dem, wodurch man ihn erlangt, liegt der Werth, und in der<br />
Zeugung unsterblicher Kinder der Genuß. Daher sind Die, welche die<br />
Nichtigkeit des Nachruhmes daraus zu beweisen suchen, daß wer<br />
ihn erlangt, nichts davon erfährt, dem Klügling zu vergleichen, der<br />
einem Manne, welcher auf einen Haufen Austerschaalen im Hofe<br />
seines Nachbarn neidische Blicke würfe, sehr weise die gänzliche<br />
Unbrauchbarkeit derselben demonstriren wollte.<br />
Der gegebenen Darstellung des Wesens des Genies zufolge ist dasselbe<br />
insofern naturwidrig, als es darin besteht, daß der Intellekt,<br />
dessen eigentliche Bestimmung der Dienst des Willens ist, sich von<br />
diesem Dienste emancipirt, um auf eigene Hand thätig zu seyn.<br />
Demnach ist das Genie ein seiner Bestimmung untreu gewordener<br />
Intellekt. Hierauf beruhen die demselben beigegebenen Nachtheile,<br />
zu deren Betrachtung wir jetzt den Weg uns dadurch bahnen, daß wir<br />
das Genie mit dem weniger entschiedenen Ueberwiegen des Intellekts<br />
vergleichen.<br />
Der Intellekt des Normalmenschen, streng an den Dienst seines Willens<br />
gebunden, mithin eigentlich bloß mit der Aufnahme der Motive<br />
beschäftigt, läßt sich ansehn als der Komplex von<br />
/458/<br />
Drahtfäden, womit jede dieser Puppen auf dem Welttheater in Bewegung<br />
gesetzt wird. Hieraus entspringt der trockene, gesetzte Ernst<br />
93
der meisten Leute, der nur noch von dem der Thiere übertroffen wird,<br />
als welche niemals lachen. Dagegen könnte man das Genie, mit seinem<br />
entfesselten Intellekt, einem unter den großen Drahtpuppen des<br />
berühmten Mailändischen Puppentheaters mitspielenden, lebendigen<br />
Menschen vergleichen, der unter ihnen der Einzige wäre, welcher<br />
Alles wahrnähme und daher gern sich von der Bühne auf eine Weile<br />
losmachte, um aus den Logen das Schauspiel zu genießen; – das ist<br />
die geniale Besonnenheit. – Aber selbst der überaus verständige und<br />
vernünftige Mann, den man beinahe weise nennen könnte, ist vom<br />
Genie gar sehr und zwar dadurch verschieden, daß sein Intellekt eine<br />
praktische Richtung behält, auf die Wahl der allerbesten Zwecke und<br />
Mittel bedacht ist, daher im Dienste des Willens bleibt und demnach<br />
recht eigentlich naturgemäß beschäftigt ist. Der feste, praktische Lebensernst,<br />
welchen die Römer als gravitas bezeichneten, setzt voraus,<br />
daß der Intellekt nicht den Dienst des Willens verlasse, um hinauszuschweifen<br />
zu Dem, was diesen nicht angeht: darum läßt er<br />
nicht jenes Auseinandertreten des Intellekts und des Willens zu, welches<br />
Bedingung des Genies ist. Der kluge, ja der eminente Kopf, der<br />
zu großen Leistungen im Praktischen Geeignete, ist es gerade dadurch,<br />
daß die Objekte seinen Willen lebhaft erregen und zum rastlosen<br />
Nachforschen ihrer Verhältnisse und Beziehungen anspornen.<br />
Auch sein Intellekt ist also mit dem Willen fest verwachsen. Vor dem<br />
genialen Kopf hingegen schwebt, in seiner objektiven Auffassung, die<br />
Erscheinung der Welt als ein ihm Fremdes, ein Gegenstand der Kontemplation,<br />
der sein Wollen aus dem Bewußtseyn verdrängt. Um diesen<br />
Punkt dreht sich der Unterschied zwischen der Befähigung zu<br />
Thaten und der zu Werken. Die letztere verlangt Objektivität und Tiefe<br />
der Erkenntniß, welche gänzliche Sonderung des Intellekts vom<br />
Willen zur Voraussetzung hat: die erstere hingegen verlangt Anwendung<br />
der Erkenntniß, Geistesgegenwart und Entschlossenheit, welche<br />
erfordert, daß der Intellekt unausgesetzt den Dienst des Willens<br />
besorge. Wo das Band zwischen Intellekt und Wille gelöst ist, wird<br />
der von seiner natürlichen Bestimmung abgewichene Intellekt den<br />
Dienst des Willens vernachlässigen: er wird z.B. selbst in der Noth<br />
des Augenblicks noch seine Emancipation<br />
/459/<br />
geltend machen und etwan die Umgebung, von welcher dem Individuo<br />
gegenwärtige Gefahr droht, ihrem malerischen Eindruck nach<br />
aufzufassen nicht umhin können. Der Intellekt des vernünftigen und<br />
verständigen Mannes hingegen ist stets auf seinem Posten, ist auf<br />
die Umstände und deren Erfordernisse gerichtet: ein solcher wird<br />
daher in allen Fällen das der Sache Angemessene beschließen und<br />
ausführen, folglich keineswegs in jene Excentricitäten, persönliche<br />
Fehltritte, ja, Thorheiten verfallen, denen das Genie darum ausgesetzt<br />
ist, daß sein Intellekt nicht ausschließlich der Führer und Wächter<br />
seines Willens bleibt, sondern, bald mehr bald weniger, vom rein<br />
Objektiven in Anspruch genommen wird. Den Gegensatz, in welchem<br />
die beiden hier abstrakt dargestellten, gänzlich verschiedenen Arten<br />
der Befähigung zu einander stehn, hat Goethe uns im Widerspiel des<br />
Tasso und Antonio veranschaulicht. Die oft bemerkte Verwandtschaft<br />
94
des Genies mit dem Wahnsinn beruht eben hauptsächlich auf jener,<br />
dem Genie wesentlichen, dennoch aber naturwidrigen Sonderung<br />
des Intellekts vom Willen. Diese aber selbst ist keineswegs Dem zuzuschreiben,<br />
daß das Genie von geringerer Intensität des Willens<br />
begleitet sei; da es vielmehr durch einen heftigen und leidenschaftlichen<br />
Charakter bedingt ist: sondern sie ist daraus zu erklären, daß<br />
der praktisch Ausgezeichnete, der Mann der Thaten, bloß das ganze<br />
und volle Maaß des für einen energischen Willen erforderten Intellekts<br />
hat, während den meisten Menschen sogar dieses abgeht; das<br />
Genie aber in einem völlig abnormen, wirklichen Uebermaaß von<br />
Intellekt besteht, dergleichen zum Dienste keines Willens erfordert ist.<br />
Dieserhalb eben sind die Männer der ächten Werke tausend Mal seltener,<br />
als die Männer der Thaten. Jenes abnorme Uebermaaß des<br />
Intellekts eben ist es, vermöge dessen dieser das entschiedene Uebergewicht<br />
erhält, sich vom Willen losmacht und nun, seines Ursprungs<br />
vergessend, aus eigener Kraft und Elasticität frei thätig ist;<br />
woraus die Schöpfungen des Genies hervorgehn.<br />
Eben dieses nun ferner, daß das Genie im Wirken des freien, d.h.<br />
vom Dienste des Willens emancipirten Intellekts besteht, hat zur Folge,<br />
daß die Produktionen desselben keinen nützlichen Zwecken dienen.<br />
Es werde musicirt, oder philosophirt, gemalt, oder gedichtet; –<br />
ein Werk des Genies ist kein Ding zum Nutzen. Unnütz zu seyn, gehört<br />
zum Charakter der Werke des<br />
/460/<br />
Genies: es ist ihr Adelsbrief. Alle übrigen Menschenwerke sind da zur<br />
Erhaltung, oder Erleichterung unserer Existenz; bloß die hier in Rede<br />
stehenden nicht: sie allein sind ihrer selbst wegen da, und sind, in<br />
diesem Sinn, als die Blüthe, oder der reine Er trag des Daseyns anzusehn.<br />
Deshalb geht beim Genuß derselben uns das Herz auf: denn<br />
wir tauchen dabei aus dem schweren Erdenäther der Bedürftigkeit<br />
auf. – Diesem analog sehn wir, auch außerdem, das Schöne selten<br />
mit dem Nützlichen vereint. Die hohen und schönen Bäume tragen<br />
kein Obst: die Obstbäume sind kleine, häßliche Krüppel. Die gefüllte<br />
Gartenrose ist nicht fruchtbar, sondern die kleine, wilde, fast geruchlose<br />
ist es. Die schönsten Gebäude sind nicht die nützlichen: ein<br />
Tempel ist kein Wohnhaus. Ein Mensch von hohen, seltenen Geistesgaben,<br />
genöthigt einem bloß nützlichen Geschäft, dem der Gewöhnlichste<br />
gewachsen wäre, obzuliegen, gleicht einer köstlichen,<br />
mit schönster Malerei geschmückten Vase, die als Kochtopf verbraucht<br />
wird; und die nützlichen Leute mit den Leuten von Genie vergleichen,<br />
ist wie Bausteine mit Diamanten vergleichen.<br />
Der bloß praktische Mensch also gebraucht seinen Intellekt zu Dem,<br />
wozu ihn die Natur bestimmte, nämlich zum Auffassen der Beziehungen<br />
der Dinge, theils zu einander, theils zum Willen des erkennenden<br />
Individuums. Das Genie hingegen gebraucht ihn, der Bestimmung<br />
desselben entgegen, zum Auffassen des objektiven Wesens der Dinge.<br />
Sein Kopf gehört daher nicht ihm, sondern der Welt an, zu deren<br />
Erleuchtung in irgend einem Sinne er beitragen wird. Hieraus müssen<br />
dem damit begünstigten Individuo vielfältige Nachtheile erwachsen.<br />
95
Denn sein Intellekt wird überhaupt die Fehler zeigen, die bei jedem<br />
Werkzeug, welches zu Dem, wozu es nicht gemacht ist, gebraucht<br />
wird, nicht auszubleiben pflegen. Zunächst wird er gleichsam der<br />
Diener zweier Herren seyn, indem er, bei jeder Gelegenheit, sich von<br />
dem seiner Bestimmung entsprechenden Dienste losmacht, um seinen<br />
eigenen Zwecken nachzugehn, wodurch er den Willen oft sehr<br />
zur Unzeit im Stich läßt und hienach das so begabte Individuum für<br />
das Leben mehr oder weniger unbrauchbar wird, ja, in seinem Betragen<br />
bisweilen an den Wahnsinn erinnert. Sodann wird es, vermöge<br />
seiner gesteigerten Erkenntnißkraft, in den Dingen mehr das Allgemeine,<br />
als das Einzelne sehn; während der Dienst des Willens<br />
hauptsächlich die Erkenntniß des Einzelnen erfordert. Aber wann nun<br />
/461/<br />
wieder gelegentlich jene ganze, abnorm erhöhte Erkenntnißkraft sich<br />
plötzlich, mit aller ihrer Energie, auf die Angelegenheiten und Miseren<br />
des Willens richtet; so wird sie diese leicht zu lebhaft auffassen, Alles<br />
in zu grellen Farben, zu hellem Lichte, und ins Ungeheure vergrößert<br />
erblicken, wodurch das Individuum auf lauter Extreme verfällt. Dies<br />
noch näher zu erklären, diene Folgendes. Alle große theoretische<br />
Leistungen, worin es auch sei, werden dadurch zu Stande gebracht,<br />
daß ihr Urheber alle Kräfte seines Geistes auf Einen Punkt richtet, in<br />
welchen er sie zusammen schießen läßt und koncentrirt, so stark,<br />
fest und ausschließlich, daß die ganze übrige Welt ihm jetzt verschwindet<br />
und sein Gegenstand ihm alle Realität ausfüllt. Eben diese<br />
große und gewaltsame Koncentration, die zu den Privilegien des Genies<br />
gehört, tritt nun für dasselbe bisweilen auch bei den Gegenständen<br />
der Wirklichkeit und den Angelegenheiten des täglichen Lebens<br />
ein, welche alsdann, unter einen solchen Fokus gebracht, eine so<br />
monströse Vergrößerung erhalten, daß sie sich darstellen wie der im<br />
Sonnenmikroskop die Statur des Elephanten annehmende Floh.<br />
Hieraus entsteht es, daß hochbegabte Individuen bisweilen über<br />
Kleinigkeiten in heftige Affekte der verschiedensten Art gerathen, die<br />
den Andern unbegreiflich sind, als welche sie in Trauer, Freude, Sorge,<br />
Furcht, Zorn u.s.w. versetzt sehn, durch Dinge, bei welchen ein<br />
Alltagsmensch ganz gelassen bliebe. Darum also fehlt dem Genie die<br />
Nüchternheit, als welche gerade darin besteht, daß man in den Dingen<br />
nichts weiter sieht, als was ihnen, besonders in Hinsicht auf unsere<br />
möglichen Zwecke, wirklich zukommt: daher kann kein nüchterner<br />
Mensch ein Genie seyn. Zu den angegebenen Nachthellen gesellt<br />
sich nun noch die übergroße Sensibilität, welche ein abnorm<br />
erhöhtes Nervenund Cerebral-Leben mit sich bringt, und zwar im<br />
Verein mit der das Genie ebenfalls bedingenden Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit<br />
des Wollens, die sich physisch als Energie des<br />
Herzschlages darstellt. Aus allem Diesen entspringt sehr leicht jene<br />
Ueberspanntheit der Stimmung, jene Heftigkeit der Affekte, jener<br />
schnelle Wechsel der Laune, unter vorherrschender Melancholie, die<br />
Goethe uns im Tasso vor Augen gebracht hat. Welche Vernünftigkeit,<br />
ruhige Fassung, abgeschlossene Uebersicht, völlige Sicherheit und<br />
Gleichmäßigkeit des Betragens zeigt doch der wohlausgestattete<br />
96
Normalmensch, im Vergleich mit der bald träumerischen Versunkenheit,<br />
/462/<br />
bald leidenschaftlichen Aufregung des Genialen, dessen innere<br />
Quaal der Mutterschooß unsterblicher Werke ist. – Zu diesem Allen<br />
kommt noch, daß das Genie wesentlich einsam lebt. Es ist zu selten,<br />
als daß es leicht auf seines Gleichen treffen könnte, und zu verschieden<br />
von den Uebrigen, um ihr Geselle zu seyn. Bei ihnen ist das Wollen,<br />
bei ihm das Erkennen das Vorwaltende: daher sind ihre Freuden<br />
nicht seine, seine nicht ihre. Sie sind bloß moralische Wesen und<br />
haben bloß persönliche Verhältnisse: er ist zugleich ein reiner Intellekt,<br />
der als solcher der ganzen Menschheit angehört. Der Gedankengang<br />
des von seinem mütterlichen Boden, dem Willen, abgelösten<br />
und nur periodisch zu ihm zurückkehrenden Intellekts wird sich<br />
von dem des normalen, auf seinem Stamme haftenden, bald durchweg<br />
unterscheiden. Daher, und wegen der Ungleichheit des Schritts,<br />
ist Jener nicht zum gemeinschaftlichen Denken, d.h. zur Konversation<br />
mit den Andern geeignet: sie werden an ihm und seiner drückenden<br />
Ueberlegenheit so wenig Freude haben, wie er an ihnen. Sie<br />
werden daher sich behaglicher mit ihres Gleichen fühlen, und er wird<br />
die Unterhaltung mit seines Gleichen, obschon sie in der Regel nur<br />
durch ihre nachgelassenen Werke möglich ist, vorziehn. Sehr richtig<br />
sagt daher Chamfort: Il y a peu de vices qui empêchent un homme<br />
d'avoir beaucoup d'amis, autant que peuvent le faire de trop grandes<br />
qualités. Das glücklichste Loos, was dem Genie werden kann, ist<br />
Entbindung vom Thun und Lassen, als welches nicht sein Element<br />
ist, und freie Muße zu seinem Schaffen. – Aus diesem Allen ergiebt<br />
sich, daß wenn gleich das Genie den damit Begabten in den Stunden,<br />
wo er, ihm hingegeben, ungehindert im Genuß desselben<br />
schwelgt, hoch beglücken mag; dasselbe dennoch keineswegs geeignet<br />
ist, ihm einen glücklichen Lebenslauf zu bereiten, vielmehr das<br />
Gegentheil. Dies bestätigt auch die in den Biographien niedergelegte<br />
Erfahrung. Dazu kommt noch ein Mißverhältniß nach außen, indem<br />
das Genie, in seinem Treiben und Leisten selbst, meistens mit seiner<br />
Zeit im Widerspruch und Kampfe steht. Die bloßen Talentmänner<br />
kommen stets zu rechter Zeit: denn, wie sie vom Geiste ihrer Zeit<br />
angeregt und vom Bedürfniß derselben hervorgerufen werden; so<br />
sind sie auch ge rade nur fähig diesem zu genügen. Sie greifen daher<br />
ein in den<br />
/463/<br />
fortschreitenden Bildungsgang ihrer Zeitgenossen, oder in die<br />
schrittweise Förderung einer speciellen Wissenschaft: dafür wird ihnen<br />
Lohn und Beifall. Der nächsten Generation jedoch sind ihre Werke<br />
nicht mehr genießbar: sie müssen durch andere ersetzt werden,<br />
die dann auch nicht ausbleiben. Das Genie hingegen trifft in seine<br />
Zeit, wie ein Komet in die Planetenbahnen, deren wohlgeregelter und<br />
übersehbarer Ordnung sein völlig excentrischer Lauf fremd ist. Demnach<br />
kann es nicht eingreifen in den vorgefundenen, regelmäßigen<br />
97
Bildungsgang der Zeit, sondern wirft seine Werke weit hinaus in die<br />
vorliegende Bahn (wie der sich dem Tode weihende Imperator seinen<br />
Speer unter die Feinde), auf welcher die Zeit solche erst einzuholen<br />
hat. Sein Verhältniß zu den während dessen kulminirenden Talentmännern<br />
könnte es in den Worten des Evangelisten ausdrücken: O<br />
kairos ho emos oupô parestin; ho de kairos ho hymeteros pantote<br />
estin hetoimos (Joh. 7, 6) 34 . – Das Talent vermag zu leisten was die<br />
Leistungsfähigkeit, jedoch nicht die Apprehensionsfähigkeit der Uebrigen<br />
überschreitet: daher findet es sogleich seine Schätzer. Hingegen<br />
geht die Leistung des Genies nicht nur über die Leistungs-, sondern<br />
auch über die Apprehensionsfähigkeit der Andern hinaus: daher<br />
werden Diese seiner nicht unmittelbar inne. Das Talent gleicht dem<br />
Schüt zen, der ein Ziel trifft, welches die Uebrigen nicht erreichen<br />
können; das Genie dem, der eines trifft, bis zu welchem sie nicht ein<br />
Mal zu sehn vermögen: daher sie nur mittelbar, also spät, Kunde davon<br />
erhalten, und sogar diese nur auf Treu und Glauben annehmen.<br />
Demgemäß sagt Goethe im Lehrbrief: »Die Nachahmung ist uns angeboren;<br />
das Nachzuahmende wird nicht leicht erkannt. Selten wird<br />
das Treffliche gefunden, seltner geschätzt«. Und Chamfort sagt: Il en<br />
est de la valeur des hommes comme de celle des diamans, qui, à<br />
une certaine mesure de grosseur, de pureté, de perfection, ont un<br />
prix fixe et marqué, mais qui, par-delà cette mesure, restent sans<br />
prix, et ne trouvent point d'acheteurs. Auch schon Bako von Verulam<br />
hat<br />
/464/<br />
es ausgesprochen: Infimarum virtutum, apud vulgus, laus est, mediarum<br />
admiratio, supremarum sensus nullus (De augm. sc., L. VI, c. 3).<br />
Ja, möchte vielleicht Einer entgegnen, apud vulgus! – Dem muß ich<br />
jedoch zu Hülfe kommen mit Machiavelli's Versicherung: Nel mondo<br />
non è se non volgo 35 ; wie denn auch Thilo (über den Ruhm) bemerkt,<br />
daß zum großen Haufen gewöhnlich Einer mehr gehört, als Jeder<br />
glaubt. – Eine Folge dieser späten Anerkennung der Werke des Genies<br />
ist, daß sie selten von ihren Zeitgenossen und demnach in der<br />
Frische des Kolorits, welche die Gleichzeitigkeit und Gegenwart verleiht,<br />
genossen werden, sondern, gleich den Feigen und Datteln, viel<br />
mehr im trockenen, als im frischen Zustande. –<br />
Wenn wir nun endlich noch das Genie von der somatischen Seite<br />
betrachten; so finden wir es durch mehrere anatomische und physiologische<br />
Eigenschaften bedingt, welche einzeln selten vollkommen<br />
vorhanden, noch seltener vollständig beisammen, dennoch alle unerläßlich<br />
erfordert sind; so daß daraus erklärlich wird, warum das Genie<br />
nur als eine völlig vereinzelte, fast portentose Ausnahme vorkommt.<br />
Die Grundbedingung ist ein abnormes Ueberwiegen der Sensibilität<br />
über die Irritabilität und Reproduktionskraft, und zwar, was die Sache<br />
34 „Meine Zeit ist noch nicht gekommen, für euch aber ist immer die rechte<br />
Zeit.“<br />
35 Es giebt nichts Anderes auf der Welt, als Vulgus.<br />
98
erschwert, auf einem männlichen Körper. (Weiber können bedeutendes<br />
Talent, aber kein Genie haben: denn sie bleiben stets subjektiv.)<br />
Imgleichen muß das Cerebralsystem vom Gangliensystem durch<br />
vollkommene Isolation rein geschieden seyn, so daß es mit diesem in<br />
vollkommenem Gegensatz stehe, wodurch das Gehirn sein Parasitenleben<br />
auf dem Organismus recht entschieden, abgesondert, kräftig<br />
und unabhängig führt. Freilich wird es dadurch leicht feindlich auf<br />
den übrigen Organismus wirken und, durch sein erhöhtes Leben und<br />
rastlose Thätigkeit, ihn frühzeitig aufreiben, wenn nicht auch er selbst<br />
von energischer Lebenskraft und wohl konstituirt ist: auch dieses<br />
Letztere also gehört zu den Bedingungen. Ja, sogar ein guter Magen<br />
gehört dazu, wegen des speciellen und engen Konsensus dieses<br />
Theiles mit dem Gehirn. Hauptsächlich aber muß das Gehirn von<br />
ungewöhnlicher<br />
/465/<br />
Entwickelung und Größe, besonders breit und hoch seyn: hingegen<br />
wird die Tiefendimension zurückstehn, und das große Gehirn im<br />
Verhältniß gegen das kleine abnorm überwiegen. Auf die Gestalt<br />
desselben, im Ganzen und in den Theilen, kommt ohne Zweifel sehr<br />
viel an: allein dies genau zu bestimmen, reichen unsere Kenntnisse<br />
noch nicht aus; obwohl wir die edle, hohe Intelligenz verkündende<br />
Form eines Schädels leicht erkennen. Die Textur der Gehirnmasse<br />
muß von der äußersten Feinheit und Vollendung seyn und aus der<br />
reinsten, ausgeschiedensten, zartesten und erregbarsten Nervensubstanz<br />
bestehn: gewiß hat auch das quantitative Verhältniß der<br />
weißen zur grauen Substanz entschiedenen Einfluß, den wir aber<br />
ebenfalls noch nicht anzugeben vermögen. Inzwischen besagt der<br />
Obduktionsbericht der Leiche Byron's 36 , daß bei ihm die weiße Substanz<br />
in ungewöhnlich starkem Verhältniß zur grauen stand; desgleichen,<br />
daß sein Gehirn 6 Pfund gewogen hat. Cuvier's Gehirn hat 5<br />
Pfund gewogen: das normale Gewicht ist 3 Pfund. – Im Gegensatz<br />
des überwiegenden Gehirns müssen Rückenmark und Nerven ungewöhnlich<br />
dünn seyn. Ein schön gewölbter, hoher und breiter Schädel,<br />
von dünner Knochenmasse, muß das Gehirn schützen, ohne es irgend<br />
einzuengen. Diese ganze Beschaffenheit des Gehirns und<br />
Nervensystems ist das Erbtheil von der Mutter; worauf wir im folgenden<br />
Buche zurückkommen werden. Dieselbe ist aber, um das Phänomen<br />
des Genies hervorzubringen, durchaus unzureichend, wenn<br />
nicht, als Erbtheil vom Vater, ein lebhaftes, leidenschaftliches Temperament<br />
hinzukommt, sich somatisch darstellend als ungewöhnliche<br />
Energie des Herzens und folglich des Blutumlaufs, zumal nach dem<br />
Kopfe hin. Denn hiedurch wird zunächst jene dem Gehirn eigene<br />
Turgescenz vermehrt, vermöge deren es gegen seine Wände drückt;<br />
daher es aus jeder durch Verletzung entstandenen Oeffnung in diesen<br />
hervorquillt: zweitens erhält durch die gehörige Kraft des Herzens<br />
das Gehirn diejenige innere, von seiner beständigen Hebung und<br />
Senkung bei jedem Athemzuge noch verschiedene Bewegung, wel-<br />
36 In Medwin's Conversations of L. Byron, p. 333.<br />
99
che in einer Erschütterung seiner ganzen Masse bei jedem Pulsschlage<br />
der vier Cerebral-Arterien besteht und<br />
/466/<br />
deren Energie seiner hier vermehrten Quantität entsprechen muß,<br />
wie denn diese Bewegung überhaupt eine unerläßliche Bedingung<br />
seiner Thätigkeit ist. Dieser ist eben daher auch eine kleine Statur<br />
und besonders ein kurzer Hals günstig, weil, auf dem kürzern Wege,<br />
das Blut mit mehr Energie zum Gehirn gelangt: deshalb sind die großen<br />
Geister selten von großem Körper. Jedoch ist jene Kürze des<br />
Weges nicht unerläßlich: z.B. Goethe war von mehr als mitt lerer Höhe.<br />
Wenn nun aber die ganze den Blutumlauf betreffende und daher<br />
vom Vater kommende Bedingung fehlt; so wird die von der Mutter<br />
stammende günstige Beschaffenheit des Gehirns höchstens ein Talent,<br />
einen feinen Verstand, den das alsdann eintretende Phlegma<br />
unterstützt, hervorbringen; aber ein phlegmatisches Genie ist unmöglich.<br />
Aus dieser vom Vater kommenden Bedingung des Genies erklären<br />
sich viele der oben geschilderten Temperamentsfehler desselben.<br />
Ist hingegen diese Bedingung ohne die erstere, also bei gewöhnlich<br />
oder gar schlecht konstituirtem Gehirn vorhanden; so giebt<br />
sie Lebhaftigkeit ohne Geist, Hitze ohne Licht, liefert Tollköpfe, Menschen<br />
von unerträglicher Unruhe und Petulanz. Daß von zwei Brüdern<br />
nur der eine Genie hat, und dann meistens der ältere, wie es<br />
z.B. Kants Fall war, ist zunächst daraus erklärlich, daß nur bei seiner<br />
Zeugung der Vater im Alter der Kraft und Leidenschaftlichkeit war;<br />
wiewohl auch die andere, von der Mutter stammende Bedingung<br />
durch ungünstige Umstände verkümmert werden kann.<br />
Noch habe ich hier eine besondere Bemerkung hinzuzufügen über<br />
den kindlichen Charakter des Genies, d.h. über eine gewisse Aehnlichkeit,<br />
welche zwischen dem Genie und dem Kindesalter Statt findet.<br />
– In der Kindheit nämlich ist, wie beim Genie, das Cerebralund<br />
Nervensystem entschieden überwiegend: denn seine Entwickelung<br />
eilt der des übrigen Organismus weit voraus; so daß bereits mit dem<br />
siebenten Jahre das Gehirn seine volle Ausdehnung und Masse erlangt<br />
hat. Schon Bichat sagt daher: Dans l'enfance les système nerveux,<br />
comparé au musculaire, est proportionnellement plus considérable<br />
que dans tous les âges suivans, tandis que, par la suite, la<br />
pluspart des autres systèmes prédominent sur celuici. On sait que,<br />
pour bien voir les nerfs, on choisit toujours les enfans<br />
/467/<br />
(De la vie et de la mort, Art. 8, § 6). Am spätesten hingegen fängt die<br />
Entwickelung des Genitalsystems an, und erst beim Eintritt des Mannesalters<br />
sind Irritabilität, Reproduktion und Genitalfunktion in voller<br />
Kraft, wo sie dann, in der Regel, das Uebergewicht über die Gehirnfunktion<br />
haben. Hieraus ist es erklärlich, daß die Kinder, im Allgemeinen,<br />
so klug, vernünftig, wißbegierig und gelehrig, ja, im Ganzen, zu<br />
aller theoretischen Beschäftigung aufgelegter und tauglicher, als die<br />
Erwachsenen, sind: sie haben nämlich in Folge jenes Entwickelungs-<br />
100
ganges mehr Intellekt als Willen, d.h. als Neigung, Begierde, Leidenschaft.<br />
Denn Intellekt und Gehirn sind Eins, und eben so ist das Genitalsystem<br />
Eins mit der heftigsten aller Begierden: daher ich dasselbe<br />
den Brennpunkt des Willens genannt habe. Eben weil die heillose<br />
Thätigkeit dieses Systems noch schlummert, während die des Gehirns<br />
schon volle Regsam keit hat, ist die Kindheit die Zeit der Unschuld<br />
und des Glückes, das Paradies des Lebens, das verlorene<br />
Eden, auf welches wir, unsern ganzen übrigen Lebensweg hindurch,<br />
sehnsüchtig zurückblicken. Die Basis jenes Glückes aber ist, daß in<br />
der Kindheit unser ganzes Daseyn viel mehr im Erkennen, als im<br />
Wollen liegt; welcher Zustand zudem noch von außen durch die Neuheit<br />
aller Gegenstände unterstützt wird. Daher liegt die Welt, im Morgenglanze<br />
des Lebens, so frisch, so zauberisch schimmernd, so anziehend<br />
vor uns. Die kleinen Begierden, schwankenden Neigungen<br />
und geringfügigen Sorgen der Kindheit sind gegen jenes Vorwalten<br />
der erkennenden Thätigkeit nur ein schwaches Gegengewicht. Der<br />
unschuldige und klare Blick der Kinder, an dem wir uns erquicken,<br />
und der bisweilen, in einzelnen, den erhabenen, kontemplativen Ausdruck,<br />
mit welchem Raphael seine Engelsköpfe verherrlicht hat, erreicht,<br />
ist aus dem Gesagten erklärlich. Demnach entwickeln die Geisteskräfte<br />
sich viel früher, als die Bedürfnisse, welchen zu dienen sie<br />
bestimmt sind: und hierin verfährt die Natur, wie überall, sehr zweckmäßig.<br />
Denn in dieser Zeit der vorwaltenden Intelligenz sammelt der<br />
Mensch einen großen Vorrath von Erkenntnissen, für künftige, ihm<br />
zur Zeit noch fremde Bedürfnisse. Daher ist sein Intellekt jetzt unablässig<br />
thätig, faßt begierig alle Erscheinungen auf, brütet darüber und<br />
speichert sie sorgfältig auf, für<br />
/468/<br />
die kommende Zeit, – der Biene gleich, die sehr viel mehr Honig<br />
sammelt, als sie verzehren kann, im Vorgefühl künftiger Bedürfnisse.<br />
Gewiß ist was der Mensch bis zum Eintritt der Pubertät an Einsicht<br />
und Kenntniß erwirbt, im Ganzen genommen, mehr, als Alles was er<br />
nachher lernt, würde er auch noch so gelehrt: denn es ist die Grundlage<br />
aller menschlichen Erkenntnisse. – Bis zur selben Zeit waltet im<br />
kindlichen Leibe die Plasticität vor, deren Kräfte späterhin, nachdem<br />
sie ihr Werk vollendet hat, durch eine Metastase, sich auf das Generationssystem<br />
werfen, wodurch mit der Pubertät der Geschlechtstrieb<br />
eintritt und jetzt allmälig der Wille das Uebergewicht erhält. Dann folgt<br />
auf die vorwaltend theoretische, lernbegierige Kindheit das unruhige,<br />
bald stürmische, bald schwermüthige Jünglingsalter, welches nachher<br />
in das heftige und ernste Mannesalter übergeht. Gerade weil im<br />
Kinde jener unheilschwangere Trieb fehlt, ist das Wollen desselben<br />
so gemäßigt und dem Erkennen untergeordnet, woraus jener Charakter<br />
von Unschuld, Intelligenz und Vernünftigkeit entsteht, welcher<br />
dem Kindesalter eigenthümlich ist. – Worauf nun die Aehnlichkeit des<br />
Kindesalters mit dem Genie beruhe, brauche ich kaum noch auszusprechen:<br />
im Ueberschuß der Erkenntnißkräfte über die Bedürfnisse<br />
des Willens, und im daraus entspringenden Vorwalten der bloß erkennenden<br />
Thätigkeit. Wirklich ist jedes Kind gewissermaaßen ein<br />
Genie, und jedes Genie gewissermaaßen ein Kind. Die Verwandt-<br />
101
schaft Beider zeigt sich zunächst in der Naivetät und erhabenen Einfalt,<br />
welche ein Grundzug des ächten Genies ist: sie tritt auch außerdem<br />
in manchen Zügen an den Tag; so daß eine gewisse Kindlichkeit<br />
allerdings zum Charakter des Genies gehört. In Riemers Mittheilungen<br />
über Goethe wird (Bd. I, S. 184) erwähnt, daß Herder und Andere<br />
Goethen tadelnd nachsagten, er sei ewig ein großes Kind: gewiß<br />
haben sie es mit Recht gesagt, nur nicht mit Recht getadelt. Auch<br />
von Mozart hat es geheißen, er sei zeitlebens ein Kind geblieben.<br />
(Nissens Biographie Mozarts: S. 2 und 529.) Schlichtegrolls Nekrolog<br />
(von 1791, Bd. II, S. 109) sagt von ihm: »Er wurde früh in seiner<br />
Kunst ein Mann; in allen übrigen Verhältnissen aber blieb er beständig<br />
ein Kind.« Jedes Genie ist schon darum ein großes Kind, weil es<br />
in die Welt hineinschaut als in ein Fremdes, ein Schauspiel, daher mit<br />
rein objektivem Interesse. Demgemäß hat es, so wenig wie das Kind,<br />
jene trockene Ernsthaftigkeit<br />
/469/<br />
der Gewöhnlichen, als welche, keines andern als des subjektiven<br />
Interesses fähig, in den Dingen immer bloß Motive für ihr Thun sehn.<br />
Wer nicht zeitlebens gewissermaaßen ein großes Kind bleibt, sondern<br />
ein ernsthafter, nüchterner, durchweg gesetzter und vernünftiger<br />
Mann wird, kann ein sehr nützlicher und tüchtiger Bürger dieser Welt<br />
seyn; nur nimmermehr ein Genie. In der That ist das Genie es dadurch,<br />
daß jenes, dem Kindesalter natürliche, Ueberwiegen des sensibeln<br />
Systems und der erkennenden Thätigkeit sich bei ihm, abnormerweise,<br />
das ganze Leben hindurch erhält, also hier ein perennirendes<br />
wird. Eine Spur davon zieht sich freilich auch bei manchen<br />
gewöhnlichen Menschen noch bis ins Jünglingsalter hinüber; daher<br />
z.B. an manchen Studenten noch ein rein geistiges Streben und eine<br />
geniale Excentricität unverkennbar ist. Allein die Natur kehrt in ihr<br />
Gleis zurück: sie verpuppen sich und erstehn, im Mannesalter, als<br />
eingefleischte Philister, über die man erschrickt, wann man sie in<br />
spätern Jahren wieder antrifft. – Auf dem ganzen hier dargelegten<br />
Hergang beruht auch Goethes schöne Bemerkung: »Kinder halten<br />
nicht was sie versprechen; junge Leute sehr selten, und wenn sie<br />
Wort halten, hält es ihnen die Welt nicht.« (Wahlverwandtschaften,<br />
Th. I, Kap. 10.) Die Welt nämlich, welche die Kronen, die sie für das<br />
Verdienst hoch emporhielt, nachher Denen aufsetzt, welche Werkzeuge<br />
ihrer niedrigen Absichten werden, oder aber sie zu betrügen<br />
verstehn. – Dem Gesagtengemäß giebt es, wie eine bloße Jugendschönheit,<br />
dief ast Jeder ein Mal besitzt (beauté du diable), auch eine<br />
bloße Jugend-Intellektualität, ein gewisses geistiges, zum Auffassen,<br />
Verstehn, Lernen geneigtes und geeignetes Wesen, welches Jeder in<br />
der Kindheit, Einige noch in der Jugend haben, das aber danach sich<br />
verliert, eben wie jene Schönheit. Nur bei höchst Wenigen, den Auserwählten,<br />
dauert das Eine, wie das Andere, das ganze Leben hindurch<br />
fort; so daß selbst im höhern Alter noch eine Spur davon sichtbar<br />
bleibt: dies sind die wahrhaft schönen, und die wahrhaft genialen<br />
Menschen.<br />
102
Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie<br />
für das Leben<br />
In: Werke in drei Bänden, Bd.1, München: <strong>Hans</strong>er 1954. S.252-258<br />
/252/<br />
7<br />
Der historische Sinn, wenn er ungebändigt waltet und alle seine Konsequenzen<br />
zieht, entwurzelt die Zukunft, weil er die Illusionen zerstört<br />
und den bestehenden Dingen ihre Atmosphäre nimmt, in der sie allein<br />
leben können. Die historische Gerechtigkeit, selbst wenn sie<br />
wirklich und in reiner Gesinnung geübt wird, ist deshalb eine schreckliche<br />
Tugend, weil sie immer das Lebendige untergräbt und zu Fall<br />
bringt: ihr Richten ist immer ein Vernichten. Wenn hinter dem historischen<br />
Triebe kein Bautrieb wirkt, wenn nicht zerstört und aufgeräumt<br />
wird, damit eine bereits in der Hoffnung lebendige Zukunft auf dem<br />
befreiten Boden ihr Haus baue, wenn die Gerechtigkeit allein waltet,<br />
dann wird der schaffende Instinkt entkräftet und entmutigt. Eine Religion<br />
zum Beispiel, die in historisches Wissen, unter dem Walten der<br />
rei nen Gerechtigkeit, umgesetzt werden soll, eine Religion, die durch<br />
und durch wissenschaftlich erkannt werden soll, ist am Ende dieses<br />
Weges zugleich vernichtet. Der Grund liegt darin, daß bei der historischen<br />
Nachrechnung jedesmal so viel Falsches, Rohes, Unmenschliches,<br />
Absurdes, Gewaltsames zutage tritt, daß die pietätvolle Illusions-Stimmung,<br />
in der alles, was leben will, allein leben kann, notwendig<br />
zerstiebt: nur in Liebe aber, nur umschattet von der Illusion<br />
der Liebe, schafft der Mensch, nämlich nur im unbedingten Glauben<br />
an das Vollkommne und Rechte. Jedem, den man zwingt, nicht mehr<br />
unbedingt zu lieben, hat man die Wurzeln seiner Kraft abgeschnitten:<br />
er muß verdorren, nämlich unehrlich werden. In solchen Wirkungen<br />
ist der Historie die Kunst entgegengesetzt: und nur wenn die Historie<br />
es erträgt, zum Kunstwerk umgebildet, also reines Kunstgebilde zu<br />
werden, kann sie vielleicht Instinkte erhalten oder sogar wecken. Eine<br />
solche Geschichtsschreibung würde aber durchaus dem analytischen<br />
und unkünstlerischen Zuge unserer Zeit widersprechen, ja von ihr als<br />
Fälschung empfunden werden. Historie aber, die nur zerstört, ohne<br />
daß ein innrer Bautrieb sie führt, macht auf die Dauer ihre Werkzeuge<br />
blasiert und unnatürlich: denn solche Menschen zerstören Illusionen,<br />
und »wer die Illusion in sich und anderen zerstört, den straft die Natur<br />
als der strengste Tyrann«. Eine gute Zeit lang zwar kann man sich<br />
wohl mit der Historie völlig harmlos und unbedachtsam beschäftigen,<br />
/253/<br />
als ob es eine Beschäftigung so gut wie jede andre wäre; insbesondere<br />
scheint die neuere Theologie sich rein aus Harmlosigkeit mit der<br />
Geschichte eingelassen zu haben und jetzt noch will sie es kaum<br />
103
merken, daß sie damit, wahrscheinlich sehr wider Willen, im Dienste<br />
des Voltaireschen écrasez steht. Vermute niemand dahinter neue<br />
kräftige Bau-Instinkte; man müßte denn den sogenannten Protestanten-Verein<br />
als Mutterschoß einer neuen Religion und etwa den Juristen<br />
Holtzendorf (den Herausgeber und Vorredner der noch viel sogenannteren<br />
Protestanten-Bibel) als Johannes am Flusse Jordan<br />
gelten lassen. Einige Zeit hilft vielleicht die in älteren Köpfen noch<br />
qualmende Hegelsche Philosophie zur Propagation jener Harmlosigkeit,<br />
etwa dadurch, daß man die »Idee des Christentums« von ihren<br />
mannigfach unvollkommenen »Erscheinungsformen« unterscheidet<br />
und sich vorredet, es sei wohl gar die »Liebhaberei der Idee«, sich in<br />
immer reineren Formen zu offenbaren, zuletzt nämlich als die gewiß<br />
allerreinste, durchsichtigste, ja kaum sichtbare Form im Hirne des<br />
jetzigen theologus liberalis vulgaris. Hört man aber diese allerreinlichsten<br />
Christentümer sich über die früheren unreinlichen Christentümer<br />
aussprechen, so hat der nichtbeteiligte Zuhörer oft den Eindruck,<br />
es sei gar nicht vom Christentume die Rede, sondern von –<br />
nun woran sollen wir denken? wenn wir das Christentum von dem<br />
»größten Theologen des Jahrhunderts« als die Religion bezeichnet<br />
finden, die es verstattet, »sich in alle wirklichen und noch einige andere<br />
bloß mögliche Religionen hineinzuempfinden«, und wenn die<br />
»wahre Kirche« die sein soll, welche »zur fließenden Masse wird, wo<br />
es keine Umrisse gibt, wo jeder Teil sich bald hier, bald dort befindet<br />
und alles sich friedlich untereinander mengt«. – Nochmals, woran<br />
sollen wir denken?<br />
Was man am Christentume lernen kann, daß es unter der Wirkung<br />
einer historisierenden Behandlung blasiert und unnatürlich geworden<br />
ist, bis endlich eine vollkommen historische, das heißt gerechte Behandlung<br />
es in reines Wissen um das Christentum auflöst und dadurch<br />
vernichtet, das kann man an allem, was Leben hat, studieren:<br />
daß es aufhört zu leben, wenn es zu Ende seziert ist und schmerzlich<br />
und krankhaft lebt, wenn man anfängt, an ihm die historischen Sezierübungen<br />
zu machen. Es gibt Menschen, die an eine umwälzende<br />
und reformierende Heilkraft der deutschen Musik unter Deutschen<br />
glauben: sie<br />
/254/<br />
empfinden es mit Zorn und halten es für ein Unrecht, begangen am<br />
Lebendigsten unsrer Kultur, wenn solche Männer wie Mozart und<br />
Beethoven bereits jetzt mit dem ganzen gelehrten Wust des Biographischen<br />
überschüttet und mit dem Foltersystem historischer Kritik<br />
zu Antworten auf tausend zudringliche Fragen gezwungen werden.<br />
Wird nicht dadurch das in seinen lebendigen Wirkungen noch gar<br />
nicht Erschöpfte zur Unzeit abgetan oder mindestens gelähmt, daß<br />
man die Neubegierde auf zahllose Mikrologien des Lebens und der<br />
Werke richtet und Erkenntnis-Probleme dort sucht, wo man lernen<br />
sollte zu leben und alle Probleme zu vergessen? Versetzt nur ein<br />
paar solcher modernen Biographen in Gedanken an die Geburtsstätte<br />
des Christentums oder der Lutherschen Reformation; ihre nüchterne<br />
pragmatisierende Neubegier hätte gerade ausgereicht, um jede<br />
geisterhafte actio in distans unmöglich zu machen: wie das elendeste<br />
104
Tier die Entstehung der mächtigsten Eiche verhindern kann, dadurch,<br />
daß es die Eichel verschluckt. Alles Lebendige braucht um sich eine<br />
Atmosphäre, einen geheimnisvollen Dunstkreis; wenn man ihm diese<br />
Hülle nimmt, wenn man eine Religion, eine Kunst, ein Genie verurteilt,<br />
als Gestirn ohne Atmosphäre zu kreisen: so soll man sich über<br />
das schnelle Verdorren, Hart- und Unfruchtbarwerden nicht mehr<br />
wundern. So ist es nun einmal bei allen großen Dingen,<br />
»die nie ohn' ein'gen Wahn gelingen«,<br />
wie <strong>Hans</strong> Sachs in den Meistersingern sagt.<br />
Aber selbst jedes Volk, ja jeder Mensch, der reif werden will, braucht<br />
einen solchen umhüllenden Wahn, eine solche schützende und<br />
umschleiernde Wolke; jetzt aber haßt man das Reifwerden überhaupt,<br />
weil man die Historie mehr als das Leben ehrt. Ja man triumphiert<br />
darüber, daß jetzt »die Wissenschaft anfange, über das Leben<br />
zu herrschen«: möglich, daß man das erreicht; aber gewiß ist ein<br />
derartig beherrschtes Leben nicht viel wert, weil es viel weniger Leben<br />
ist und viel weniger Leben für die Zukunft verbürgt als das ehemals<br />
nicht durch das Wissen, sondern durch Instinkte und kräftige<br />
Wahnbilder beherrschte Leben. Aber es soll auch gar nicht, wie gesagt,<br />
das Zeitalter der fertig und reif gewordenen, der harmonischen<br />
Persönlichkeiten sein, sondern das der gemeinsamen möglichst<br />
nutzbaren Arbeit. Das<br />
/255/<br />
heißt eben doch nur: die Menschen sollen zu den Zwecken der Zeit<br />
abgerichtet werden, um so zeitig als möglich mit Hand anzulegen: sie<br />
sollen in der Fabrik der allgemeinen Utilitäten arbeiten, bevor sie reif<br />
sind, ja damit sie gar nicht mehr reif werden – weil dies ein Luxus<br />
wäre, der »dem Arbeitsmarkte« eine Menge von Kraft entziehen würde.<br />
Man blendet einige Vögel, damit sie schöner singen: ich glaube<br />
nicht, daß die jetzigen Menschen schöner singen als ihre Großväter,<br />
aber das weiß ich, daß man sie zeitig blendet. Das Mittel aber, das<br />
verruchte Mittel, das man anwendet, um sie zu blenden, ist allzu helles,<br />
allzu plötzliches, allzu wechselndes Licht. Der junge Mensch<br />
wird durch alle Jahrtausende gepeitscht: Jünglinge, die nichts von<br />
einem Kriege, einer diplomatischen Aktion, einer Handelspolitik<br />
verstehen, werden der Einführung in die politische Geschichte für<br />
würdig befunden. So aber, wie der junge Mensch durch die<br />
Geschichte läuft, so laufen wir Modernen durch die Kunstkammern,<br />
so hören wir Konzerte. Man fühlt wohl, das klingt anders als jenes,<br />
das wirkt anders als jenes: dies Gefühl der Befremdung immer mehr<br />
zu verlieren, über nichts mehr übermäßig zu erstaunen, endlich alles<br />
sich gefallen zu lassen – das nennt man dann wohl den historischen<br />
Sinn, die historische Bildung. Ohne Beschönigung des Ausdrucks<br />
gesprochen: die Masse des Einströmenden ist so groß, das<br />
Befremdende, Barbarische und Gewaltsame dringt so übermächtig,<br />
»zu scheußlichen Klumpen geballt«, auf die jugendliche Seele ein,<br />
daß sie sich nur mit einem vorsätzlichen Stumpfsinn zu retten weiß.<br />
Wo ein feineres und stärkeres Bewußtsein zugrunde lag, stellt sich<br />
wohl auch eine andre Empfindung ein: Ekel. Der junge Mensch ist so<br />
heimatlos geworden und zweifelt an allen Sitten und Begriffen. Jetzt<br />
105
und zweifelt an allen Sitten und Begriffen. Jetzt weiß er es: in allen<br />
Zeiten war es anders, es kommt nicht darauf an, wie du bist. In<br />
schwermütiger Gefühllosigkeit läßt er Meinung auf Meinung an sich<br />
vorübergehn und begreift das Wort und die Stimmung Höl derlins<br />
beim Lesen des Laertius Diogenes über Leben und Lehren griechischer<br />
Philosophen: »ich habe auch hier wieder erfahren, was mir<br />
schon manchmal begegnet ist, daß mir nämlich das Vorübergehende<br />
und Abwechselnde der menschlichen Gedanken und Systeme fast<br />
tragischer aufgefallen ist als die Schicksale, die man gewöhnlich allein<br />
die wirklichen nennt.« Nein, ein solches überschwemmendes,<br />
betäubendes und gewaltsames Historisieren ist<br />
/256/<br />
gewiß nicht für die Jugend nötig, wie die Alten zeigen, ja im höchsten<br />
Grade gefährlich, wie die Neueren zeigen. Nun betrachte man aber<br />
gar den historischen Studenten, den Erben einer allzufrühen, fast im<br />
Knabenalter schon sichtbar gewordenen Blasiertheit. Jetzt ist ihm die<br />
»Methode« zu eigner Arbeit, der rechte Griff und der vornehme Ton<br />
nach des Meisters Manier zu eigen geworden; ein ganz isoliertes<br />
Kapitelchen der Vergangenheit ist seinem Scharfsinn und der erlernten<br />
Methode zum Opfer gefallen; er hat bereits produziert, ja mit stolzerem<br />
Worte, er hat »geschaffen«, er ist nun Diener der Wahrheit<br />
durch die Tat und Herr im historischen Weltbereiche geworden. War<br />
er schon als Knabe »fertig«, so ist er nun bereits überfertig: man<br />
braucht an ihm nur zu schütteln, so fällt einem die Weisheit mit Geprassel<br />
in den Schoß; doch die Weisheit ist faul und jeder Apfel hat<br />
seinen Wurm. Glaubt es mir: wenn die Menschen in der wissenschaftlichen<br />
Fabrik arbeiten und nutzbar werden sollen, bevor sie reif<br />
sind, so ist in kurzem die Wissenschaft ebenso ruiniert wie die allzuzeitig<br />
in dieser Fabrik verwendeten Sklaven. Ich bedaure, daß man<br />
schon nötig hat, sich des sprachlichen Jargons der Sklavenhalter und<br />
Arbeitgeber zur Bezeichnung solcher Verhältnisse zu bedienen, die<br />
an sich frei von Utilitäten, enthoben der Lebensnot gedacht werden<br />
sollten; aber unwillkürlich drängen sich die Worte »Fabrik«, »Arbeitsmarkt«,<br />
»Angebot«, »Nutzbarmachung« – und wie all die Hilfszeitwörter<br />
des Egoismus lauten – auf die Lippen, wenn man die jüngste<br />
Generation der Gelehrten schildern will. Die gediegene Mittelmäßigkeit<br />
wird immer mittelmäßiger, die Wissenschaft im ökonomischen<br />
Sinne immer nutzbarer. Eigentlich sind die allerneuesten Gelehrten<br />
nur in einem Punkte weise, darin freilich weiser als alle Menschen der<br />
Vergangenheit, in allen übrigen Punkten nur unendlich anders – vorsichtig<br />
gesprochen – als alle Gelehrten alten Schlags. Trotzdem fordern<br />
sie Ehren und Vorteile für sich ein, als ob der Staat und die öffentliche<br />
Meinung verpflichtet wären, die neuen Münzen für ebenso<br />
voll zu nehmen wie die alten. Die Kärrner haben unter sich einen Arbeitsvertrag<br />
gemacht und das Genie als überflüssig dekretiert – dadurch,<br />
daß jeder Kärrner zum Genie umgestempelt wird; wahrscheinlich<br />
wird es eine spätere Zeit ihren Bauten ansehen, daß sie zu<br />
sammengekarrt, nicht zusammengebaut sind. Denen, die unermüdlich<br />
den modernen Schlacht- und<br />
106
257/<br />
Opferruf »Teilung der Arbeit! In Reih und Glied!« im Munde führen, ist<br />
einmal klärlich und rund zu sagen: wollt ihr die Wissenschaft möglichst<br />
schnell fördern, so werdet ihr sie euch möglichst schnell vernichten;<br />
wie euch die Henne zugrunde geht, die ihr künstlich zum<br />
allzuschnellen Eierlegen zwingt. Gut, die Wissenschaft ist in den letzten<br />
Jahrzehnten erstaunlich schnell gefördert worden: aber seht euch<br />
nun auch die Gelehrten, die erschöpften Hennen an. Es sind wahrhaftig<br />
keine »harmonischen« Naturen; nur gackern können sie mehr<br />
als je, weil sie öfter Eier legen: freilich sind auch die Eier immer kleiner<br />
(obzwar die Bücher immer dicker) geworden. Als letztes und natürliches<br />
Resultat ergibt sich das allgemein beliebte »Popularisieren«<br />
(nebst »Feminisieren« und »Infantisieren«) der Wissenschaft, das<br />
heißt das berüchtigte Zuschneiden des Rocks der Wissenschaft auf<br />
den Leib des »gemischten Publikums«: um uns hier einmal für eine<br />
schneidermäßige Tätigkeit auch eines schneidermäßigen Deutsches<br />
zu befleißigen. Goethe sah darin einen Mißbrauch und verlangte, daß<br />
die Wissenschaften nur durch eine erhöhte Praxis auf die äußere<br />
Welt wirken sollten. Den älteren Gelehrten-Generationen dünkte<br />
überdies ein solcher Mißbrauch aus guten Gründen schwer und lästig:<br />
ebenfalls aus guten Grün den fällt er den jüngeren Gelehrten<br />
leicht, weil sie selbst, von einem ganz kleinen Wissens-Winkel abgesehn,<br />
sehr gemischtes Publikum sind und dessen Bedürfnisse in sich<br />
tragen. Sie brauchen sich nur einmal bequem hinzusetzen, so gelingt<br />
es ihnen, auch ihr kleines Studienbereich jener gemischt-populären<br />
Bedürfnis-Neubegier aufzuschließen. Für diesen Bequemlichkeitsakt<br />
prätendiert man hinterdrein den Namen »bescheidene Herablassung<br />
des Gelehrten zu seinem Volke«: während im Grunde der Gelehrte<br />
nur zu sich, soweit er nicht Gelehrter, sondern Pöbel ist, herabstieg.<br />
Schafft euch den Begriff eines »Volkes«: den könnt ihr nie edel und<br />
hoch genug denken. Dächtet ihr groß vom Volke, so wäret ihr auch<br />
barmherzig gegen dasselbe und hütetet euch wohl, euer historisches<br />
Scheidewasser ihm als Lebens- und Labetrank anzubieten. Aber ihr<br />
denkt im tiefsten Grunde von ihm gering, weil ihr vor seiner Zukunft<br />
keine wahre und sicher gegründete Achtung haben dürft, und ihr<br />
handelt als praktische Pessimisten, ich meine als Menschen, welche<br />
die Ahnung eines Unterganges leitet und die dadurch gegen das<br />
fremde, ja gegen das eigne Wohl gleichgültig<br />
/258/<br />
und läßlich werden. Wenn uns nur die Scholle noch trägt! Und wenn<br />
sie uns nicht mehr trägt, dann soll es auch recht sein: – so empfinden<br />
sie und leben eine ironische Existenz.<br />
107
Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches<br />
In: Werke in drei Bänden, Bd.I, München: <strong>Hans</strong>er 1954, S.545-562<br />
/545/<br />
Viertes Hauptstück: Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller<br />
145<br />
Das Vollkommene soll nicht geworden sein. – Wir sind gewöhnt, bei<br />
allem Vollkommenen die Frage nach dem Werden zu unterlassen:<br />
sondern uns des Gegenwärtigen zu freuen, wie als ob es auf einen<br />
Zauberschlag aus dem Boden aufgestiegen sei. Wahrscheinlich stehen<br />
wir hier noch unter der Nachwirkung einer uralten mythologischen<br />
Empfindung. Es ist uns beinahe noch so zumute (zum Beispiel<br />
in einem griechischen Tempel wie der von Pästum), als ob eines<br />
Morgens ein Gott spielend aus solchen ungeheuren Lasten sein<br />
Wohnhaus gebaut habe: andere Male, als ob eine Seele urplötzlich in<br />
einen Stein hineingezaubert sei und nun durch ihn reden wolle. Der<br />
Künstler weiß, daß sein Werk nur voll wirkt, wenn es den Glauben an<br />
eine Improvisation, an eine wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung<br />
erregt; und so hilft er wohl dieser Illusion nach und führt jene<br />
Elemente der begeisterten Unruhe, der blind greifenden Unordnung,<br />
des aufhorchenden Träumens beim Beginn der Schöpfung in die<br />
Kunst ein, als Trugmittel, um die Seele des Schauers oder Hörers so<br />
zu stimmen, daß sie an das plötzliche Hervorspringen des Vollkommenen<br />
glaubt. – Die Wissenschaft der Kunst hat dieser Illusion, wie<br />
es sich von selbst versteht, auf das bestimmteste zu widersprechen<br />
und die Fehlschlüsse und Verwöhnungen des Intellekts aufzuzeigen,<br />
vermöge welcher er dem Künstler in das Netz läuft.<br />
146<br />
Der Wahrheitssinn des Künstlers. – Der Künstler hat in Hinsicht auf<br />
das Erkennen der Wahrheiten eine schwächere Moralität als der<br />
Denker; er will sich die glänzenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens<br />
durchaus nicht nehmen lassen und wehrt sich gegen nüchterne,<br />
schlichte Methoden und Resultate. Scheinbar kämpft er für die höhere<br />
Würde und Bedeutung des Menschen; in Wahrheit will er die für<br />
seine Kunst<br />
/546/<br />
wirkungsvollsten Voraussetzungen nicht aufgeben, also das Phantastische,<br />
Mythische, Unsichere, Extreme, den Sinn für das Symbolische,<br />
die Überschätzung der Person, den Glauben an etwas Wunderartiges<br />
im Genius: er hält also die Fortdauer seiner Art des Schaf-<br />
108
fens für wichtiger als die wissenschaftliche Hingebung an das Wahre<br />
in jeder Gestalt, erscheine diese auch noch so schlicht.<br />
147<br />
Die Kunst als Totenbeschwörerin. – Die Kunst versieht nebenbei die<br />
Aufgabe, zu konservieren, auch wohl erloschene, verblichene Vorstellungen<br />
ein wenig wieder aufzufärben; sie flicht, wenn sie diese<br />
Aufgabe löst, ein Band um verschiedene Zeitalter und macht deren<br />
Geister wiederkehren. Zwar ist es nur ein Scheinleben wie über Gräbern,<br />
welches hierdurch entsteht, oder wie die Wiederkehr geliebter<br />
Toten im Traume; aber wenigstens auf Augenblicke wird die alte<br />
Empfindung noch einmal rege und das Herz klopft nach einem sonst<br />
vergessenen Takte. Nun muß man wegen dieses allgemeinen Nutzens<br />
der Kunst dem Künstler selber es nachsehen, wenn er nicht in<br />
den vordersten Reihen der Aufklärung und der fortschreitenden Vermännlichung<br />
der Menschheit steht: er ist zeitlebens ein Kind oder ein<br />
Jüngling geblieben und auf dem Standpunkt zurückgehalten, auf welchem<br />
er von seinem Kunsttriebe überfallen wurde; Empfindungen der<br />
ersten Lebensstufen stehen aber zugestandenermaßen denen früherer<br />
Zeitläufte näher als denen des gegenwärtigen Jahrhunderts. Unwillkürlich<br />
wird es zu seiner Aufgabe, die Menschheit zu verkindlichen;<br />
dies ist sein Ruhm und seine Begrenztheit.<br />
148<br />
Dichter als Erleichterer des Lebens. – Die Dichter, insofern auch sie<br />
das Leben der Menschen erleichtern wollen, wenden den Blick entweder<br />
von der mühseligen Gegenwart ab oder verhelfen der Gegenwart<br />
durch ein Licht, das sie von der Vergangenheit herstrahlen machen,<br />
zu neuen Farben. Um dies zu können, müssen sie selbst in<br />
manchen Hinsichten rückwärts gewendete Wesen sein: so daß man<br />
sie als Brücken zu ganz fernen Zeiten und Vorstellungen, zu absterbenden<br />
oder abgestorbenen<br />
/547/<br />
Religionen und Kulturen gebrauchen kann. Sie sind eigentlich immer<br />
und notwendig Epigonen. Es ist freilich von ihren Mitteln zur Erleichterung<br />
des Lebens einiges Ungünstige zu sagen: sie beschwichtigen<br />
und heilen nur vorläufig, nur für den Augenblick; sie halten sogar die<br />
Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung ihrer Zustände zu<br />
arbeiten, indem sie gerade die Leidenschaft der Unbefriedigten, welche<br />
zur Tat drängen, aufheben und palliativisch entladen.<br />
149<br />
Der langsame Pfeil der Schönheit. – Die edelste Art der Schönheit ist<br />
die, welche nicht auf einmal hinreißt, welche nicht stürmische und<br />
berauschende Angriffe macht (eine solche erweckt leicht Ekel), sondern<br />
jene langsam einsickernde, welche man fast unbemerkt mit sich<br />
109
fortträgt und die einem im Traum einmal wiederbegegnet, endlich<br />
aber, nachdem sie lange mit Bescheidenheit an unserm Herzen gelegen,<br />
von uns ganz Besitz nimmt, unser Auge mit Tränen, unser<br />
Herz mit Sehnsucht füllt. – Wonach sehnen wir uns beim Anblick der<br />
Schönheit? Darnach, schön zu sein: wir wähnen, es müsse viel Glück<br />
damit verbunden sein. – Aber das ist ein Irrtum.<br />
150<br />
Beseelung der Kunst. – Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen<br />
nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter<br />
Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt<br />
selber tiefer, seelenvoller, so daß sie Erhebung und Begeisterung<br />
mitzuteilen vermag, was sie vordem noch nicht konnte. Der zum<br />
Strome angewachsene Reichtum des religiösen Gefühls bricht immer<br />
wieder aus und will sich neue Reiche erobern: aber die wachsende<br />
Aufklärung hat die Dogmen der Religion erschüttert und ein gründliches<br />
Mißtrauen eingeflößt: so wirft sich das Gefühl, durch die Aufklärung<br />
aus der religiösen Sphäre hinausgedrängt, in die Kunst; in einzelnen<br />
Fällen auch auf das politische Leben, ja selbst direkt auf die<br />
Wissenschaft. Überall, wo man an menschlichen Bestrebungen eine<br />
höhere düstere Färbung wahrnimmt, darf man vermuten, daß Geistergrauen,<br />
Weihrauchduft und Kirchenschatten daran hängengeblieben<br />
sind.<br />
/548/<br />
151<br />
Wodurch das Metrum verschönert. – Das Metrum legt Flor über die<br />
Realität; es veranlaßt einige Künstlichkeit des Geredes und Unreinheit<br />
des Denkens; durch den Schatten, den es auf den Gedanken<br />
wirft, verdeckt es bald, bald hebt es hervor. Wie Schatten nötig ist,<br />
um zu verschönern, so ist das »Dumpfe« nötig, um zu verdeutlichen.<br />
– Die Kunst macht den Anblick des Lebens erträglich, dadurch daß<br />
sie den Flor des unreinen Denkens über dasselbe legt.<br />
152<br />
Kunst der häßlichen Seele. – Man zieht der Kunst viel zu enge<br />
Schranken, wenn man verlangt, daß nur die geordnete, sittlich im<br />
Gleichgewicht schwebende Seele sich in ihr aussprechen dürfe. Wie<br />
in den bildenden Künsten so auch gibt es in der Musik und Dichtung<br />
eine Kunst der häßlichen Seele, neben der Kunst der schönen Seele;<br />
und die mächtigsten Wirkungen der Kunst das Seelen-Brechen, Steine-Bewegen<br />
und Tiere-Vermenschlichen ist vielleicht gerade jener<br />
Kunst am meisten gelungen.<br />
153<br />
110
Die Kunst macht dem Denker das Herz schwer. – Wie stark das metaphysische<br />
Bedürfnis ist, und wie sich noch zuletzt die Natur den<br />
Abschied von ihm schwer macht, kann man daraus entnehmen, daß<br />
noch im Freigeiste, wenn er sich alles Metaphysischen entschlagen<br />
hat, die höchsten Wirkungen der Kunst leicht ein Miterklingen der<br />
lange verstummten, ja zerrissenen metaphysischen Saite hervorbringen,<br />
sei es zum Beispiel, daß er bei einer Stelle der neunten Sinfonie<br />
Beethovens sich über der Erde in einem Ster nendome schweben<br />
fühlt, mit dem Traume der Unsterblichkeit im Herzen: alle Sterne<br />
scheinen um ihn zu flimmern und die Erde immer tiefer hinabzusinken.<br />
– Wird er sich dieses Zustandes bewußt, so fühlt er wohl einen<br />
tiefen Stich im Herzen und seufzt nach dem Menschen, welcher ihm<br />
die verlorene Geliebte, nenne man sie nun Religion oder Metaphysik,<br />
zurückführe. In solchen Augenblicken wird sein intellektualer Charakter<br />
auf die Probe gestellt.<br />
/549/<br />
154<br />
Mit dem Leben spielen. – Die Leichtigkeit und Leichtfertigkeit der homerischen<br />
Phantasie war nötig, um das übermäßig leidenschaftliche<br />
Gemüt und den überscharfen Verstand der Griechen zu beschwichtigen<br />
und zeitweilig aufzuheben. Spricht bei ihnen der Verstand: wie<br />
herbe und grausam erscheint dann das Leben! Sie täuschen sich<br />
nicht, aber sie umspielen absichtlich das Leben mit Lügen. Simonides<br />
riet seinen Landsleuten, das Leben wie ein Spiel zu nehmen; der<br />
Ernst war ihnen als Schmerz allzubekannt (das Elend der Menschen<br />
ist ja das Thema, über welches die Götter so gern singen hören), und<br />
sie wußten, daß einzig durch die Kunst selbst das Elend zum Genusse<br />
werden könne. Zur Strafe für diese Einsicht waren sie aber von<br />
der Lust zu fabulieren so geplagt, daß es ihnen im Alltagsleben<br />
schwer wurde, sich von Lug und Trug freizuhalten, wie alles Poetenvolk<br />
eine solche Lust an der Lüge hat und obendrein noch die Unschuld<br />
dabei. Die benachbarten Völker fanden das wohl mitunter zum<br />
Verzweifeln.<br />
155<br />
Glaube an Inspiration. – Die Künstler haben ein Interesse daran, daß<br />
man an die plötzlichen Eingebungen, die sogenannten Inspirationen<br />
glaubt; als ob die Idee des Kunstwerks, der Dichtung, der Grundgedanke<br />
einer Philosophie wie ein Gnadenschein vom Himmel herableuchte.<br />
In Wahrheit produziert die Phantasie des guten Künstlers<br />
oder Denkers fortwährend, Gutes, Mittelmäßiges und Schlechtes,<br />
aber seine Urteilskraft, höchst geschärft und geübt, verwirft, wählt<br />
aus, knüpft zusammen; wie man jetzt aus den Notizbüchern Beethovens<br />
ersieht, daß er die herrlichsten Melodien allmählich zusammengetragen<br />
und aus vielfachen Ansätzen gewissermaßen ausgelesen<br />
hat. Wer weniger streng scheidet und sich der nachbildenden Erinnerung<br />
gern überläßt, der wird unter Umständen ein großer Improvisator<br />
werden können; aber die künstlerische Improvisation steht tief im<br />
111
Verhältnis zum ernst und mühevoll erlesenen Kunstgedanken. Alle<br />
Großen waren große Arbeiter, unermüdlich nicht nur im Erfinden,<br />
sondern auch im Verwerfen, Sichten, Umgestalten, Ordnen.<br />
/550/<br />
156<br />
Nochmals die Inspiration. – Wenn sich die Produktionskraft eine Zeitlang<br />
angestaut hat und am Ausfließen durch ein Hemmnis gehindert<br />
worden ist, dann gibt es endlich einen so plötzlichen Erguß, als ob<br />
eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes innres Arbeiten,<br />
also ein Wunder sich vollziehe. Dies macht die bekannte Täuschung<br />
aus, an deren Fortbestehen, wie gesagt, das Interesse aller<br />
Künstler ein wenig zu sehr hängt. Das Kapital hat sich eben nur angehäuft,<br />
es ist nicht auf einmal vom Himmel gefallen. Es gibt übrigens<br />
auch anderwärts solche scheinbare Inspiration, zum Beispiel im Bereiche<br />
der Güte, der Tugend, des Lasters.<br />
157<br />
Die Leiden des Genius und ihr Wert. – Der künstlerische Genius will<br />
Freude machen, aber wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so<br />
fehlen ihm leicht die Genießenden; er bietet Speisen, aber man will<br />
sie nicht. Das gibt ihm ein unter Umständen lächerlichrührendes Pathos;<br />
denn im Grunde hat er kein Recht, die Menschen zum Vergnügen<br />
zu zwingen. Seine Pfeife tönt, aber niemand will tanzen: kann<br />
das tragisch sein? – Vielleicht doch. Zuletzt hat er als Kompensation<br />
für diese Entbehrung mehr Vergnügen beim Schaffen, als die übrigen<br />
Menschen bei allen andern Gattungen der Tätigkeit haben. Man empfindet<br />
seine Leiden übertrieben, weil der Ton seiner Klage lauter, sein<br />
Mund beberedter ist; und mitunter sind seine Leiden wirklich sehr<br />
groß, aber nur deshalb, weil sein Ehrgeiz, sein Neid so groß ist. Der<br />
wissende Genius, wie Kepler und Spinoza, ist für gewöhnlich nicht so<br />
begehrlich und macht von seinen wirklich größeren Leiden und Entbehrungen<br />
kein solches Aufheben. Er darf mit größerer Sicherheit auf<br />
die Nachwelt rechnen und sich der Gegenwart entschlagen; während<br />
ein Künstler, der dies tut, immer ein verzweifeltes Spiel spielt, bei<br />
dem ihm wehe ums Herz werden muß. In ganz seltenen Fällen –<br />
dann, wenn im selben Indivi duum der Genius des Könnens und des<br />
Erkennens und der moralische Genius sich verschmelzen – kommt<br />
zu den erwähnten Schmerzen noch die Gattung von Schmerzen hinzu,<br />
welche als die absonderlichsten Ausnahmen in der Welt zu nehmen<br />
sind: die außer- und<br />
/551/<br />
überpersönlichen, einem Volke, der Menschheit, der gesamten Kultur,<br />
allem leidenden Dasein zugewandten Empfindungen: welche<br />
ihren Wert durch die Verbindung mit besonders schwierigen und entlegenen<br />
Erkenntnissen erlangen (Mitleid an sich ist wenig wert). –<br />
Aber welchen Maßstab, welche Goldwage gibt es für deren Echtheit?<br />
112
Ist es nicht fast geboten, mißtrauisch gegen alle zu sein, welche von<br />
Empfindungen dieser Art bei sich reden?<br />
158<br />
Verhängnis der Größe. – Jeder großen Erscheinung folgt die Entartung<br />
nach, namentlich im Bereiche der Kunst. Das Vorbild des Großen<br />
reizt die eitleren Naturen zum äußerlichen Nachmachen oder<br />
zum Überbieten; dazu haben alle großen Begabungen das Verhängnisvolle<br />
an sich, viele schwächere Kräfte und Keime zu erdrücken<br />
und um sich herum gleichsam die Natur zu veröden. Der glücklichste<br />
Fall in der Entwicklung einer Kunst ist der, daß mehrere Genies sich<br />
gegenseitig in Schranken halten; bei diesem Kampfe wird gewöhnlich<br />
den schwächeren und zarteren Naturen auch Luft und Licht gegönnt.<br />
159<br />
Die Kunst dem Künstler gefährlich. – Wenn die Kunst ein Individuum<br />
gewaltig ergreift, dann zieht es dasselbe zu Anschauungen solcher<br />
Zeiten zurück, wo die Kunst am kräftigsten blühte, sie wirkt dann zurückbildend.<br />
Der Künstler kommt immer mehr in eine Verehrung der<br />
plötzlichen Erregungen, glaubt an Götter und Dämonen, durchseelt<br />
die Natur, haßt die Wissenschaft, wird wechselnd in seinen Stimmungen<br />
wie die Menschen des Altertums und begehrt einen Umsturz<br />
aller Verhältnisse, welche der Kunst nicht günstig sind, und zwar dies<br />
mit der Heftigkeit und Unbilligkeit eines Kindes. An sich ist nun der<br />
Künstler schon ein zurückbleibendes Wesen, weil er beim Spiel stehen<br />
bleibt, welches zur Jugend und Kindheit gehört: dazu kommt<br />
noch, daß er allmählich in andere Zeiten zurückgebildet wird. So entsteht<br />
zuletzt ein heftiger Antagonismus zwischen ihm und den gleichaltrigen<br />
Menschen seiner Periode und ein trübes Ende; so wie,<br />
/552/<br />
nach den Erzählungen der Alten, Homer und Äschylus in Melancholie<br />
zuletzt lebten und star ben.<br />
160<br />
Geschaffene Menschen. – Wenn man sagt, der Dramatiker (und der<br />
Künstler überhaupt) schaffe wirklich Charaktere, so ist dies eine<br />
schöne Täuschung und Übertreibung, in deren Dasein und Verbreitung<br />
die Kunst einen ihrer ungewollten, gleichsam überschüssigen<br />
Triumphe feiert. In der Tat verstehen wir von einen wirklichen lebendigen<br />
Menschen nicht viel und generalisieren sehr oberflächlich,<br />
wenn wir ihm diesen und jenen Charakter zuschreiben: dieser unserer<br />
sehr unvollkommenen Stellung zum Menschen entspricht nun der<br />
Dichter, indem er ebenso oberflächliche Entwürfe zu Menschen<br />
macht (in diesem Sinne »schafft«), als unsere Erkenntnis der Menschen<br />
oberflächlich ist. Es ist viel Blendwerk bei diesen geschaffenen<br />
Charakteren der Künstler; es sind durchaus keine leibhaftigen Natur-<br />
113
produkte, sondern ähnlich wie die gemalten Menschen ein wenig allzu<br />
dünn, sie vertragen den Anblick aus der Nähe nicht. Gar wenn<br />
man sagt, der Charakter des gewöhnlichen lebendigen Menschen<br />
widerspreche sich häufig, der vom Dramatiker geschaffene sei das<br />
Urbild, welches der Natur vorgeschwebt habe, so ist dies ganz falsch.<br />
Ein wirklicher Mensch ist etwas ganz und gar Notwendiges (selbst in<br />
jenen sogenannten Widersprüchen), aber wir erkennen diese Notwendigkeit<br />
nicht immer. Der erdichtete Mensch, das Phantasma, will<br />
etwas Notwendiges bedeuten, doch nur vor solchen, welche auch<br />
einen wirklichen Menschen nur in einer rohen, unnatürlichen Simplifikation<br />
verstehen: so daß ein paar starke, oft wiederholte Züge, mit<br />
sehr viel Licht darauf und sehr viel Schatten und Halbdunkel herum,<br />
ihren Ansprüchen vollständig genügen. Sie sind also leicht bereit, das<br />
Phantasma als wirklichen, notwendigen Menschen zu behandeln,<br />
weil sie gewöhnt sind, beim wirklichen Menschen ein Phantasma,<br />
einen Schattenriß, eine willkürliche Abbreviatur für das Ganze zu<br />
nehmen. – Daß gar der Maler und der Bildhauer die »Idee« des Menschen<br />
ausdrücke, ist eitel Phantasterei und Sinnentrug: man wird<br />
vom Auge tyrannisiert, wenn man so etwas sagt, da dieses vom<br />
menschlichen Leibe selbst nur die Oberfläche, die Haut sieht; der<br />
innere Leib gehört aber ebensosehr zur Idee. Die bildende Kunst will<br />
/553/<br />
Charaktere auf der Haut sichtbar werden lassen; die redende Kunst<br />
nimmt das Wort zu demselben Zwecke, sie bildet den Charakter im<br />
Laute ab. Die Kunst geht von der natürlichen Unwissenheit des Menschen<br />
über sein Inneres (in Leib und Charakter) aus: sie ist nicht für<br />
Physiker und Philosophen da.<br />
161<br />
Selbstüberschätzung im Glauben an Künstler und Philosophen. – Wir<br />
alle meinen, es sei die Güte eines Kunstwerks, eines Künstlers bewiesen,<br />
wenn er uns ergreift, erschüttert. Aber da müßte doch erst<br />
unsere eigene Güte in Urteil und Empfindung bewiesen sein: was<br />
nicht der Fall ist. Wer hat mehr im Reiche der bildenden Kunst ergriffen<br />
und entzückt als Bernini, wer mächtiger gewirkt als jener nachdemosthenische<br />
Rhetor, welcher den asianischen Stil einführte und<br />
durch zwei Jahrhunderte zur Herrschaft brachte? Diese Herrschaft<br />
über ganze Jahrhunderte beweist nichts für die Güte und dauernde<br />
Gültigkeit eines Stils; deshalb soll man nicht zu sicher in seinem guten<br />
Glauben an irgendeinen Künstler sein: ein solcher ist ja nicht nur<br />
der Glaube an die Wahrhaftigkeit unserer Empfindung, sondern auch<br />
an die Unfehlbarkeit unseres Urteils, während Urteil oder Empfindung<br />
oder beides selber zu grob oder zu fein geartet, überspannt oder roh<br />
sein können. Auch die Segnungen und Beseligungen einer Philosophie,<br />
einer Religion beweisen für ihre Wahrheit nichts: ebensowenig<br />
als das Glück, welches der Irrsinnige von seiner fixen Idee her genießt,<br />
etwas für die Vernünftigkeit dieser Idee be weist.<br />
114
162<br />
Kultus des Genius aus Eitelkeit. – Weil wir gut von uns denken, aber<br />
doch durchaus nicht von uns erwarten, daß wir je den Entwurf eines<br />
Raffaelischen Gemäldes oder eine solche Szene wie die eines Shakespeareschen<br />
Dramas machen könnten, reden wir uns ein, das<br />
Vermögen dazu sei ganz übermäßig wunderbar, ein ganz seltner<br />
Zufall, oder, wenn wir noch religiös empfinden, eine Begnadigung von<br />
oben. So fördert unsere Eitelkeit, unsere Selbstliebe den Kultus des<br />
Genius: denn nur wenn dieser ganz fern von uns gedacht ist, als ein<br />
miraculum, verletzt er nicht (selbst Goethe, der Neidlose, nannte<br />
Shakespeare seinen<br />
/554/<br />
Stern der fernsten Höhe; wobei man sich jenes Verses erinnern mag:<br />
»die Sterne, die begehrt man nicht«). Aber von jenen Einflüsterungen<br />
unserer Eitelkeit abgesehen, so erscheint die Tätigkeit des Genies<br />
durchaus nicht als etwas Grundverschiedenes von der Tätigkeit des<br />
mechanischen Erfinders, des astronomischen oder historischen Gelehrten,<br />
des Meisters der Taktik. Alle diese Tätigkeiten erklären sich,<br />
wenn man sich Menschen vergegenwärtigt, deren Denken in einer<br />
Richtung tätig ist, die alles als Stoff benützen, die immer ihrem inneren<br />
Leben und dem anderer mit Eifer zusehen, die überall Vorbilder,<br />
Anreizungen erblicken, die in der Kombination ihrer Mittel nicht müde<br />
werden. Das Genie tut auch nichts, als daß es erst Steine setzen,<br />
dann bauen lernt, daß es immer nach Stoff sucht und immer an ihm<br />
herumformt. Jede Tätigkeit des Menschen ist zum Verwundern kompliziert,<br />
nicht nur die des Genies; aber keine ist ein »Wunder«. – Woher<br />
nun der Glaube, daß es allein beim Künstler, Redner und Philosophen<br />
Genie gebe? daß nur sie »Intuition« haben? (womit man ihnen<br />
eine Art von Wunder-Augenglas zuschreibt, mit dem sie direkt<br />
ins »Wesen« sehen!) Die Menschen sprechen ersichtlich dort allein<br />
von Genius, wo ihnen die Wirkungen des großen Intellekts am angenehmsten<br />
sind und sie wiederum nicht Neid empfinden wollen. Jemanden<br />
»göttlich« nennen heißt: »hier brauchen wir nicht zu wetteifern«.<br />
Sodann: alles Fertige, Vollkommene wird angestaunt, alles<br />
Werdende unterschätzt. Nun kann niemand beim Werk des Künstlers<br />
zusehen, wie es geworden ist; das ist sein Vorteil, denn überall, wo<br />
man das Werden sehen kann, wird man etwas abgekühlt. Die vollendete<br />
Kunst der Darstellung weist alles Denken an das Werden ab; es<br />
tyrannisiert als gegenwärtige Vollkommenheit. Deshalb gelten die<br />
Künstler der Darstellung vornehmlich als genial, nicht aber die wissenschaftlichen<br />
Menschen. In Wahr heit ist jene Schätzung und diese<br />
Unterschätzung nur eine Kinderei der Vernunft.<br />
163<br />
Der Ernst des Handwerks. – Redet nur nicht von Begabung, angeborenen<br />
Talenten! Es sind große Männer aller Art zu nennen, welche<br />
wenig begabt waren. Aber sie bekamen Größe, wurden »Genies«<br />
115
(wie man sagt), durch Eigenschaften, von deren Mangel niemand<br />
gern redet,<br />
/555/<br />
der sich ihrer bewußt ist: sie hatten alle jenen tüchtigen Handwerker-<br />
Ernst, welcher erst lernt, die Teile vollkommen zu bilden, bis er es<br />
wagt, ein großes Ganzes zu machen; sie gaben sich Zeit dazu, weil<br />
sie mehr Lust am Gutmachen des Kleinen, Nebensächlichen hatten<br />
als an dem Effekte eines blendenden Ganzen. Das Rezept zum Beispiel,<br />
wie einer ein guter Novellist werden kann, ist leicht zu geben,<br />
aber die Ausführung setzt Eigenschaften voraus, über die man hinwegzusehen<br />
pflegt, wenn man sagt »ich habe nicht genug Talent«.<br />
Man mache nur hundert und mehr Entwürfe zu Novellen, keinen länger<br />
als zwei Seiten, doch von solcher Deutlichkeit, daß jedes Wort<br />
darin notwendig ist; man schreibe täglich Anekdoten nieder, bis man<br />
es lernt, ihre prägnanteste, wirkungsvollste Form zu finden; man sei<br />
unermüdlich im Sammeln und Ausmalen menschlicher Typen und<br />
Charaktere; man erzähle vor allem so oft es möglich ist und höre erzählen,<br />
mit scharfem Auge und Ohr für die Wirkung auf die anderen<br />
Anwesenden, man reise wie ein Landschaftsmaler und Kostümzeichner;<br />
man exzerpiere sich aus einzelnen Wissenschaften alles das,<br />
was künstlerische Wirkungen macht, wenn es gut dargestellt wird,<br />
man denke endlich über die Motive der menschlichen Handlungen<br />
nach, verschmähe keinen Fingerzeig der Belehrung hierüber und sei<br />
ein Sammler von dergleichen Dingen bei Tag und Nacht. In dieser<br />
mannigfachen Übung lasse man einige zehn Jahre vorübergehen:<br />
was dann aber in der Werkstätte geschaffen wird, darf auch hinaus in<br />
das Licht der Straße. – Wie machen es aber die meisten? Sie fangen<br />
nicht mit dem Teile, sondern mit dem Ganzen an. Sie tun vielleicht<br />
einmal einen guten Griff, erregen Aufmerksamkeit und tun von da an<br />
immer schlechtere Griffe, aus guten, natürlichen Gründen. – Mitunter,<br />
wenn Vernunft und Charakter fehlen, um einen solchen künstlerischen<br />
Lebensplan zu gestalten, übernimmt das Schicksal und die Not<br />
die Stelle derselben und führt den zukünftigen Meister schrittweise<br />
durch alle Bedingungen seines Handwerks.<br />
164<br />
Gefahr und Gewinn im Kultus des Genius. – Der Glaube an große,<br />
überlegene, fruchtbare Geister ist nicht notwendig, aber sehr häufig<br />
noch mit jenem ganzoder halbreligiösen Aberglauben verbunden,<br />
/556/<br />
daß jene Geister übermenschlichen Ursprungs seien und gewisse<br />
wunderbare Vermögen besäßen, vermittelst deren sie ihrer Erkenntnisse<br />
auf ganz anderem Wege teilhaftig würden als die übrigen Menschen.<br />
Man schreibt ihnen wohl einen unmittelbaren Blick in das Wesen<br />
der Welt, gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung,<br />
zu und glaubt, daß sie ohne die Mühsal und Strenge der Wissen-<br />
116
schaft, vermöge dieses wunderbaren Seherblickes, etwas Endgültiges<br />
und Entscheidendes über Mensch und Welt mitteilen könnten. So<br />
lange das Wunder im Bereiche der Erkenntnis noch Gläubige findet,<br />
kann man vielleicht zugeben, daß dabei für die Gläubigen selber ein<br />
Nutzen herauskomme, insofern diese durch ihre unbedingte Unterordnung<br />
unter die großen Geister, ihrem eigenen Geiste für die Zeit<br />
der Entwicklung die beste Disziplin und Schule verschaffen. Dagegen<br />
ist mindestens fraglich, ob der Aberglaube vom Genie, von seinen<br />
Vorrechten und Sondervermögen für das Genie selber von Nutzen<br />
sei, wenn er in ihm sich einwurzelt. Es ist jedenfalls ein gefährliches<br />
Anzeichen, wenn den Menschen jener Schauder vor sich selbst überfällt,<br />
sei es nun jener berühmte Cäsaren-Schauder oder der hier in<br />
Betracht kommende Genie-Schauder; wenn der Opferduft, welchen<br />
man billigerweise allein einem Gotte bringt, dem Genie ins Gehirn<br />
dringt, so daß er zu schwanken und sich für etwas Übermenschliches<br />
zu halten beginnt. Die langsamen Folgen sind: das Gefühl der Unverantwortlichkeit,<br />
der exzeptionellen Rechte, der Glaube, schon<br />
durch seinen Umgang zu begnadigen, wahnsinnige Wut bei dem<br />
Versuche, ihn mit anderen zu vergleichen oder gar ihn niedriger zu<br />
taxieren und das Verfehlte seines Werkes ins Licht zu setzen. Dadurch,<br />
daß er aufhört, Kritik gegen sich selbst zu üben, fällt zuletzt<br />
aus seinem Gefieder eine der Schwungfedern nach der anderen aus:<br />
jener Aberglaube gräbt die Wurzeln seiner Kraft an und macht ihn<br />
vielleicht gar zum Heuchler, nachdem seine Kraft von ihm gewichen<br />
ist. Für große Geister selbst ist es also wahrscheinlich nützlicher,<br />
wenn sie über ihre Kraft und deren Herkunft zur Einsicht kommen,<br />
wenn sie also begreifen, welche rein menschlichen Eigenschaften in<br />
ihnen zusammengeflossen sind, welche Glücksumstände hinzutraten:<br />
also einmal anhaltende Energie, entschlossene Hinwendung zu<br />
einzelnen Zielen, großer persönlicher Mut, sodann das Glück einer<br />
Erziehung, welche die besten Lehrer, Vorbilder, Methoden frühzeitig<br />
darbot. Freilich,<br />
/557/<br />
wenn ihr Ziel ist, die größtmögliche Wirkung zu machen, so hat die<br />
Unklarheit über sich selbst und jene Beigabe eines halben Wahnsinns<br />
immer viel getan; denn bewundert und beneidet hat man zu<br />
allen Zeiten gerade jene Kraft an ihnen, vermöge deren sie die Menschen<br />
willenlos machen und zum Wahne fortreißen, daß übernatürliche<br />
Führer vor ihnen her gingen. Ja, es erhebt und begeistert die<br />
Menschen, jemanden im Besitz übernatürlicher Kräfte zu glauben:<br />
insofern hat der Wahnsinn, wie Plato sagt, die größten Segnungen<br />
über die Menschen gebracht. – In einzelnen seltenen Fällen mag<br />
dieses Stück Wahnsinn wohl auch das Mittel gewesen sein, durch<br />
welches eine solche nach allen Seiten hin exzessive Natur fest zusammengehalten<br />
wurde: auch im Leben der Individuen haben die<br />
Wahnvorstellungen häufig den Wert von Heilmitteln, welche an sich<br />
Gifte sind; doch zeigt sich endlich, bei jedem »Genie«, das an seine<br />
Göttlichkeit glaubt, das Gift in dem Grade, als das »Genie« alt wird:<br />
man möge sich zum Beispiel Napoleons erinnern, dessen Wesen<br />
sicherlich gerade durch seinen Glauben an sich und seinen Stern und<br />
117
durch die aus ihm fließende Verachtung der Menschen zu der mächtigen<br />
Einheit zusammenwuchs, welche ihn aus allen modernen Menschen<br />
heraushebt, bis endlich aber dieser selbe Glaube in einen fast<br />
wahnsinnigen Fatalismus über ging, ihn seines Schnell- und Scharfblicks<br />
beraubte und die Ursache seines Unterganges wurde.<br />
165<br />
Das Genie und das Nichtige. – Gerade die originellen, aus sich<br />
schöpfenden Köpfe unter den Künstlern können unter Umständen<br />
das ganz Leere und Schale hervorbringen, während die abhängigeren<br />
Naturen, die sogenannten Talente, voller Erinnerungen an alles<br />
mögliche Gute stecken und auch im Zustand der Schwäche etwas<br />
Leidliches produzieren. Sind die Originellen aber von sich selber verlassen,<br />
so gibt die Erinnerung ihnen keine Hilfe: sie werden leer.<br />
166<br />
Das Publikum. – Von der Tragödie begehrt das Volk eigentlich nicht<br />
mehr, als recht gerührt zu werden, um sich einmal ausweinen zu<br />
können;<br />
/558/<br />
der Artist dagegen, der die neue Tragödie sieht, hat seine Freude an<br />
den geistreichen technischen Erfindungen und Kunstgriffen, an der<br />
Handhabung und Verteilung des Stoffes, an der neuen Wendung<br />
alter Motive, alter Gedanken. – Seine Stellung ist die ästhetische<br />
Stellung zum Kunstwerk, die des Schaffenden; die erstbeschriebene,<br />
mit alleiniger Rücksicht auf den Stoff, die des Volkes. Von dem Menschen<br />
dazwischen ist nicht zu reden, er ist weder Volk noch Artist<br />
und weiß nicht, was er will: so ist auch seine Freude unklar und gering.<br />
167<br />
Artistische Erziehung des Publikums. – Wenn dasselbe Motiv nicht<br />
hundertfältig durch verschiedene Meister behandelt wird, lernt das<br />
Publikum nicht über das Interesse des Stoffes hinauskommen; aber<br />
zuletzt wird es selbst die Nuancen, die zarten, neuen Erfindungen in<br />
der Behandlung dieses Motivs fassen und genießen, wenn es also<br />
das Motiv längst aus zahlreichen Bearbeitungen kennt und dabei<br />
keinen Reiz der Neuheit, der Spannung mehr empfindet.<br />
168<br />
Künstler und sein Gefolge müssen Schritt halten. – Der Fortgang von<br />
einer Stufe des Stils zur andern muß so langsam sein, daß nicht nur<br />
die Künstler, sondern auch die Zuhörer und Zuschauer diesen Fortgang<br />
mitmachen und genau wissen, was vorgeht. Sonst entsteht auf<br />
einmal jene große Kluft zwischen dem Künstler, der auf abgelegener<br />
118
Höhe seine Werke schafft, und dem Publikum, welches nicht mehr zu<br />
jener Höhe hinaufkann und endlich mißmutig wieder tiefer hinabsteigt.<br />
Denn wenn der Künstler sein Publikum nicht mehr hebt, so<br />
sinkt es schnell abwärts, und zwar stürzt es um so tiefer und gefährlicher,<br />
je höher es ein Genius getragen hat, dem Adler vergleichbar,<br />
aus dessen Fängen die in die Wolken hinaufgetragene Schildkröte zu<br />
ihrem Unheil hinabfällt.<br />
169<br />
Herkunft des Komischen. – Wenn man erwägt, daß der Mensch<br />
manche hunderttausend Jahre lang ein im höchsten Grade der<br />
Furcht zugängliches<br />
/559/<br />
Tier war, und daß alles Plötzliche, Unerwartete ihn kampfbereit, vielleicht<br />
todesbereit sein hieß, ja daß selbst später, in sozialen Verhältnissen,<br />
alle Sicherheit auf dem Erwarteten, auf dem Herkommen in<br />
Meinung und Tätigkeit beruhte, so darf man sich nicht wundern, daß<br />
bei allem Plötzlichen, Unerwarteten, in Wort und Tat, wenn es ohne<br />
Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen wird, ins<br />
Gegenteil der Furcht übergeht: das vor Angst zitternde zusammengekrümmte<br />
Wesen schnellt empor, entfaltet sich weit – der Mensch<br />
lacht. Diesen Übergang aus momentaner Angst in kurzdauernden<br />
Übermut nennt man das Komische. Dagegen geht im Phänomen des<br />
Tragischen der Mensch schnell aus großem, dauerndem Übermut in<br />
große Angst über; da aber unter Sterblichen der große dauernde<br />
Übermut viel seltener als der Anlaß zur Angst ist, so gibt es viel mehr<br />
des Komischen als des Tragischen in der Welt; man lacht viel öfter,<br />
als daß man erschüttert ist.<br />
170<br />
Künstler-Ehrgeiz. – Die griechischen Künstler, zum Beispiel die Tragiker,<br />
dichteten, um zu siegen; ihre ganze Kunst ist nicht ohne Wettkampf<br />
zu denken: die hesiodische gute Eris, der Ehrgeiz, gab ihrem<br />
Genius die Flügel. Nun verlangte dieser Ehrgeiz vor allem, daß ihr<br />
Werk die höchste Vortrefflichkeit vor ihren eigenen Augen erhalte, so<br />
wie sie also die Vortrefflichkeit verstanden, ohne Rücksicht auf einen<br />
herrschenden Geschmack und die allgemeine Meinung über das Vortreffliche<br />
an einem Kunstwerk; und so blieben Äschylus und Euripides<br />
lange Zeit ohne Erfolg, bis sie sich endlich Kunstrichter erzogen hatten,<br />
welche ihr Werk nach den Maßstäben würdigten, welche sie selber<br />
anlegten. Somit erstreben sie den Sieg über Nebenbuhler nach<br />
ihrer eigenen Schätzung, vor ihrem eigenen Richterstuhl, sie wollen<br />
wirklich vortrefflicher sein; dann fordern sie von außen her Zustimmung<br />
zu dieser eignen Schätzung, Bestätigung ihres Urteils. Ehre<br />
erstreben heißt hier »sich überlegen machen und wünschen, daß es<br />
auch öffentlich so erscheine«. Fehlt das erstere und wird das zweite<br />
119
trotzdem begehrt, so spricht man von Eitelkeit. Fehlt das letztere und<br />
wird es nicht vermißt, so redet man von Stolz.<br />
171<br />
Das Notwendige am Kunstwerk. – Die, welche so viel von dem Notwendigen<br />
an einem Kunstwerke reden, übertreiben, wenn sie Künstler<br />
sind, in majorem artis gloriam, oder wenn sie Laien sind, aus Unkenntnis.<br />
Die Formen eines Kunstwerks, welche seine Gedanken<br />
zum Reden bringen, also seine Art zu sprechen sind, haben immer<br />
etwas Läßliches, wie alle Art Sprache. Der Bildhauer kann viele kleine<br />
Züge hinzutun oder weglassen: ebenso der Darsteller, sei es ein<br />
Schauspieler oder, in betreff der Musik, ein Virtuos oder Dirigent.<br />
Diese vielen kleinen Züge und Ausfeilungen machen ihm heut Vergnügen,<br />
morgen nicht, sie sind mehr des Künstlers als der Kunst wegen<br />
da, denn auch er bedarf, bei der Strenge und Selbstbezwingung,<br />
welche die Darstellung des Hauptgedankens von ihm fordert, gelegentlich<br />
des Zuckerbrots und der Spielsachen, um nicht mürrisch zu<br />
werden.<br />
172<br />
Den Meister vergessen machen. – Der Klavierspieler, der das Werk<br />
eines Meisters zum Vortrag bringt, wird am besten gespielt haben,<br />
wenn er den Meister vergessen ließ und wenn es so erschien, als ob<br />
er eine Geschichte seines Lebens erzähle oder jetzt eben etwas erlebe.<br />
Freilich: wenn er nichts Bedeutendes ist, wird jedermann seine<br />
Geschwätzigkeit verwünschen, mit der er uns aus seinem Leben erzählt.<br />
Also muß er verstehen, die Phantasie des Hörers für sich einzunehmen.<br />
Daraus wiederum erklären sich alle Schwächen und<br />
Narrheiten des »Virtuosentums«.<br />
173<br />
Corriger la fortune. – Es gibt schlimme Zufälligkeiten im Leben großer<br />
Künstler, welche zum Beispiel den Maler zwingen, sein bedeutendstes<br />
Bild nur als flüchtigen Gedanken zu skizzieren oder zum Beispiel<br />
Beethoven zwangen, uns in manchen großen Sonaten (wie in der<br />
großen B-dur) nur den ungenügenden Klavierauszug einer Sinfonie<br />
zu hinterlassen. Hier soll der späterkommende Künstler das Leben<br />
der Großen nachträglich zu korrigieren suchen: was zum Beispiel<br />
der tun<br />
/561/<br />
würde, welcher, als ein Meister aller Orchesterwirkungen, uns jene,<br />
dem Klavier-Scheintode verfallene Sinfonie zum Leben erweckte.<br />
174<br />
120
Verkleinern. – Manche Dinge, Ereignisse oder Personen, vertragen<br />
es nicht, im kleinen Maßstabe behandelt zu werden. Man kann die<br />
Laokoon-Gruppe nicht zu einer Nippesfigur verkleinern; sie hat Größe<br />
notwendig. Aber viel seltener ist es, daß etwas von Natur Kleines die<br />
Vergrößerung verträgt; weshalb es Biographen immer noch eher gelingen<br />
wird, einen großen Mann klein darzustellen, als einen kleinen<br />
groß.<br />
175<br />
Sinnlichkeit in der Kunst der Gegenwart. – Die Künstler verrechnen<br />
sich jetzt häufig, wenn sie auf eine sinnliche Wirkung ihrer Kunstwerke<br />
hinarbeiten; denn ihre Zuschauer oder Zuhörer haben nicht mehr<br />
ihre vollen Sinne und geraten, ganz wider die Absicht des Künstlers,<br />
durch sein Kunstwerk in eine »Heiligkeit« der Empfindung, welche<br />
der Langweiligkeit nahe verwandt ist. – Ihre Sinnlichkeit fängt vielleicht<br />
dort an, wo die des Künstlers gerade aufhört, sie begegnen<br />
sich also höchstens an einem Punkte.<br />
176<br />
Shakespeare als Moralist. – Shakespeare hat über die Leidenschaften<br />
viel nachgedacht und wohl von seinem Temperamente her zu<br />
vielen einen sehr nahen Zugang gehabt (Dramatiker sind im allgemeinen<br />
ziemlich böse Menschen). Aber er vermochte nicht, wie Montaigne,<br />
darüber zu reden, sondern legte die Beobachtungen über die<br />
Passionen den passionierten Figuren in den Mund: was zwar wider<br />
die Natur ist, aber seine Dramen so gedankenvoll macht, daß sie alle<br />
anderen leer erscheinen lassen und leicht einen allgemeinen Widerwillen<br />
gegen sie erwecken. – Die Sentenzen Schillers (welchen fast<br />
immer falsche oder unbedeutende Einfälle zugrunde liegen) sind<br />
eben Theatersentenzen und wirken als solche sehr stark: während<br />
die Sentenzen Shakespeares seinem Vorbilde Montaigne Ehre machen<br />
und ganz ernsthafte Gedanken<br />
/562/<br />
in geschliffener Form enthalten, deshalb aber für die Augen des<br />
Theaterpublikums zu fern und zu fein, also unwirksam sind.<br />
121
Friedrich Nietzsche: Aus dem Nachlaß der 80er Jahre<br />
In: Werke in drei Bänden, Bd.III, München: <strong>Hans</strong>er 1954, S.715-717<br />
/715/<br />
Es sind die Ausnahme-Zustände, die den Künstler bedingen: alle, die<br />
mit krankhaften Erscheinungen tief verwandt und verwachsen sind:<br />
so daß es nicht möglich scheint, Künstler zu sein und nicht krank zu<br />
sein.<br />
Die physiologischen Zustände, welche im Künstler gleichsam zur<br />
»Person« gezüchtet sind und die an sich in irgendwelchem Grade<br />
dem Menschen überhaupt anhaften:<br />
/716/<br />
1. der Rausch: das erhöhte Machtgefühl; die innere Nötigung, aus<br />
den Dingen einen Reflex der eignen Fülle und Vollkommenheit zu<br />
machen;<br />
2. die extreme Schärfe gewisser Sinne: so daß sie eine ganz andre<br />
Zeichensprache verstehn – und schaffen, – dieselbe, die mit manchen<br />
Nervenkrankheiten verbunden erscheint –; die extreme Beweglichkeit,<br />
aus der eine extreme Mitteilsamkeit wird; das Redenwollen<br />
alles dessen, was Zeichen zu geben weiß –; ein Bedürfnis, sich<br />
gleichsam loszuwerden durch Zeichen und Gebärden; Fähigkeit, von<br />
sich durch hundert Sprachmittel zu reden – ein explosiver Zustand.<br />
Man muß sich diesen Zustand zunächst als Zwang und Drang denken,<br />
durch alle Art Muskelarbeit und Beweglichkeit die Exuberanz der<br />
inneren Spannung loszuwerden: sodann als unfreiwillige Koordination<br />
dieser Bewegung zu den inneren Vorgängen (Bildern, Gedanken,<br />
Begierden), – als eine Art Automatismus des ganzen Muskelsystems<br />
unter dem Impuls von innen wirkender starker Reize –; Unfähigkeit,<br />
die Reaktion zu verhindern; der Hemmungsapparat gleichsam ausgehängt.<br />
Jede innere Bewegung (Gefühl, Gedanke, Affekt) ist begleitet<br />
von Vaskular-Veränderungen und folglich von Veränderungen der<br />
Farbe, der Temperatur, der Sekretion. Die suggestive Kraft der Musik,<br />
ihre »suggestion mentale«; –<br />
3. das Nachmachen-müssen: eine extreme Irritabilität, bei der sich<br />
ein gegebenes Vorbild kontagiös mitteilt – ein Zustand wird nach Zeichen<br />
schon erraten und dargestellt... Ein Bild, innerlich auftauchend,<br />
wirkt schon als Bewegung der Glieder –, eine gewisse Willens-<br />
Aushängung ... (Schopenhauer!!!!) Eine Art Taubsein, Blindsein nach<br />
außen hin – das Reich der zugelassenen Reize ist scharf umgrenzt.<br />
Dies unterscheidet den Künstler vom Laien (dem künstlerisch Empfänglichen):<br />
letzterer hat im Aufnehmen seinen Höhepunkt von Reizbarkeit;<br />
ersterer im Geben, – dergestalt, daß ein Antagonismus die-<br />
122
ser beiden Begabungen nicht nur natürlich, sondern wünschenswert<br />
ist. Jeder dieser Zustände hat eine umgekehrte Optik – vom Künstler<br />
verlangen daß er sich die Optik des Zuhörers (Kritikers) einübe, heißt<br />
verlangen, daß er sich und seine schöpferische Kraft verarme... Es ist<br />
hier wie bei der Differenz der Geschlechter: man soll vom Künstler,<br />
der gibt, nicht verlangen, daß er Weib wird – daß er »empfängt«.<br />
/717/<br />
Unsre Ästhetik war insofern bisher eine Weibs-Ästhetik, als nur die<br />
Empfänglichen für Kunst ihre Erfahrungen »was ist schön«? formuliert<br />
haben. In der ganzen Philosophie bis heute fehlt der Künstler...<br />
Das ist, wie das Vorhergehende andeutete, ein notwendiger Fehler:<br />
denn der Künstler, der anfinge, sich zu begreifen, würde sich damit<br />
vergreifen, – er hat nicht zurückzusehen, er hat überhaupt nicht zu<br />
sehen, er hat zu geben. – Es ehrt einen Künstler, der Kritik unfähig zu<br />
sein – andernfalls ist er halb und halb, ist er »modern«. [811] Unsre<br />
Religion, Moral und Philosophie sind décadence-Formen des Menschen.<br />
– Die Gegenbewegung: die Kunst.<br />
123
Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren<br />
In: Studienausgabe Bd.X, Frankfurt/M.: Fischer 1969, S.171-179<br />
/171/<br />
Uns Laien hat es immer mächtig gereizt zu wissen, woher diese<br />
merkwürdige Persönlichkeit, der Dichter, seine Stoffe nimmt — etwa<br />
im Sinne der Frage, die jener Kardinal an den Ariosto richtete 37, —<br />
und wie er es zustande bringt, uns mit ihnen so zu ergreifen, Erregungen<br />
in uns her-vorzurufen, deren wir uns vielleicht nicht einmal für<br />
fähig gehalten hätten. Unser Interesse hiefür wird nur gesteigert<br />
durch den Umstand, daß der Dichter selbst, wenn wir ihn befragen,<br />
uns keine oder keine befriedigende Auskunft gibt, und wird gar nicht<br />
gestört durch unser Wissen, daß die beste Einsicht in die Bedingungen<br />
der dichterischen Stoffwahl und in das Wesen der poetischen<br />
Gestaltungskunst nichts dazu beitragen würde, uns selbst zu Dichtern<br />
zu machen.<br />
Wenn wir wenigstens bei uns oder bei unsersgleichen eine dem Dichten<br />
irgendwie verwandte Tätigkeit auffinden könnten! Die Untersuchung<br />
derselben ließe uns hoffen, eine erste Aufklärung über das<br />
Schaffen des Dichters zu gewinnen. Und wirklich, dafür ist Aussicht<br />
vorhanden — die Dichter selbst lieben es ja, den Abstand zwischen<br />
ihrer Eigenart und allgemein menschlichem Wesen zu verringern; sie<br />
versichern uns so häufig, daß in jedem Menschen ein Dichter stecke<br />
und daß der letzte Dichter erst mit dem letzten Menschen sterben<br />
werde.<br />
Sollten wir die ersten Spuren dichterischer Betätigung nicht schon<br />
beim Kinde suchen? Die liebste und intensivste Beschäftigung des<br />
Kindes ist das Spiel. Vielleicht dürfen wir sagen: Jedes spielende<br />
Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt<br />
erschafft oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue,<br />
ihm gefällige Ordnung versetzt. Es wäre dann unrecht zu meinen, es<br />
nähme diese Welt nicht ernst; im Gegenteil, es nimmt sein Spiel sehr<br />
ernst, es verwendet große Affektbeträge darauf. Der Gegensatz zu<br />
Spiel ist nicht Ernst, sondern — Wirklichkeit. Das Kind unterscheidet<br />
seine Spielwelt sehr wohl, trotz aller Affektbesetzung, von der Wirklichkeit<br />
und lehnt seine imaginierten Objekte und Verhältnisse gerne<br />
an greifbare und sichtbare Dinge der<br />
/172/<br />
37 [Kardinal Ippolito d'Este war Ariosts erster Gönner; ihm hatte der Dichter<br />
seinen Orlando Furioso gewidmet, bekam aber als einzige Anerkennung<br />
nur die Frage zu hören: »Woher nimmst du bloß die vielen Geschichten,<br />
Lodovico?»]<br />
124
wirklichen Welt an. Nichts anderes als diese Anlehnung unterscheidet<br />
das »Spielen« des Kindes noch vom »Phantasieren «.<br />
Der Dichter tut nun dasselbe wie das spielende Kind; er erschafft<br />
eine Phantasiewelt, die er sehr ernst nimmt, d. h. mit großen Affektbeträgen<br />
ausstattet, während er sie von der Wirklichkeit scharf sondert.<br />
Und die Sprache hat diese Verwandtschaft von Kinderspiel und<br />
poetischem Schaffen festgehalten, indem sie solche Veranstaltungen<br />
des Dichters, welche der Anlehnung an greifbare Objekte bedürfen,<br />
welche der Darstellung fähig sind, als Spiele: Lustspiel, Trauerspiel,<br />
und die Person, welche sie darstellt, als Schauspieler bezeichnet.<br />
Aus der Unwirklichkeit der dichterischen Welt ergeben sich aber sehr<br />
wichtige Folgen für die künstlerische Technik, denn vieles, was als<br />
real nicht Genuß bereiten könnte, kann dies doch im Spiele der<br />
Phantasie, viele an sich eigentlich peinliche Erregungen können für<br />
den Hörer und Zuschauer des Dichters zur Quelle der Lust werden.<br />
Verweilen wir einer anderen Beziehung wegen noch einen Augenblick<br />
bei dem Gegensatze von Wirklichkeit und Spiel! Wenn das Kind<br />
herangewachsen ist und aufgehört hat zu spielen, wenn es sich<br />
durch Jahrzehnte seelisch bemüht hat, die Wirklichkeiten des Lebens<br />
mit dem erforderlichen Ernste zu erfassen, so kann es eines Tages in<br />
eine seelische Disposition geraten, welche den Gegensatz zwischen<br />
Spiel und Wirklichkeit wieder aufhebt. Der Erwachsene kann sich<br />
darauf besinnen, mit welchem hohen Ernst er einst seine Kinderspiele<br />
betrieb, und indem er nun seine vorgeblich ernsten Beschäftigungen<br />
jenen Kinderspielen gleichstellt, wirft er die allzu schwere Bedrückung<br />
durch das Leben ab und erringt sich den hohen Lustgewinn<br />
des Humors 38 .<br />
Der Heranwachsende hört also auf zu spielen, er verzichtet scheinbar<br />
auf den Lustgewinn, den er aus dem Spiele bezog. Aber wer das<br />
Seelenleben des Menschen kennt, der weiß, daß ihm kaum etwas<br />
anderes so schwer wird wie der Verzicht auf einmal gekannte Lust.<br />
Eigentlich können wir auf nichts verzichten, wir vertauschen nur eines<br />
mit dem andern; was ein Verzicht zu sein scheint, ist in Wirklichkeit<br />
eine Ersatz- oder Surrogatbildung. So gibt auch der Heranwachsende,<br />
wenn er aufhört zu spielen, nichts anderes auf als die Anlehnung<br />
an reale Objekte; anstatt zu spielen, phantasiert er jetzt. Er baut sich<br />
Luftschlösser, schafft das, was man Tagträume nennt. Ich glaube,<br />
daß die meisten Menschen zu Zeiten ihres Lebens Phantasien bilden.<br />
Es ist das eine Tatsache, die<br />
/173/<br />
man lange Zeit übersehen und deren Bedeutung man darum nicht<br />
genug gewürdigt hat.<br />
Das Phantasieren der Menschen ist weniger leicht zu beobachten als<br />
das Spielen der Kinder. Das Kind spielt zwar auch allein oder es bildet<br />
38 [S. Abschnitt 7, Kapitel VII, in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten<br />
(Freud, 1905 c, Studienausgabe, Bd. 4, 5.212—19).]<br />
125
mit anderen Kindern ein geschlossenes psychisches System zum<br />
Zwecke des Spieles, aber wenn es auch den Erwachsenen nichts<br />
vorspielt, so verbirgt es doch sein Spielen nicht vor ihnen. Der Erwachsene<br />
aber schämt sich seiner Phantasien und versteckt sie vor anderen,<br />
er hegt sie als seine eigensten Intimitäten, er würde in der Regel<br />
lieber seine Vergehungen eingestehen als seine Phantasien mitteilen.<br />
Es mag vorkommen, daß er sich darum für den einzigen hält, der solche<br />
Phantasien bildet, und von der allgemeinen Verbreitung ganz ähnlicher<br />
Schöpfungen bei anderen nichts ahnt. Dies verschiedene Verhalten des<br />
Spielenden und des Phantasierenden findet seine gute Begründung in<br />
den Motiven der beiden einander doch fortsetzenden Tätigkeiten.<br />
Das Spielen des Kindes wurde von Wünschen dirigiert, eigentlich von<br />
dem einen Wunsche, der das Kind erziehen hilft, vom Wunsche: groß<br />
und erwachsen zu sein. Es spielt immer »groß sein«, imitiert im Spiele,<br />
was ihm vom Leben der Großen bekannt geworden ist. Es hat nun<br />
keinen Grund, diesen Wunsch zu verbergen. Anders der Erwachsene;<br />
dieser weiß einerseits, daß man von ihm erwartet, nicht mehr zu<br />
spielen oder zu phantasieren, sondern in der wirklichen Welt zu handeln,<br />
und anderseits sind unter den seine Phantasien erzeugenden Wünschen<br />
manche, die es überhaupt zu verbergen nottut; darum schämt er<br />
sich seines Phantasierens als kindisch und als unerlaubt.<br />
Sie werden fragen, woher man denn über das Phantasieren der Menschen<br />
so genau Bescheid wisse, wenn es von ihnen mit soviel Geheimtun<br />
verhüllt wird. Nun, es gibt eine Gattung von Menschen, denen zwar<br />
nicht ein Gott, aber eine strenge Göttin – die Notwendigkeit – den Auftrag<br />
erteilt hat zu sagen, was sie leiden und woran sie sich erfreuen. Es<br />
sind dies die Nervösen, die dem Arzte, von dem sie Herstellung durch<br />
psychische Behandlung erwarten, auch ihre Phantasien eingestehen<br />
müssen; aus dieser Quelle stammt unsere beste Kenntnis, und wir sind<br />
dann zu der wohl begründeten Vermutung gelangt, daß unsere Kranken<br />
uns nichts anderes mitteilen, als was wir auch von den Gesunden<br />
erfahren könnten.<br />
Gehen wir daran, einige der Charaktere des Phantasierens kennenzulernen.<br />
Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte.<br />
Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien,<br />
/174/<br />
und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur<br />
der unbefriedigenden Wirklichkeit. Die treibenden Wünsche sind verschieden<br />
je nach Geschlecht, Charakter und Lebensverhältnissen der<br />
phantasierenden Persönlichkeit; sie lassen sich aber ohne Zwang<br />
nach zwei Hauptrichtungen gruppieren. Es sind entweder ehrgeizige<br />
Wünsche, welche der Erhöhung der Persönlichkeit dienen, oder erotische.<br />
Beim jungen Weibe herrschen die erotischen Wünsche fast<br />
ausschließend, denn sein Ehrgeiz wird in der Regel vom Liebesstreben<br />
aufgezehrt; beim jungen Manne sind neben den erotischen die<br />
eigensüchtigen und ehrgeizigen Wünsche vordringlich genug. Doch<br />
wollen wir nicht den Gegensatz beider Richtungen, sondern vielmehr<br />
deren häufige Vereinigung betonen; wie in vielen Altarbildern in einer<br />
Ecke das Bildnis des Stifters sichtbar ist, so können wir an den mei-<br />
126
sten ehrgeizigen Phantasien in irgendeinem Winkel die Dame entdecken,<br />
für die der Phantast all diese Heldentaten vollführt, der er<br />
alle Erfolge zu Füßen legt. Sie sehen, hier liegen genug starke Motive<br />
zum Verbergen vor; dem wohlerzogenen Weibe wird ja überhaupt nur<br />
ein Minimum von erotischer Bedürftigkeit zugebilligt, und der junge<br />
Mann soll das Übermaß von Selbstgefühl, welches er aus der Verwöhnung<br />
der Kindheit mitbringt, zum Zwecke der Einordnung in die<br />
an ähnlich anspruchsvollen Individuen so reiche Gesellschaft unterdrücken<br />
lernen.<br />
Die Produkte dieser phantasierenden Tätigkeit, die einzelnen Phantasien,<br />
Luftschlösser oder Tagträume dürfen wir uns nicht als starr<br />
und unveränderlich vorstellen. Sie schmiegen sich vielmehr den wechselnden<br />
Lebenseindrücken an, verändern sich mit jeder Schwankung<br />
der Lebenslage, empfangen von jedem wirksamen neuen Eindrucke<br />
eine sogenannte »Zeitmarke«. Das Verhältnis der Phantasie zur Zeit<br />
ist überhaupt sehr bedeutsam. Man darf sagen: eine Phantasie<br />
schwebt gleichsam zwischen drei Zeiten, den drei Zeitmomenten unseres<br />
Vorstellen. Die seelische Arbeit knüpft an einen aktuellen Eindruck,<br />
einen Anlaß in der Gegenwart an, der imstande war, einen der<br />
großen Wünsche der Person zu wecken, greift von da aus auf die<br />
Erinnerung eines früheren, meist infantilen, Erlebnisses zurück, in<br />
dem jener Wunsch erfüllt war, und schafft nun eine auf die Zukunft<br />
bezogene Situation, welche sich als die Erfüllung jenes Wunsches<br />
darstellt, eben den Tagtraum oder die Phantasie, die nun die Spuren<br />
ihrer Herkunft vom Anlasse und von der Erinnerung an sich trägt.<br />
Also Vergangenes, Gegenwärtiges, Zukünftiges wie an der Schnur<br />
des durchlaufenden Wunsches aneinandergereiht.<br />
/175/<br />
Das banalste Beispiel mag Ihnen meine Aufstellung erläutern. Nehmen<br />
Sie den Fall eines armen und verwaisten Jünglings an, welchem<br />
Sie die Adresse eines Arbeitgebers genannt haben, bei dem er vielleicht<br />
eine Anstellung finden kann. Auf dem Wege dahin mag er sich<br />
in einem Tagtraum ergehen, wie er angemessen aus seiner Situation<br />
entspringt. Der Inhalt dieser Phantasie wird etwa sein, daß er dort<br />
angenommen wird, seinem neuen Chef gefällt, sich im Geschäfte unentbehrlich<br />
macht, in die Familie des Herrn gezogen wird, das reizende<br />
Töchterchen des Hauses heiratet und dann selbst als Mitbesitzer<br />
wie später als Nachfolger das Geschäft leitet. Und dabei hat sich der<br />
Träumer ersetzt, was er in der glücklichen Kindheit besessen: das<br />
schützende Haus, die liebenden Eltern und die ersten Objekte seiner<br />
zärtlichen Neigung. Sie sehen an solchem Beispiele, wie der Wunsch<br />
einen Anlaß der Gegenwart benützt, um sich nach dem Muster der<br />
Vergangenheit ein Zukunftsbild zu entwerfen.<br />
Es wäre noch vielerlei über die Phantasien zu sagen; ich will mich<br />
aber auf die knappsten Andeutungen beschränken. Das Überwuchern<br />
und Übermächtigwerden der Phantasien stellt die Bedingungen<br />
für den Verfall in Neurose oder Psychose her; die Phantasien sind<br />
auch die nächsten seelischen Vorstufen der Leidenssymptome, über<br />
127
welche unsere Kranken klagen. Hier zweigt ein breiter Seitenweg zur<br />
Pathologie ab.<br />
Nicht übergehen kann ich aber die Beziehung der Phantasien zum<br />
Traume. Auch unsere nächtlichen Träume sind nichts anderes als<br />
solche Phantasien, wie wir durch die Deutung der Träume evident<br />
machen können 39 . Die Sprache hat in ihrer unübertrefflichen Weisheit<br />
die Frage nach dem Wesen der Träume längst entschieden, indem sie<br />
die luftigen Schöpfungen Phantasierender auch »Tagträume« nennen<br />
ließ. Wenn trotz dieses Fingerzeiges der Sinn unserer Träume uns zumeist<br />
undeutlich bleibt, so rührt dies von dem einen Umstande her,<br />
daß nächtlicherweise auch solche Wünsche in uns rege werden, deren<br />
wir uns schämen und die wir vor uns selbst verbergen müssen, die<br />
eben darum verdrängt, ins Unbewußte geschoben wurden. Solchen verdrängten<br />
Wünschen und ihren Abkömmlingen kann nun kein anderer als<br />
ein arg entstellter Ausdruck gegönnt werden. Nachdem die Aufklärung<br />
der Traumentstellung der wissenschaftlichen Arbeit gelungen war, fiel<br />
es nicht mehr schwer zu erkennen, daß die nächtlichen Träume ebensolche<br />
Wunscherfüllungen sind wie die Tagträume, die uns allen so<br />
wohlbekannten Phantasien.<br />
Soviel von den Phantasien, und nun zum Dichter! Dürfen wir wirklich<br />
/176/<br />
den Versuch machen, den Dichter mit dem »Träumer am hellichten<br />
Tag«, seine Schöpfungen mit Tagträumen zu vergleichen? Da drängt<br />
sich wohl eine erste Unterscheidung auf; wir müssen die Dichter, die<br />
fertige Stoffe übernehmen wie die alten Epiker und Tragiker, sondern<br />
von jenen, die ihre Stoffe frei zu schaffen scheinen. Halten wir uns an<br />
die letzteren und suchen wir für unsere Vergleichung nicht gerade<br />
jene Dichter aus, die von der Kritik am höchsten geschätzt werden,<br />
sondern die anspruchsloseren Erzähler von Romanen, Novellen und<br />
Geschichten, die dafür die zahlreichsten und eifrigsten Leser und<br />
Leserinnen finden. An den Schöpfungen dieser Erzähler muß uns vor<br />
allem ein Zug auffällig werden; sie alle haben einen Helden, der im<br />
Mittelpunkt des Interesses steht, für den der Dichter unsere Sympathie<br />
mit allen Mitteln zu gewinnen sucht und den er wie mit einer besonderen<br />
Vorsehung zu beschützen scheint. Wenn ich am Ende eines<br />
Romankapitels den Helden bewußtlos, aus schweren Wunden<br />
blutend verlassen habe, so bin ich sicher, ihn zu Beginn des nächsten<br />
in sorgsamster Pflege und auf dem Wege der Herstellung zu<br />
finden, und wenn der erste Band mit dem Untergange des Schiffes im<br />
Seesturme geendigt hat, auf dem unser Held sich befand, so bin ich<br />
sicher, zu Anfang des zweiten Bandes von seiner wunderbaren Rettung<br />
zu lesen, ohne die der Roman ja keinen Fortgang hätte. Das<br />
Gefühl der Sicherheit, mit dem ich den Helden durch seine gefährlichen<br />
Schicksale begleite, ist das nämliche, mit dem ein wirklicher<br />
Held sich ins Wasser stürzt, um einen Ertrinkenden zu retten, oder<br />
sich dem feindlichen Feuer aussetzt, um eine Batterie zu stürmen,<br />
39 Vgl. des Verfassers Traumdeutung (1900 a)<br />
128
jenes eigentliche Heldengefühl, dem einer unserer besten Dichter<br />
den köstlichen Ausdruck geschenkt hat: »Es kann dir nix g'schehen.«<br />
(Anzengruber.) 40 Ich meine aber, an diesem verräterischen Merkmal<br />
der Unverletzlichkeit erkennt man ohne Mühe – Seine Majestät das<br />
Ich, den Helden aller Tagträume wie aller Romane 41 .<br />
Noch andere typische Züge dieser egozentrischen Erzählungen deuten<br />
auf die gleiche Verwandtschaft hin. Wenn sich stets alle Frauen<br />
des Romans in den Helden verlieben, so ist das kaum als Wirklichkeitsschilderung<br />
aufzufassen, aber leicht als notwendiger Bestand<br />
des Tagtraumes zu verstehen. Ebenso wenn die anderen Personen<br />
des Romans sich scharf in gute und böse scheiden, unter Verzicht<br />
auf die in der Realität<br />
/177/<br />
zu beobachtende Buntheit menschlicher Charaktere; die »guten«<br />
sind eben die Helfer, die »bösen« aber die Feinde und Konkurrenten<br />
des zum Helden gewordenen Ichs.<br />
Wir verkennen nun keineswegs, daß sehr viele dichterische Schöpfungen<br />
sich von dem Vorbilde des naiven Tagtraumes weit entfernt<br />
halten, aber ich kann doch die Vermutung nicht unterdrücken, daß<br />
auch die extremsten Abweichungen durch eine lückenlose Reihe von<br />
Obergängen mit diesem Modelle in Beziehung gesetzt werden könnten.<br />
Noch in vielen der sogenannten psychologischen Romane ist mir<br />
aufgefallen, daß nur eine Person, wiederum der Held, von innen geschildert<br />
wird; in ihrer Seele sitzt gleichsam der Dichter und schaut<br />
die anderen Personen von außen an. Der psychologische Roman<br />
verdankt im ganzen wohl seine Besonderheit der Neigung des modernen<br />
Dichters, sein Ich durch Selbstbeobachtung in Partial-Ichs zu<br />
zerspalten und demzufolge die Konfliktströmungen seines Seelenlebens<br />
in mehreren Helden zu personifizieren. In einem ganz besonderen<br />
Gegensatze zum Typus des Tagtraumes scheinen die Romane zu<br />
stehen, die man als »exzentrische« bezeichnen könnte, in denen die<br />
als Held eingeführte Person die geringste tätige Rolle spielt, vielmehr<br />
wie ein Zuschauer die Taten und Leiden der anderen an sich vorüberziehen<br />
sieht. Solcher Art sind mehrere der späteren Romane<br />
Zolas. Doch muß ich bemerken, daß die psychologische Analyse nicht<br />
dichtender, in manchen Stücken von der sogenannten Norm abweichender<br />
Individuen uns analoge Variationen der Tagträume kennengelehrt<br />
hat, in denen sich das Ich mit der Rolle des Zuschauers bescheidet.<br />
40 [Worte des Steinklopferhans in dem Lustspiel des Wiener Schriftstellers<br />
und Dramatikers Ludwig Anzengruber (1839-89). Es ist eines der Lieblingszitate<br />
Freuds, das er z. B. auch in >Zeitgemäßes über Krieg und<br />
Tod< (1915 b; Studienausgabe, Bd. 9, S . 56) anführt.]<br />
41 [Vgl. >Zur Einführung des Narzißmus< (1914c), Studienausgabe, B;d. 3,<br />
S. 57f.]<br />
129
Wenn unsere Gleichstellung des Dichters mit dem Tagträumer, der<br />
poetischen Schöpfung mit dem Tagtraum, wertvoll werden soll, so<br />
muß sie sich vor allem in irgendeiner Art fruchtbar erweisen. Versuchen<br />
wir etwa, unseren vorhin aufgestellten Satz von der Beziehung<br />
der Phantasie zu den drei Zeiten und zum durchlaufenden Wunsche<br />
auf die Werke der Dichter anzuwenden und die Beziehungen zwischen<br />
dem Leben des Dichters und seinen Schöpfungen mit dessen<br />
Hilfe zu studieren. Man hat in der Regel nicht gewußt, mit welchen<br />
Erwartungsvorstellungen man an dieses Problem herangehen soll;<br />
häufig hat man sich diese Beziehung viel zu einfach vorgestellt. Von<br />
der an den Phantasien gewonnenen Einsicht her müßten wir folgenden<br />
Sachverhalt erwarten: Ein starkes aktuelles Erlebnis weckt im<br />
Dichter die Erinnerung an ein früheres, meist der Kindheit angehöriges<br />
Erlebnis auf, von welchem nun der Wunsch ausgeht, der sich in<br />
der Dichtung seine Erfüllung schafft; die<br />
/178/<br />
Dichtung selbst läßt sowohl Elemente des frischen Anlasses als auch<br />
der alten Erinnerung erkennen 42 .<br />
Erschrecken Sie nicht über die Kompliziertheit dieser Formel; ich vermute,<br />
daß sie sich in Wirklichkeit als ein zu dürftig es Schema erweisen<br />
wird, aber eine erste Annäherung an den realen Sachverhalt<br />
könnte doch in ihr enthalten sein, und nach einigen Versuchen, die<br />
ich unternommen habe, sollte ich meinen, daß eine solche Betrachtungsweise<br />
dichterischer Produktionen nicht unfruchtbar ausfallen<br />
kann. Sie vergessen nicht, daß die vielleicht befremdende Betonung<br />
der Kindheitserinnerung im Leben des Dichters sich in letzter Linie<br />
von der Voraussetzung ableitet, daß die Dichtung wie der Tagtraum<br />
Fortsetzung und Ersatz des einstigen kindlichen Spielens ist.<br />
Versäumen wir nicht, auf jene Klasse von Dichtungen zurückzugreifen,<br />
in denen wir nicht freie Schöpfungen, sondern Bearbeitungen<br />
fertiger und bekannter Stoffe erblicken müssen [S. 176]. Auch dabei<br />
verbleibt dem Dichter ein Stück Selbständigkeit, das sich in der Auswahl<br />
des Stoffes und in der oft weitgehenden Abänderung desselben<br />
äußern darf. Soweit die Stoffe aber gegeben sind, entstammen sie<br />
dem Volksschatze an Mythen, Sagen und Märchen. Die Untersuchung<br />
dieser völkerpsychologischen Bildungen ist nun keineswegs<br />
abgeschlossen, aber es ist z. B. von den Mythen durchaus wahrscheinlich,<br />
daß sie den entstellten Überresten von Wunschphantasien<br />
ganzer Nationen, den Säkularträumen der jungen Menschheit,<br />
entsprechen.<br />
Sie werden sagen, daß ich Ihnen von den Phantasien weit mehr erzählt<br />
habe als vom Dichter, den ich doch im Titel meines Vortrages<br />
vorangestellt. Ich weiß das und versuche es durch den Hinweis auf<br />
den heutigen Stand unserer Erkenntnis zu entschuldigen. Ich konnte<br />
42 [Eine ähnliche Auffassung hatte Freud schon 1898 in einem Brief an<br />
Fließ (vom 7. Juli) vertreten, und zwar mit Bezug auf die Novelle von C_<br />
F. Meyer >Die Hochzeit des Möndhs< (Freud 1950 a, Brief 92).]<br />
130
Ihnen nur Anregungen und Aufforderungen bringen, die von dem<br />
Studium der Phantasien her auf das Problem der dichterischen Stoffwahl<br />
übergreifen. Das andere Problem, mit welchen Mitteln der<br />
Dichter bei uns die Affektwirkungen erziele, die er durch seine Schöpfungen<br />
hervorruft, haben wir überhaupt noch nicht berührt. Ich möchte<br />
Ihnen wenigstens noch zeigen, welcher Weg von unseren Erörterungen<br />
über die Phantasien zu den Problemen der poetischen Effekte<br />
führt.<br />
Sie erinnern sich, wir sagten [S. 173], daß der Tagträumer seine<br />
Phantasien vor anderen sorgfältig verbirgt, weil er Gründe verspürt,<br />
sich<br />
/179/<br />
ihrer zu schämen. Ich füge nun hinzu, selbst wenn er sie uns mitteilen<br />
würde, könnte er uns durch solche Enthüllung keine Lust bereiten.<br />
Wir werden von solchen Phantasien, wenn wir sie erfahren, abgestoßen<br />
oder bleiben höchstens kühl gegen sie. Wenn aber der Dichter<br />
uns seine Spiele vorspielt oder uns das erzählt, was wir für seine persönlichen<br />
Tagträume zu erklären geneigt sind, so empfinden wir hohe,<br />
wahrscheinlich aus vielen Quellen zusammenfließende Lust. Wie<br />
der Dichter das zustande bringt, das ist sein eigenstes Geheimnis; in<br />
der Technik der Überwindung jener Abstoßung, die gewiß mit den<br />
Schranken zu tun hat, welche sich zwischen jedem einzelnen Ich und<br />
den anderen erheben, liegt die eigentliche Ars poetica. Zweierlei Mittel<br />
dieser Technik können wir er-raten: Der Dichter mildert den Charakter<br />
des egoistischen Tagtraumes durch Abänderungen und Verhüllungen<br />
und besticht uns durch rein formalen, d. h. ästhetischen Lustgewinn,<br />
den er uns in der Darstellung seiner Phantasien bietet. Man nennt<br />
einen solchen Lustgewinn, der uns geboten wird, um mit ihm die Entbindung<br />
größerer Lust aus tiefer reichenden psychischen Quellen zu<br />
ermöglichen, eine Verlockungsprämie oder eine Vorlust 43 . Ich bin der<br />
Meinung, daß alle ästhetische Lust, die uns der Dichter verschafft,<br />
den Charakter solcher Vorlust trägt und daß der eigentliche Genuß<br />
des Dichtwerkes aus der Befreiung von Spannungen in unserer Seele<br />
hervorgeht. Vielleicht trägt es sogar zu diesem Erfolge nicht wenig<br />
bei, daß uns der Dichter in den Stand setzt, unsere eigenen Phantasien<br />
nunmehr ohne jeden Vorwurf und ohne Schämen zu genießen.<br />
Hier stünden wir nun am Eingange neuer, interessanter und verwickelter<br />
Untersuchungen, aber, wenigstens für diesmal, am Ende unserer<br />
Erörterungen.<br />
43 [Diese Theorie der »Vorlust« und der »Verlockungsprämie« hatte Freud<br />
mit Bezug auf den Witz in den letzten Absätzen von Kapitel IV seines<br />
Buches Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905c; Studienausgabe,<br />
Bd. 4, S. 129f.) entwickelt. Eine Bemerkung darüber findet<br />
sich auch in dem Essay >Psychopathische Personen auf der Bühne< (im<br />
vorliegenden Band, S. 168).]<br />
131
Georges Bataille: Die Souveränität in Kunst und Literatur<br />
In: Die psychologische Struktur des Faschismus – Die Souveränität,<br />
München: Matthes & Seitz, 1978, S.73-86<br />
/73/<br />
1. Von der Notwendigkeit der Menschen, zunächst ihr subjektives<br />
Leben zu verobjektivieren<br />
Die vorhergehenden Analysen haben klar gezeigt, wie unerhört<br />
schwer es den Menschen fällt, ein subjektives, souveränes Leben zu<br />
führen, und doch ist das ihre Bestimmung, dasjenige, wodurch sie<br />
sich von den Tieren unterscheiden. Ihr unmittelbares Verhalten ist<br />
Tätigkeit (Arbeit), von der sie ein Resultat erwarten: ihre Tätigkeit<br />
ordnet sie unter, ordnet ihre gegenwärtige Zeit dem Arbeitsergebnis,<br />
das sie erwarten, unter. Diese Tätigkeit ist notwendig, aber indem die<br />
Menschen sich damit abfinden, müssen sie gleichzeitig sich das Ergebnis<br />
in greifbarer Form vergegenwärtigen. Das ist der Sinn der<br />
seltsamen und universellen Institution der Souveränität, die bislang<br />
aus dem Bedürfnis nach Ordnung, nach Autorität erklärt wurde. Indessen<br />
ist diese Institution in ihrer Komplexität, ihrer verrückten Verschwendung,<br />
mit ihrer zur Schau gestellten Pracht und ihren unergründlichen<br />
Exzessen auf die Funktion der bloßen Koordinierung<br />
nicht zu reduzieren. Es läßt sich schließlich nicht leugnen, daß sie<br />
von jeher dem universellen Bedürfnis entsprach, von dem die Rede<br />
ist: nämlich unablässig und ohne Aufschub das angestrebte Resultat<br />
vor Augen zu haben.<br />
Noch heute, wenn die Menge sich in den Straßen drängt, um die königliche<br />
Familie vorüberfahren zu sehen, ist, was sie eigentlich erblicken<br />
möchte, ein Wunschbild ihrer selbst. Aber die Ansprüche unserer<br />
zivilisierten Massen sind primitiv, verglichen mit denen der versammelten<br />
Wilden. Sie sind ebensoweit entfernt voneinander wie die<br />
oberflächlich Gläubigen entfernt sind von den wirklich Frommen, die<br />
die Religion bis zum Mystizismus treiben. Diese Differenz ist nicht<br />
bloß auf Müdigkeit zurückzuführen, auf das Fehlen aller inneren Anfechtung,<br />
wie sie für den heutigen Menschen charakteristisch zu sein<br />
scheinen. Vielmehr haben wir es hier mit den letzten Zuckungen der<br />
traditionellen Souveränität zu tun. Was wir auf den Straßen Londons<br />
sehen können, ist eine Verfallserscheinung. Gewiß, die industrialisierte<br />
Menschheit ist im tiefsten desorientiert, doch sucht sie anderswo,<br />
was der ägyptische Mensch in der Kontemplation des lebenden oder<br />
toten Pha-<br />
132
74/<br />
raonen suchte. Es geht um die Subjektivität des Seins, deren Tiefe<br />
schwindelerregend ist.<br />
Nur entleerte Pracht übt heute noch eine flüchtige Faszination aus.<br />
Die Suche nach der Subjektivität hat sich zunächst in Richtung auf<br />
die Religion verlagert. Doch dann haben die offiziellen Religionen ihre<br />
einstmals ausschließliche Anziehungskraft verloren. Die Kunst und<br />
die Literatur haben dann jene Dimension, das subjektive Leben und<br />
den Tod des Menschen, ausdrücken wollen und haben oftmals die<br />
Kraft gehabt, sie auszudrücken.<br />
Grundsätzlich entgleitet uns dieses Leben. Es macht das menschliche,<br />
dem tierischen entgegengesetzte Leben aus. Aber die Aufmerksamkeit<br />
kann sich deutlich nur auf die Objekte der Arbeitswelt<br />
richten oder zumindest auf Dinge, die ihnen in einer Hinsicht gleichen.<br />
Unser inneres Leben entgleitet uns, sofern wir es nicht auf der<br />
Ebene aller übrigen Gegenstände objektiv vor uns s hinstellen können.<br />
So hat die Menge sich seit Urzeiten spektakuläre Individuen<br />
erwählt, die ihr stellvertretend vorlebten, was sie selbst unmittelbar<br />
nicht leben konnte, sondern nur im Blick auf diese souveränen Individuen<br />
(in gleicher Weise wurde der Tod nur im Schauspiel des Opfers<br />
erfahren und gewürdigt). Aus den gleichen Gründen erfahren wir heute<br />
die Intensität des inneren Lebens nur vermittels der Betrachtung<br />
von Dingen, wie z. B. von Kunstwerken, die für uns letztlich die Rolle<br />
spielen, die einst die Könige spielten.<br />
2. Der Auftrag der »sakralen« Kunst und Literatur, die Souveränität<br />
zu verobjektivieren<br />
In der archaischen, ganz von der Souveränität beherrschten Gesellschaft<br />
konnten der Künstler und Schriftsteller durch das Kunstwerk<br />
allein keine Souveränität erlangen. Literatur und Kunst waren<br />
der souveränen Realität nachgeordnet, deren Wahrheit sie zur Schau<br />
stellten. Die Kunst war insbesondere Ausdruck der Subjektivität der<br />
souveränen Personen, die nicht arbeiteten und grundsätzlich keine<br />
Tätigkeit ausüben konnten, die sie irgendwelchen Zwecken untergeordnet<br />
hätte. Noch die griechische Tragödie, die ausdrücklich die<br />
Subjektivität der Menschen zum Gegenstand hat, thematisiert immer<br />
die Subjektivität traditionell souveräner Personen; so hielt die antike<br />
Demokratie an den traditionellen<br />
/75/<br />
Werten fest, denen sie in der Person des Königs längst abgeschworen<br />
hatte. Vor der Entstehung einer profanen Kunst, in der ar-<br />
133
chaischen Gesellschaft, mag die Situation der Künstler und Schriftsteller<br />
sehr vielfältig gewesen sein; auf jeden Fall aber standen sie im<br />
Dienste der archaischen Souveränität, die wir als eine wirkliche verstehen<br />
müssen, denn die Subjektivität war an etwas, eine Institution<br />
(an eine gegebene objektive Realität) gebunden. Es bedurfte dieses<br />
Dienstes, weil der Souverän außerstande war, selbst, mit eigenen<br />
Mitteln, diese Subjektivität auszudrücken, die, da sie die verobjektivierte<br />
Subjektivität aller war, allen mitgeteilt werden mußte: dies Prinzip<br />
galt gleichermaßen für die Könige, für die Priester und die Priesterkollegien.<br />
Die Würdenträger konnten reden, aber sie konnten sich<br />
ebensogut der Stimme eines anderen bedienen. Standen sie nicht<br />
ihrerseits im Dienste einer souveränen Wirklichkeit, einer Institution,<br />
die über ihre Person hinausging und die sie nur vorübergehend inkarnierten?<br />
In diesem sakralen System konnten Widersprüche auftreten,<br />
ein Einzelmensch konnte sich sagen, daß er über die Köpfe derer<br />
hinweg, die die Souveränität zu inkarnieren behaupteten, der<br />
wahren, von ihren Inkarnationen unabhängigen Souveränität diente.<br />
Aber damit wurde nichts an dem Prinzip geändert. Schriftsteller und<br />
Künstler dienten auf jeden Fall einer von der eigenen Subjektivität<br />
unabhängigen, wirklichen Souveränität, auch wenn sie affektiv mit<br />
jener eins waren.<br />
3. Profane Kunst und Literatur<br />
Mit dem Niedergang der sakralen Welt und der Entfaltung der profanen<br />
Gesellschaft schien es so, daß auch Literatur und Kunst profane<br />
Formen annahmen. Aber war dies vorgeblich Profane je etwas anderes<br />
als eine heruntergekommene Form des Sakralen? In all ihrer imposanten<br />
Vielheit vermögen die profane Kunst und Literatur doch nur<br />
einen Ersatz jener Emotionen zu evozieren, die man zuvor im Heiligtum,<br />
in dem sich das Göttliche offenbarte, erfuhr.<br />
Es ist schwierig, in wenigen Worten zu beschreiben, was die profane<br />
Kunst auszudrücken vermag. Das einzig allgemeine Merkmal ist ihre<br />
äußerste Vielfalt.<br />
Lächerlichkeit und Konfusion lösen sie unablässig auf. Und doch<br />
/76/<br />
hört sie nicht auf, die ursprüngliche Funktion der Kunst zu erfüllen,<br />
Ausdruck der Subjektivität zu sein, jener Subjektivität, die von Anbeginn<br />
sich als der Zweck aller Gegenstände setzte.<br />
Das ist der entscheidende Punkt: das Sakrale und das Profane unterscheiden<br />
sich durch ihre formale Diskontinuität, so daß sie deutlich<br />
in Gegensatz zueinander stehen. Wenn wir hingegen sakrale und<br />
profane Kunst gegeneinander abgrenzen wollen, so fehlt diese Diskontinuität.<br />
* Manchmal grenzt die profane Kunst an die sakrale und<br />
* Ebensowenig gibt es eine Diskontinuität im Verhältnis von profaner zu<br />
134
es ist schwierig, sie zu unterscheiden; eine deutliche Differenz, eine<br />
Schwelle wird nirgendwo in der kontinuierlichen Vielheit der verschiedenen<br />
Formen profaner Kunst sichtbar. Selbst wenn man sich leicht<br />
darüber täuschen mag: das Genie ist völlig verschieden vom Talent;<br />
aber wie keine Schwelle die Prosa von der Poesie trennt, so is t auch<br />
die Kunst der Lust nicht deutlich unterschieden von der Kunst, in der<br />
sich Angst manifestiert. Die Einteilungen eines Lehrbuchs, das nacheinander<br />
die dramatische und die lyrische Poesie, den Roman, das<br />
Tagebuch oder den Essay abhandelt, sind ganz willkürlich. Die profane<br />
und sich selbst als solche begreifende Kunst mag sogar, sooft<br />
es ihr gefällt und so gut sie kann, die Subjektivität der souveränen<br />
Formen ausdrücken, die lange Zeit die Gesellschaft beherrschten.<br />
Und doch unterscheidet sie sich von der sakralen Kunst darin, daß<br />
sie dem Ausdruck dieser bestimmten Subjektivität den Ausdruck einer<br />
menschlichen Subjektivität hin zufügt, einer Subjektivität, die von<br />
diesen herrschenden Formen unabhängig ist.<br />
4. Das Band zwischen profaner Kunst und Erotik<br />
Die profane Kunst drückt insbesondere die Subjektivität der Erotik<br />
aus (die, wenn sie im Rahmen der sakralen Kunst auftritt, anstößig<br />
wirkt und fassungslose Kommentare hervorruft). Grundsätzlich ist die<br />
Erotik an die profane Welt gebunden, weil sie nicht Gegenstand der<br />
öffentlichen Kommunikation sein kann, die in der Gesellschaft Ausdruck<br />
des Sakralen ist. Noch als literarische wendet die Kommunikation<br />
erotischer Subjektivität sich vertraulich an den Leser als intime<br />
Möglichkeit, fern der Menge. Sie<br />
/77/<br />
erheischt nicht die Bewunderung, nicht den Respekt aller, sondern<br />
sucht jene geheime Ansteckung, die niemals überheblich, niemals<br />
öffentlich ist und nur ans Schweigen appelliert.<br />
5. Das Elend des Künstlers und die für ihn unerreichbare Souveränität<br />
Was wir in der Zerstreutheit der profanen Welt jedoch verlieren, ist<br />
die Fähigkeit, den heiligen Schrecken mitzuteilen, der in den Bereich<br />
des Religiösen gehört. Das ist ein Verlust, selbst wenn zum Ausgleich<br />
etwas anderes, Gleichwertiges zutage träte. Die Stärke der<br />
sakralen Kunst lag in der Wiederholung: die heftigsten Erschütterungen<br />
als Folge heftiger Schocks wiederholten sich auf die<br />
immer gleiche Weise: erst ganz allmählich trat Ermüdung ein. Die<br />
souveräner Kunst, von der ich später sprechen werde.<br />
135
profane Kunst hat zweifellos die Kraft der Erneuerung, doch wird das<br />
Künstliche an der Kunst spürbar, sobald der Ausdruck die unbewegliche,<br />
durch Jahrhunderte geheiligte Form verläßt. Man sieht nur noch<br />
einen servilen Künstler, der ganz damit beschäftigt ist, die wirksamsten<br />
Mittel zu finden. Die menschliche Subjektivität ist nicht mehr<br />
sichtbar. Es ist nur noch die Subjektivität eines beliebigen Menschen,<br />
der sich in der Welt der Dinge zu schaffen macht und dem diese Geschäftigkeit<br />
eine Existenz auf dem Niveau der geknechteten Menge<br />
gewährt. Nicht einmal sein Genie enthebt den Künstler der Notwendigkeit,<br />
sich armselig seinen Weg zu bahnen, oft sogar durch Intrigen,<br />
Rivalitäten und Schmeichelei. Auch ist er nicht frei von dem auf<br />
einem Irrtum beruhenden Größenwahn, der die ruhige Einfachheit,<br />
Privileg jener königlichen Personen, denen mühelos das Glück Majestät<br />
verlieh, durch hochtrabendes Geschwätz wettzumachen sucht.<br />
Und doch hat der Künstler durch den Ausdruck — und zwar meist<br />
ohne es zu wissen — selbst Zugang zur souveränen Subjektivität.<br />
Was den Künstler lange Zeit vom souveränen Selbstbewußtsein<br />
fernhielt, war seine Redlichkeit. Der Künstler verfertigte das Kunstwerk.<br />
Wer wußte besser als er, welcher Geschicklichkeit, welcher<br />
Arbeit und, wenn man will, welchen Bluffs es bedarf, um auch nur<br />
irgend etwas auszudrücken. Sofern sie ist, ist die Subjektivität souverän,<br />
und sie ist, sofern sie mitgeteilt wird. Aber seine Redlichkeit hinderte<br />
den Künstler, sich seiner Situation bewußt zu werden. Seine<br />
Redlichkeit und das Gefühl, sich einer Majestäts-<br />
/78/<br />
beleidigung schuldig zu machen, hinderten ihn, sich eine Souveränität<br />
anzueignen, die bislang ausschließlich einer Institution zustand.<br />
Die sakrale Kunst war zunächst für den Künstler Ausdruck<br />
fremder, nicht der eigenen Subjektivität. Die profane Kunst verdankte<br />
ihr Ansehen der Tatsache, daß sie diese bescheidene Haltung beibehielt.<br />
Wenn sie sich auch in der Regel der Affirmation der herrschenden<br />
Souveränität enthielt, so beschränkte sie sich doch nach<br />
Möglichkeit auf den Ausdruck fremder Subjektivität. Diese Art Kunst<br />
diente vor allem dem Ausdruck von Personen, die sich nicht als souverän<br />
wußten und deren flüchtige, aber notwendigerweise souveräne<br />
Subjektivität nicht bemerkt worden wäre, hätte man sie im Zusammenhang<br />
mit einer beschränkten Realität dargestellt, mit einem alltäglichen<br />
Geschehen im Laden oder im Büro. Die Darstellung von<br />
Personen in der Kunst verlangt der Konvention entsprechend das<br />
Weglassen von äußeren Merkmalen, aber diese Art billiger Souveränität,<br />
wie man sie durch Aussparen der banalen Momente erlangt,<br />
erzeugt noch kein klares Bewußtsein von der souveränen Situation<br />
überhaupt. Die so gezeichneten Personen werden vielleicht nicht<br />
gerade in einer unbedeutenden Haltung festgehalten, aber doch in<br />
ihrer Unfähigkeit, die Totalität des Seins auf sich zu nehmen.. Das<br />
Gleitende, das der profanen Kunst eigentümlich ist, hat die Konsequenz,<br />
daß, wenn es trotz allem dem Künstler gelingt, seine Subjektivität<br />
auszudrücken, diese immer nur als aufblitzende Subjektivität, die<br />
136
eliebigen Wesen geliehen wird, erscheinen kann: ihre Subjektivität<br />
ist sich selbst nicht darüber im klaren, wieviel sie bedeutet, nämlich<br />
alles.<br />
In der Epoche der Kunst, von der ich spreche (wobei die romantische<br />
Kunst vielleicht eine Ausnahme bildet, aber ihr haftet noch die Ungeschicklichkeit<br />
an, die über die eigene Kühnheit erstaunt ist und sie<br />
eitel hervorkehrt), verharrte der Künstler im Schoß der gedemütigten<br />
Gesellschaft und stand wie jedermann im Banne der traditionellen<br />
souveränen Welt. Er stand nicht mehr im Dienste der Inkarnationen<br />
dieser Welt wie sein Vorgänger in der Epoche der sakralen Kunst<br />
(man denke etwa an die anonymen Bildner des Mittelalters), nichtsdestoweniger<br />
war er wie jedermann auf der Suche nach jener Würde,<br />
die die Nähe zu den Großen und zum Thron verlieh. Die Vorstellung,<br />
die er sich von seiner eigenen Subjektivität machte, hatte nichts von<br />
Souveränität: die Redlichkeit, an die er sich hielt, ließ das nicht zu.<br />
Seine Stellung bei Hofe und nicht sein Eigenwert gaben ihm das Anrecht<br />
auf<br />
/79/<br />
Teilhabe am Glanz der Hoheit, die er mit jener gespielten Bescheidenheit<br />
ersehnte, die der Kern der Bescheidenheit ist. Er nahm<br />
mit der Rolle des Dekorateurs vorlieb, und die Kunst war bloßes Ornament.<br />
6. Die souveräne Kunst<br />
Die Souveräne ihrerseits bemerkten diesen Irrtum des Künstlers über<br />
sich selbst, doch ohne dem sonderliche Beachtung zu schenken. Sie<br />
gewannen die Künstler für ihren Hof, und es blieb nicht aus, daß sie<br />
ein Kunstwerk in dem Glanz wahrnahmen, der ihre Souveränität<br />
ausmachte. Ohne den Effekt der Kunst hätten die Souveräne den<br />
Glanz ihrer Subjektivität nicht mitteilen können. Denn der Glanz des<br />
Königs war reiner Schein, und der Schein fiel unter die Zuständigkeit<br />
der ihn umgebenden Architekten, Maler, Musiker, Literaten. In dem<br />
Maße nämlich, als diese Künstler die Fähigkeit hatten, der strahlenden<br />
Subjektivität in Zeichen Ausdruck zu verleihen, überstrahlte der<br />
König alle anderen. Er gewann sie also für seine Intimität, denn die<br />
Kunst näherte sie in seinen Augen seinem eigenen Wesen an. Der<br />
Künstler selbst konnte nicht weniger unaufmerksam sein als der König.<br />
Er sah die Hoheit nicht in sich selbst, sondern in seinen Werken<br />
oder in der königlichen Erscheinung. Niemals war die Rede von der<br />
eigentlichen Subjektivität des Menschen, die dem Künstler insofern<br />
zukam, als er die Macht hatte, sie mitzuteilen, und die sich nur zufällig,<br />
nicht absolut, wie die Gottes oder des Königs, von der aller anderen<br />
Menschen unterschied. Die souveräne Subjektivität blieb ans Universelle,<br />
an die Totalität, die der König seiner Funktion gemäß beanspruchen<br />
konnte, und an die Macht gebunden, die er dank der ihm<br />
137
von den anderen zugeschriebenen subjektiven Souveränität zu haben<br />
glaubte. So war dem Künstler der Weg versperrt zu einer souveränen<br />
Subjektivität, die mit seiner Einzigartigkeit und der ihm als Person<br />
eigenen magischen Kraft eins gewesen wäre. Die religiöse Dimension<br />
des Göttlichen und die Möglichkeit einer intimen Partizipation<br />
an ihr (und zwar des Künstlers, nicht aber seiner Werke) vollendeten<br />
diese Trennung.<br />
Gelegentlich überkam einige wenige Künstler die Ahnung von einem<br />
Möglichen, das ihnen eigen wäre. Aber sie vermochten seine Bedeutung<br />
erst zu fassen, als das Gebäude des Feudalismus heftig<br />
/80/<br />
erschüttert war. Bis dahin hielt Gott, umgeben von seinen I leill gen,<br />
den Priestern und den Mächtigen, sie im Gefühl einer Subjektivität<br />
fest, die der ihren überlegen war, zumindest in dem Sinne, daß ihre<br />
Subjektivität sich von dieser anderen paralysieren ließ.<br />
Erst spät breitete die Einsamkeit sich vor dem Blick des Menschen<br />
aus, und das Kunstwerk — die Macht des Ausdrucks — öffnete ihm<br />
den Reichtum der Subjektivität. Um ihn waren nicht mehr die selbstbesessenen<br />
Schatten, Ausgeburten des Gefühls einer die Menge<br />
überragenden Größe, deren letztes, delirierendes Beispiel Ludwig<br />
XIV. ist. In einer ungeheuren Erregung der Geister hatte selbst die<br />
Gottesidee ihre unbestrittene Macht des Schauders verloren, die Gottesidee,<br />
die, solange sie existierte, über Unzulänglichkeiten der Menschen<br />
hinweggeholfen hatte (über ihren Knechtsgeist, ihre Bereitschaft,<br />
sich zu Dingen nivellieren zu lassen und gleichzeitig etwas<br />
Besseres sein zu wollen als der Nächste). Nichts blieb als die untergründige,<br />
ungreifbare Subjektivität, die sich immer dann entzog,<br />
wenn man sie den Dingen gleichmachen wollte: Könige und Gott waren<br />
offenbar nur ihre abgelebte verbrauchte Form, abgegriffen durch<br />
die fortgesetzte Anstrengung, sie zu fassen. Auf dem Grunde dieser<br />
Einsamkeit verlor endlich das Problem der Kunst den Charakter des<br />
Lächerlichen oder es erschien noch lächerlicher, aber nur weil diese<br />
vollendete Lächerlichkeit von nun an das Gegenteil des unglücklichen,<br />
erniedrigten Lächerlichen war; nur weil das grenzenlos Lächerliche<br />
dem souveränen Künstler endlich die vom Respekt des Anderen<br />
befreite Kunst und die von keinem Verbot eingeschränkte Souveränität<br />
ermöglichte. Übrig ist nur das Bewußtsein einer unerträglichen<br />
Tragödie, die man angstvoll flieht und gleichwohl herbeisehnt.<br />
7. Das Elend des »L'art pour Part« und die äußerste Möglichkeit<br />
Die ärmliche Idee des »L'art pour Part« hat indessen noch unlängst<br />
gezeigt, wie schwierig es ist, die Einfachheit des Problems zu sehen,<br />
das die Kunst der Existenz stellt. Die Formel des »L'art pour Part«<br />
besagte, daß die Kunst keinem ihr fremden Zweck dienen könne,<br />
aber diese Formel hat wenig Sinn, solange die Kunst in der unbedeu-<br />
138
tenden Stellung verharrt, die sie in der Gesellschaft hat. Das »L'art<br />
pour Part« entsprach der Sehnsucht nach der Feudalge-<br />
/81/<br />
sellschaft, als diejenigen, in deren Dienst die Künstler standen und<br />
von denen sie total abhingen, ihrerseits der institutionellen Souveränität<br />
dienten. Es ging immer noch um ornamentale Kunst, diesmal<br />
für Dilettanten, die sich von der Gesamtgesellschaft gelöst hatten.<br />
Die Protagonisten des »L'art pour Part« wollten sich lediglich den<br />
Interessen einer Gesellschaft entziehen, die sich andere Ziele als das<br />
der Souveränität gesetzt hatte, Interessen, die im ganzen genommen<br />
von den Grundzielen der sowjetischen Gesellschaft nicht zu unterscheiden<br />
waren. Die Formel hätte nur dann wirklich sinnvoll sein<br />
können, wenn die Kunst unmittelbar das Erbe der Souveränität angetreten<br />
hätte, also das Erbe alles dessen, was einstmals an der universellen<br />
Gestalt Gottes wie an den Gestalten der Götter und Könige<br />
authentisch souverän gewesen ist. Sie hätte ihren Anspruch auf dieses<br />
Erbe geltend machen müssen mit einem Elan, der ihrem Charakter<br />
des Grenzenlosen entspricht, aber ohne jemals diskursiv zu werden,<br />
sondern schweigend, in der souveränen Bewegung totaler Indifferenz.<br />
Wenn die Kunst Erbin der Souveränität der Könige und Gottes ist, so<br />
weil die Souveränität niemals etwas anderes enthielt als die allgemeine<br />
Subjektivität (es sei denn jene Macht über die Dinge, sowohl<br />
im sozialen Spiel wie in den magischen Praktiken, die ihr ebenfalls,<br />
zu Unrecht, zugeschrieben wurde). Aber die Menschen haben das an<br />
ihrer eigenen Subjektivität Beunruhigende und Erschütternde zunächst<br />
an Anderen wahrgenommen (seien diese Anderen nun das<br />
höchste Wesen oder ihresgleichen). Und bis heute kann niemand der<br />
überwältigenden Wahrheit des Ich ins Auge sehen ohne das geliebte<br />
Wesen. Wir können die Abwesenheit des Ich nicht ertragen, aber<br />
ebensowenig seine konkrete Gegenwart, denn es ist in unseren Augen<br />
zwar die Subjektivität, vorausgesetzt jedoch, daß seine mögliche<br />
Existenzform als Ding — beschränktes Objekt — vernichtet ist. Aber<br />
was uns heute die Liebe offenbart Ist gefährlicher, als was Gott uns<br />
einst hätte offenbaren können und hat gegen sich seine Unerträglichkeit:<br />
wir können das geliebte Wesen von den Banden nicht lösen, die<br />
es an den Zufall ketten, so daß wir unaufhörlich von der Täuschung<br />
in Atem gehalten werden bis hin zum Leiden: wir leben jenseits der<br />
Liebe, zurückgeworfen auf den verzweifelten Ausdruck einer Subjektivität,<br />
die uns mit dem unbestimmten Nebenmenschen, dem Leier,<br />
gemein ist, und, was noch befremdlicher ist: wir können ein Gefühl<br />
dieser Subjektivität nicht haben, ohne es demjenigen,<br />
/82/<br />
an den Literatur sich wendet, mitzuteilen. Auf diese Art souverän zu<br />
sein, ist zweifellos eine Weise, im Unerträglichen zu ersticken: Es<br />
erinnert an die Leere nach einer Ejakulation, an die Ekstase und ihren<br />
Schrei: »ich sterbe, weil ich nicht sterben kann!« Hier geht es<br />
139
nicht mehr um Dilettantismus: die souveräne Kunst ist die äußerste<br />
Möglichkeit.<br />
8. Das Beispiel »Zarathustra«<br />
Die Situation des Künstlers, der die ihm zukommende Würde entdeckt,<br />
ist dennoch lächerlich. Das Kunstwerk kann das, was die Sensibilität<br />
ihm eingibt, nicht ausdrücken, ohne es zu entstellen, so daß<br />
der Künstler die Offenbarung in Ohnmacht empfängt. Das traditionelle<br />
Kunstwerk lädt dazu ein, der Subjektivität, die sich anbietet und die<br />
doch nur eine Verweigerung der wirklichen Ordnung ist, irgendeine<br />
wirkliche Form zu geben.<br />
Ich will versuchen am Beispiel Zarathustra diesen Gedanken zu präzisieren.<br />
Ohne die vorangegangenen Betrachtungen wäre es mir<br />
nicht möglich gewesen, die Schwäche Zarathustras aufzuzeigen. Ist<br />
Zarathustra nicht der auf einen Anderen projizierte Ausdruck von<br />
Nietzsches eigener Subjektivität? Nietzsche plagiiert die sakrale Literatur;<br />
er läßt eine Person auftreten, die in der sakralen Welt anerkannt<br />
ist oder zumindest anerkannt werden möchte. Aber Zarathustra<br />
bleibt in der Tradition der profanen Literatur, ist ein Stück objektiver<br />
Literatur, Ausdruck einer fiktiven Subjektivität. Wir müssen uns fragen,<br />
ob es möglich war, die Existenz einer sakralen Person zu fingieren,<br />
ohne die Gesetze einer der Willkür des Fiktiven fremden Welt zu<br />
verletzen: die Mythologie hat sich immer als Wirklichkeit gesetzt.<br />
Aber da dieses Buch weder sakral noch profan ist, so erfüllt es auch<br />
nicht die Anforderungen der souveränen Kunst. Es genügt ihnen<br />
nicht, weil es die tiefe Subjektivität des Autors unter abgelebten Formen<br />
verbirgt. Dies Buch ist Fiktion der sakralen Wirklichkeit, obwohl<br />
es der unmittelbare Ausdruck der souveränen Subjektivität ist: diese<br />
widersprüchliche Vielheit setzt einen merkwürdigen Prozeß der Verschiebung<br />
in Gang. Begünstigt durch die profane Freiheit hat Nietzsche,<br />
da er sich das Kostüm einer anerkannten (oder nach Anerkennung<br />
strebenden) sakralen Wesenheit lieh, virtuell die Funktion einer<br />
solchen, an die Wirklichkeit der Macht geknüpf-<br />
/83/<br />
ten Wesenheit angenommen. Aber die souveräne Subjektivität, die<br />
ich meine, kann sich, da sie ihr Bewußtsein und ihre Existenz dem<br />
literarischen Ausdruck verdankt, nicht Funktionen anmaßen, die allein<br />
wirklichen und anerkannten Wesenheiten zukommen. Die wirkliche<br />
Souveränität Zarathustras, der in der Welt zu handeln sich bemüht,<br />
ist nur leere Fiktion der profanen Kunst, während die Bewegung des<br />
Denkens zutiefst Ausdruck der souveränen Kunst ist. Aber die souveräne<br />
Kunst verdient ihren Namen nur, wenn sie sich fern hält von den<br />
Funktionen und der Macht der wirklichen Souveränität, oder sie sogar<br />
negiert. Die souveräne Kunst ist Verweigerung der Macht: sie impliziert<br />
den Verzicht auf die politische Macht, indem sie den Dingen<br />
selbst die Verantwortung für die Leitung der Dinge überläßt. Im Zarathustra<br />
können wir heute nur noch das Leiden Nietzsches sehen, den<br />
140
das Gefühl seiner souveränen Subjektivität zu verwirren, zu ersticken<br />
drohte, der verzweifelt versuchte, einen Ausweg zu finden und mit<br />
Hilfe der Fiktion in die Ödnis floh. * »Ecce Homo« hingegen, so sehr<br />
der Text nach Gide Nietzsches Eifersucht zum Ausdruck bringt, seinen<br />
Anspruch, Jesus an Souveränität gleich zu sein, ist nichtsdestoweniger<br />
eine Absage an die unbestimmte Anmaßung des Zarathustra.<br />
Nietzsche konnte sich dem Leiden der Souveränität nicht entziehen,<br />
und unter dem Schock einer großen Leidenschaft erhob er<br />
sich über eine hoffnungslose Sehnsucht nach archaischen Formen;<br />
er wurde reif zu jenem Verzicht auf die souveräne Kunst, der ihn sagen<br />
ließ, er wolle lieber ein Narr als ein Heiliger sein.<br />
9. Wo die Souveränität auf die Subordination verzichtet<br />
»Ich bin nichts«, oder »Ich bin lächerlich«: diese Parodie der Selbstbehauptung<br />
ist das letzte Wort der souveränen Subjektivität, die frei<br />
geworden ist von der Herrschaft, die sie über die Dinge «Oben wollte<br />
oder sollte.<br />
In dieser Welt ist die Lage des souveränen Künstlers die aller-<br />
/84/<br />
alltäglichste; sie bedeutet Entbehrungen, zumindest aber Verzicht auf<br />
alle Privilegien. Ob er nun über geringfügige Mittel irgend-welcher Art<br />
verfügt oder nicht, Entbehrung ist sein Los. Das Allerweltsschicksal<br />
ist das allein ihm angemessene. Das bedeutet nun nicht, daß der<br />
»Mann mit dem Allerweltsschicksal« und der souveräne Künstler<br />
identisch wären, sondern zeigt nur die herunter-gekommene Existenz<br />
des souveränen Künstlers. Oft wurde auch der profane Künstler dahin<br />
gebracht, sozial abzusteigen, aber es geschah nicht aus innerer<br />
Notwendigkeit; die Souveränität der Kunst hingegen fordert die unauffällige<br />
Deklassierung aller, die sie leben. Sie setzt die Verweigerung<br />
des allgemeinen Strebens nach dem Rang voraus, die Verweigerung<br />
oder besser: eine Bewegung, die sich durch Schweigen entzieht.<br />
Die souveräne Kunst nämlich bezeichnet genau den Zugang zu<br />
einer souveränen Subjektivität, die vom Rang unabhängig ist, die<br />
einen anderen Weg als das Streben nach dem Rang geht. Das besagt<br />
keineswegs, daß ihr grundsätzlich der Sinn für Verhaltensweisen<br />
abgeht, die den Menschen über sich selbst und die Tiere erheben,<br />
aber es besagt, daß diese Verhaltensweisen gänzlich aufgelöst und<br />
* Unter diesem Vorbehalt bleibt Zarathustra eines der bedeutendsten Bücher.<br />
Was ich darüber sage, dient dazu, es kennenzulernen, und nicht,<br />
es abzulehnen. Daß ein solches Buch zugleich diese Ungeheuerlichkeit,<br />
dieser ohnmächtige Irrtum sein kann, würde vielleicht den Gipfel markieren,<br />
wenn nur der Gipfel bezeichnet werden könnte, wenn er nicht wankte.<br />
141
grundsätzlich in Frage gestellt werden. Zumindest kann die souveräne<br />
Subjektivität sich niemals mehr auf solche Verhaltensweisen einlassen.<br />
Sie führt sogar zu folgendem Paradox: wer unter den heutigen<br />
Bedingungen souverän sein will, kann sich niemals dem Anderen<br />
überlegen glauben, es sei denn dieser Andere glaubte sich ihm überlegen.<br />
Einzig der Glaube an eine objektive Überlegenheit schafft also<br />
eine tatsächliche Unterlegenheit, eben aufgrund der modernen Unfähigkeit,<br />
die Objektivität der Macht von der souveränen Subjektivität zu<br />
trennen: unterlegen ist allein der Glaube an eine von Dingen sich<br />
herleitende Überlegenheit.<br />
10. Die Souveränität auf der Stufe des Verzichts<br />
Von nun an_ bleiben also nur zwei Möglichkeiten, die dem entsprechen,<br />
was seit je das Streben nach dem Rang war: der Wunsch nach<br />
objektiver, von der subjektiven Souveränität abgetrennter Macht und<br />
das Bemühen um die souveräne Kunst. So ist von beiden Seiten her<br />
die Weigerung, sich subordinieren zu lassen, gebunden an die Weigerung,<br />
andere sich zu subordinieren.<br />
Jedoch von seiten der Macht, gemeint ist die Sowjetmacht,<br />
/85/<br />
führt die Verweigerung der Unterordnung von Menschen unter Menschen<br />
zu ihrer Unterordnung unter die Dinge. Insofern entspricht der<br />
Marxismus genau der Formel von der » Verwaltung der Sachen«.<br />
Aber die Dinge können sich in uns nur den Teil unterwerfen, der ihnen<br />
zukommt, den Teil der Dinge, d. h. die Arbeit. Über die notwendige,<br />
auf Objekte und ihre Handhabung bezogene Arbeit hinaus ist<br />
der Mensch nicht Ding, sondern Subjektivität, die seinen souveränen<br />
Teil ausmacht. Es ist schwierig, das Verhältnis dieser entgegengesetzten<br />
Teile genau zu bestimmen, der eine objektiv, der andere subjektiv,<br />
aber in dem einen ist der gegenwärtige Moment dem späteren<br />
Resultat untergeordnet, in dem anderen ist er souverän.<br />
Das Gleichgewicht ist verschoben zugunsten des ersten in einer<br />
Phase der Akkumulation. Aber jenseits der intensiven Akkumulation,<br />
wenn die Menschheit für sich selbst arbeitet, nicht in erster Linie für<br />
die zukünftige Menschheit, verschiebt sich das Gleichgewicht notwendig<br />
in die entgegengesetzte Richtung. Notwendigerweise dient<br />
der objektive Teil, die Arbeit, dem subjektiven Teil, der schwieriger zu<br />
definieren (zu fassen) ist, den aber die souveräne Kunst artikulieren<br />
kann.<br />
Die intensive Akkumulation (die Dienstbarmachung einer Generation<br />
für die nächste) kann unvermeidlich sein. In diesem Fall kann es eine<br />
Subordination der Kunst unter die Interessen der Produktion geben<br />
(vor allem der Entwicklung der Produktivkräfte). Das ist eine totale<br />
Negation der Dimension der Souveränität. Zumindest scheinbar,<br />
denn der vorübergehende Verzicht auf die Souveränität ist in Wirklichkeit<br />
die Bestätigung der untergründigen Souveränität; diese Be-<br />
142
stätigung kann nur untergründig sein, weil in dieser unvermeidlichen<br />
Bewegung die Subjektivität den. Menschen entgleitet, weil die<br />
Menschheit wesentlich Produktionsgemeinschaft wird und nicht jene<br />
Daseinsberechtigung für die Produkte, die nur in dem Maß greifbar<br />
wird, wie sie jene Subjektivität ihres Wesens erfaßt, die die Kunst<br />
manifestiert.<br />
Die Erfahrung, die unter diesen Bedingungen gemacht wird, kann mit<br />
Feindseligkeit betrachtet werden. Aber dennoch sollten wir ihre Lehre<br />
nicht mißverstehen. Letzten Endes können wir nicht leugnen, daß es<br />
vorteilhaft für den grundlegenden Wert der Kunst war, einer so strengen<br />
Probe unterzogen zu werden, aus der sie gleichsam wie durch<br />
das Feuer geläutert hervorgeht. Ich fühle mich keineswegs an systematisch<br />
strenge Kunstformen gebunden:<br />
/86/<br />
Ich stelle mir im Gegenteil Auflockerungen, unvermeidliche Entlastungen<br />
vor. über die unmittelbaren Reaktionen hinaus, die notwendig<br />
immer unbedeutend sind, verlangt diese Probe doch die Reduktion<br />
der Kunst auf das, was am wenigsten in Verdacht steht, bloße<br />
Zerstreuung ermüdeter Geister zu sein: auf ihren Ernst.<br />
Nur durch die grenzenlose Negation hindurch definieren sich die<br />
Möglichkeiten, die standhalten.<br />
Endlich entsteht an der Spitze ein Vakuum.<br />
Durch Macht ist Souveränität nicht mehr zu erwerben. Erst in der<br />
Einsamkeit, wie die Kontemplation in der Kunst sie erschließt, aber<br />
strenger noch, erst wenn man in einem Gefühl des Verlorenseins auf<br />
die Einfachheit des Unvermeidlichen zurückgeworfen ist, tritt ein äußerster<br />
Wert hervor, ähnlich der Schönheit, die in dem Augenblick, da<br />
der Tod droht, das vergängliche Leben noch einmal umgibt. Es geht<br />
weniger um Werke, in denen diese Schönheit Gestalt annehmen<br />
könnte; vielmehr geht es um eine Kraft, die besitzen muß, wer von ihr<br />
nicht einen Augenblick getrennt sein möchte. Und weiter: vorausgesetzt,<br />
daß die Wenigen, die das angeht, das Bewußtsein dieser Kraft<br />
haben, werden Chaos und Dissonanzen, vom Ausmaß einer Welt,<br />
nicht aufhören, den Durst zu löschen, an dem die Menschheit ewig<br />
leiden wird.<br />
143
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie<br />
Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970, S.244-260<br />
/244/<br />
Beherrscht wird die neuere Ästhetik von der Kontroverse über deren<br />
subjektive oder objektive Gestalt. Die Termini sind dabei äquivok.<br />
Gedacht wird einmal an den Ausgang von den subjektiven Reaktionen<br />
auf Kunstwerke, im Gegensatz zur intentio recta auf jene hin, die,<br />
nach einem gängigen Schema der Erkenntniskritik, vorkritisch sei.<br />
Weiter können die beiden Begriffe sich auf den Vorrang des objektiven<br />
oder subjektiven Moments in den Kunstwerken selber beziehen,<br />
etwa nach dem Modus der geisteswissenschaftlichen Unterscheidung<br />
von Klassischem und Romantischem. Schließlich wird nach der Objektivität<br />
des ästhetischen Geschmacksurteils gefragt. Die Bedeutungen<br />
sind zu distinguieren. Hegels Ästhetik war, wo die erste in Rede<br />
steht, objektiv gerichtet, während sie unterm Aspekt der zweiten Subjektivität<br />
entschiedener vielleicht hervorhob als seine Vorgänger, bei<br />
denen der Anteil des Subjekts auf die Wirkung auf einen sei es auch<br />
idealen oder transzendentalen Betrachter limitiert war. Die Subjekt-<br />
Objekt-Dialektik trägt bei Hegel in der Sache sich zu. Zu denken ist<br />
auch ans Verhältnis von Subjekt und Objekt im Kunstwerk, soweit es<br />
mit Gegenständen zu tun hat. Es ändert sich geschichtlich, lebt jedoch<br />
nach auch in den ungegenständlichen Gebilden, die zum Gegenstand<br />
Stellung beziehen, indem sie ihn<br />
/245/<br />
tabuieren. Dennoch war der Ansatz der Kritik der Urteilskraft einer<br />
objektiven Ästhetik nicht nur feind. Sie hatte ihre Gewalt daran, daß<br />
sie, wie durchweg Kants Theorien, in den vom Generalstabsplan des<br />
Systems vorgezeichneten Positionen nicht sich häuslich einrichtete.<br />
Insofern nach seiner Lehre Ästhetik durchs subjektive Geschmacksurteil<br />
überhaupt konstituiert wird, wird es notwendig nicht nur zum<br />
Konstituens der objektiven Gebilde, sondern führt als solches objektive<br />
Nötigung mit sich, wie wenig auch diese auf allgemeine Begriffe<br />
zu bringen sei. Kant stand eine subjektiv vermittelte, doch objektive<br />
Ästhetik vor Augen. Der Kantische Begriff der Urteilskraft gilt, in subjektiv<br />
gerichteter Rückfrage, dem Zentrum objektiver Ästhetik, der<br />
Qualität, gut und schlecht, wahr und falsch im Kunstwerk. Die subjektive<br />
Rückfrage aber ist ästhetisch mehr als die epistemologische intentio<br />
obliqua, weil die Objektivität des Kunstwerks qualitativ anders,<br />
144
spezifischer durchs Subjekt vermittelt ist als die von Erkenntnis sonst.<br />
Fast ist es tautologisch, daß die Entscheidung, ob ein Kunstwerk eines<br />
sei, an dem Urteil darüber hängt, und der Mechanismus solcher<br />
Urteile — weit mehr eigentlich als die Urteilskraft als >Vermögen< —<br />
bildet das Thema des Werks. »Die Definition des Geschmacks, welche<br />
hier zum Grunde gelegt wird, ist: daß er das Vermögen der Beurteilung<br />
des Schönen sei. Was aber dazu erfordert wird, um einen<br />
Gegenstand schön zu nennen, das muß die Analyse der Urteile des<br />
Geschmacks entdecken.« 44 Der Kanon des Werks ist die objektive<br />
Gültigkeit des Geschmacksurteils, die nicht garantiert und gleichwohl<br />
stringent sei. Präludiert wird die Situation aller nominalistischen<br />
Kunst. Kant möchte, analog zur Vernunftkritik, ästhetische Objektivität<br />
aus dem Subjekt begründen, nicht jene durch dieses ersetzen.<br />
Implizit ist ihm das Einheitsmoment des Objektiven und Subjektiven<br />
die Vernunft, ein subjektives Vermögen und gleichwohl, kraft seiner<br />
Attribute von Notwendigkeit und Allgemeinheit, Urbild aller Objektivität.<br />
Auch die Ästhetik steht bei Kant unterm Primat der diskursiven<br />
Logik: »Die Momente, worauf diese Urteilskraft in ihrer Reflexion Acht<br />
hat, habe ich nach Anleitung der logischen Funktionen zu urteilen<br />
aufgesucht (denn im Geschmacksurteile<br />
/246/<br />
ist immer noch eine Beziehung auf den Verstand enthalten). Die der<br />
Qualität habe ich zuerst in Betrachtung gezogen, weil das ästhetische<br />
Urteil über das Schöne auf diese zuerst Rücksicht nimmt. 45 Die stärkste<br />
Stütze subjektiver Ästhetik, der Begriff des ästhetischen Gefühls,<br />
folgt aus der Objektivität, nicht umgekehrt. Es sagt, daß etwas so sei;<br />
Kant würde es, als >Geschmack
Begriff und sinkt unter das Apriori von Kunst herab. In der Kunst sind<br />
relative Werturteile, Berufung auf Billigkeit, Geltenlassen von halb<br />
Gelungenem, alle Excusen des gesunden Menschenverstands, auch<br />
der Humanität, schief: ihre Nachsicht schadet dem Kunstwerk, indem<br />
sie stillschweigend seinen Wahrheitsanspruch kassiert. Solange die<br />
Grenze der Kunst gegen die Realität nicht verwaschen ist, frevelt an<br />
jener die unabdingbar aus der Realität transplantierte Toleranz für<br />
schlechte Gebilde.<br />
Mit Grund sagen, warum ein Kunstwerk schön, warum es wahr,<br />
stirmmig, legitimiert sei, hieße aber selbst dann nicht, auf seine<br />
/247/<br />
allgemeinen Begriffe es abzuziehen, wenn diese Operation, wie Kant<br />
es ersehnt und bestreitet, möglich wäre. In jedem Kunstwerk, nicht<br />
erst in der Aporie der reflektierenden Urteilskraft, schürzt sich der<br />
Knoten von Allgemeinem und Besonderem. Kants Einsicht nähert<br />
sich dem mit der Bestimmung des Schönen als dessen, »was ohne<br />
Begriff allgemein gefällt«. 46 Solche Allgemeinheit ist, trotz Kants verzweifelter<br />
Anstrengung, von Notwendigkeit nicht zu sondern; daß<br />
etwas >allgemein gefällt< ist äquivalent dem Urteil, daß es einem<br />
jeden gefallen müsse, sonst einzig eine empirische Konstatierung.<br />
Allgemeinheit und implizite Notwendigkeit bleiben jedoch unabdingbar<br />
Begriffe, und deren Kantische Einheit, das Gefallen, ist dem<br />
Kunstwerk äußerlich. Die Forderung der Subsumtion unter eine<br />
Merkmaleinheit vergeht sich gegen jene Idee des Begreifens von<br />
innen her, die durch den Zweckbegriff in beiden Teilen der Kritik der<br />
Urteilskraft das klassifikatorische, der Erkenntnis des Gegenstands<br />
von innen nachdrücklich absagende Verfahren der >theoretischen
248/<br />
mente ins Intelligible gespannt, so büßt die Kantische Lehre ihren<br />
Inhalt ein . Kunstwerke sind, keineswegs bloß der abstrakten Möglichkeit<br />
nach, denkbar, die seinen Momenten des Geschmacksurteils<br />
genügen und trotzdem nicht zureichen. Andere – wohl die neue<br />
Kunst insgesamt – widerstreiten jenen Momenten, gefallen keineswegs<br />
allgemein, ohne daß sie dadurch objektiv disqualifiziert wären.<br />
Kant erreicht die Objektivität tier Ästhetik, auf die er aus ist, wie die<br />
der Ethik durch allgemeinbegriffliche Formalisierung. Diese ist dem<br />
ästhetischen Phänomen, als dem konstitutiv Besonderen, entgegen.<br />
An keinem Kunstwerk ist wesentlich, was ein jegliches, seinem reinen<br />
Begriff nach, sein muß. Die Formalisierung, Akt subjektiver Vernunft,<br />
drängt die Kunst in eben jenen bloß: subjektiven Bereich, schließlich<br />
in die Zufälligkeit zurück, der Kant sie entreißen möchte und der<br />
Kunst selbst wider-streitet. Subjektive und objektive Ästhetik, als Gegenpole,<br />
stehen einer dialektischen gleichermaßen zur Kritik: jene,<br />
weil sie entweder abstrakt-transzendental oder kontingent je nach<br />
dem einzelmenschlichen Geschmack ist – diese, weil sie die objektive<br />
Vermitteltheit von Kunst durchs Subjekt werk ennt. Im Gebilde ist<br />
Subjekt weder der Betrachter noch der Sch Opfer noch absoluter<br />
Geist, viel mehr der an die Sache gebundene, von ihr präformiert,<br />
seinerseits durchs Objekt vermittelt.<br />
Fürs Kunstwerk, und darum für die Theorie, sind Subjekt und Objekt<br />
dessen eigene Momente, dialektisch darin, daß woraus auch immer<br />
es sich zusammensetzt: Material, Ausdruck, Form, je gedoppelt beides<br />
sind. Die Materialien sind von der Hand derer geprägt, von denen<br />
das Kunstwerk sie empfing; Ausdruck, im Werk objektiviert und objektiv<br />
an sich, dringt als subjektive Regung ein; Form muß nach den<br />
Necessitäten des Objekts subjektiv gezeitigt werden, wofern sie nicht<br />
zum Geformten mechanisch sich verhalten soll. Was, analog zu der<br />
Konstruktion eines Gegebenen in der Erkenntnistheorie, so objektiv<br />
undurchdringlich den Künstlern entgegentritt wie vielfach ihr Material,<br />
ist zugleich sedimentiertes Subjekt; das dem Anschein nach Subjektivste,<br />
der Ausdruck, objektiv auch derart, daß das Kunstwerk daran<br />
sich abarbeitet, ihn sich einverleibt; schließlich ein subjektives Verhalten,<br />
in dem Objektivität sich abdrückt. Die Reziprozität von Subjekt<br />
und Objekt im Werk aber, die keine Iden-<br />
/249/<br />
tität sein kann, hält sich in prekärer Balance. Der subjektive Prozeß<br />
der Hervorbringung ist nach seiner privaten Seite gleichgültig. Er hat<br />
aber auch eine objektive, als Bedingung dafür, daß die immanente<br />
Gesetzlichkeit sich realisiere. Als Arbeit, nicht als Mitteilung gelangt<br />
das Subjekt in der Kunst zu dem Seinen. Das Kunstwerk muß die<br />
Balance ambitionieren, ohne ihrer ganz mächtig zu sein: ein Aspekt<br />
des ästhetischen Scheincharakters. Der einzelne Künstler fungiert als<br />
Vollzugsorgan auch jener Balance. Im Produktionsprozeß sieht er<br />
einer Aufgabe sich gegenüber, von der es schwer fällt zu sagen, ob<br />
er auch nur diese sich stellte; der Marmorblock, in dem eine Skulptur,<br />
die Klaviertasten, in denen eine Komposition darauf warten, entbun-<br />
147
den zu werden, sind für jene Aufgabe wahrscheinlich mehr als Metaphern.<br />
Die Aufgaben tragen ihre objektive Lösung in sich, wenigstens<br />
innerhalb einiger Variationsbreite, obwohl sie nicht die Eindeutigkeit<br />
von Gleichungen besitzen. Die Tathandlung des Künstlers ist das<br />
Minimale, zwischen dem Problem zu vermitteln, dem er sich gegenüber<br />
sieht und das selber bereits vorgezeichnet ist, und der Lösung,<br />
die ebenso potentiell in dem Material steckt. Hat man das Werkzeug<br />
einen verlängerten Arm genannt, so könnte man den Künstler verlängertes<br />
Werkzeug nennen, eines des Übergangs vοn der Potentialität<br />
zur Aktualität.<br />
Der Sprachcharakter der Kunst führt auf die Reflexion, was aus der<br />
Kunst rede; das eigentlich, der Hervorbringende nicht und nicht der<br />
Empfangende, ist ihr Subjekt. Überdeckt wird das vom Ich der Lyrik,<br />
das für Jahrhunderte sich einbekannte und den Schein der Selbstverständlichkeit<br />
der poetischen Subjektivität zeitigte. Aber sie ist keineswegs<br />
mit dem Ich, das aus dem Gedicht redet, identisch. Nicht<br />
bloß des dichterischen Fiktionscharakters der Lyrik und der Musik<br />
wegen, wo der subjektive Ausdruck mit Zuständen des Komponisten<br />
kaum je unmittelbar zusammenfällt. Weit darüber hinaus ist prinzipiell<br />
das grammatische Ich des Gedichts von dem durchs Gebilde latent<br />
redenden erst gesetzt, das empirische Funktion des geistigen, nicht<br />
umgekehrt. Der Anteil des empirischen ist nicht, wie der Topos der<br />
Echtheit es möchte, der Ort von Authentizität. Offen, ob das latente<br />
Ich, das redende, in den Gattungen der Kunst das gleiche sei, und ob<br />
es sich verändert; es dürfte mit den Materialien der Künste qua-<br />
/250/<br />
litativ variieren; deren Subsumtion unter den fragwürdigen Oberbegriff<br />
der Kunst täuscht darüber. Jedenfalls ist es sachimmanent, konstituiert<br />
sich im Gebilde, durch den Akt von dessen Sprache ; der real<br />
Hervorbringende ist im Verhältnis zum Gebilde eiai Moment der Realität<br />
wie andere. Nicht einmal in der faktischen Produktion der Kunstwerke<br />
entscheidet die Privatperson. Implizit erfordert das Kunstwerk<br />
Arbeitsteilung, und das Individuum fungiert vorweg arbeitsteilig darin.<br />
Indem die Produktion ihrer Materie sich überantwortet, resultiert sie<br />
inmitten äußerster Individuation in einem Allgemeinen. Die Kraft solcher<br />
Entäußerung des privaten Ichs an die Sache ist das kollektive<br />
Wesen in jenem; es konstituiert den Sprachcharakter der Werke. Die<br />
Arbeit am Kunstwerk ist gesellschaftlich durchs Individuum hindurch,<br />
ohne daß es dabei der Gesellschaft sich bewußt sein müßte; vielleicht<br />
desto mehr, je weniger es das ist. Das je eingreifende einzelmenschliche<br />
Subjekt ist kaum mehr als ein Grenzwert, ein Minimales,<br />
dessen das Kunstwerk bedarf, um sich zu kristallisieren. Die Verselbständigung<br />
des Kunstwerks dem Künstler gegenüber ist keine Ausgeburt<br />
des Größenwahns von l'art pour l'art, sondern der einfachste<br />
Ausdruck seiner Beschaffenheit als eines gesellschaftlichen Verhältnisses,<br />
das in sich das Gesetz seiner eigenen Vergegenständlichung<br />
trägt: nur als Dinge werden die Kunstwerke zur Antithesis des dinghaften<br />
Unwesens. Dem ist gemäß der zentrale Sachverhalt, daß aus<br />
den Kunstwerken, auch den sogenannten individuellen, ein Wir<br />
spricht und kein Ich, und zwar desto reiner, je weniger es äußerlich<br />
148
einem Wir und dessen Idiom sich adaptiert. Auch darin prägt die Musik<br />
gewisse Charaktere des Künstlerischen extrem aus, ohne daß ihr<br />
übrigens deshalb ein Vorrang gebührte. Sie sagt unmittelbar, gleichgültig<br />
was ihre Intention sei, Wir. Noch die protokollähnlichen Gebilde<br />
ihrer expressionistischen Phase verzeichnen Erfahrungen von Verbindlichkeīt,<br />
und ihre eigene, ihre Gestaltungskraft haftet daran, ob<br />
sie wirklich aus ihnen sprechen. An der abendländischen Musik ließe<br />
siele dartun, wie sehr ihr wichtigster Fund, die harmonische Tiefendimension<br />
samt aller Kontrapunktik und Polyphonie, das aus dem<br />
chorischen Ritual in die Sache eingedrungene Wir ist. Es läßt seine<br />
Buchstäblichkeit ein, verwandelt sich zum immanenten Agens, und<br />
bewahrt doch<br />
/251/<br />
den redenden Charakter. Dichtungen sind durch ihre unmittelbare<br />
Teilhabe an der kommunikativen Sprache, von der keine ganz loskommt,<br />
auf ein Wir bezogen; ihrer eigenen Sprachlichkeit zuliebe<br />
müssen sie sich abmühen, jener ihnen auswendigen, mitteilenden<br />
ledig zu werden. Aber dieser Prozeß ist nicht, wie er erscheint und<br />
sich selber dünkt, einer der puren Subjektivierung. Durch ihn<br />
schmiegt das Subjekt der kollektiven Erfahrung um so inniger sich an,<br />
je spröder es sich gegen ihren sprachlich vergegenständlichten Ausdruck<br />
macht. Bildende Kunst dürfte durch das Wie der Apperzeption<br />
reden. Ihr Wir ist geradeswegs das Sensorium seinem geschichtlichen<br />
Stande nach, bis es die Relation zur Gegenständlichkeit, die<br />
sich veränderte, vermöge der Ausbildung seiner Formensprache zerbricht.<br />
Was Bilder sagen ist ein Seht einmal; sie haben ihr kollektives<br />
Subjekt an dem, worauf sie deuten, es geht nach außen, nicht wie bei<br />
der Musik nach innen. In der Steigerung ihres Sprachcharakters ist<br />
die Geschichte der Kunst, die ihrer fortschreitenden Individualisierung<br />
gleichgesetzt wird, ebenso deren Gegenteil. Daß dies Wir jedoch<br />
nicht gesellschaftlich eindeutig, kaum eines bestimmter Klassen oder<br />
sozialer Positionen ist, das mag daher rühren, daß es Kunst emphatischen<br />
Anspruchs bis heute nur als bürgerliche gegeben hat; nach<br />
Trotzkis These kann nach dieser keine proletarische vorgestellt werden,<br />
einzig eine sozialistische. Das ästhetische Wir ist gesamtgesellschaftlich<br />
im Horizont einiger Unbestimmtheit, freilich auch so bestimmt<br />
wie die herrschenden Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse<br />
einer Epoche. Während Kunst dazu versucht ist,<br />
eine nichtexistente Gesamtgesellschaft, deren nichtexistentes Subjekt<br />
zu antezipieren, und darin nicht bloß Ideologie, haftet ihr zugleich<br />
der Makel von dessen Nichtexistenz an. Dennoch bleiben die Antagonismen<br />
der Gesellschaft in ihr erhalten. Wahr Ist Kunst, soweit<br />
das aus ihr Redende und sie selber zwiespältig, unversöhnt ist, aber<br />
diese Wahrheit wird ihr zuteil, wenn sie das Gespaltene synthesiert<br />
und dadurch erst in seiner Unversöhnlichkeit bestimmt. Paradox hat<br />
sie das Unversöhnte zu bezeugen und gleichwohl tendenziell zu versöhnen;<br />
möglich ist das nur ihrer nicht-diskursiven Sprache. In jenem<br />
Prozeß allein konkretisiert sich ihr Wir. Was aber aus ihr redet, ist<br />
wahrhaft ihr Subjekt insofern, als es aus ihr redet und nicht von ihr<br />
darge-<br />
149
252/<br />
stellt wird. Der Titel des unvergleichlichen letzten Stücks aus Schumanns<br />
Kinderszenen, eines der frühesten Modelle expressionistischer<br />
Musik: »Der Dichter spricht«, notiert das Bewußtsein davon.<br />
Abbilden aber läßt das ästhetische Subjekt wahrscheinlich darum<br />
sich nicht, weil es, gesellschaftlich vermittelt, so wenig empirisch<br />
ist wie nur das transzendentale der Philosophie. »Die Objektivation<br />
des Kunstwerks geht auf Kosten der Abbildung von Lebendigem.<br />
Leben gewinnen die Kunstwerke erst, wo sie auf Menschenähnlichkeit<br />
verzichten. >Der Ausdruck eines unverfälschten Gefühls ist immer<br />
banal. Je unverfälschter um so banaler. Um es nicht zu sein,<br />
muß man sich anstrengen-
Künstler haben es schwer nicht nur wegen ihres nach wie vor ungewissen<br />
Schicksals in der Welt, sondern weil sie der ästhetischen<br />
Wahrheit, der sie nachhängen, zwangshaft durch die eigene Anstrengung<br />
zuwider handeln. Soweit geschichtlich-real Subjekt und<br />
Objekt auseinandergetreten sind, ist Kunst möglich nur als durchs<br />
Subjekt hindurch gegangene. Denn Mimesis ans vom Subjekt nicht<br />
Hergerichtete ist nirgends anders als im Subjekt als Lebendigem.<br />
Das setzt sich fort in der Objektivation von Kunst durch ihren immanenten<br />
Vollzug, der des geschichtlichen Subjekts bedarf. Hofft das<br />
Kunstwerk durch seine Objektivation auf die dem Subjekt verborgene<br />
Wahrheit, so darum, weil das Subjekt selber nicht das Letzte ist. Das<br />
Verhältnis der Objektivität des Kunstwerks zum Vorrang des Objekts<br />
ist gebrochen. Sie zeugt für diesen im Stande des universalen Banns,<br />
der dem An sich Refugium gewährt nur noch im Subjekt, während<br />
seine Art Objektivität der vom Subjekt gewirkte Schein ist, Kritik an<br />
der Objektivität. Von solcher Objektwelt läßt sie nur die membra disiecto<br />
ein; einzig als demontierte wird jene dem Formgesetz kommensurabel.<br />
Subjektivität, notwendige Bedingung des Kunstwerks, ist aber nicht<br />
als solche die ästhetische Qualität. Sie wird es erst durch Objektivation;<br />
insofern ist Subjektivität im Kunstwerk sich selbst entäußert und<br />
verborgen. Das verkennt Riegls Begriff des Kunstwollens. Gleichwohl<br />
trifft er ein für immanente Kritik Wesentliches: daß über den Rang<br />
von Kunstwerken nicht ein ihnen Äußerliches befindet. Sie – nicht<br />
freilich ihre Autoren – sind ihr eigenes Maß, nach der Wagnerschen<br />
Formel ihre selbstgesetzte Regel. Die Frage nach, deren eigener<br />
Legitimation ist nicht jenseits von ihrer Erfüllung. Kein Kunstwerk ist<br />
nur, was es will,<br />
/254/<br />
/254/<br />
aber keines ist mehr, ohne daß es etwas will. Das kommt der Spontaneität<br />
recht nahe, obwohl gerade sie auch Unwillkürliches involviert.<br />
Sie manifestiert sich vorab in der Konzeption des Werks, seiner aus<br />
ihm selbst ersichtlichen Anlage. Auch sie ist keine abschlußhafte Kategorie:<br />
vielfach verändert sie die Selbstrealisierung der Werke. Fast<br />
ist es das Siegel von Objektivation, daß unter dem Druck immanenter<br />
Logik die Konzeption sich verschiebt. Dies ichfremde, dem vorgeblichen<br />
Kunstwollen konträre Moment ist den Künstlern, wie den Theoretikern,<br />
zuweilen schreckhaft, bekannt; Nietzsche hat von demselben<br />
Sachverhalt am Ende von »Jenseits von Gut und Böse« gesprochen.<br />
Das Mo-ment des Ichfremden unterm Zwang der Sache ist<br />
wohl das Signum dessen, was mit dem Terminus genial gemeint war.<br />
Der Geniebegriff wäre, wenn irgend etwas an ihm zu halten ist, von<br />
jener plumpen Gleichsetzung mit dem kreativen Subjekt loszureißen,<br />
die aus eitel Überschwang das Kunstwerk ins Dokument seines Urhebers<br />
verzaubert und damit verkleinert. Die Objektivität der Werke,<br />
den Menschen in der Tauschgesellschaft ein Stachel, weil sie von<br />
Kunst, irrend, erwarten, sie mildere die Entfremdung, wird ιn den<br />
Menschen, der hinter dem Werk stehe, zurückübersetzt; meist ist er<br />
nur die Charaktermaske derer, die das Werk als Konsumartikel verkaufen<br />
wollen. Will man den Geniebegriff nicht einfach als romanti-<br />
151
schen Überrest abschaffen, so ist er auf seine geschichtsphilosophische<br />
Objektivität zu bringen. Die Divergenz von Subjekt und Individuum,<br />
präformiert im Kantischen Antipsychologismus, aktenkundig<br />
bei Fichte, affiziert auch die Kunst. Der Charakter des Authentischen,<br />
Verpflichtenden und die Freiheit des emanzipierten Einzelnen entfernen<br />
sich von einander. Der Geniebegriff ist ein Versuch, beides<br />
durch einen Zauberschlag zusammenzubringen, dem Einzelnen im<br />
Sondergebiet Kunst unmittelbar das Vermögen zum übergreifend<br />
Authentischen zu attestieren. Der Erfahrungsgehalt solcher Mystifikation<br />
ist, daß tatsächlich in der Kunst Authentizität, das universale<br />
Moment, anders als durchs principium individuatk nis nicht mehr<br />
möglich ist, so wie umgekehrt die allgemeine bürgerliche Freiheit die<br />
zum Besonderen, zur Individuation sein sollte. Nur wird von der Genie-Ästhetik<br />
dies Verhältnis blindlings, undialektisch in jenes Individuum<br />
verlegt, das da zugleich<br />
/255/<br />
Subjekt sein soll; der intellectus archetypus, ιn der Erkenntnistheorie<br />
ausdrücklich Idee, wird im Geniebegriff wie eine Tatsache der Kunst<br />
behandelt. Genie soll das Individuum sein, dessen Spontaneität mit<br />
der Tathandlung des absoluten Subjekts koinzidiert. Soviel ist richtig<br />
daran, wie die Individuation der Kunstwerke, vermittelt durch Spontaneität,<br />
das an ihnen ist, wodurch sie sich objektivieren. Falsch aber<br />
ist der Geniebegriff, weil Gebilde keine Geschöpfe sind und Menschen<br />
keine Schöpfer. Das bedingt die Unwahrheit der Genie-<br />
Ästhetik, welche das Moment des endlichen Machens, der téchne an<br />
den Kunstwerken zugunsten ihrer absoluten Ursprünglichkeit, quasi<br />
ihrer natura naturans unterschlägt und damit die Ideologie vom<br />
Kunstwerk als einem Organischen und Unbewußten in die Welt setzt,<br />
die dann zum trüben Strom des Irrationalismus sich verbreitert. Von<br />
Anbeginn lenkt die Akzentverschiebung der Genie-Ästhetik auf den<br />
Einzelnen, wie sehr sie auch der schlechten Allgemeinheit opponiert,<br />
auch von der Gesellschaft ab, indem sie den Einzelnen verabsolutiert.<br />
Trotz allen Mißbrauchs aber erinnert der Geniebegriff daran,<br />
daß das Subjekt im Kunstwerk nicht durchaus auf die Objektivation<br />
zu reduzieren ist. In der Kritik der Urteilskraft war der Geniebegriff die<br />
Zufluchtsstätte alles dessen, was der Hedonismus der Kantischen<br />
Ästhetik sonst entzog. Nur hat er Genialität, mit unübersehbarer Folge,<br />
einzig dem Subjekt reserviert, gleichgültig gegen die Ichfremdheit<br />
gerade dieses Moments, die später im Kontrast des Genies zur wissenschaftlichen<br />
und philosophischen Rationalität ideologisch ausgebeutet<br />
wurde. Die bei Kant beginnende Fetischisierung des Geniebegriffs<br />
als der abgetrennten, nach Hegels Sprache abstrakten Subjektivität,<br />
hat schon in Schillers Votivtafeln kraß elitäre Züge angenommen.<br />
Er wird potentiell zum Feind der Kunstwerke; mit einem Seitenblick<br />
auf Goethe soll der Mensch hinter jenen wesentlicher sein als<br />
sie selbst. Im Geniebegriff wird mit idealistischer Hybris die Idee des<br />
Schöpfertums vom transzendentalen Subjekt an das empirische, den<br />
produktiven Künstler zediert. Das behagt dem bürgerlichen Vulgärbewußtsein,<br />
ebenso wegen des Arbeitsethos ιn der Glorifizierung<br />
reinen Schöpfertums des Menschen ohne Rücksicht auf den Zweck,<br />
152
wie weil dem Betrachter die Bemühung um die Sache abgenommen<br />
wird: man speist ihn mit der Persön-<br />
/256/<br />
lichkeit, am Ende der Kitschbiographik der Künstler ab. Die Produzenten<br />
bedeutender Kunstwerke sind keine Halbgötter, sondern fehlbare,<br />
oft neurotische und beschädigte Menschen. Ästhetische Gesinnung<br />
aber, die mit dem Genie tabula rasa macht, artet zur öden und<br />
schulmeisterlichen Handwerkerei, zum Nachpinseln von Schablonen<br />
aus. Das Wahrheitsmoment am Geniebegriff ist in der Sache zu suchen,<br />
dem Offenen, nicht in Wiederholung Gefangenen. Übrigens<br />
war der Geniebegriff, als er im späteren achtzehnten Jahrhundert in<br />
Schwang kam, noch keineswegs charismatisch; nach der Idee jener<br />
Periode sollte jeder Genie sein können, wofern er unkonventionell als<br />
Natur sich äußerte. Genie war Haltung, >genialisch Treiben
Wegen des Moments des nicht schon Dagewesenen war das Geniale<br />
mit dem Begriff der Originalität verkoppelt: >Originalgenie
aus dem Nichts hervorzubringen. Ihr vulgärer Begriff, der absoluter<br />
Erfindung, ist das genaue Korrelat zum neuzeitlichen Wissenschaftsideal<br />
als der strikten Reproduktion eines bereits Vorhandenen; an<br />
dieser Stelle hat die bürgerliche Arbeitsteilung einen Graben gezogen,<br />
der ebenso die Kunst von jeglicher Vermittlung zur Realität<br />
trennt wie die Erkenntnis von allem, was jene Realität irgend transzendiert.<br />
Bedeutenden Kunstwerken war jener Phantasiebegriff wohl<br />
nie wesentlich; die Erfindung etwa von Phantasiewesen in aller neueren<br />
bildenden Kunst subaltern, der angeflogene musikalische Einfall,<br />
als Moment nicht zu leugnen, so lange kraftlos, wie er nicht durch<br />
das, was aus ihm wird, sein pures Vorhandensein überflügelt. Ist in<br />
den Kunstwerken alles und noch das Sublimste an das Daseiende<br />
gekettet, dem sie sich entgegenstemmen, so kann Phantasie nicht<br />
das billige Vermögen sein, dem Daseienden zu entfliehen, indem sie<br />
ein Nichtdaseiendes setzt, als ob es existierte.<br />
/259/<br />
Vielmehr rückt Phantasie, was immer die Kunstwerke an Daseiendem<br />
absorbieren, in Konstellationen, durch welche sie zum Anderen<br />
des Daseins werden, sei es auch allein durch dessen bestimmte Negation.<br />
Sucht man, wie die Erkenntnistheorie es taufte, in phantasierender<br />
Fiktion irgendein schlechterdings nichtseiendes Objekt sich<br />
vorzustellen, so wird man nichts zuwege bringen, was nicht in seinen<br />
Elementen und selbst in Momenten seines Zusammenhangs reduktibel<br />
wäre auf irgendwelches Seiende. Nur im Bann totaler Empirie<br />
erscheint, was dieser qualitativ sich entgegensetzt, doch wiederum<br />
als nichts anderes denn ein Daseiendes zweiter Ordnung nach dem<br />
Modell der ersten. Einzig durchs Seiende hindurch transzendiert<br />
Kunst zum Nichtseienden; sonst wird sie hilflose Projektion dessen,<br />
was ohnehin ist. Demgemäß ist Phantasie in den Kunstwerken keineswegs<br />
auf die jähe Vision beschränkt. So wenig Spontaneität von<br />
ihr wegzudenken ist, so wenig ist sie, der creatio ex nihilo das Nächste,<br />
das Ein und Alles der Kunstwerke. Der Phantasie mag primär im<br />
Kunstwerk ein Konkretes aufblitzen, zumal bei<br />
den Künstlern, deren Produktionsprozeß von unten nach oben führt.<br />
Ebenso jedoch wirkt Phantasie in einer Dimension, die dem Vorurteil<br />
für abstrakt gilt, im quasi leeren Umriß, der dann durch die >Arbeit
ma in seiner primären Form, rückwirkend gleichsam, aus ihm abgeleitet<br />
wurde. Keine geringere Phantasie-<br />
/260/<br />
leistung, daß in den späteren Partien der weiträumigen Durchführung<br />
des ersten Satzes der Eroica, als wäre nun keine Zeit mehr zur differenzierenden<br />
Arbeit, zu lapidar harmonischen Perioden übergegangen<br />
wird. Mit dem steigenden Vorrang der Konstruktion mußte die<br />
Substantialität des Einzeleinfalls sich mindern. Wie sehr Arbeit und<br />
Phantasie ineinander sind – ihre Divergenz ist stets Index des Mißlingens<br />
–, dafür spricht die Erfahrung der Künstler, daß Phantasie sich<br />
kommandieren läßt. Sie empfinden die Willkür zum Unwillkürlichen<br />
als das, was vom Dilettantismus sie abhebt. Auch subjektiv- sind ästhetisch<br />
wie in der Erkenntnis Unmittelbarkeit und Mittelbares ihrerseits<br />
durch einander vermittelt. Kunst ist, nicht genetisch, aber ihrer<br />
Beschaffenheit nach, das drastischeste Argument gegen die erkenntnistheoretische<br />
Trennung von Sinnlichkeit und Verstand. Reflexion ist<br />
zur Phantasieleistung überaus fähig: das bestimmte Bewußtsein dessen,<br />
was ein Kunstwerk an einer Stelle braucht, zieht es herbei. Daß<br />
Bewußtsein töte, ist in der Kunst, die der Kronzeuge dafür sein soll,<br />
ein so albernes Cliché wie allerorten. Noch das Auflösende der Reflexion,<br />
ihr kritisches Moment, wird als Selbstbesinnung des Kunstwerks<br />
fruchtbar, die das Unzulängliche, Ungeformte, Unstimmige<br />
ausscheidet oder modifiziert. Umgekehrt hat die Kategorie des ästhetisch<br />
Dummen ihr fundamentum in re, den Mangel von Werken an<br />
immanenter Reflexion, etwa der auf den Stumpfsinn unfiltrierter Wiederholungen.<br />
Schlecht an den Kunstwerken ist Reflexion, die von<br />
außen sie steuert, ihnen Gewalt antut, aber wohin sie von sich aus<br />
wollen, dem ist subjektiv anders als durch Reflexion gar nicht zu folgen,<br />
und die Kraft dazu ist spontan. Involviert ein jegliches Kunstwerk<br />
einen – wahrscheinlich aporetischen – Problemzusammenhang, so<br />
entflösse daraus nicht die schlechteste Definition von Phantasie. Als<br />
Vermögen, im Kunstwerk Ansätze und Lösungen zu erfinden, darf sie<br />
das Differential von Freiheit inmitten der Determination heißen.<br />
156
Michel Foucault: Was ist ein Autor?<br />
In: Schriften zur Literatur, Frankfurt/M./Berlin/Wien:Ullstein 1979, S.7-<br />
31<br />
/7/<br />
Französische Gesellschaft für Philosophie Sitzung vom Samstag,<br />
den 22. Februar 1969<br />
Michel Foucault, Professor am Centre Universitaire Expérimental in<br />
Vincennes, möchte vor den Mitgliedern der Französischen Gesellschaft<br />
für Philosophie folgende Argumente entwickeln:<br />
»Wen kümmert's, wer spricht?« In dieser Gleichgültigkeit äußert sich<br />
das wohl grundlegendste ethische Prinzip zeitgenössischen Schreibens.<br />
Das Zurücktreten des Autors ist für die Kritik zu einem mittlerweile<br />
alltäglichen Thema geworden. Wesentlich ist jedoch nicht, einmal<br />
mehr sein Verschwinden festzustellen, sondern als — ebenso<br />
gleichgültige wie zwingende — Leerstellen die Orte aus-findig zu machen,<br />
an denen er seine Funktion ausübt.<br />
1. Autorname: man kann ihn nicht wie eine festgelegte Beschreibung<br />
behandeln; aber man kann ihn ebensowenig wie einen gewöhnlichen<br />
Eigennamen behandeln.<br />
2. Aneignungsverhältnis: der Autor ist genau genommen weder der<br />
Eigentümer seiner Texte, noch ist er verantwortlich dafür; er ist weder<br />
ihr Produzent noch ihr Erfinder. Wie ist der »speech act« beschaffen,<br />
der es erlaubt, von einem Werk zu sprechen?<br />
3. Zuschreibungsverhältnis: der Autor ist sicherlich derjenige, dem<br />
man das Geschriebene oder Gesagte zuschreiben kann. Aber die<br />
Zuschreibung — selbst wenn es sich um einen bekannten Autor handelt<br />
— ist das Ergebnis komplizierter kritischer Operationen. Unsicherheiten<br />
des »Opus«.<br />
4. Position des Autors: Position des Autors im Buch (Verwendung<br />
von Einschüben; Funktionen von Vorwörtern; Trugbilder vom Schreiber,<br />
Vortragenden, Vertrauten, Memoirenschreiber. Position des Autors<br />
in den verschiedenen Diskurs-Typen (im philosophischen Diskurs<br />
zum Beispiel). Position des Autors in einem diskursiven Feld<br />
(Was ist das, der Begründer eines Fachs? Was kann die »Rückkehr<br />
zu ...« als entscheidendes Moment für die Transformation eines Redefeldes<br />
bedeuten?).<br />
/8/<br />
Sitzungsbericht<br />
Die Sitzung wird um 16.25 Uhr im Collège de France, Saal 6 unter<br />
dem Vorsitz von Jean Wahl eröffnet.<br />
157
Jean Wahl. — Wir freuen uns, heute Michel Foucault bei uns zu haben.<br />
Wir waren etwas ungeduldig, bis er kam, und etwas beunruhigt<br />
über seine Verspätung, aber er ist da. Ich stelle ihn Ihnen nicht vor,<br />
das ist der »richtige« Michel Foucault, der von Les Mots et les Choses,<br />
der mit der Doktorarbeit über den Wahnsinn. Ich erteile ihm sofort<br />
das Wort.<br />
Michel Foucault. — Ich glaube — ohne übrigens ganz sicher zu sein<br />
—, daß es Tradition ist, dieser Gesellschaft für Philosophie das Ergebnis<br />
schon fertiger Arbeiten mitzubringen, um sie ihrer Prüfung und<br />
Kritik vorzulegen. Leider ist das, was ich Ihnen heute mitbringe, viel<br />
zu unbedeutend, so fürchte ich, um Ihre Aufmerksamkeit zu verdienen:<br />
einen Plan möchte ich Ihnen vorlegen, den Versuch einer Analyse,<br />
deren große Linien ich selbst noch kaum sehe; es schien mir<br />
jedoch, daß, bemühte ich mich, diese Linien vor Ihnen nachzuzeichnen,<br />
und bäte ich Sie, sie zu beurteilen und zu berichtigen, ich als<br />
»guter Neurotiker« auf der Suche nach einem doppelten Vorteil sei:<br />
zunächst dem, die Ergebnisse einer noch nicht existierenden Arbeit<br />
vor der Strenge Ihrer Einwände zu bewahren, und dem, im Augenblick<br />
ihrer Entstehung ihr nicht nur Ihre Patenschaft, sondern auch<br />
Ihre Anregungen zugute kommen zu lassen.<br />
Und ich möchte Sie noch um etwas anderes bitten; seien Sie mir<br />
nicht böse, daß ich, wenn ich Sie gleich Ihre Fragen werde stellen<br />
hören, noch immer und vor allem hier das Fehlen einer Stimme spüre.<br />
die mir bislang unerläßlich war; Sie werden sicher verstehen, daß<br />
ich gleich fast zwangsläufig auf meinen ersten Lehrer 48 zu hören versuche.<br />
Schließlich habe ich über meinen ersten Arbeitsplan zunächst<br />
mit ihm besprochen. Ganz sichere hätte ich seiner Unterstützung<br />
auch für diesen Entwurf bedurft und seiner neuerlichen Hilfe in meiner<br />
Unsicherheit. Doch da ja schließlich die Abwesenheit der erste<br />
Ort des Diskurses ist, gestatten Sie mir bitte, daß ich mich heute<br />
Abend in erster Linie an ihn wende.<br />
/9/<br />
Das Thema, das ich mir vorgenommen habe: »Was ist ein Autor?«<br />
muß ich wohl vor Ihnen etwas rechtfertigen.<br />
Wenn ich mich dazu entschlossen habe, diese vielleicht ein wenig<br />
sonderbare Frage zu behandeln, so geschieht dies zunächst, weil ich<br />
da und dort Kritik üben wollte an dem, was mir früher einmal beim<br />
Schreiben unterlaufen ist. Und ich wollte auf eine Reihe von Unvorsichtigkeiten<br />
zurückkommen, die ich begangen habe. In Les Mots<br />
et les Choses habe ich versucht, Wortmassen zu untersuchen, in gewisser<br />
Weise Diskursschichten, die nicht nach den üblichen Einheiten<br />
Buch, Werk, Autor gegliedert sind. Ich sprach allgemein von der »Naturgeschichte«<br />
oder der »Analyse des Reichtums« oder von »politischer<br />
Ökonomie«, jedoch nicht von Werken und Schriftstellern. Aller-<br />
48 Jean Hyppolite.<br />
158
dings habe ich durch den ganzen Text hindurch naiv, und das heißt<br />
barbarisch, Autorennamen verwendet. Ich habe von Buffon, Cuvier,<br />
Ricardo, usw. gesprochen und habe diese Namen in sehr peinlicher<br />
Mehrdeutigkeit stehen lassen. Deshalb konnten gerechterweise zwei<br />
Haupteinwände vorgebracht werden, die in der Tat auch vorgebracht<br />
wurden. Die einen haben mir gesagt: Sie beschreiben weder Buffon<br />
noch sein Gesamtwerk, wie es sich gehört, und das, was Sie über<br />
Marx sagen, ist lächerlich wenig verglichen mit dem Marxschen Denken.<br />
Diese Einwände waren zwar begründet, aber ich glaube nicht,<br />
daß sie ganz das trafen, was ich gemacht hatte; denn mein Problem<br />
war nicht, Buffon oder Marx zu beschreiben oder wiederzugeben,<br />
was sie gesagt hatten oder hatten sagen wollen: ich versuchte einfach,<br />
die Regeln zu finden, mit denen sie eine bestimmte Zahl von<br />
Begriffen oder theoretischen Einheiten gebildet hatten. Und noch<br />
einen anderen Einwand hat man vorgebracht: Sie gründen<br />
ungeheuerliche Familien, Sie bringen so offensichtlich gegensätzliche<br />
Namen wie Buffon und Linné zusammen, Sie stellen Cuvier neben<br />
Darwin, und das entgegen aller sichtbaren Familienbande und<br />
natürlicher Ähnlichkeiten. Auch hier würde ich sagen, scheint der<br />
Einwand nicht ganz zutreffend, denn ich habe niemals versucht,<br />
einen Stammbaum geistiger Individualitäten zu schaffen, ich habe<br />
kein intellektuelles Daguerreotyp des Gelehrten oder Naturforschers<br />
im 17. und 18. Jahrhundert machen wollen; ich habe keine Familie<br />
gründen wollen, keine heilige und auch keine perverse, sondern ich<br />
habe einfach — und viel bescheidener — nach den Funktionsbedingungen<br />
bestimmter diskursiver Praktiken gesucht.<br />
/10/<br />
Warum haben Sie dann, werden Sie mir sagen, in Les Mots et les<br />
Choses Autornamen verwendet? Man hätte sich entweder ihrer überhaupt<br />
nicht bedienen oder die Art und Weise definieren sollen, in der<br />
Sie sie gebrauchen. Dieser Einwand ist, glaube ich, völlig richtig: ich<br />
habe versucht, seine Implikationen und Konsequenzen in einem<br />
Text 49 zu ermessen, der bald erscheinen wird; ich versuche dort, für<br />
große diskursive Einheiten ein Statut zu finden, für das, was wir Naturgeschichte<br />
oder polirische Ökonomie nennen; ich habe mich gefragt,<br />
mit welchen Methoden und welchen Instrumenten man sie finden,<br />
gliedern, analysieren und beschreiben kann. Das ist der erste<br />
Teil einer Arbeit, die ich vor einigen Jahren begonnen und jetzt abgeschlossen<br />
habe.<br />
Aber eine andere Frage stellt sich: die nach dem Autor – und darüber<br />
möchte ich mich jetzt mit Ihnen unterhalten. Der Begriff Autor ist der<br />
Angelpunkt für die Individualisierung in der Geistes-, Ideen- und Literaturgeschichte,<br />
auch in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte.<br />
Selbst wenn man heute die Geschichte eines Begriffs,<br />
einer literarischen Gattung oder eines bestimmten Philosophietyps<br />
nachzeichnet, glaube ich, betrachtet man diese Einheiten wohl als<br />
49 »L ' Archéologie du savoir«.<br />
159
elativ schwache, zweitrangige und überlagerte Ordnungsprinzipien<br />
verglichen mit der ersten, soliden und grundlegenden Einheit: Autor<br />
und Werk.<br />
Zumindest für den Vortrag heute Abend möchte ich die historischsoziologische<br />
Analyse der Autor-Person beiseitelassen. Wie sich der<br />
Autor in einer Kultur wie der unseren individualisiert hat, welchen Status<br />
man ihm zugewiesen hat, seit wann man sich zum Beispiel daran<br />
gemacht hat, Authentizitäts- und Zuschreibungsuntersuchungen anzustellen,<br />
in welches Wertsystem der Autor eingeordnet wurde, von<br />
welchem Zeitpunkt an man begonnen hat, nicht mehr das Leben von<br />
Helden, sondern das von Autoren zu erzählen, wie sich die Grundkategorie<br />
der Kritik »Mensch und Werk« herausgebildet hat – all das<br />
wäre sicher wert, untersucht zu werden. Für den Moment möchte ich<br />
nur den Bezug Text-Autor ins Auge fassen, die Art, in der der Text<br />
auf jene Figur verweist, die ihm, wenigstens dem Anschein nach,<br />
äußerlich ist und ihm vorausgeht.<br />
Die Formulierung des Themas, von dem ich ausgehen möchte,<br />
• .<br />
/11/<br />
übernehme ich von Beckett: »Wen kümmert's, wer spricht, hat jemand<br />
gesagt, wen kümmert's, wer spricht.« In dieser Gleichgültigkeit<br />
muß men wohl eines der ethischen Grundprinzipien heurigen Schreibens<br />
erkennen. Ich sage »ethisch«, denn diese Gleichgültigkeit<br />
kennzeichnet nicht eigentlich die Art, wie man spricht oder schreibt;<br />
sie ist eher eine Art immanenter Regel, die immer wieder aufgegriffen<br />
wird und deren man sich doch nie ganz bedient, ein Prinzip, das das<br />
Schreiben nicht als Ergebnis kennzeichnet, sondern es als Praxis<br />
beherrscht. Diese Regel ist so bekannt, daß man sie nicht noch lange<br />
analysieren muß; es soll hier damit getan sein, sie dutch zwei ihrer<br />
großen Themen zu spezifizieren. Zunächst läßt sich sagen, daß sich<br />
das Schreiben heute vom Thema Ausdruck befreit hat: es ist auf sich<br />
selbst bezogen, und doch wird es nicht für eine Form von Innerlichkeit<br />
gehalten; es identifiziert sich mit seiner eigenen entfalteten Äußerlichkeit.<br />
Dies besagt, daß das Schreiben ein Zeichenspiel ist, das<br />
sich weniger nach seinem bedeuteten Inhalt als nach dem Wesen<br />
des Bedeutenden richtet; dies besagt aber ebenso, daß man mit dieser<br />
Schreibregularität immer wieder von seinen Grenzen her experimentiert;<br />
immer übertritt und kehrt es diese Regularität um, die es<br />
anerkennt und mit der es spielt. Das Schreiben entwickelt sich wie<br />
ein Spiel, das zwangsläufig seine Regeln überschreitet und so nach<br />
außen tritt. Im Schreiben geht es nicht um die Bekundung oder um<br />
die Lobpreisung des Schreibens als Geste, es handelt sich nicht darum,<br />
einen Stoff im Sprechen festzumachen; in Frage steht die Öffnung<br />
eines Raumes, in dem das schreibende Subjekt immer wieder<br />
verschwindet.<br />
Das zweite Thema ist noch vertrauter; es ist die Verwandtschaft des<br />
Schreibens mit dem Tod. Diese Verbindung kehrt ein jahrtausendealtes<br />
Thema um; die Erzählung oder das Epos der Griechen<br />
160
s.<br />
war dazu bestimmt, die Unsterblichkeit des Helden zu verewigen, und<br />
wenn der Held zustimmte, jung zu sterben, so geschah dies, damit<br />
sein geweihtes und durch den Tod erhöhtes Leben in die Unsterblichkeit<br />
eingehen konnte; die Erzählung löste den hingenommenen<br />
Tod ein. In anderer Weise hatte auch die arabische Erzählung – ich<br />
denke an Tausendundeine Nacht – das Nichtsterben zur Motivation,<br />
zum Thema und zum Vorwand: man sprach, man erzählte bis zum<br />
Morgengrauen, um dem Tod auszuweichen, um die Frist hinauszuschieben,<br />
die dem Erzähler den Mund schließen sollte. Die<br />
/12/<br />
Erzählungen Scheherazades sind die verbissene Kehrseite des<br />
Mords, sie sind die nächtelange Bemühung, den Tod aus dem Bezirk<br />
des Lebens fernzuhalten. Dieses Thema: Erzählen und Schreiben,<br />
um den Tod abzuwenden, hat in unserer Kultur eine Metamorphose<br />
erfahren; das Schreiben ist heute an das Opfer gebunden, selbst an<br />
das Opfer des Lebens; an das freiwillige Auslöschen, das in den Büchern<br />
nicht dargestellt werden soll, da es im Leben des Schriftstellers<br />
selbst sich vollzieht. Das Werk, das die Aufgabe hatte, unsterblich zu<br />
machen, hat das Recht erhalten, zu töten, seinen Autor umzubringen.<br />
Denken Sie an Flaubert, Proust, Kafka. Aber da ist noch etwas anderes<br />
: die t Beziehung des Schreibens zum Tod äußert sich auch in der<br />
Verwischung der individuellen Züge des schreibenden Subjekts. Mit<br />
Hilfe all der Hindernisse, die das schreibende Subjekt zwischen sich<br />
und dem errichtet, was es schreibt, lenkt es alle Zeichen von seiner<br />
eigenen Individualität ab; das Kennzeichen des Schriftstellers ist nur<br />
noch die Einmaligkeit seiner Abwesenheit; er muß die Rolle des Toten<br />
im Schreib-Spiel übernehmen. All das ist bekannt; und schon seit<br />
geraumer Zeit haben Kritik und Philosophie von diesem Verschwinden<br />
oder diesem Tod des Autors Kenntnis genommen.<br />
Ich bin jedoch nicht sicher, ob man auch rigoros alle notwendigen<br />
Konsequenzen aus dieser Feststellung gezogen und ob man das Ereignis<br />
in seiner Tragweite ganz erkannt hat. Genauer gesagt, es<br />
scheint mir, daß eine Reihe von Begriffen, die heute das Privileg des<br />
Autors ersetzen sollen, es eigentlich blockieren und das umgehen,<br />
was im Grunde ausgeräumt sein sollte. Ich nehme einfach zwei von<br />
diesen Begriffen heraus, die meiner Meinung nach heute ganz besonders<br />
wichtig sind.<br />
Zunächst der Begriff Werk. Man sagt ja (und das ist eine weitere sehr<br />
bekannte These), daß das Besondere der Kritik nicht darin bestehe,<br />
die Beziehungen zwischen Werk und Autor aufzudecken oder mit<br />
Hilfe der Texte, Denken oder Erfahrung zu rekonstruieren; die Kritik<br />
soll νielmehr das Werk in seiner Struktur analysieren, in seinem Bau,<br />
in seiner inneren Form und im Wechselspiel seiner inneren Beziehungen.<br />
Nun muß man aber gleich eine Frage stellen: »Was ist ein<br />
Werk?« was ist das für eine komische Einheit, die man mit dem Namen<br />
Werk bezeichnet? aus welchen Elementen besteht sie? Ist ein<br />
Werk nicht das, was der geschrieben hat, der Autor ist?<br />
161
13/<br />
Man sieht Schwierigkeiten auftauchen. Wenn nicht ein Individuum<br />
Autor wäre, könnte man dann sagen, daß das, was es geschrieben<br />
oder gesagt hat, das, was es in seinen Papieren hinterlassen hat,<br />
das, was man aus seinen Äußerungen anführen kann, »Werk« genannt<br />
werden könnte? Wäre also Sade kein Autor, was wären dann<br />
seine Papiere? Papierrollen, auf denen er während seiner Gefängnistage<br />
endlos seine Wahnvorstellungen entrollte.<br />
Aber nehmen wir an, daß man es mit einem Autor zu tun hat: ist alles,<br />
was er geschrieben hat, alles, was er hinterlassen hat, Teil seines<br />
Werks? Ein zugleich theoretisches und technisches Problem.<br />
Wenn man zum Beispiel an die Veröffentlichung der Werke Nietzsches<br />
geht, wo soll man Halt machen? Man soll alles veröffentlichen,<br />
ganz sicher, aber was heißt denn dieses »alles«? Alles, was Nietzsche<br />
selbst veröffentlicht hat, einverstanden. Seine Werkentwürfe?<br />
Zweifellos. Aphorismusprojekte? ja. Aber wenn man in einem Notizbuch<br />
voller Aphorismen einen Bezug, einen Hinweis auf ein Rendezvous<br />
oder eine Adresse oder eine Wäschereirechnung findet: Werk<br />
oder nicht Werk? Aber warum nicht? Und so weiter ad infinitum. Wie<br />
kann man aus den Millionen Spuren, die jemand nach seinem Tod<br />
hinterläßt, ein Werk bestimmen? Die Werktheorie existiert nicht und<br />
denen, die naiv beginnen, ein Werk herauszugeben, fehlt eine solche<br />
Theorie, so daß ihre empirische Arbeit deshalb sehr rasch ins Stocken<br />
gerät. Und man könnte fortfahren: Kann man sagen, daß Tausendundeine<br />
Nacht ein Werk ist? und die Stromaten von Clemens<br />
von Alexandrien oder die Vitae des Diogenes Laertes? Man sieht, wie<br />
es um den Werkbegriff herum vor Fragen wimmelt. Deshalb ist es<br />
nicht genug, wenn man sagt: verzichten wir auf den Werkbegriff, verzichten<br />
wir auf den Autor, untersuchen wir nur das Werk in sich<br />
selbst. Das Wort »Werk« und die Einheit, die es bezeichnet, sind<br />
wahrscheinlich genauso problematisch wie die Individualität des Autors.<br />
Ich glaube, noch ein anderer Begriff blockiert die Feststellung vom<br />
Verschwinden des Autors und hält das Denken in gewisser Weise am<br />
Rande dieses Verlöschen fest; listenreich sichert er noch immer das<br />
Fortleben des Autors. Es handelt sich um den Begriff Schreiben.<br />
Streng genommen müßte er nicht nur die Bezugnahme auf den Autor<br />
überflüssig machen können, sondern seiner ja neuen Abwesenheit<br />
das ents p rechende Statut zuweisen. In dem Statut, das augen-<br />
/14/<br />
blicklich für den Begriff Schreiben gilt, geht es denn auch nicht um die<br />
Geste des Schreibens, auch nicht um die Kennzeichnung (Symptom<br />
oder Zeichen) dessen, was jemand hätte sagen wollen; man bemüht<br />
sich be achtenswert tiefgründig, die Bedingungen des Textes<br />
schlechthin zu durchdenken, zugleich die des Raumes, in dem er<br />
sich verliert, und der Zeit, in der er sich entfaltet.<br />
162
Ich frage mich, ob dieser Begriff, wenn er wie manchmal auf seinen<br />
landläufigen Gebrauch reduziert ist, nicht die empirischen Charakterzüge<br />
des Autors in eine transzendentale Anonymität überträgt. Es<br />
kann geschehen, daß man sich damit zufrieden gibt, die offensichtlichsten<br />
Kennzeichen des empirischen Autors zu verwischen und<br />
spielt dabei, parallel oder gegeneinander, zwei Charakterisierungsarten<br />
aus: die kritische und die religiöse. Wenn man nämlich dem<br />
Schreiben ein ursprüngliches Statut zuweist, so ist das wohl nur eine<br />
Art, einerseits die theologische Behauptung vom geheiligten Charakter<br />
des Geschriebenen und andererseits die kritische Behauptung<br />
seines schöpferischen Charakters ins Transzendentale rückzuübersetzen.<br />
Wenn man zugesteht, daß das Schreiben durch den geschichtlichen<br />
Ablauf, der es erst möglich macht, in gewisser Weise<br />
dem Vergessen und der Unterdrückung anheimgestellt ist, heißt das<br />
dann nicht, das religiöse Prinzip vom verborgenen Sinn (mit der Notwendigkeit,<br />
ihn zu interpretieren) und das kritische Prinzip impliziter<br />
Bedeutungen, stillschweigender Determinationen und dunkler Inhalte<br />
(mit der Notwendigkeit, sie zu kommentieren) in transzendentalen<br />
Begriffen darstellen? Schließlich, wenn man das Schreiben als. Abwesenheit<br />
begreift, heißt das dann nicht einfach, In transzendentalen<br />
Worten das religiöse Prinzip der zugleich unwandelbaren und nie<br />
erfüllten Tradition und das ästhetische Prinzip vom Überleben des<br />
Werks, von seinem Fortbestand über den Tod hinaus, von seinem<br />
rätselhaften Überschuß im Verhältnis zum Autor wiederholen?<br />
Ich meine also, daß ein solcher Gebrauch des Begriffs Schreiben<br />
Gefahr läuft, die Privilegien des Autors im Schutz des a priori zu bewahren:<br />
er läßt im grauen Licht von Neutralisierungen die Vorstellungen<br />
fortbestehen, die ein bestimmtes Autorbild geschaffen beben.<br />
Da. Verschwinden des Autors, ein Ereignis, das seit Mallarmé anhält,<br />
wird einer transzendentalen Blockierung unterworfen. Gibt es<br />
nicht eine augenblicklich wichtige Trennungslinie zwischen denen,<br />
/15/<br />
die immer noch glauben, die Brüche des Heute in der historischtranszendentalen<br />
Tradition des 19. Jahrhunderts begreifen zu können,<br />
und denen, die sich davon endgültig zu befreien suchen?<br />
Als Leeraussage zu wiederholen, daß der Autor verschwunden ist,<br />
reicht aber offenbar nicht aus. Ebenso reicht es nicht aus, endlos zu<br />
wiederholen, daß Gott und Mensch eines gemeinsamen Todes gestorben<br />
sind. Was man tun müßte, wäre, den durch das Verschwinden<br />
des Autors freigewordenen Raum ausfindig zu machen, der Verteilung<br />
der Lücken und Risse nachzugehen und die freien Stellen und<br />
Funktionen, die dieses Verschwinden sichtbar macht, auszu -<br />
kundschaften.<br />
Ich möchte Ihnen zunächst in wenigen Worten eine Vorstellung von<br />
den Problemen geben, die mit dem Gebrauch des Autornamens verbunden<br />
sind. Was ist ein Autorname? Und wie funktioniert er? Ich bin<br />
163
weit davon entfernt, Ihnen eine Lösung anbieten zu können, sondern<br />
ich will nur auf einige der Schwierigkeiten hinweisen, die er auf wirft.<br />
Der Autorname ist ein Eigenname; er stellt die gleichen Probleme wie<br />
dieser. (Ich beziehe mich unter anderem auf die Untersuchungen von<br />
Searle.) Es ist offenbar nicht möglich, aus dem Eigennamen einfach<br />
einen Verweis zu machen. Der Eigenname (und der Autor ebenso)<br />
haben nicht nur hinweisende Funktionen. Er ist mehr<br />
als ein Hinweis, eine Geste, ein Fingerzeig; in gewisser Weise ist er<br />
das Äquivalent für eine Beschreibung. Sagt man »Aristoteles«, so<br />
verwendet man ein Wort, das Äquivalent für eine Beschreibung<br />
eine Reihe von Beschreibungen ist, etwa von der Art: »Der<br />
Autor der Analytischen Schriften« oder der »Begründer der Ontologie«,<br />
usw. Aber dabei kann man es nicht bewenden lassen; ein<br />
Eigenname hat Licht nur einfach eine Bedeutung; wenn man entdeckt,<br />
daß Rimbaud nicht La Chasse spirituelle geschrieben hat, so<br />
kann man doch nicht verlangen, daß etwa dieser Eigenname oder<br />
dieser Autorname seine Bedeutung geändert hätte. Der Eigenname<br />
und der Autorname liegen zwischen den beiden Polen der Beschreibung<br />
und der Bezeichnung; sie haben ganz sicher eine gewisse Verbindung<br />
zu dem, was sie benennen, aber weder ganz im Sinne der<br />
Bezeichnung noch ganz im Sinne der Beschreibung: es ist eine ganz<br />
besondere Verbindung. Jedoch — und hier tauchen die eigentlichen<br />
/16/<br />
Schwierigkeiten des Autornamens auf – die Verbindung des Eigennamens<br />
mit dem benannten Individuum und die Verbindung des Autornamens<br />
mit dem, was er benennt, sind nicht isomorph und funktionieren<br />
nicht in gleicher Weise. Hier einige der Unterschiede.<br />
Wenn ich zum Beispiel merke, daß Pierre Dupont keine blauen Augen<br />
hat oder nicht in Paris geboren ist oder nicht Arzt ist, usw., so<br />
bleibt es doch dabei, daß dieser Name, Pierre Dupont, sich immer<br />
noch auf die gleiche Person bezieht; der Bezeichnungsbezug ändert<br />
sich nicht um so viel. Im Gegensatz dazu sind die Probleme, die der<br />
Autorname aufwirft, wesentlich komplizierter: wenn ich entdecke, daß<br />
Shakespeare nicht in dem Haus geboren wurde, das man heute als<br />
Shakespearehaus besucht, so ist das eine Modifizierung, die das<br />
Funktionieren des Autornamens nicht ungünstig beeinflußt; aber<br />
wenn man bewiese, daß Shakespeare nicht die Sonette geschrieben<br />
hat, die man für die seinen hält, so wäre das eine Veränderung anderer<br />
Art: sie zieht das Funktionieren des Autornamens in Mitleidenschaft.<br />
Und wenn man bewiese, daß Shakespeare das Organon<br />
von Bacon geschrieben hat, einfach weil der Autor der Werke<br />
Bacons und der Shakespeares der gleiche ist, so wäre das ein dritter<br />
Typ von Veränderung, der das Funktionieren des Autornamens gänzlich<br />
modifizierte. Der Autorname ist also nicht unbedingt ein Eigenname<br />
wie alle anderen.<br />
164
Ganz andere Fakten signalisieren die paradoxe Einmaligkeit des Autornamens.<br />
Es ist keineswegs gleich, ob ich sage, daß es Pierre Dupont<br />
nicht gibt oder ob ich sage, daß es Homer oder Hermes Trismegistos<br />
nicht gab; im einen Fall will man sagen, daß niemand den Namen<br />
Pierre Dupont trägt; im anderen, daß mehrere mit dem gleichen<br />
Namen verwechselt wurden oder daß der wirkliche Autor keinen der<br />
Züge trägt, die man herkömmlicherweise mit Homer oder mit Hermes<br />
verbindet. Es ist auch nicht gleich, ob ich sage, daß Pierre Dupont<br />
nicht der wirkliche Name von X ist sondern Jacques Durand, oder ob<br />
ich sage, daß Stendhal Henri Beyle hieß. Man könnte sich auch Gedanken<br />
machen über Sinn und Wirkung eines Satzes wie »Bourbaki<br />
ist der und der, usw.« und »Victor Eremita, Climacus, Anticlimacus,<br />
Frater Taciturnus, Constantin Constantius ist Kierkegaard«.<br />
Die Unterschiede liegen vielleicht in folgendem: ein Autorname ist<br />
nicht einfach ein Element in einem Diskurs (der Subjekt oder<br />
/17/<br />
Ergänzung sein kann, die von einem Pronomen ersetzt werden kann,<br />
usw.); er hat bezogen auf den Diskurs eine bestimmte Rolle: er besitzt<br />
klassifikatorische Funktion; mit einem solchen Namen kann man<br />
eine gewisse Zahl von Texten gruppieren, sie abgrenzen, einige ausschließen,<br />
sie anderen gegenüberstellen. Außerdem bewirkt er eine<br />
Inbezugsetzung der Texte zueinander. Hermes Trismegistos gab es<br />
nicht, Hyppokrates auch nicht – so wie man sagen könnte, daß es<br />
Balzac gibt –, aber daß mehrere Texte unter dem gleichen Namen<br />
laufen, weist darauf hin, daß man zwischen ihnen ein Homogenitäts-<br />
oder Filiations- oder ein Beglaubigungsverhältnis der einen durch die<br />
anderen herstellte oder auch ein Verhältnis gegenseitiger Erklärung<br />
und gleichzeitiger Verwendung. Schließlich hat der Autorname die<br />
Funktion, eine bestimmte Seinsweise des Diskurses zu kennzeichnen.<br />
Hat ein Diskurs einen Autornamen, kann man sagen, »das da ist<br />
von dem da geschrieben worden« oder »ein gewisser ist der Autor<br />
von...«, so besagt dies, daß dieser Diskurs nicht aus alltäglichen,<br />
gleichgültigen Worten besteht, nicht aus Worten, die vergehen, vobeitreiben,<br />
vorüberziehen, nicht aus unmittelbar konsumierbaren Worten,<br />
sondern aus Worten, die in bestimmter Weise rezipiert werden<br />
und in einer gegebenen Kultur ein bestimmtes Statut erhalten müssen.<br />
Man könnte schließlich auf die Idee kommen, daß der Autorname<br />
nicht wie der Eigenname vom Inneren eines Diskurses zum realen,<br />
äußeren Individuum geht, sondern daß er in gewisser Weise an die<br />
Grenze der Texte drängt, daß er sie zuschneidet, ihren Kanten folgt,<br />
daß er ihre Seinsweise offenbart oder wenigstens daß er sie kennzeichnet.<br />
Er macht das Ereignis eines gewissen Diskurses sichtbar,<br />
und er bezieht sich auf das Statut dieses Diskurses in einer Gesellschaft<br />
und in einer Kultur. Der Autorname hat seinen Ort nicht im<br />
Personenstand der Menschen, nicht in der Werkfiktion, sondern in<br />
dem Bruch, der eine bestimmte Gruppe von Diskursen und ihre einmalige<br />
Seinsweise hervorbringt. Folglich könnte man sagen, daß es<br />
165
in einer Kultur wie der unseren eine bestimmte Anzahl von Diskursen<br />
gibt, die die Funktion »Autor« haben, während andere sie nicht haben.<br />
Ein Privatbrief kann einen Schreiber haben, er hat aber keinen<br />
Autor; ein Vertrag kann wohl einen Bürgen haben, aber keinen Autor.<br />
Ein anonymer Text, den man an einer Hauswand liest, wird einen<br />
Verfasser haben, aber keinen Autor. Die Funktion<br />
/18/<br />
Autor ist also charakteristisch für Existenz-, Verbreitungs- und Funktionsweise<br />
bestimmter Diskurse in einer Gesellschaft.<br />
Wir sollten jetzt die Funktion »Autor« untersuchen. Wie bestimmt sich<br />
in unserer Kultur ein Diskurs, der Träger der Funktion Autor ist? Worin<br />
unterscheidet er sich von anderen Diskursen? Betrachtet man nur<br />
den Autor eines Buches °der eines Textes, so glaube ich, daß man<br />
ihn an vier verschiedenen Merkmalen erkennen kann.<br />
Zunächst sind sie Aneignungsobjekte; die Eigentumsform, auf der sie<br />
beruhen, ist recht eigenartig; sie ist inzwischen seit einer Reihe von<br />
Jahren rechtlich fixiert. Angemerkt werden muß, daß dieses Eigentum<br />
später kam als das, was man widerrechtliche Aneignung nennen<br />
könnte. Texte, Bücher, Reden haben wirkliche Autoren (die sich von<br />
mythischen Personen und von den großen geheiligten und heiligenden<br />
Figuren unterscheiden) in dem Maße, wie der Autor bestraft werden<br />
oder die Reden Gesetze übertreten konnten. Die Rede war am<br />
Ursprung unserer Kultur (und wohl such in anderen) kein Produkt,<br />
keine Sache, kein Gut; sie war wesentlich ein Akt – ein Akt, der seinen<br />
Platz hatte in der Bipolarität des Heiligen und Profanen, des Erlaubten<br />
und Verbotenen, des Religiösen und Blasphemischen. Historisch<br />
gesehen war sie eine gefahrenreiche Tat, bevor sie zu einem<br />
Gut im Einzugsbereich des Eigentums wurde. Und als man Eigentumsverhältnisse<br />
für Texte schuf, als man Gesetze erließ über Autorenrechte,<br />
über die Beziehungen zwischen Autor und Verleger, über<br />
Wiedergaberechte, usw. – das heißt zwischen Ende des 18. und Anfang<br />
des 19. Jahrhunderts – wurde aus der Möglichkeit der Übertretung,<br />
die dem Schreibakt eigen war, immer mehr ein der Literatur<br />
eigener Imperativ. So als ob der Autor, seitdem er in das Eigentumssystem<br />
unserer Gesellschaft aufgenommen wurde, den so erreichten<br />
Status kompensierte durch die Rückkehr zur altern Bipolarität der<br />
Rede, durch systematische Übertretung, durch die Wiederherstellung<br />
der Gefahr beim Schreiben, dem man andererseits ja den Vorteil des<br />
Eigentums garantierte.<br />
Andererseits gilt die Funktion Autor nicht überall und nicht ständig für<br />
alle Diskurse. In unserer Kultur haben nicht immer die gleichen Texte<br />
einer Zuschreibung bedurft. Es gab eine Zeit, in der die Texte, die wir<br />
heute »literarisch« nennen (Berichte, Erzählungen,<br />
166
19/<br />
Epen, Tragödien, Komödien) aufgenommen, verbreitet und gewertet<br />
wurden, ohne daß sich die Autorfrage stellte; ihre Anonymität machte<br />
keine Schwierigkeit, ihr echtes oder vermutetes Alter war für sie Garantie<br />
genug. Im Gegensatz dazu wurden die Texte, die wir heute<br />
wissenschaftlich nennen, über die Kosmologie und den Himmel, die<br />
Medizin und die Krankheiten, die Naturwissenschaften oder die Geographie<br />
im Mittelalter nur akzeptiert und hatten nur dann Wahrheitswert,<br />
wenn sie durch den Namen des Autors gekennzeichnet waren.<br />
»Hyppokrates sagte«, »Plinius erzählt« waren nicht nur die Formeln<br />
eines Autoritätsverweises, sondern die Indizien für Diskurse, die als<br />
bewiesen angenommen werden sollten. Zu einer Umkehrung kam es<br />
im 17. oder im 18. Jahrhundert; man begann wissenschaftliche Texte<br />
um ihrer selbst willen zu akzeptieren, in der Anonymität einer feststehenden<br />
oder immer neu beweisbaren Wahrheit; ihre Zugehörigkeit zu<br />
einem systematischen Ganzen sicherte sie ab, nicht der Rückverweis<br />
auf die Person, die sie geschaffen hatte. Die Funktion Autor verwischt<br />
sich, der Name des Erfinders dient höchstens noch dazu, einem<br />
Theorem, einem Satz, einem bemerkenswerten Effekt, einer Eigenschaft,<br />
einem Körper, einer Menge von Elementen, einem Krankheitssyndrom<br />
einen Namen zu geben. Aber »literarische« Diskurse<br />
können nur noch rezipiert werden, wenn sie mit der Funktion Autor<br />
versehen sind: jeden Poesie- oder Fiktionstext befragt man danach,<br />
woher er kommt, wer ihn geschrieben hat, zu welchem Zeitpunkt,<br />
unter welchen Umständen oder nach welchem Entwurf. Die Bedeutung,<br />
die man ihm zugesteht, und der Status oder der Wert, den man<br />
ihm beimißt, hängen davon ab wie man diese Fragen beantwortet.<br />
Und wenn infolge eines Mißgeschicks oder des ausdrücklichen Autorwillens<br />
uns der Text anonym erreicht, spielt man sofort das Spiel<br />
der Autorsuche. Literarische Anonymität ist uns unerträglich; wir akzeptieren<br />
sie nur als Rätsel. Die Funktion Autor hat heutzutage ihren<br />
vollen Spielraum in den literarischen Werken. (Natürlich müßte man<br />
all dies nuancieren: Die Kritik hat seit einiger Zeit damit begonnen,<br />
die Werke nach ihrer Gattung oder ihrem Typ zu behandeln, nach<br />
vorkommenden rekurrenten Elementen, nach den Variationen um<br />
eine Invarianz herum, die nichts mehr mit dem individuellen Schöpfer<br />
zu tun hat.) Ebenso, wenn der Verweis auf einen Namen in der Mathematik<br />
kaum mehr als eine Art ist, Theoreme oder Satzgruppen zu<br />
be-<br />
/20/<br />
nennen, so spielt in der Biologie und in der Medizin die Angabe des<br />
Autors und des Zeitpunkts seiner Arbeit eine recht andere Rolle: es<br />
ist nämlich nicht nur eine Art, die Quelle anzugeben, sondern ein<br />
»Glaubwürdigkeits«-Indiz zu erbringen bezogen auf die Techniken<br />
und Untersuchungsgegenstände, die man zu einem bestimmten Zeitpunkt<br />
und in einem bestimmten Laboratorium benutzte.<br />
Drittes Merkmal der Funktion Autor. Sie bildet sich nicht so spontan,<br />
wie man einen Diskurs einem Autor zuschreibt. Sie ist das Ergebnis<br />
einer komplizierten Operation, die ein gewisses Vernunftwesen kon-<br />
167
struiert, das man Autor nennt. Zwar versucht man, diesem Vernunftwesen<br />
einen realistischen Status zu geben: im Individuum soll<br />
es einen »tiefen« Drang geben, schöpferische Kraft, einen »Entwurf«,<br />
und das soll der Ursprungsort des Schreibens sein, tatsächlich aber<br />
ist das, was man an einem Individuum als Autor bezeichnet (oder<br />
das, was aus einem Individuum einen Autor macht) nur die mehr bis<br />
minder psychologisierende Projektion der Behandlung, die man Texten<br />
angedeihen läßt, der Annäherungen, die man vornimmt, der<br />
Merkmale, die man für erheblich hält, der Kontinuitäten, die man zuläßt,<br />
oder der Ausschlüsse, die man macht.<br />
All diese Operationen variieren je nach den Epochen und den Diskurs-Typen.<br />
Man konstruiert einen »philosophischen Autor« nicht wie<br />
einen »Dichter«; man konstruierte den Autor eines Romanwerkes im<br />
18. Jahrhundert nicht wie einen heutzutage. Dennoch kann man über<br />
verschiedene Epochen hinweg eine gewisse Invarianz in den Regeln<br />
der Autor-Konstruktion finden.<br />
Es scheint mir zum Beispiel, daß die Art, wie die Literaturkritik lange<br />
Zeit den Autor bestimmte – oder besser noch die Form Autor, die<br />
man ausgehend von Texten und Diskursen konstruierte – recht gradlinig<br />
abgeleitet ist von der Art, wie die christliche Tradition Texte beglaubigte<br />
(oder verwarf), über die sie verfügte. Mit anderen Worten,<br />
um den Autor im Werk »aufzufinden«, verwendet die moderne Kritik<br />
Schemata, die der christlichen Exegese sehr nahe stehen, wenn diese<br />
den Wert eines Textes durch die Heiligkeit des Autors beweisen<br />
wollte. In De Vitis illustribus erklärt der heilige Hieronymus, daß die<br />
Gleichlautung des Namens nicht ausreicht, um rechtmäßig die Autoren<br />
mehrerer Werke zu identifizieren: verschiedene Individuen könnten<br />
den gleichen Namen tragen, oder einer hätte widerrechtlich den<br />
Nachnamen eines anderen annehmen<br />
/21/<br />
können. Der Name ist als individuelle Kennzeichnung nicht genug,<br />
wenn man sich der Texttradition zuwendet. Wie soll man also mehrere<br />
Texte einunddemselben Autor zuschreiben? Wie die Funktion<br />
Autor ausspielen, um zu erfahren, ob man es mit einem oder mit<br />
mehreren Individuen zu tun hat? Der heilige Hieronymus führt vier<br />
Kriterien an: wenn unter mehreren Büchern, die man einem Autor<br />
zuschreibt, eines schlechter als die anderen ist, so muß man es aus<br />
dem Katalog seiner Werke streichen (der Autor wird demnach als<br />
bestimmtes konstantes Wertniveau definiert), auch wenn bestimmte<br />
Texte der Meinung der anderen Werke eines Autors widersprechen<br />
(dann wird der Autor als Feld eines begrifflichen und theoretischen<br />
Zusammenhangs definiert); auch die Werke müssen ausgeschlossen<br />
werden, die in einem anderen Stil geschrieben sind, mit Worten und<br />
Wendungen, die man gewöhnlich nicht bei diesem Autor findet (das<br />
ist der Autor als stilistische Einheit), schließlich müssen die Texte als<br />
falsch angesehen werden, die sich auf Ereignisse und Personen beziehen,<br />
die erst nach dem Tod des Autors kommen (dann ist der Autor<br />
ein bestimmter geschichtlicher Augenblick und Schnittpunkt einer<br />
168
Reihe von Ereignissen). Nun definiert die moderne Literaturkritik,<br />
selbst wenn sie keine Beglaubigungssorgen hat (was der Regelfall<br />
ist) den Autor kaum anders: Autor ist derjenige, durch den gewisse<br />
Ereignisse in einem Werk ebenso wie deren Transformationen erklärt<br />
werden können, deren Deformationen, deren verschiedene Modifikationen<br />
(und dies durch die Autorbiographie, die Suche nach der individuellen<br />
Sichtweise, die Analyse seiner sozialen Zugehörigkeit oder<br />
seiner Klassenlage, die Entdeckung seines Grundentwurfs). Der Autor<br />
ist ebenso das Prinzip einer gewissen Einheit des Schreibens, da<br />
alle Unterschiede mindestens durch Entwicklung, Reifung oder Einfluß<br />
reduziert werden. Mit Hilfe des Autors kann man auch Widersprüche<br />
lösen, die sich in einer Reihe von Texten finden mögen: es<br />
muß da – in einer gewissen Schicht seines Denkens oder seines<br />
Wünschens, seines Bewußtseins oder seines Unterbewußtseins –<br />
einen Punkt geben, von dem her sich die Widersprüche lösen, an<br />
dem sich die unvereinbaren Elemente endlich verketten lassen oder<br />
sich um einen riefen und ursprünglichen Widerspruch gruppieren.<br />
Schließlich ist der Autor ein bestimmter Brennpunkt des Ausdrucks,<br />
der sich in mehr oder minder vollendeter Form genauso und im gleichen<br />
Wert in den Werken, den Skizzen,<br />
22/<br />
den Briefen und den Fragmenten offenbart. Die vier Authentizitätskriterien<br />
des heiligen Hieronymus (Kriterien, die dem heutigen Exegeten<br />
recht ungenügend erscheinen) bestimmen die vier Modalitäten,<br />
aufgrund deren die moderne Kritik die Funktion Autor ausspielt.<br />
Aber die Funktion Autor ist nicht einfach eine Rekonstruktion aus<br />
zweiter Hand, die von einem gegebenen Text wie von einer trägen<br />
Masse ausgeht. Der Text trägt in sich immer eine Reihe von Zeichen,<br />
die auf den Autor verweisen. Diese Zeichen sind den Grammatikern<br />
wohlbekannt: es sind die Personalpronomen, die Adverbien der Zeit<br />
und des Ortes, die Verbkonjugation. Es muß jedoch darauf hingewiesen<br />
werden, daß diese Elemente in den Diskursen mit Autor-Funktion<br />
nicht genauso wirken wie in denen ohne. In denen ohne die Funktion<br />
Autor verweisen solche »Einschübe« auf den realen Sprecher und<br />
die räumlich-zeitlichen Koordinaten seines Diskurses (obgleich es<br />
gewisse Abweichungen gibt: so zum Beispiel, wenn man einen Diskurs<br />
in der ersten Person wiedergibt). In den Diskursen mit Autor-<br />
Funktion ist ihre Rolle schwieriger und veränderlicher. Es ist bekannt,<br />
daß in einem Roman, der so aussieht wie der Bericht eines Erzählers,<br />
das Personalpronomen in der ersten Person, das Präsens Indikativ,<br />
die Zeichen für die Ortsbestimmung nie genau auf einen<br />
Schriftsteller verweisen, weder auf den Augenblick, in dem er<br />
schreibt, noch auf die Schreibgeste; sondern auf ein alter ego, dessen<br />
Distanz zum Schriftsteller verschieden groß sein und im selben<br />
Werk auch variieren kann. Es wäre also ebenso falsch, wollte man<br />
den Autor beim wirklichen Schriftsteller oder auch beim fiktionalen<br />
Sprecher suchen; die Funktion Autor vollzieht sich gerade in diesem<br />
Bruch – in dieser Trennung und dieser Distanz. Vielleicht wird jemand<br />
169
sagen, daß das nur eine Eigenheit des romanhaften oder des poetischen<br />
Diskurses sei: eines Spiels, bei dem nur »Quasi-Diskurse«<br />
eingesetzt werden. Alle Diskurse mit der Funktion Autor haben diese<br />
Ego-Pluralität. Das Ego, das im Vorwort eines mathematischen Traktats<br />
spricht – und auf die Umstände der Abfassung hinweist – ist weder<br />
in seiner Position noch in seiner Funktion identisch mit demjenigen,<br />
der im Unterricht von einem Beweis spricht und sich in der Form<br />
eines »ich schließe daraus« oder »ich nehme an« ausdrückt: in dem<br />
einen Fall verweist das »ich« auf ein Individuum ohne Äquivalent, das<br />
an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte<br />
Arbeit getan<br />
/23/<br />
hat; im zweiten Fall bezeichnet das »ich« einen Plan und einen Moment<br />
des Beweises, den jedes Individuum nachvollziehen kann, vorausgesetzt<br />
es hat das gleiche Zeichensystem anerkannt, das gleiche<br />
Axiomsspiel, die gleiche Menge von vorherigen Beweisen. Man könnte<br />
aber auch im gleichen Traktat noch ein drittes Ich ausfindig machen;<br />
denjenigen, der spricht, um über den Sinn der Arbeit, die<br />
Schwierigkeiten, die Ergebnisse, die sich noch stellenden Probleme<br />
zu reden; dieses Ego findet seinen Platz im Bereich schon bestehender<br />
oder noch entstehender mathematischer Texte. Die Funktion Autor<br />
wird nicht durch eines dieser Egos (das erste) gewährleistet auf<br />
Kosten der beiden anderen, die dann ja nichts weiter wären als dessen<br />
fiktive Verdoppelung. Im Gegenteil muß gesagt werden, daß in<br />
solchen Diskursen die Funktion Autor die Zersplitterung dieser drei<br />
simultanen Egos bewirkt.<br />
Die Analyse könnte wohl noch andere charakteristische Züge der<br />
Funktiοn Autor herausfinden. Ich aber werde mich heute an die vier<br />
halten, die ich aufgezählt habe, weil sie mir zugleich die sichtbarsten<br />
und die wichtigsten scheinen. Ich will sie so zusammenfassen: die<br />
Funktion Autor ist an das Rechts- und Staatssystem gebunden, das<br />
die Gesamtheit der Diskurse einschließt, determiniert, ausdrückt; de<br />
wirkt nicht einheitlich und gleichmäßig auf alle Diskurse zu allen Zeiten<br />
und in allen Kulturformen; sie läßt sich nicht dadurch definieren,<br />
daß man spontan einen Diskurs einem Produzenten zu-. schreibt,<br />
sondern dazu sind eine Reihe spezifischer und komplizierter Operationen<br />
nötig; sie verweist nicht einfach auf ein reales Individuum, sie<br />
kann gleichzeitig mehreren Egos in mehreren Subjekt-Stellungen<br />
Raum geben, die von verschiedenen Gruppen von Individuen besetzt<br />
werden können.<br />
Ich bin mir im klaren darüber, daß ich bisher mein Thema ungerechtfertigt<br />
eng gefaßt habe. Sicherlich hätte man darüber sprechen<br />
sollen, was die Funktion Autor in der Malerei, in der Musik, in der<br />
Technik usw. ist. Einmal angenommen jedoch, man hielte sich an die<br />
Welt der Diskurse, wie ich es heute abend tun möchte, so glaube ich<br />
doch, dem Begriff »Autor« eine viel zu enge Bedeutung gegeben su<br />
haben. Ich habe mich auf den Autor eines Buchtexts oder eines<br />
170
Werks beschränkt, dessen Produktion man ihm rechtmäßig zuschreiben<br />
kann. Nun ist aber leicht einzusehen, daß man im Ordnungs-<br />
24/<br />
bereich des Diskurses Autor von weit mehr als einem Buch sein kann<br />
— Autor einer Theorie, einer Tradition, eines Fachs, in denen dann<br />
andere Bücher und andere Autoren ihrerseits Platz finden können.<br />
Mit einem Wort würde ich sagen, daß diese Autoren sich in einer<br />
»transdiskursiven« Position befinden.<br />
Es handelt sich um eine konstante Erscheinung, — die sicherlich so<br />
alt ist wie unsere Kultur. Homer und Aristoteles, die Kirchenväter haben<br />
diese Rolle gespielt; aber auch die ersten Mathematiker und die,<br />
die am Anfang der hyppokrarischen Tradition stehen. Es scheint mir<br />
aber, daß man im Laufe des 19. Jahrhunderts in Europa recht eigenartige<br />
Autortypen hat in Erscheinung treten sehen, die man nicht mit<br />
den »großen« literarischen Autoren, nicht mit den Autoren kanonischer<br />
Texte der Religion und auch nicht mit den Begründern von<br />
Wissenschaften verwechseln sollte. Nennen wir sie etwas willkürlich<br />
»Diskursivitätsbegründer«.<br />
Das Besondere an diesen Autoren ist, daß sie nicht nur die Autoren<br />
ihrer Werke, ihrer Bücher sind. Sie haben noch mehr geschaffen: die<br />
Möglichkeit und die Bildungsgesetze für andere Texte. In diesem<br />
Sinn sind sie ganz anders als zum Beispiel ein Romanautor, der im<br />
Grunde immer nur Autor seines eigenen Textes ist. Freud ist nicht<br />
einfach der Autor der Traumdeutung oder des Witzes; Marx ist nicht<br />
einfach der Autor des Manifests oder des Kapitals: sie haben eine<br />
unbegrenzte Möglichkeit zum Diskurs geschaffen. Natürlich kann<br />
man hier leicht einen Einwand machen. Es stimmt nicht, daß ein Romanautor<br />
nur der Autor seines eigenen Textes ist; in gewissem Sinn,<br />
vorausgesetzt er ist sozusagen ein bißchen »bedeutend«, lenkt und<br />
leitet er mehr als das. Um ein einfaches Beispiel zu nennen, kann<br />
man sagen, daß Ann Radcliffe nicht nur das Schloß in den Pyrenäen<br />
und einige weitere Romane geschrieben hat, sondern sie hat die<br />
Schauerromane zu Beginn des 19. Jahrhunderts ermöglicht, und in<br />
diesem Maß geht ihre Autor-Funktion über ihr Werk hinaus. Nur<br />
glaube ich, daß man auf diesen Einwand entgegnen kann: was die<br />
Diskursivitätsbegründer ermöglichen (ich wähle Marx und Freud als<br />
Beispiele, weil ich glaube, daß sie zugleich die ersten und die wichtigsten<br />
sind), was sie ermöglichen, ist etwas anderes als das, was ein<br />
Romanautor ermöglicht. Die Texte der Ann Radcliffe haben das Terrain<br />
für bestimmte Ähnlichkeiten und Analogien erschlossen, die ihr<br />
Modell oder Prinzip in ihrem Werk haben. Dieses Werk ent<br />
/25/<br />
hält charakteristische Zeichen, Figuren, Beziehungen, Strukturen, die<br />
von anderen wiederverwendet werden konnten. Sagt man, daß Ann<br />
Radcliffe den Schauerroman begründet hat, so heißt das letztlich: in<br />
171
den Schauerromanen des 19. Jahrhunderts wird man wie bei Ann<br />
Radcliffe das Thema der Heldin finden, deren Unschuld ihr zur Falle<br />
wird, das Bild des geheimen Schlosses, das die Funktion einer Gegen-Stadt<br />
hat, die Person des schwarzen, verdammten Helden, der<br />
dazu verurteilt ist, der Welt das Böse heimzuzahlen, was sie ihm antat,<br />
usw. Wenn ich hingegen von Marx oder von Freud als »Diskursiνitätsbegründern«<br />
spreche, so will ich nicht sagen, daß sie einfach<br />
eine gewisse Zahl von Analogien ermöglicht haben, sondern<br />
daß sie eine Reihe von Unterschieden ermöglicht haben (und diese<br />
ebenso vollständig). Sie haben Raum gegeben für etwas anderes als<br />
sie selbst, das jedoch zu dem gehört, was sie begründet haben. Sagt<br />
man, daß Freud die Psychoanalyse begründet hat, so heißt das nicht<br />
(so heißt das nicht einfach), daß man den Libidobegriff oder die<br />
Technik der Traumdeutung bei Abraham und Melanie Klein wiederfindet,<br />
sondern daß Freud eine Reihe von Unterschieden ermöglichte<br />
verglichen mit seinen Texten, seinen Begriffen, seinen Hypothesen,<br />
die alle aus dem psychoanalytischen Diskurs stammen.<br />
Sogleich taucht, glaube ich, eine neue Schwierigkeit oder wenigstens<br />
ein neues Problem auf: trifft das nicht letzten Endes auf jeden Wissenschaftsbegründer<br />
oder jeden Autor zu, der in einer Wissenschaft<br />
Wandlungen herbeigeführt hat, die man fruchtbar nennen kann?<br />
Schließlich hat Galilei nicht einfach die ermöglicht, die nach Ihm die<br />
von ihm formulierten Gesetze wiederholten, sondern er hat Aussagen<br />
ermöglicht, die sich sehr von dem unterscheiden, was er selbst gesagt<br />
hatte. Wenn Cuvier der Begründer der Biologie und Saussure<br />
der der Linguistik ist, so nicht deshalb, weil man beide nachgeahmt<br />
hat, nicht deshalb, weil man hier und da den Organismus- oder den<br />
Zeichenbegriff wiederaufgenommen hat, sondern weil Cuvier in gewisser<br />
Weise die Evolutionstheorie ermöglichte, die Funkt für Punkt<br />
seinen eigenen Fixierungen widersprach; und Saussure ist Begründer<br />
der Linguistik in dem Maße wie er eine generative Grammatik<br />
ermöglichte, die sich von seinen Strukturanalysen wesentlich unterscheidet.<br />
Also scheint die Begründung einer Diskursivität auf den<br />
ersten Blick zumindest von der gleichen Art zu sein wie die Begründung<br />
jeder beliebigen Wissenschaftlichkeit. Ich<br />
26/<br />
glaube jedoch, daß es da einen Unterschied, einen beachtlichen Unterschied<br />
gibt. Denn im Fall einer wissenschaftlichen Disziplin ist der<br />
Akt, der sie begründet, auf gleicher Höhe wie ihre späteren Transformationen;<br />
er gehört in gewisser Weise zu all den Modifikationen,<br />
die er ermöglicht. Diese Zugehörigkeit kann natürlich verschiedene<br />
Formen haben. Der Begründungsakt eines wissenschaftlichen Fachs<br />
kann im Zuge der Weiterentwicklung dieser Wissenschaft nur wie ein<br />
Sonderfall in einem viel allgemeineren Ganzen erscheinen, das man<br />
dann entdeckt. Er kann auch von Intuition und Empirizität beeinträchtigt<br />
scheinen; dann muß man ihn neu formalisieren und ihn einer Reihe<br />
von zusätzlichen theoretischen Operationen unterwerfen, die ihn<br />
strenger begründen, usw. Schließlich kann er wie eine vorschnelle<br />
172
Generalisierung erscheinen, die eingegrenzt und deren engerer Gültigkeitsbereich<br />
abgesteckt werden muß. Mit anderen Worten, der Begründungsakt<br />
eines wissenschaftlichen Fachs kann immer wieder in<br />
die Maschinerie der sich daraus ergebenden Transformationen hineingenommen<br />
werden.<br />
Nun glaube ich aber, daß die Begründung einer Diskursivität heterogen<br />
im Verhältnis zu ihren späteren Transformationen ist. Wenn man<br />
einen Diskursivitätstyp wie die Psychoanalyse, so wie sie von Freud<br />
begründet wurde, ausweitet, so heißt das nicht, ihr formale Allgemeinverbindlichkeit<br />
geben, die sie etwa zu Beginn nicht zugelassen<br />
habe, sondern einfach ihr eine gewisse Zahl von Anwendungsmöglichkeiten<br />
erschließen. Wenn man sie einengt, so bedeutet das eigentlich,<br />
daß man im Begründungsakt eine möglicherweise begrenzte<br />
Zahl von Sätzen und Aussagen zu isolieren sucht, denen man allein<br />
begründenden Wert zuerkennt und verglichen mit denen bestimmte<br />
von Freud angenommene Begriffe und Theorien als abgeleitet,<br />
sekundär, zusätzlich angesehen werden können.<br />
Schließlich erachtet mαn im Werk solcher Begründer gewisse Sätze<br />
nicht als falsch, man begnügt sich damit, wenn man den Begründungsakt<br />
in den Griff bekommen möchte, gewisser ich zutreffende<br />
Aussagen zu umgehen, einmal indem an sie für unwichtig, zum anderen<br />
indem man sie für »prähistorisch«_ also einem anderen Diskursivität<br />
zugehörig hält. Anders gesagt, im Unterschied zur Begründung<br />
einer Wissenschaft ist die Diskursivitätsbegründung nicht Teil ihrer<br />
späteren Transformationen, notwendigerweise scheidet sie aus oder<br />
sie überragt sie. Folge davon ist,<br />
/27/<br />
daß man die theoretische Gültigkeit in bezug auf das Werk dieser<br />
Begründer selbst definiert, während man im Fall Galilei und Newton<br />
die Gültigkeit der von ihnen aufgestellten Sätze in bezug zur Physik<br />
oder zur Kosmologie und ihrer inneren Struktur und Normativität bestimmt.<br />
Sehr schematisch formuliert heißt das: das Werk dieser Begründer<br />
steht nicht in bezug zur Wissenschaft und nicht in dem<br />
Raum, den sie umreißt, sondern die Wissenschaft oder die Diskursivität<br />
beziehen sich auf das Werk ihrer Begründer wie auf primäre<br />
Koordinaten.<br />
So wird verständlich, warum man in solchen Diskursivitäten auf die<br />
Forderung nach »einer Rückkehr zum Ursprung« als unumgänglicher<br />
Notwendigkeit stößt. Wieder muß man hier die »Rückkehr zu« unterscheiden<br />
von Erscheinungen wie der »Wiederentdeckung« und der<br />
»Reaktualisierung«, zu denen es ja in der Wissenschaft häufig<br />
kommt. Unter »Wiederentdeckung« möchte ich die Wirkungen der<br />
Analogie oder des Isomorphismus verstehen, die ausgehend von<br />
zeitgenössischen Formen des Wissens, eine Denkfigur sichtbar werden<br />
lassen, die verschwommen oder verschwunden war. So würde<br />
ich zum Beispiel sagen, daß Chomsky in seinem Buch über die cartesianische<br />
Grammatik eine gewisse Denkweise wiederentdeckt hat,<br />
173
die von Cordemoy bis Humboldt reicht: sie ist freilich erst seit der<br />
generativen Grammatik begründbar, denn diese enthält das Baugesetz;<br />
eigentlich handelt es sich hier um eine retrospektive Kodierung<br />
des historischen Blicks. Unter »Reaktualisierung« möchte ich<br />
etwas ganz anderes verstehen: die Wiedereingliederung eines Diskurses<br />
in einem Bereich der Verallgemeinerung, der Anwendung, der<br />
Transformation, die ihm neu ist. Die Geschichte der Mathematik ist<br />
da reich an Beispielen. (Ich verweise hier auf die Studie von Michel<br />
Serres über mathematische Anamnesen). Und was soll man unter<br />
»Rückkehr zu« verstehen? Ich glaube, daß man so eine Bewegung<br />
bezeichnen kann, die ihre besondere Eigenart hat und die gerade für<br />
die Diskursivitätsbegründung wichtig ist. Damit es nämlich zu einer<br />
Rückkehr kommt, muß es erst einmal Vergessen gegeben haben,<br />
nicht ein zufälliges Vergessen, nicht die Überlagerung durch Unverständnis,<br />
sondern ein wesentliches und konstitutives. Der Begründungsakt<br />
ist nämlich seinem Wesen nach so, daß er nur vergessen<br />
werden kann. Das, was ihn in Erscheinung bringt, das, was sich aus<br />
ihm herleitet, ist zugleich das, was die Abwei-<br />
/28/<br />
chung von ihm begründet und ihn maskiert. Dieses nicht zufällige<br />
Vergessen muß in genauen Operationen eingekreist werden, die man<br />
lokalisieren, analysieren und gerade durch die Rückkehr zu jenem<br />
Begründungsakt reduzieren kann. Der Riegel des Vergessens ist<br />
nicht von außen angebracht worden; er gehört zur in Frage stehenden<br />
Diskursivität; er gibt ihr sein Gesetz; die Diskursivitätsbegründung,<br />
die in Vergessenheit geriet, ist zugleich die Begründung für den<br />
Riegel und der Schlüssel, mit dem man ihn öffnen kann, so daß das<br />
Vergessen und sogar die verhinderte Rückkehr nur durch die Rückkehr<br />
aufgehoben werden können. Überdies richtet sich diese Rückkehr<br />
auf das, was in einem Text präsent ist, genauer noch, man<br />
kommt auf den Text selbst zurück, auf den Text in seiner Nacktheit<br />
und zugleich auf das, was im Text als Loch, als Abwesenheit, als<br />
Lücke markiert ist. Man kommt zurück auf eine gewisse Leere, die<br />
das Vergessen umgangen oder maskiert hat, die es mit einer falschen<br />
oder schlechten Fülle zugedeckt hat, die Rückkehr muß diese<br />
Lücke und diesen Mangel wieder aufdecken; daher rührt das ewige<br />
Spiel, das solches Rückkehren zur Diskursivitätsbegründung kennzeichnet,<br />
– ein Spiel, in dem man einerseits sagt: das war ja schon<br />
da, man brauchte nur zu lesen, alles steht da, man mußte schon<br />
blind und taub sein, um nicht zu sehen und zu hören; und umgekehrt:<br />
nein, das steht nicht in diesem und nicht in jenem Wort, kein sichtbares<br />
oder lesbares Wort sagt das, worum es jetzt geht, es handelt sich<br />
vielmehr um das, was zwischen den Zeilen (Worten) gesagt wird,<br />
durch ihren Abstand, durch ihre Zwischenräume. Daraus folgt natürlich,<br />
daß eine solche Rückkehr, die zum Text selbst gehört, ihn ständig<br />
verändert, daß die Rückkehr zum Text nicht ein geschichtlicher<br />
Zusatz ist, der zur Diskursivität hinzukommt und sie mit letztlich unwichtigen<br />
Verzierungen ausstattet; es ist eine nützliche und notwendige<br />
Transformationsarbeit an der Diskursivität selbst. Die Überprü-<br />
174
fung eines Galilei-Textes kann unsere Kenntnisse über die Geschichte<br />
der Mechanik modifizieren, aber nie die Mechanik selbst. Die<br />
Überprüfung der Texte von Freud hingegen modifiziert die Psychoanalyse<br />
und die von Marx den Marxismus. Um eine solche Rückkehr<br />
charakterisieren zu können, müssen wir noch ein letztes Merkmal<br />
angeben: sie ist auf eine Art rätselhaften Zuschnitt der Texte und des<br />
Autors aus. Weil der Text nämlich Text von einem ' Autor ist, hat er<br />
begründenden Wert<br />
/29/<br />
und weil er der Text von diesem bestimmten Autor ist, muß man auf<br />
ihn zurückkommen. Es besteht überhaupt keine Aussicht darauf, daß<br />
die Wiederentdeckung eines unbekannten Newton- oder Cantortexts<br />
die klassische Kosmologie oder die Mengenlehre, so wie sie sich<br />
entwickelt haben, verändern könnte (allerhöchstens kann diese Ausgrabung<br />
vielleicht unsere historische Kenntnis über ihre Entwicklung<br />
ändern). Im Gegensatz dazu kann das Auftauchen eines Textes wie<br />
Der Abriß von Freud – und in dem Maß wie es ein Freudtext ist –<br />
nicht etwa das historische Wissen über die Psychoanalyse, sondern<br />
ihr theoretisches Feld verändern – wenn wohl auch nur durch eine<br />
Verschiebung der Akzente und des Gravitätszentrums. Solche Formen<br />
der Rückkehr, die zur Struktur der Diskursivitätsfelder gehören,<br />
von denen ich spreche, bringen für ihren »fundamentalen« und vermittelten<br />
Autor einen Bezug ein, der nicht identisch ist mit dem Bezug,<br />
den ein beliebiger Text zu seinem unmittelbaren Autor hat.<br />
Was ich zum Thema »Diskursivitätsbegründung« skizziert habe, ist<br />
selbstverständlich sehr schematisch. Besonders die Opposition, die<br />
ich zwischen einer Diskursivitäts- und einer Wissenschaftsbegründung<br />
eingeführt habe. Es läßt sich vielleicht nicht immer leicht<br />
entscheiden, ob man hiermit oder damit zu tun hat: und nichts beweist,<br />
daß diese beiden Arten des Vorgehens einander ausschließen.<br />
Ich habe diese Unterscheidung nur aus einem Grund versucht:<br />
ich wollte zeigen, daß die Funktion Autor, die schon kompliziert<br />
genug ist, wenn man sie in einem Buch oder in einer Reihe von Texten,<br />
die eine bestimmte Signatur tragen, aufspürt, noch neue Determinationen<br />
einbringt, wenn man versucht, sie in noch größeren Einheiten<br />
zu analysieren: in Werkgruppen, in ganzen Wissenschaftsbereichen.<br />
Ich bedaure sehr, daß ich in die jetzt folgende Debatte keinen positiven<br />
Vorschlag habe einbringen können: höchstens Leitlinien für<br />
mögliche Arbeiten, Wege für eine Analyse. Aber ich muß Ihnen doch<br />
wenigstens zum Schluß noch in einigen Worten sagen, warum ich<br />
das doch wichtig finde.<br />
Würde man eine solche Analyse weiterentwickeln, so könnte sie vielleicht<br />
zu einer Typologie der Diskurse führen. Es scheint mir nämlich,<br />
zumindest bei erster Annäherung, daß eine solche Typo-<br />
175
30/<br />
logie nicht nur ausgehen dürfte von den grammatischen Merkmalen<br />
der Diskurse, ihren formalen Strukturen oder gar ihren Gegenständen;<br />
es gibt nämlich besondere diskursive Eigenschaften oder Relationen<br />
(die nicht auf die Regeln der Grammatik oder der Logik, auch<br />
nicht auf die Gesetze der Gegenstände zurückgeführt werden können)<br />
und gerade auf diese sollte man seinen Blick richten, um die<br />
großen Diskurskategorien unterscheiden zu können_ Der Bezug<br />
(oder der Nicht-Bezug) zu einem Autor und die verschiedenen Formen<br />
dieses Bezugs bilden – recht sichtbar – eines der diskursiven<br />
Merkmale.<br />
Ich glaube andererseits, daß man hier einen Einstieg in die historische<br />
Analyse der Diskurse finden könnte. Vielleicht ist es an der<br />
Zeit, Diskurse nicht mehr nur nach ihrem Ausdruckswert oder ihren<br />
formalen Transformationen zu untersuchen, sondern in ihren Existenzweisen:<br />
die Art der Verbreitung, der Wertung, der Zuschreibung,<br />
der Aneignung ist in jeder Kultur anders und wandelt sich in jeder<br />
einzelnen; die Art, wie sie sich über die gesellschaftlichen Beziehungen<br />
äußern, läßt sich meiner Meinung nach direkter durch die Funktion<br />
Autor und ihre Veränderungen entziffern als in den Themen und<br />
Begriffen, die sie verwenden.<br />
Könnte man nicht auch ausgehend von solchen Analysen den Vorrang<br />
des Stoffs neu überprüfen? Ich weiß schon, daß man bei einer<br />
werkinternen Untersuchung der Bauweise (ganz gleich, ob es sich<br />
um einen literarischen Text, ein philosophisches System oder ein<br />
wissenschaftliches Werk handelt) und dabei biographische oder psychologische<br />
Bezugspunkte ausklammert, bereits den absoluten Charakter<br />
und die begründende Rolle des Stoffs in Frage gestellt hatte.<br />
Aber vielleicht sollte man auf das zurückkommen, was da in der<br />
Schwebe ist, keinesfalls um das Thema vom ursprünglichen Stoff zu<br />
restaurieren, sondern um die Einfügungspunkte, die Funktionsweisen<br />
und die Abhängigkeiten des Stoffs zu begreifen. Die traditionelle Frage<br />
muß umgekehrt werden: man sollte nicht mehr fragen, wie kann<br />
sich die Freiheit eines Stoffs in die Kompaktheit der Dinge einfügen<br />
und ihr einen Sinn geben, wie kann er von innen die Regeln einer<br />
Sprache beleben und so seine eigenen Ziele an den Tag bringen?<br />
Man sollte vielmehr fragen: wie, aufgrund welcher Bedingungen und<br />
in welchen Formen kann so etwas wie Stoff im Diskurs erscheinen?<br />
Welche Stelle kann er in jedem einzelnen Diskurs haben,<br />
/31/<br />
welche Funktionen übernehmen, welchen Regeln gehorchen? Kurz,<br />
es geht darum, dem Stoff (oder seinem Ersatz) seine Rolle ursprünglicher<br />
Begründung zu nehmen und ihn als variable und komplexe<br />
Funktion des Diskurses zu analysieren.<br />
Der Autor – oder das, was ich als Funktion Autor zu beschreiben versuchte<br />
– ist wohl nur eine der möglichen Spezifikationen der Funktion<br />
Stoff. Mögliche oder nötige Spezifikation? Betrachtet man die Wandlungen,<br />
zu denen es im Laufe der Geschichte gekommen ist, so muß<br />
176
die Funktion Autor keineswegs konstant in ihrer Form, in ihrer Komplexität<br />
oder gar in ihrem Vorhandensein bleiben - ganz im Gegenteil.<br />
Man kann sich eine Kultur vorstellen, in der Diskurse verbreitet oder<br />
rezipiert würden, ohne daß die Funktion Autor jemals erschiene.<br />
Ganz gleich welchen Status, welche Form und welchen Wert ein Diskurs<br />
hätte und welche Behandlung man ihm angedeihen ließe, alle<br />
würden sich in der Namenlosigkeit des Gemurmels entrollen. Folgende<br />
so lange wiedergekäute Fragen würde man nicht mehr hören:<br />
»Wer hat eigentlich gesprochen? Ist das auch er und kein anderer?<br />
Mit welcher Authentizität oder welcher Originalität? Und was hat er<br />
vom Tiefsten seiner selbst in seiner Rede ausgedrückt?« Dafür wird<br />
man andere hören: »Welche Existenzbedingungen hat dieser Diskurs?<br />
Von woher kommt er? Wie kann er sich verbreiten, wer kann<br />
ihn sich aneignen? Wie sind die Stellen für mögliche Stoffe verteilt?«<br />
Und hinter all diesen Fragen würde man kaum mehr als das gleichgültige<br />
Geräusch hören: »Wen kümmert's, wer spricht?« *<br />
* Das mehrfach erwähnte Werk von Foucault Les Mots et les Choses liegt<br />
auf Deutsch unter dem Titel Die Ordnung der Dinge νοr<br />
177
<strong>Hans</strong>-<strong>Joachim</strong> <strong>Lenger</strong>: Cyberspace<br />
oder Die Zukunft des Genies 50<br />
"Zwei davon halfen mir in den Bauhaus-Sarg und traten zurück,<br />
als der Deckel sich wie das Helmvisier eines Riesen zischend<br />
herunterschob. Ich begann meine Himmelfahrt, meine Reise zu<br />
einer heimkehrenden Fremden namens Leni Hofmannstahl.<br />
Eine kurze Fahrt, die aber eine Ewigkeit zu dauern schien."<br />
William Gibson, Cyberspace, S.85<br />
Meine Damen, meine Herren,<br />
die Kommunikation, in die wir an diesen beiden Tagen einzutreten<br />
gehalten sind, ist durch die Einführung eines Gerundivums<br />
präformiert worden, das sich in einem vorbereitenden<br />
Text, der uns zuging, als "Kommunikandum" ausprägte und<br />
eine Notwendigkeit, andere könnten auch meinen: eine Nötigung,<br />
anzeigte. 51 Denn ein Communicandum ist ein Etwas, das<br />
kommuniziert werden muß. Und es gehört zur List dieser<br />
grammatischen Form, daß sie die Autorität, aus der sie das<br />
Gebot des Communicandum est ergehen läßt, vorerst im unklaren<br />
hält. Diese Form bedeutet uns: Es muß kommuniziert werden;<br />
aber eben, und dies fragt sich: von wo aus schreibt sich<br />
dieser Satz vor, und mit welcher Autorität schreibt er sich vor?<br />
Von welchem Ort ergeht jene Verpflichtung, die uns zur Kommunikation<br />
nötigt?<br />
Zwar weiß ich nicht, ob jene, die uns das Kommunikandum<br />
vorgaben, sich etwas dabei dachten; sie könnten ja auch vom<br />
Wortklang betört worden sein, den das lateinische Gerundiv mit<br />
sich führt. Doch erst recht, wenn sich die Gerundivform der<br />
Kommunikation gleichsam ohne Absicht, ohne Intention oder<br />
Kalkül ihrer Initiatoren in unsere Tagung eingeführt hätte, sprä-<br />
50 Vortrag auf dem Kommunikandum über Grundlehre, HFBK Hamburg,<br />
Dezember 1990<br />
51 GL-Kommunikandum / Briefentwurf Dresden I / Michael Lingner, S.1<br />
178
che sie umso beredter von der spezifischen Figuration einer<br />
systemischen Macht.<br />
Der Zwang zur Kommunikation nämlich scheint unter den heutigen<br />
Bedingungen technologischer Kulturen derart unabweisbar<br />
geworden zu sein, daß er sich noch einem Gespräch<br />
wie dem unseren programmatisch aufprägt und aufprägen muß:<br />
als Communicandum est. Das Communicandum ist der Imperativ,<br />
von dessen Befolgung es abhängt, ob etwas erscheinen<br />
kann oder nicht. Und das heißt: wenn etwas besteht, so besteht<br />
es allein in den Techniken und Technologien der Kommunikation.<br />
In dieser Situation zeichnet sich ab, was ich Ihnen und mir<br />
zunächst als Frage nach der Kommunikation vorzulegen gedenke;<br />
sodann aber auch in einer Meditation über jenen Rat,<br />
den uns Jean-François Lyotard erteilte, ich zitiere: "für eine Arbeit<br />
an der Nicht-Kommunizierbarkeit, der Nicht-Mitteilbarkeit zu<br />
kämpfen, nämlich für die Artikulation von möglichen neuen Sätzen.<br />
Dieser Kampf", so fuhr Lyotard dann fort, "wird hauptsächlich<br />
von den Künstlern geführt. Denn in der Kunst geht es vor<br />
allem darum, Werke hervorzubringen, in denen die das Werk<br />
als solches konstituierenden Regeln selbst noch einmal hinterfragt<br />
werden. Dazu ist keine Theorie nötig; ja ich möchte sogar<br />
sagen, es ist nötig, keine Theorie zu haben." 52<br />
Empfehlungen wie diese entlassen uns allerdings in unabsehbare<br />
Paradoxien. Sie verstoßen in eine Grundlosigkeit, in<br />
der wir uns nicht aufhalten können. Denn sie legen die Idee<br />
nahe, daß die Bewegung der Kunst nicht etwa in der Befolgung<br />
von Regeln besteht, sondern darin, die Regelhaftigkeit möglicher<br />
Regeln zu befragen und sie in Figuren einer abgründigen<br />
Frage selbst zu generieren. Sie situieren die Kunst also am Ort<br />
einer Genese, an dem es keinen Sinn mehr macht, etwa zwischen<br />
einer Aussage und ihrer Regel, und schon gar nicht, zwischen<br />
dem Rationalen und dem Irrationalen, zwischen dem<br />
Verfügbaren und dem Unverfügbaren, zwischen dem Lehrbaren<br />
und dem Genialischen zu unterscheiden. Anders gesagt, lassen<br />
diese Sätze eine Entgründung sich wiederholen, die jede Rede<br />
von einem "Grund" obsolet werden läßt - und zwar unabhängig<br />
davon, ob er sich dann in der "Grundlehre", der "Grundlage"<br />
oder der "Grundfrage" zu setzen versucht.<br />
Hier ist nicht die Zeit, das metaphorische Feld genauer zu analysieren,<br />
das durch diese Rede vom Grund eröffnet wird. Aber<br />
vielleicht ist doch der Hinweis am Platz, daß sich eine solche<br />
Analyse mit Fragen des Territoriums ebenso zu beschäftigen<br />
hätte wie mit denen einer gewissen Architektonik und eines<br />
52 Jean-François Lyotard, Regeln und Paradoxa, in: ders., Philosophie und<br />
Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin 1986, S.105<br />
179
gewissen Bauens; mit dem Problem einer Verankerung im<br />
Grund, mit Vorstellungen der Tiefe und der Höhe also, wie sie<br />
von Sätzen wie dem herausgefordert werden, daß seine Fundamente<br />
tiefer legen müsse, wer hoch hinaus wolle. 53 In jedem<br />
Fall hätte sich eine solche Analyse den Vorstellungen einer gewissen<br />
Seßhaftigkeit zuzuwenden, die sich in der Rede von<br />
einer "Grundlegung" einstellen. Und sie hätte sich schließlich<br />
der Frage zu stellen, ob die territoriale oder architektonische<br />
Metaphorik geeignet ist, die Spezifika unserer künstlerischen,<br />
philosophischen oder ästhetischen Erfahrung zu fassen.<br />
Anstatt aber diese Analyse einer Metaphorik des Grundes zu<br />
beginnen, will ich - auch dies in der Kürze der Zeit, die nur Andeutungen<br />
zuläßt - vorschlagen, die virtuellen Welten des Cyberspace,<br />
die in den Forschungslabors der "Künstlichen Intelligenz"<br />
erscheinen, als Paradigma einer solchen Erfahrung zu<br />
entziffern, für die sich im Innern des Grundes ein Ab-Grund auftut.<br />
Denn wo die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine<br />
nicht mehr in der alphanumerischen Tastatur besteht und wir<br />
auch die zweite Generation der Benutzeroberfläche - die Maus,<br />
die auf den Bildschirmen den zeigenden Finger vertrat - aus der<br />
Hand geben; wo wir uns stattdessen die Maschine anziehen<br />
und die gesamte Oberfläche des Körpers zu einer Benutzeroberfläche<br />
der dritten Generation werden lassen, um in körperloser<br />
Körperlichkeit in die multidimensionalen Welten der Programme,<br />
der zirkulierenden Daten und Informationen einzutauchen,<br />
führt sich eine Unentscheidbarkeit ein, die abgründig ist.<br />
Denn unentscheidbar ist, wo der Körper aufhört und wo die Maschine<br />
beginnt; wo die Oberfläche der Haut in die Benutzeroberfläche<br />
der Maschine übergeht; kurz: die Welt des Cyberspace<br />
läßt uns in der Aporie der Oberfläche und damit in der<br />
Aporie der Grenze versinken. Denn die Oberfläche beschreibt<br />
eine Grenze zwischen Innen und Außen, aber sie tut dies, weil<br />
sie als Oberfläche weder Innen noch Außen "ist". Weder diesseits<br />
noch jenseits situiert, tut sich an der Oberfläche ein Abgrund<br />
auf; aber man könnte ebenso sagen: der Abgrund spielt<br />
allein auf der Oberfläche, denn er "ist" nichts anderes als dieses<br />
Spiel. In gewisser Hinsicht verändert Cyberspace also auch<br />
nicht die Welt und beschreibt auch keine andere Welt; noch die<br />
Rede von "virtuellen Welten", die das technologische Universum<br />
der Körper-Benutzer-Oberfläche auftue, ist ein zu weitgehendes<br />
Zugeständnis. Vielmehr bricht unter dem Namen Cyberspace<br />
eine Deterritorialisierung in die Ordnung des Grundes<br />
53 "Schließlich gilt nicht nur für das Bauen: wer hoch hinaus will, muß seine<br />
Fundamente tiefer legen." (Fritz Seitz, Wer hoch hinaus will, muß seine<br />
Fundamente tiefer legen, in: Con-Texte. Materialien zur Lehre an den<br />
Kunsthochschulen, Hamburg 1990, S.7)<br />
180
ein, die nicht etwa Korrelat eines Territoriums oder einer Territorialisierung<br />
ist, sondern technologisches Residuum einer unvordenklichen<br />
Nomadik. Insofern zeugen der kybernetische<br />
Raum und die kybernetische Zeit auch von einer Erfahrung, die<br />
nicht mehr "Erfahrung" in jenem Sinn genannt werden kann,<br />
den uns ein bestimmter Humanismus zu bewahren suchte,<br />
wenn er sie um die Opposition von "Innen" und "Außen" gruppierte.<br />
Und wenn ich deshalb vorschlage, diesen Verlust an<br />
Erfahrung, der alle Kategorien von Sinnlichem und Intelligiblem<br />
betreffen wird, nicht etwa als verschwundenes Objekt einer Nostalgie,<br />
einer Wehmut oder einer romantischen Rückbindung,<br />
einer Re-Ligio also zu beklagen, dann deshalb, weil wir in den<br />
virtuellen Welten des Cyberspace, im technologischen Universum<br />
der Kommunikation nur von einer Frage eingeholt werden,<br />
die früher als die früheste ist und noch der Frage nach dem<br />
"Grund" vorausgeht.<br />
Denn Cyberspace macht die Kommunikation total. In jeder<br />
Kommunikation aber verlangt etwas danach, die Gemeinschaft<br />
mit Anderen zu bedenken. Und zwar, weil die Kommunikation in<br />
gewisser Hinsicht diese Gemeinschaft "ist". Aber dieses "Sein"<br />
der Gemeinschaft "besteht" nicht etwa in der Kommunikation,<br />
denn es ist kein Bestehen oder Bestand und schon gar kein<br />
Gegen-Stand. Vielmehr entzieht sich die Kommunikation jedem<br />
Versuch, ihrer habhaft zu werden, und zwar deshalb, weil sie in<br />
einer bestimmten Hinsicht weder ein "Innen" noch ein "Außen"<br />
hat. Oder, anders gesagt: bevor sich eine Gemeinschaft begründen<br />
läßt, bevor sie sich etwa in der theologischen Ordnung<br />
der Kommunion, im politischen Projekt des Kommunismus oder<br />
in der technokratischen Struktur des Communicandum begründen<br />
und zeigen kann; bevor sie ihr Innen von einem ihr Äußerlichen<br />
abzusetzen vermag; bevor sie sich also eine Form verliehen<br />
hat, der man dann etwa in systemtheoretischen Begriffen<br />
zu Leibe rücken mag, hat sich etwas zugetragen, was weder<br />
ein "Draußen" noch ein "Drinnen" kennt. Was deshalb auch<br />
nicht als Riß gedacht werden kann, in dem sich ein "Innen" einem<br />
"Außen" öffnen würde. In seinem bewunderswerten Essay<br />
über Die undarstellbare Gemeinschaft schreibt Jean-Luc Nancy,<br />
und ich denke, hier bereits kündigt sich die Frage nach der<br />
Kunst im Innern der Kommunikation oder an ihren äußersten<br />
Rändern an: "Auch der Mund, wenn er sich öffnet, ist kein Riß.<br />
Er bietet dem 'Draußen' ein 'Drinnen' dar, das ohne diese Darbietung<br />
nicht existieren würde. Die Wörter 'entspringen' nicht<br />
der Kehle (noch dem 'Geist' 'im' Kopf): sie bilden sich bei der<br />
Artikulation im Mund. Daher ist die Rede kein Mittel der Kommunikation,<br />
sondern die Kommunikation selbst bis hin zum<br />
Schweigen - sie ist das Aussetzen (wie in jenen Gesängen der<br />
Inuit-Eskimos, die ihre Stimmen im offenen Mund eines Gegenübers<br />
erklingen lassen). Der sprechende Mund überträgt nichts,<br />
181
vermittelt nichts, erwirkt kein Band; in ihm pocht - vielleicht wie<br />
im Kuß, jedoch an der Grenze - ein singulärer Ort gegen andere<br />
singuläre Orte." 54 Ein Pochen also, wie im Kuß, doch an der<br />
Grenze; weder "drinnen" noch "draußen" und schon gar nicht<br />
kommunikativ zu übertragen oder architektonisch zu begründen.<br />
Eher handelt es sich im Innern der Kommunikation um ein<br />
Ausgesetzt-Sein, um eine Exteriorität, die alles, was wir uns<br />
mitteilen mögen, aus den unabschließbaren Irrfahrten einer Mitteilbarkeit<br />
auf uns zukommen läßt, die ihrerseits ohne Grund ist.<br />
Diese Mitteilbarkeit läßt sich deshalb auch weder auf die Ordnung<br />
eines Codes noch auf ein technisches oder technologisches<br />
Apriori zurückführen, doch ist sie andererseits auch<br />
nichts außerhalb dieser Ordnungen: weder diesseits noch jenseits<br />
solcher Grenzen zu verorten, ist sie Spiel der Grenzen<br />
selbst, das ein "Innen" und "Außen" erst ermöglicht.<br />
Ich vermute, daß sich die Frage nach der Kunst in diesem Ausgesetzt-Sein<br />
ankündigen wird, in dieser Spur eines Nicht-<br />
Mitteilbaren, von dem alle Mitteilung rührt. Doch um zugleich<br />
die nötige Vorsicht walten zu lassen: was sich hier als Ausgesetzt-Sein<br />
umschreibt, als Irrfahrt oder als Grenze, die sich unaufhörlich<br />
entgrenzt, erlaubt nicht schon jenes Anschauen, das<br />
die Griechen theoría nannten. Es stellt ebenso wenig schon<br />
etwas dar, was sich einem künstlerischen Anschauen darböte.<br />
Wo diese Spur einer sich entgrenzenden Grenze in der philosophischen<br />
oder ästhetischen Tradition reflektiert wurde, da<br />
vielmehr als Entzug oder als Verschwinden; als etwas, dessen<br />
der Wille zur Präsenz nicht habhaft werden konnte.<br />
Vielleicht aber wird an diesem Punkt auch deutlicher, wohin<br />
Lyotards paradoxe Empfehlung weist, der Kampf um das Nicht-<br />
Kommunizierbare werde hauptsächlich von den Künstlern geführt,<br />
und um ihn führen zu können, sei es geradezu notwendig,<br />
keine Theorie zu haben. Es mag ebenso deutlicher werden, in<br />
welcher Weise sich im Innern der Kommunikation oder an ihrer<br />
äußersten Grenze, am undarstellbaren Ort einer Nicht-<br />
Entscheidbarkeit also, aus dem die Frage der Gemeinschaft auf<br />
sich zukommt, sich auch die Frage der Kunst situiert. Wohlgemerkt:<br />
Nicht die Frage nach der Kunst, was wiederum eine<br />
Theorie implizieren würde, sondern die Frage der Kunst.<br />
Denn in einer sehr bestimmten Weise ist diese Frage nicht<br />
einmal zu stellen, geschweige denn, daß über sie verfügt werden<br />
könnte. Im gleichen Augenblick, in dem der Begriff einsetzen<br />
wollte, ihrer habhaft zu werden und sie in das Gefüge eines<br />
Systems zu übertragen, hätte sich die Frage der Kunst schon<br />
zurückgezogen. Dies rührt aus dem, was Nancy die Undarstell-<br />
54 Jean-Luc Nancy, Die undarstellbares Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S.68<br />
182
arkeit der Gemeinschaft nennt - was sich aber auch bei Kant<br />
schon erfahren läßt, bei dem es heißt, "daß der Geschmack mit<br />
mehrerem Recht sensus communis genannt werden könne, als<br />
der gesunde Verstand; und daß die ästhetische Urteilskraft<br />
eher als die intellektuelle den Namen eines gemeinschaftlichen<br />
Sinnes führen könne, wenn man ja das Wort Sinn von einer<br />
Wirkung der bloßen Reflexion auf das Gemüt brauchen will:<br />
denn da versteht man unter Sinn das Gefühl der Lust." 55 Bevor<br />
sich jedenfalls die Frage der Kunst in den Systemphilosophien<br />
Fichtes, Schellings oder Hegels zur Totalität abschließen oder<br />
sich bei Marx zum Projekt der Gemeinschaft verdichten kann,<br />
schreibt sich in Kants Kritik der Urteilskraft unter dem Problemtitel<br />
eines "sensus communis" oder eines Gemeinsinns die Spur<br />
einer Abwesenheit, eines irreduziblen Anderswo ein, von der<br />
diese Frage der Kunst ihre unkonstruierbare Gestalt erfahren<br />
wird. Anders gesagt, bewegt sich die Kritik der Urteilskraft im<br />
Spiel einer Grenze, das eine Unentscheidbarkeit einbrechen<br />
läßt, die sich in keinem Grund territorialisieren wird. Wo Kant<br />
die Deduktion reiner ästhetischer Urteile vorbereitet oder, wie<br />
sich auch sagen ließe, die Möglichkeit ihrer Grundlegung prüft,<br />
tut sich eine Abgründigkeit möglichen Urteilens auf, die aus der<br />
Unerreichbarkeit Anderer oder der Undarstellbarkeit von Gemeinschaft<br />
rührt. 56<br />
Aber der Ort des Genies ist nun Kant zufolge derjenige, an der<br />
diese Undarstellbarkeit sich doch darstellen soll. Auch in diesem<br />
Fall läßt es die Kürze der Zeit nicht zu, die komplizierte<br />
Bewegung zu rekonstruieren, in der Kant den Geniebegriff ins<br />
Unabsehbare verschieben muß, um in dieser Verschiebung die<br />
Möglichkeit einer Darstellung des Undarstellbaren sich ereignen<br />
zu lassen. Hier muß der Hinweis genügen, daß der Geniebegriff<br />
zunächst nicht etwa die ausgezeichnete Begabung einer Person<br />
meint. Vielmehr bezeichnet er, bevor er sich auf eine Person<br />
beziehen läßt, in Kants strenger und fast strukturaler Ter-<br />
55 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Band X, Frankfurt/M.<br />
1977, A 158<br />
56 Die berühmte Stelle bei Kant lautet: "Unter dem sensus communis aber<br />
muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermögens<br />
verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart<br />
jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam<br />
an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch<br />
der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen,<br />
welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil<br />
nachteiligen Einfluß haben würde. Dieses geschieht nun dadurch, daß<br />
man sein Urteil an anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß<br />
mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem<br />
man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälliger<br />
Weise anhängen, abstrahiert...“ (A 155).<br />
183
minologie jene Grenze, die weder "Innen" noch "Außen" kennt;<br />
eine Grenze, die als Mitteilbarkeit jeder Mitteilung vorausgeht<br />
und deshalb selbst nicht mitgeteilt, sondern nur geteilt werden<br />
kann. In gewisser Hinsicht ist diese Grenze die einer Kommunikation<br />
bis hin zum Schweigen, eines Aussetzens vor aller<br />
Setzung, einer irreduziblen Nomadik vor aller Grundlegung und<br />
Seßhaftigkeit. Die Struktur einer Genese also, die den Geniebegriff<br />
ordnet und so sehr im Innern der Kommunikation oder<br />
an ihrem äußersten Rand situiert ist, daß man sagen könnte, im<br />
Geniebegriff suche sich das Rätsel zu artikulieren, daß die undarstellbare<br />
Gemeinschaft sich doch erscheinen kann.<br />
Vor aller Mimesis aber, vor aller Möglichkeit dieses Erscheinen-<br />
Lassens und Anähnelns muß sich deshalb im Geniebegriff<br />
Kants, als Voraussetzung aller Kommunikation, die nicht mitgeteilt,<br />
sondern nur geteilt werden kann, ein Begriff der Technik<br />
eingeführt haben, von dem dann derjenige der Kunst wie auch<br />
der der Natur abhängen wird; Kant schreibt: "Denn überhaupt<br />
ist die Technik der Natur, sie mag nun bloß formal oder real<br />
sein, nur ein Verhältnis der Dinge zu unserer Urteilskraft, in<br />
welcher allein die Idee einer Zweckmäßigkeit der Natur anzutreffen<br />
sein kann, und die, bloß in Beziehung auf jene, der Natur<br />
beigelegt wird." 57 Also ist die Technik der Natur nichts, was<br />
dieser Natur "an sich" zukäme, sondern nur eine Beziehung, in<br />
der wir uns aufeinander zu beziehen suchen; eine Beziehung,<br />
die sich aber auch nicht darstellen oder gar herstellen läßt, so<br />
wie man ein Produkt herstellen mag. Sondern eine Reflexionsbeziehung,<br />
die sich im technischen Spiel der Grenze präsentiert<br />
und zurückzieht. Überhaupt handelt es sich, wo Kant den Naturbegriff<br />
einführt, nicht um einen Grund oder eine "erste Natur";<br />
er meint nicht ein Erstes, dem gegenüber die Technik ein<br />
Zweites wäre. Vielmehr ist diese Natur Schauplatz einer technischen<br />
Verschiebung, an dem allein sich darstellen oder mitteilen<br />
läßt, was als Mitteilbarkeit vor aller Mitteilung undarstellbar<br />
bleiben muß. "Also", schreibt Kant deshalb, "ist die Urteilskraft<br />
eigentlich technisch; die Natur wird nur als technisch vorgestellt,<br />
so fern sie zu jenem Verfahren derselben zusammenstimmt<br />
und es notwendig macht". 58<br />
Wenn also im Ausgang von jener einzigartigen Riskanz, die die<br />
Frage der Kunst bei Kant erfahren hat, ein Blick auf unsere Situation<br />
möglich ist, dann deshalb, weil die Beziehungen von<br />
Nomadischem und Territorialem, von Entzug und Grundlegung,<br />
von Kunst, Genie, Technik und Gemeinschaft sich heute in ei-<br />
57 Immanuel Kant, Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft,<br />
ebd., S.34<br />
58 ebd. S.33<br />
184
ner einzigartigen Krise zu bewegen scheinen; aber, wie sich<br />
dann auch zeigt, in einer Krise, die nicht etwa unvermittelt eingebrochen<br />
wäre, sondern die als "Grenze" stets schon entgrenzt<br />
hat, was sich immer nur im nachhinein zu fundamentalisieren<br />
oder zu begründen suchen kann. Die Spur eines Technikbegriffs,<br />
die sich Kants Kritik einschrieb, erlaubt es nämlich,<br />
im Innern des personalen Geniebegriffs, der die Diskussion um<br />
die Kunst immer noch wie ein gespenstischer Schatten begleitet,<br />
jene technische Struktur zu entziffern, in der wir uns verhalten,<br />
ohne uns schon zueinander verhalten zu können. Eine<br />
Struktur also, die das Paradox eines "Zusammen und Noch-<br />
Nicht" wahrt, wie Blanchot sagt, ohne daß sie aber das "Noch-<br />
Nicht eines Zusammen" in Aussicht stellen würde. Aber diese<br />
technische Struktur erlaubt es eben nicht nur, die Erosion eines<br />
personalen Geniebegriffs wahrzunehmen und zu beschleunigen;<br />
eine Erosion, die im übrigen immer neu und erschreckend<br />
deutlich wird, wenn etwa göttergleich sich gebärdende Künstler<br />
auf den Monitoren der elektronischen Telekommunikation erscheinen.<br />
Diese technische Struktur erlaubt es zugleich, eine<br />
Erosion der Rede von den Grundlagen, den Grundfragen und<br />
den Grundlehren zu beschleunigen, die ihrerseits nur Residuum<br />
eines technischen Erscheinen-Lassens sein dürfte.<br />
In der Welt des Cyberspace, die "Welt" nicht genannt werden<br />
kann, sondern die Kommunikation aus der Zäsur eines Schweigens<br />
generiert, das von den Nicht-Seßhaftigkeiten der Einbildungskraft<br />
zeugt; in einer technischen Struktur also, von der<br />
Jonas Hafner vielleicht sagen würde, sie sei das Zu-sichsprechen-Wollen<br />
der Sprache, und von der ich sagen würde, in<br />
ihr wahre sich die Gemeinschaft, indem sie sich nur darstellen<br />
kann, weil sie sich zurückgezogen hat, ist nichts fragwürdiger<br />
als die Idee des Grundes und der Grundlegung. Aber all dies ist<br />
ohne Nostalgie und ohne Wehmut zu denken; ohne den<br />
Wunsch, die Ordnung einer Benutzeroberfläche zu restaurieren,<br />
die sich in den 20er Jahren - etwa in der Bauhaus-<br />
Konzeption von Gropius 59 - aus der Opposition von mechanisch-serieller<br />
Maschine und der Handarbeit herstellte, um die<br />
59 "das hauptproblem wird darin bestehen, die wirkungsvollste verteilung<br />
der schöpferischen energien innerhalb der gesamtproduktion zu finden.<br />
der typ des intelligenten handwerkers der vergangenheit wird in der zukunft<br />
für spekulative vorarbeiten bei der herstellung industrieller waren<br />
verantwortlich sein. statt seine fähigkeiten in einem rein mechanischen<br />
vervielfältigungsprozeß zu vergeuden, wird er in experimenteller laboratoriumsarbeit<br />
und in der werkzeugentwicklung verwendung finden. sein<br />
arbeitsfeld wird ein organischer teil der produktionseinheit der industrie<br />
werden." (Walter Gropius, meine konzeption des bauhaus-gedankens, in:<br />
50 jahre bauhaus, ausstellung unter der schirmherrschaft des herrn bundespräsidenten<br />
dr.h.c. heinrich lübke, stuttgart 1968, S.15)<br />
185
Intelligenz auf seiten der Handarbeit zu situieren. Vielmehr ratifiziert<br />
das Intelligent-Werden der Maschine, das sich im Computer<br />
anzeigt, der nach Turings bekanntem Ausdruck die "universelle<br />
Maschine" ist, weil er alle Maschinen "darstellen" kann,<br />
ein Rückzug solcher Oppositionen: ein Rückzug, der auch die<br />
Frage nach der "Grenze" in unabsehbarer Weise verschiebt.<br />
Vielleicht besteht die tiefe Unsicherheit, die uns erfaßt hat, ja in<br />
der Erfahrung dieser Verschiebung. Denn sie läßt nichts unangetastet;<br />
sie verwirrt nicht nur die einzelnen Disziplinen, sondern<br />
auch, was sich zwischen ihnen abspielt und was in einem<br />
nur unzureichenden Ausdruck das "Inter-Disziplinäre" genannt<br />
wird. Und es wäre allzu verführerisch, dieser Verwirrung durch<br />
eine Metaphorik des Grundes entgehen zu wollen. Verführerisch<br />
deshalb, weil eine solche Metaphorik alle vertrauten Oppositionen<br />
errichten würde: die von Haus und Weg, von Privatem<br />
und Öffentlichem, von Vertrautem und Fremdem, von Eigenem<br />
und Anderem. Oppositionen also, die sich auch im Begriffspaar<br />
von Kommunikation und Grundlegung nur wiederholen.<br />
Aber vielleicht ist die Verwirrung, die uns erfaßt hat, ja nicht<br />
nur destruktiv. Vielleicht sollte man sie zum Zuge kommen lassen.<br />
Vielleicht könnte sie ja auch Gelegenheit bieten, andere<br />
Perspektiven ins Auge zu fassen. Nicht also, ihr durch einen<br />
Rekurs auf das vermeintlich Lernbare zu entgehen, sondern sie<br />
in einem Sinn zu forcieren, in dem sich anderes abzeichnen<br />
könnte. Ein Begriff des Inter-Disziplinären vielleicht, der sich<br />
nicht so sehr in den Disziplinen als vielmehr in ihrem "Dazwischen"<br />
situieren ließe, in dem nämlich die Grenzen etwa zwischen<br />
künstlerischer, ästhetischer, wissenschaftlicher oder philosophischer<br />
Erfahrung Brüche aufweisen. In einem Dazwischen<br />
also, in dem sich die Instabilitäten erst zutragen. Oder,<br />
wie Lyotard sagt, der künstlerische Kampf um die Möglichkeit<br />
neuer Sätze ausgetragen wird.<br />
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