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Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

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<strong>Geniebegriffe</strong><br />

Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft ................................................. 2<br />

Jean Paul: Vorschule der Ästhetik.................................................... 26<br />

Friedrich Hölderlin: Über die Verfahrungsweise<br />

des poetischen Geistes .................................................................... 36<br />

Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung ......... 54<br />

G.W.F. Hegel: Vorlesung über Ästhetik I.......................................... 57<br />

F.W.J Schelling: System des transzendentalen Idealismus ............. 74<br />

Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung ............... 84<br />

Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil<br />

der Historie für das Leben .............................................................. 103<br />

Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches ................. 108<br />

Friedrich Nietzsche: Aus dem Nachlaß der 80er Jahre.................. 122<br />

Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren....................... 124<br />

Georges Bataille: Die Souveränität in Kunst und Literatur ............. 132<br />

Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie ...................................... 144<br />

Michel Foucault: Was ist ein Autor? ............................................... 157<br />

<strong>Hans</strong>-<strong>Joachim</strong> <strong>Lenger</strong>: Cyberspace (Vortrag an der HFBK) .......... 178


Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft<br />

Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S.224-257<br />

/224/<br />

§ 40. Vom Geschmacke als einer Art von sensus communis<br />

Man gibt oft der Urteilskraft, wenn nicht sowohl ihre Reflexion als<br />

vielmehr bloß das Resultat derselben bemerklich ist, den Namen eines<br />

Sinnes, und redet von einem Wahr-<br />

/225/<br />

heitssinne, von einem Sinne für Anständigkeit, Gerechtigkeit u.s.w.;<br />

ob man zwar weiß, wenigstens billig wissen sollte, daß es nicht ein<br />

Sinn ist, in welchem diese Begriffe ihren Sitz haben können, noch<br />

weniger, daß dieser zu einem Ausspruche allgemeiner Regeln die<br />

mindeste Fähigkeit habe: sondern daß uns von Wahrheit, Schicklichkeit,<br />

Schönheit oder Gerechtigkeit nie eine Vorstellung dieser Art in<br />

Gedanken kommen könnte, wenn wir uns nicht über die Sinne zu<br />

höhern Erkenntnisvermögen erheben könnten. Der gemeine Menschenverstand,<br />

den man, als bloß gesunden (noch nicht kultivierten)<br />

Verstand, für das geringste ansieht, dessen man nur immer sich von<br />

dem, welcher auf den Namen eines Menschen Anspruch macht, gewärtigen<br />

kann, hat daher auch die kränkende Ehre, mit dem Namen<br />

des Gemeinsinnes (sensus communis) belegt zu werden; und zwar<br />

so, daß man unter dem Worte gemein (nicht bloß in unserer Sprache,<br />

die hierin wirklich eine Zweideutigkeit enthält, sondern auch in mancher<br />

andern) so viel als das vulgäre, was man allenthalben antrifft,<br />

versteht, welches zu besitzen schlechterdings kein Verdienst oder<br />

Vorzug ist.<br />

Unter dem sensus communis aber muß man die Idee eines gemeinschaftlichen<br />

Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermögens verstehen,<br />

welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in<br />

Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte<br />

Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch der Illusion zu<br />

entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für<br />

objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluß<br />

haben würde. Dieses geschieht nun dadurch, daß man sein Urteil an<br />

anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile<br />

hält, und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem man bloß von<br />

den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälliger<br />

2


Weise anhängen, abstrahiert: welches wiederum dadurch bewirkt<br />

wird, daß man das, was in dem Vorstellungszustande Materie, d.i.<br />

Empfindung ist, so viel möglich weg-<br />

/226/<br />

läßt, und lediglich auf die formalen Eigentümlichkeiten seiner Vorstellung,<br />

oder seines Vorstellungszustandes, Acht hat. Nun scheint diese<br />

Operation der Reflexion vielleicht allzu künstlich zu sein, um sie<br />

dem Vermögen, welches wir den gemeinen Sinn nennen, beizulegen;<br />

allein sie sieht auch nur so aus, wenn man sie in abstrakten Formeln<br />

ausdrückt; an sich ist nichts natürlicher, als von Reiz und Rührung zu<br />

abstrahieren, wenn man ein Urteil sucht, welches zur allgemeinen<br />

Regel dienen soll.<br />

Folgende Maximen des gemeinen Menschenverstandes gehören<br />

zwar nicht hieher, als Teile der Geschmackskritik, können aber doch<br />

zur Erläuterung ihrer Grundsätze dienen. Es sind folgende: 1. Selbstdenken;<br />

2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich<br />

selbst einstimmig denken. Die erste ist die Maxime der vorurteilfreien,<br />

die zweite der erweiterten, die dritte der konsequenten Denkungsart.<br />

Die erste ist die Maxime einer niemals passiven Vernunft. Der Hang<br />

zur letztern, mithin zur Heteronomie der Vernunft, heißt das Vorurteil;<br />

und das größte unter allen ist, sich die Naturregeln, welche der<br />

Verstand ihr durch ihr eigenes wesentliches Gesetz zum Grunde legt,<br />

als nicht unterworfen vorzustellen: d.i. der Aberglaube. Befreiung vom<br />

Aberglauben heißt Aufklärung 1 ; weil, obschon diese Benennung auch<br />

der Befreiung von Vorurteilen überhaupt zukommt, jener doch vorzugsweise<br />

(in sensu eminenti) ein Vorurteil genannt zu werden verdient,<br />

indem<br />

/227/<br />

die Blindheit, worin der Aberglaube versetzt, ja sie wohl gar als Obliegenheit<br />

fordert, das Bedürfnis, von andern geleitet zu werden, mithin<br />

den Zustand einer passiven Vernunft vorzüglich kenntlich macht.<br />

Was die zweite Maxime der Denkungsart betrifft, so sind wir sonst<br />

wohl gewohnt, denjenigen eingeschränkt (borniert, das Gegenteil von<br />

erweitert) zu nennen, dessen Talente zu keinem großen Gebrauche<br />

(vornehmlich dem intensiven) zulangen. Allein hier ist nicht die Rede<br />

1 Man sieht bald, daß Aufklärung zwar in thesi leicht, in hypothesi aber<br />

eine schwere und langsam auszuführende Sache sei; weil mit seiner<br />

Vernunft nicht passiv, sondern jederzeit sich selbst gesetzgebend zu sein<br />

zwar etwas ganz Leichtes für den Menschen ist, der nur seinem wesentlichen<br />

Zwecke angemessen sein will, und das, was über seinen Verstand<br />

ist, nicht zu wissen verlangt; aber, da die Bestrebung zum letzteren kaum<br />

zu verhüten ist, und es an andern, welche diese Wißbegierde befriedigen<br />

zu können mit vieler Zuversicht versprechen, nie fehlen wird: so muß das<br />

bloß Negative (welches die eigentliche Aufklärung ausmacht) in der Denkungsart<br />

(zumal der öffentlichen) zu erhalten, oder herzustellen, sehr<br />

schwer sein.<br />

3


vom Vermögen des Erkenntnisses, sondern von der Denkungsart,<br />

einen zweckmäßigen Gebrauch davon zu machen: welche, so klein<br />

auch der Umfang und der Grad sei, wohin die Naturgabe des Menschen<br />

reicht, dennoch einen Mann von erweiterter Denkungsart anzeigt,<br />

wenn er sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils,<br />

wo zwischen so viele andere wie eingeklammert sind, wegsetzen,<br />

und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur<br />

bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt)<br />

über sein eigenes Urteil reflektiert. Die dritte Maxime, nämlich die der<br />

konsequenten Denkungsart, ist am schwersten zu erreichen, und<br />

kann auch nur durch die Verbindung beider ersten, und nach einer<br />

zur Fertigkeit gewordenen öfteren Befolgung derselben, erreicht werden.<br />

Man kann sagen: die erste dieser Maximen ist die Maxime des<br />

Verstandes; die zweite der Urteilskraft, die dritte der Vernunft. –<br />

Ich nehme den durch diese Episode verlassenen Faden wieder auf,<br />

und sage: daß der Geschmack mit mehrerem Rechte sensus communis<br />

genannt werden könne, als der gesunde Verstand; und daß<br />

die ästhetische Urteilskraft eher als die intellektuelle den Namen eines<br />

gemeinschaftlichen Sinnes 2 führen könne, wenn man ja das Wort<br />

Sinn von einer Wirkung der bloßen Reflexion auf das Gemüt brauchen<br />

will: denn da versteht man unter Sinn das Gefühl der Lust.<br />

/228/<br />

Man könnte sogar den Geschmack durch das Beurteilungsvermögen<br />

desjenigen, was unser Gefühl an einer gegebenen Vorstellung ohne<br />

Vermittelung eines Begriffs allgemein mitteilbar macht, definieren.<br />

Die Geschicklichkeit der Menschen, sich ihre Gedanken mitzuteilen,<br />

erfordert auch ein Verhältnis der Einbildungskraft und des Verstandes,<br />

um den Begriffen Anschauungen und diesen wiederum Begriffe<br />

zuzugesellen, die in ein Erkenntnis zusammenfließen; aber alsdann<br />

ist die Zusammenstimmung beider Gemütskräfte gesetzlich, unter<br />

dem Zwange bestimmter Begriffe. Nur da, wo Einbildungskraft in ihrer<br />

Freiheit den Verstand erweckt, und dieser ohne Begriffe die Einbildungskraft<br />

in ein regelmäßiges Spiel versetzt: da teilt sich die Vorstellung,<br />

nicht als Gedanke, sondern als inneres Gefühl eines zweckmäßigen<br />

Zustandes des Gemüts, mit.<br />

Der Geschmack ist also das Vermögen, die Mitteilbarkeit der Gefühle,<br />

welche mit gegebener Vorstellung (ohne Vermittelung eines Begriffs)<br />

verbunden sind, a priori zu beurteilen. Wenn man annehmen<br />

dürfte, daß die bloße allgemeine Mitteilbarkeit seines Gefühls an sich<br />

schon ein Interesse für uns bei sich führen müsse (welches man aber<br />

aus der Beschaffenheit einer bloß reflektierenden Urteilskraft zu<br />

schließen nicht berechtigt ist): so würde man sich erklären können,<br />

woher das Gefühl im Geschmacksurteile gleichsam als Pflicht jedermann<br />

zugemutet werde.<br />

2 Man könnte den Geschmack durch sensus communis aestheticus, den<br />

gemeinen Menschenverstand durch sensus communis logicus, bezeichnen.<br />

4


§ 41. Vom empirischen Interesse am Schönen<br />

Daß das Geschmacksurteil, wodurch etwas für schön erklärt wird,<br />

kein Interesse zum Bestimmungsgrunde haben müsse, ist oben hinreichend<br />

dargetan worden. Aber daraus folgt nicht, daß, nachdem es,<br />

als reines ästhetisches Urteil, gegeben worden, kein Interesse damit<br />

verbunden werden könne. Diese Verbindung wird aber immer nur in-<br />

/229/<br />

direkt sein können, d.i. der Geschmack muß allererst mit etwas anderem<br />

verbunden vorgestellt werden, um mit dem Wohlgefallen der<br />

bloßen Reflexion über einen Gegenstand noch eine Lust an der Existenz<br />

desselben (als worin alles Interesse besteht) verknüpfen zu<br />

können. Denn es gilt hier im ästhetischen Urteile, was im Erkenntnisurteile<br />

(von Dingen überhaupt) gesagt wird: a posse ad esse non<br />

valet consequentia. Dieses andere kann nun etwas Empirisches sein,<br />

nämlich eine Neigung, die der menschlichen Natur eigen ist; oder<br />

etwas Intellektuelles, als Eigenschaft des Willens, a priori durch Vernunft<br />

bestimmt werden zu können: welche beide ein Wohlgefallen am<br />

Dasein eines Objekts enthalten, und so den Grund zu einem Interesse<br />

an demjenigen legen können, was schon für sich und ohne Rücksicht<br />

auf irgend ein Interesse gefallen hat.<br />

Empirisch interessiert das Schöne nur in der Gesellschaft; und, wenn<br />

man den Trieb zur Gesellschaft als dem Menschen natürlich, die<br />

Tauglichkeit aber und den Hang dazu, d.i. die Geselligkeit, zur Erfordernis<br />

des Menschen, als für die Gesellschaft bestimmten Geschöpfs,<br />

also als zur Humanität gehörige Eigenschaft einräumt: so<br />

kann es nicht fehlen, daß man nicht auch den Geschmack als ein<br />

Beurteilungsvermögen alles dessen, wodurch man sogar sein Gefühl<br />

jedem andern mitteilen kann, mithin als Beförderungsmittel dessen,<br />

was eines jeden natürliche Neigung verlangt, ansehen sollte.<br />

Für sich allein würde ein verlassener Mensch auf einer wüsten Insel<br />

weder seine Hütte, noch sich selbst ausputzen, oder Blumen aufsuchen,<br />

noch weniger sie pflanzen, um sich damit auszuschmücken;<br />

sondern nur in Gesellschaft kommt es ihm ein, nicht bloß Mensch,<br />

sondern auch nach seiner Art ein feiner Mensch zu sein (der Anfang<br />

der Zivilisierung): denn als einen solchen beurteilt man denjenigen,<br />

welcher seine Lust andern mitzuteilen geneigt und geschickt ist, und<br />

den ein Objekt nicht befriedigt, wenn er das Wohlgefallen an demselben<br />

nicht in Gemeinschaft mit andern fühlen kann. Auch erwartet und<br />

fordert ein jeder die Rücksicht auf<br />

/230/<br />

allgemeine Mitteilung von jedermann, gleichsam als aus einem ursprünglichen<br />

Vertrage, der durch die Menschheit selbst diktiert ist;<br />

und so werden freilich anfangs nur Reize, z.B. Farben, um sich zu<br />

bemalen (Rocou bei den Karaiben und Zinnober bei den Irokesen),<br />

oder Blumen, Muschelschalen, schönfarbige Vogelfedern, mit der<br />

5


Zeit aber auch schöne Formen (als an Kanots, Kleidern, u.s.w.), die<br />

gar kein Vergnügen, d.i. Wohlgefallen des Genusses bei sich führen,<br />

in der Gesellschaft wichtig und mit großem Interesse verbunden: bis<br />

endlich die auf den höchsten Punkt gekommene Zivilisierung daraus<br />

beinahe das Hauptwerk der verfeinerten Neigung macht, und Empfindungen<br />

nur so viel wert gehalten werden, als sie sich allgemein<br />

mitteilen lassen; wo denn, wenn gleich die Lust, die jeder an einem<br />

solchen Gegenstande hat, nur unbeträchtlich und für sich ohne merkliches<br />

Interesse ist, doch die Idee von ihrer allgemeinen Mitteilbarkeit<br />

ihren Wert beinahe unendlich vergrößert.<br />

Dieses indirekt dem Schönen, durch Neigung zur Gesellschaft, angehängte,<br />

mithin empirische Interesse ist aber für uns hier von keiner<br />

Wichtigkeit, die wir nur darauf zu sehen haben, was auf das Geschmacksurteil<br />

a priori, wenn gleich nur indirekt, Beziehung haben<br />

mag. Denn, wenn auch in dieser Form sich ein damit verbundenes<br />

Interesse entdecken sollte, so würde Geschmack einen Übergang<br />

unseres Beurteilungsvermögens von dem Sinnengenuß zum Sittengefühl<br />

entdecken; und nicht allein, daß man dadurch den Geschmack<br />

zweckmäßig zu beschäftigen besser geleitet werden würde, es würde<br />

auch ein Mittelglied der Kette der menschlichen Vermögen a priori,<br />

von denen alle Gesetzgebung abhängen muß, als ein solches dargestellt<br />

werden. So viel kann man von dem empirischen Interesse an<br />

Gegenständen des Geschmacks und am Geschmack selbst wohl<br />

sagen, daß es, da dieser der Neigung frönt, obgleich sie noch so verfeinert<br />

sein mag, sich doch auch mit allen Neigungen und Leidenschaften,<br />

die in der Gesellschaft ihre größte Mannigfaltigkeit und<br />

höchste Stufe erreichen, gern zusammenschmelzen läßt, und das<br />

Interesse am Schönen, wenn es darauf ge-<br />

/231/<br />

gründet ist, einen nur sehr zweideutigen Übergang vom Angenehmen<br />

zum Guten abgeben könne. Ob aber dieser nicht etwa doch durch<br />

den Geschmack, wenn er in seiner Reinigkeit genommen wird, befördert<br />

werden könne, haben wir zu untersuchen Ursache.<br />

§ 42. Vom intellektuellen Interesse am Schönen<br />

Es geschah in gutmütiger Absicht, daß diejenigen, welche alle Beschäftigungen<br />

der Menschen, wozu diese die innere Naturanlage<br />

antreibt, gerne auf den letzten Zweck der Menschheit, nämlich das<br />

Moralisch-Gute richten wollten, es für ein Zeichen eines guten moralischen<br />

Charakters hielten, am Schönen überhaupt ein Interesse zu<br />

nehmen. Ihnen ist aber nicht ohne Grund von andern widersprochen<br />

worden, die sich auf die Erfahrung berufen, daß Virtuosen des Geschmacks,<br />

nicht allein öfter, sondern wohl gar gewöhnlich, eitel, eigensinnig,<br />

und verderblichen Leidenschaften ergeben, vielleicht noch<br />

weniger wie andere auf den Vorzug der Anhänglichkeit an sittliche<br />

Grundsätze Anspruch machen könnten; und so scheint es, daß das<br />

Gefühl für das Schöne nicht allein (wie es auch wirklich ist) vom moralischen<br />

Gefühl spezifisch unterschieden, sondern auch das Interes-<br />

6


se, welches man damit verbinden kann, mit dem moralischen schwer,<br />

keinesweges aber durch innere Affinität, vereinbar sei.<br />

Ich räume nun zwar gerne ein, daß das Interesse am Schönen der<br />

Kunst (wozu ich auch den künstlichen Gebrauch der Naturschönheiten<br />

zum Putze, mithin zur Eitelkeit, rechne) gar keinen Beweis einer<br />

dem Moralischguten anhänglichen, oder auch nur dazu geneigten<br />

Denkungsart abgebe. Dagegen aber behaupte ich, daß ein unmittelbares<br />

Interesse an der Schönheit der Natur zu nehmen (nicht bloß<br />

Geschmack haben, um sie zu beurteilen) jederzeit ein Kennzeichen<br />

einer guten Seele sei; und daß, wenn dieses Interesse habituell ist,<br />

es wenigstens eine dem moralischen Gefühl günstige Gemütsstimmung<br />

anzeige, wenn es<br />

/232/<br />

sich mit der Beschauung der Natur gerne verbindet. Man muß sich<br />

aber wohl erinnern, daß ich hier eigentlich die schönen Formen der<br />

Natur meine, die Reize dagegen, welche sie so reichlich auch mit<br />

jenen zu verbinden pflegt, noch zur Seite setze, weil das Interesse<br />

daran zwar auch unmittelbar, aber doch empirisch ist.<br />

Der, welcher einsam (und ohne Absicht, seine Bemerkungen andern<br />

mitteilen zu wollen) die schöne Gestalt einer wilden Blume, eines<br />

Vogels, eines Insekts u.s.w. betrachtet, um sie zu bewundern, zu<br />

lieben, und sie nicht gerne in der Natur überhaupt vermissen zu wollen,<br />

ob ihm gleich dadurch einiger Schaden geschähe, viel weniger<br />

ein Nutzen daraus für ihn hervorleuchtete, nimmt ein unmittelbares<br />

und zwar intellektuelles Interesse an der Schönheit der Natur. D. i.<br />

nicht allein ihr Produkt der Form nach, sondern auch das Dasein<br />

desselben gefällt ihm, ohne daß ein Sinnenreiz daran Anteil hätte,<br />

oder er auch ir gend einen Zweck damit verbände.<br />

Es ist aber hiebei merkwürdig, daß, wenn man diesen Liebhaber des<br />

Schönen insgeheim hintergangen, und künstliche Blumen (die man<br />

den natürlichen ganz ähnlich verfertigen kann) in die Erde gesteckt,<br />

oder künstlich geschnitzte Vögel auf Zweige von Bäumen gesetzt<br />

hätte, und er darauf den Betrug entdeckte, das unmittelbare Interesse,<br />

was er vorher daran nahm, alsbald verschwinden, vielleicht aber<br />

ein anderes, nämlich das Interesse der Eitelkeit, sein Zimmer für<br />

fremde Augen damit auszuschmücken, an dessen Stelle sich einfinden<br />

würde. Daß die Natur jene Schönheit hervorgebracht hat: dieser<br />

Gedanke muß die Anschauung und Reflexion begleiten; und auf diesem<br />

gründet sich allein das unmittelbare Interesse, was man daran<br />

nimmt. Sonst bleibt entweder ein bloßes Geschmacksurteil ohne alles<br />

Interesse, oder nur ein mit einem mittelbaren, nämlich auf die Gesellschaft<br />

bezogenen verbundenes übrig: welches letztere keine sichere<br />

Anzeige auf moralisch gute Denkungsart abgibt.<br />

/233/<br />

Dieser Vorzug der Naturschönheit vor der Kunstschönheit, wenn jene<br />

gleich durch diese der Form nach sogar übertroffen würde, dennoch<br />

7


allein ein unmittelbares Interesse zu erwecken, stimmt mit der geläuterten<br />

und gründlichen Denkungsart aller Menschen überein, die ihr<br />

sittliches Gefühl kultiviert haben. Wenn ein Mann, der Geschmack<br />

genug hat, um über Produkte der schönen Kunst mit der größten<br />

Richtigkeit und Feinheit zu urteilen, das Zimmer gern verläßt, in welchem<br />

jene, die Eitelkeit und allenfalls gesellschaftlichen Freuden unterhaltenden,<br />

Schönheiten anzutreffen sind, und sich zum Schönen<br />

der Natur wendet, um hier gleichsam Wollust für seinen Geist in einem<br />

Gedankengange zu finden, den er sich nie völlig entwickeln<br />

kann: so werden wir diese seine Wahl selber mit Hochachtung betrachten,<br />

und in ihm eine schöne Seele voraussetzen, auf die kein<br />

Kunstkenner und Liebhaber, um des Interesse willen, das er an seinen<br />

Gegenständen nimmt, Anspruch machen kann. – Was ist nun<br />

der Unterschied der so verschiedenen Schätzung zweierlei Objekte,<br />

die im Urteile des bloßen Geschmacks einander kaum den Vorzug<br />

streitig machen würden?<br />

Wir haben ein Vermögen der bloß ästhetischen Urteilskraft, ohne<br />

Begriffe über Formen zu urteilen, und an der bloßen Beurteilung derselben<br />

ein Wohlgefallen zu finden, welches wir zugleich jedermann<br />

zur Regel machen, ohne daß dieses Urteil sich auf einem Interesse<br />

gründet, noch ein solches hervorbringt. – Andererseits haben wir<br />

auch ein Vermögen einer intellektuellen Urteilskraft, für bloße Formen<br />

praktischer Maximen (sofern sie sich zur allgemeinen Gesetzgebung<br />

von selbst qualifizieren) ein Wohlgefallen a priori zu bestimmen, welches<br />

wir jedermann zum Gesetze machen, ohne daß unser Urteil<br />

sich auf irgend einem Interesse gründet, aber doch ein solches hervorbringt.<br />

Die Lust oder Unlust im ersteren Urteile heißt die des Geschmacks,<br />

die zweite des moralischen Gefühls.<br />

Da es aber die Vernunft auch interessiert, daß die Ideen (für die sie<br />

im moralischen Gefühle ein unmittelbares Interesse bewirkt) auch<br />

objektive Realität haben, d.i. daß die<br />

/234/<br />

Natur wenigstens eine Spur zeige, oder einen Wink gebe, sie enthalte<br />

in sich irgend einen Grund, eine gesetzmäßige Übereinstimmung<br />

ihrer Produkte zu unserm von allem Interesse unabhängigen Wohlgefallen<br />

(welches wir a priori für jedermann als Gesetz erkennen, ohne<br />

dieses auf Beweisen gründen zu können) anzunehmen: so muß die<br />

Vernunft an jeder Äußerung der Natur von einer dieser ähnlichen<br />

Übereinstimmung ein Interesse nehmen; folglich kann das Gemüt<br />

über die Schönheit der Natur nicht nachdenken, ohne sich dabei zugleich<br />

interessiert zu finden. Dieses Interesse aber ist der Verwandtschaft<br />

nach moralisch; und der, welcher es am Schönen der Natur<br />

nimmt, kann es nur sofern an demselben nehmen, als er vorher<br />

schon sein Interesse am Sittlichguten wohlgegründet hat. Wen also<br />

die Schönheit der Natur unmittelbar interessiert, bei dem hat man<br />

Ursache, wenigstens eine Anlage zu guter moralischer Gesinnung zu<br />

vermuten.<br />

Man wird sagen: diese Deutung ästhetischer Urteile auf Verwandtschaft<br />

mit dem moralischen Gefühl sehe gar zu studiert aus, um sie<br />

8


für die wahre Auslegung der Chiffreschrift zu halten, wodurch die Natur<br />

in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht. Allein erstlich ist<br />

dieses unmittelbare Interesse am Schönen der Natur wirklich nicht<br />

gemein, sondern nur denen eigen, deren Denkungsart entweder zum<br />

Guten schon ausgebildet, oder dieser Ausbildung vorzüglich empfänglich<br />

ist, und dann führt die Analogie zwischen dem reinen Geschmacksurteile,<br />

welches, ohne von irgend einem Interesse abzuhängen,<br />

ein Wohlgefallen fühlen läßt, und es zugleich a priori als der<br />

Menschheit überhaupt anständig vorstellt, mit dem moralischen Urteile,<br />

welches eben dasselbe aus Begriffen tut, auch ohne deutliches,<br />

subtiles und vorsätzliches Nachdenken, auf ein gleichmäßiges unmittelbares<br />

Interesse an dem Gegenstande des ersteren, so wie an dem<br />

des letzteren: nur daß jenes ein freies, dieses ein auf objektive Gesetze<br />

gegründetes Interesse ist. Dazu kommt noch die Bewunderung<br />

der Natur, die sich an ihren<br />

/235/<br />

schönen Produkten als Kunst, nicht bloß durch Zufall, sondern<br />

gleichsam absichtlich, nach gesetzmäßiger Anordnung und als<br />

Zweckmäßigkeit ohne Zweck, zeigt: welchen letzteren, da wir ihn<br />

äußerlich nirgend antreffen, wir natürlicher Weise in uns selbst, und<br />

zwar in demjenigen, was den letzten Zweck unseres Daseins ausmacht,<br />

nämlich der moralischen Be stimmung, suchen (von welcher<br />

Nachfrage nach dem Grunde der Möglichkeit einer solchen Naturzweckmäßigkeit<br />

aber allererst in der Teleologie die Rede sein wird).<br />

Daß das Wohlgefallen an der schönen Kunst im reinen Geschmacksurteile<br />

nicht eben so mit einem unmittelbaren Interesse verbunden ist,<br />

als das an der schönen Natur, ist auch leicht zu erklären. Denn jene<br />

ist entweder eine solche Nachahmung von dieser, die bis zur Täuschung<br />

geht: und alsdann tut sie die Wirkung als (dafür gehaltene)<br />

Naturschönheit; oder sie ist eine absichtlich auf unser Wohlgefallen<br />

sichtbarlich gerichtete Kunst: alsdann aber würde das Wohlgefallen<br />

an diesem Produkte zwar unmittelbar durch Geschmack Statt finden,<br />

aber kein anderes als mittelbares Interesse an der zum Grunde liegenden<br />

Ursache, nämlich einer Kunst, welche nur durch ihren Zweck,<br />

niemals an sich selbst, interessieren kann. Man wird vielleicht sagen,<br />

daß dieses auch der Fall sei, wenn ein Objekt der Natur durch seine<br />

Schönheit nur in sofern interessiert, als ihr eine moralische Idee beigesellet<br />

wird; aber nicht dieses, sondern die Beschaffenheit derselben<br />

an sich selbst, daß sie sich zu einer solchen Beigesellung qualifiziert,<br />

die ihr also innerlich zukommt, interessiert unmittelbar.<br />

Die Reize in der schönen Natur, welche so häufig mit der schönen<br />

Form gleichsam zusammenschmel zend angetroffen werden, sind<br />

entweder zu den Modifikationen des Lichts (in der Farbengebung)<br />

oder des Schalles (in Tönen) gehörig. Denn diese sind die einzigen<br />

Empfindungen, welche nicht bloß Sinnengefühl, sondern auch Reflexion<br />

über die Form dieser Modifikationen der Sinne verstatten, und so<br />

gleichsam eine Sprache, die die Natur zu uns führt, und die einen<br />

höhern Sinn zu haben scheint, in sich enthalten. So<br />

9


236/<br />

scheint die weiße Farbe der Lilie das Gemüt zu Ideen der Unschuld,<br />

und nach der Ordnung der sieben Färben, von der roten an bis zur<br />

violetten, 1) zur Idee der Erhabenheit, 2) der Kühnheit, 3) der Freimütigkeit,<br />

4) der Freundlichkeit, 5) der Bescheidenheit, 6) der Standhaftigkeit,<br />

und 7) der Zärtlichkeit zu stimmen. Der Gesang der Vögel<br />

verkündigt Fröhlichkeit und Zufriedenheit mit seiner Existenz. Wenigstens<br />

so deuten wir die Natur aus, es mag dergleichen ihre Absicht<br />

sein oder nicht. Aber dieses Interesse, welches wir hier an Schönheit<br />

nehmen, bedarf durchaus, daß es Schönheit der Natur sei; und es<br />

verschwindet ganz, sobald man bemerkt, man sei getäuscht, und es<br />

sei nur Kunst: sogar, daß auch der Geschmack alsdann nichts Schönes,<br />

oder das Gesicht etwas Reizendes mehr daran finden kann.<br />

Was wird von Dichtern höher gepriesen, als der bezaubernd schöne<br />

Schlag der Nachtigall, in einsamen Gebüschen, an einem stillen<br />

Sommerabende, bei dem sanften Lichte des Mon des? Indessen hat<br />

man Beispiele, daß, wo kein solcher Sänger angetroffen wird, irgend<br />

ein lustiger Wirt seine zum Genuß der Landluft bei ihm eingekehrten<br />

Gäste dadurch zu ihrer größten Zufriedenheit hintergangen hatte,<br />

daß er einen mutwilligen Burschen, welcher diesen Schlag (mit Schilf<br />

oder Rohr im Munde) ganz der Natur ähnlich nachzumachen wußte,<br />

in einem Gebüsche verbarg. Sobald man aber inne wird, daß es Betrug<br />

sei, so wird niemand es lange aushalten, diesem vorher für so<br />

reizend gehaltenen Gesänge zuzuhören; und so ist es mit jedem anderen<br />

Singvogel beschaffen. Es muß Natur sein, oder von uns dafür<br />

gehalten werden, damit wir an dem Schönen als einem solchen ein<br />

unmittelbares Interesse nehmen können; noch mehr aber, wenn wir<br />

gar andern zumuten dürfen, daß sie es daran nehmen sollen, welches<br />

in der Tat geschieht, indem wir die Denkungsart derer für grob<br />

und unedel halten, die kein Gefühl für die schöne Natur haben (denn<br />

so nennen wir die Empfänglichkeit eines Interesse an ihrer Betrachtung),<br />

und sich bei der Mahlzeit oder der Bouteille am Genüsse bloßer<br />

Sinnesempfindungen halten.<br />

/237/<br />

§ 43. Von der Kunst überhaupt<br />

1) Kunst wird von der Natur, wie Tun (facere) vom Handeln oder Wirken<br />

überhaupt (agere), und das Produkt, oder die Folge der erstern<br />

als Werk (opus) von der letztern als Wirkung (effectus) unterschieden.<br />

Von Rechtswegen sollte man nur die Hervorbringung durch Freiheit,<br />

d.i. durch eine Willkür, die ihren Handlungen Vernunft zum Grunde<br />

legt, Kunst nennen. Denn, ob man gleich das Produkt der Bienen (die<br />

regelmäßig gebaueten Wachsscheiben) ein Kunstwerk zu nennen<br />

beliebt, so geschieht dieses doch nur wegen der Analogie mit der<br />

letzteren; sobald man sich nämlich besinnt, daß sie ihre Arbeit auf<br />

keine eigene Vernunftüberlegung gründen, so sagt man alsbald, es<br />

ist ein Produkt ihrer Natur (des Instinkts), und als Kunst wird es nur<br />

ihrem Schöpfer zugeschrieben.<br />

10


Wenn man bei Durchsuchung eines Moorbruches, wie es bisweilen<br />

geschehen ist, ein Stück behauenes Holz antrifft, so sagt man nicht,<br />

es ist ein Produkt der Natur, sondern der Kunst; die hervorbringende<br />

Ursache derselben hat sich einen Zweck gedacht, dem dieses seine<br />

Form zu danken hat. Sonst sieht man wohl auch an allem eine Kunst,<br />

was so beschaffen ist, daß eine Vorstellung desselben in ihrer Ursache<br />

vor ihrer Wirklichkeit vorhergegangen sein muß, (wie selbst bei<br />

Bienen), ohne daß doch die Wirkung von ihr eben gedacht sein dürfe:<br />

wenn man aber etwas schlechthin ein Kunstwerk nennt, um es von<br />

einer Naturwirkung zu unterscheiden, so versteht man allemal darunter<br />

ein Werk der Menschen.<br />

2) Kunst als Geschicklichkeit des Menschen wird auch von der Wissenschaft<br />

unterschieden (Können vom Wissen), als praktisches vom<br />

theoretischen Vermögen, als Technik von der Theorie (wie die Feldmeßkunst<br />

von der Geometrie). Und da wird auch das, was man kann,<br />

sobald man nur weiß, was getan werden soll, und also nur die begehrte<br />

Wirkung genugsam kennt, nicht eben Kunst genannt. Nur das,<br />

was man, wenn man es auch auf das voll-<br />

/238/<br />

ständigste kennt, dennoch darum zu machen noch nicht sofort die<br />

Geschicklichkeit hat, gehört in so weit zur Kunst. Camper beschreibt<br />

sehr genau, wie der beste Schuh beschaffen sein müßte, aber er<br />

konnte gewiß keinen machen. 3<br />

3) Wird auch Kunst vom Handwerke unterschieden; die erste heißt<br />

freie, die andere kann auch Lohnkunst heißen. Man sieht die erste so<br />

an, als ob sie nur als Spiel, d.i. Beschäftigung, die für sich selbst angenehm<br />

ist, zweckmäßig ausfallen (gelingen) könne; die zweite so,<br />

daß sie als Arbeit, d.i. Beschäftigung, die für sich selbst unangenehm<br />

(beschwerlich), und nur durch ihre Wirkung (z.B. den Lohn) anlockend<br />

ist, mithin zwangsmäßig auferlegt werden kann. Ob in der<br />

Rangliste der Zünfte Uhrmacher für Künstler, dagegen Schmiede für<br />

Handwerker gelten sollen: das bedarf eines andern Gesichtspunkts<br />

der Beurteilung, als derjenige ist, den wir hier nehmen; nämlich die<br />

Proportion der Talente, die dem einen oder anderen dieser Geschäfte<br />

zum Grunde liegen müssen. Ob auch unter den sogenannten sieben<br />

freien Künsten nicht einige, die den Wissenschaften beizuzählen,<br />

manche auch, die mit Handwerken zu vergleichen sind, aufgeführt<br />

worden sein möchten: davon will ich hier nicht reden. Daß aber in<br />

allen freien Künsten dennoch etwas Zwangsmäßiges, oder, wie man<br />

es nennt, ein Mechanismus erforderlich sei, ohne welchen der Geist,<br />

der in der Kunst frei sein muß und allein das Werk belebt, gar keinen<br />

3 In meinen Gegenden sagt der gemeine Mann, wenn man ihm etwa eine<br />

solche Aufgabe vorlegt, wie Kolumbus mit seinem Ei: das ist keine Kunst,<br />

es ist nur eine Wissenschaft. D. i. wenn man es weiß, so kann man es;<br />

und eben dieses sagt er von allen vorgeblichen Künsten des Taschenspielers.<br />

Die des Seiltänzers dagegen wird er gar nicht in Abrede sein<br />

Kunst zu nennen.<br />

11


Körper haben und gänzlich verdunsten würde: ist nicht unratsam zu<br />

erinnern (z.B. in der Dichtkunst, die Sprachrichtigkeit und der Sprachreichtum,<br />

imgleichen die Prosodie und das Silbenmaß), da manche<br />

neuere Erzieher eine freie Kunst am besten zu befördern glauben,<br />

wenn sie allen Zwang von ihr wegnehmen, und sie aus Arbeit in bloßes<br />

Spiel verwandeln.<br />

/239/<br />

§ 44. Von der schönen Kunst<br />

Es gibt weder eine Wissenschaft des Schönen, sondern nur Kritik,<br />

noch schöne Wissenschaft, sondern nur schöne Kunst. Denn was die<br />

erstere betrifft, so würde in ihr wissenschaftlich, d.i. durch Beweisgründe<br />

ausgemacht werden sollen, ob etwas für schön zu halten sei<br />

oder nicht; das Urteil über Schönheit würde also, wenn es zur Wissenschaft<br />

gehörte, kein Geschmacksurteil sein. Was das zweite anlangt,<br />

so ist eine Wissenschaft, die, als solche, schön sein soll, ein<br />

Unding. Denn, wenn man in ihr als Wissenschaft nach Gründen und<br />

Beweisen fragte, so würde man durch geschmackvolle Aussprüche<br />

(Bonmots) abgefertigt. – Was den gewöhnlichen Ausdruck, schöne<br />

Wissenschaften, veranlaßt hat, ist ohne Zweifel nichts anders, als<br />

daß man ganz richtig bemerkt hat, es werde zur schönen Kunst in<br />

ihrer ganzen Vollkommenheit viel Wissenschaft, als z.B. Kenntnis<br />

alter Sprachen, Belesenheit der Autoren die für Klassiker gelten, Geschichte,<br />

Kenntnis der Altertümer u.s.w. erfordert, und deshalb diese<br />

historischen Wissenschaften, weil sie zur schönen Kunst die notwendige<br />

Vorbereitung und Grundlage ausmachen, zum Teil auch, weil<br />

darunter selbst die Kenntnis der Produkte der schönen Kunst (Beredsamkeit<br />

und Dichtkunst) begrif fen worden, durch eine Wortverwechselung,<br />

selbst schöne Wissenschaften genannt hat.<br />

Wenn die Kunst, dem Erkenntnisse eines möglichen Gegenstandes<br />

angemessen, bloß ihn wirklich zu machen die dazu erforderlichen<br />

Handlungen verrichtet, so ist sie mechanische, hat sie aber das Gefühl<br />

der Lust zur unmittelbaren Absicht, so heißt sie ästhetische<br />

Kunst. Diese ist entweder angenehme oder schöne Kunst. Das erste<br />

ist sie, wenn der Zweck derselben ist, daß die Lust die Vorstellungen<br />

als bloße Empfindungen, das zweite, daß sie dieselben als Erkenntnisarten<br />

begleite.<br />

Angenehme Künste sind die, welche bloß zum Genüsse abgezweckt<br />

werden; dergleichen alle die Reize sind, welche die Gesellschaft an<br />

einer Tafel vergnügen können: als unterhaltend<br />

/240/<br />

zu erzählen, die Gesellschaft in freimütige und lebhafte Gesprächigkeit<br />

zu versetzen, durch Scherz und Lachen sie zu einem gewissen<br />

Tone der Lustigkeit zu stimmen, wo, wie man sagt, manches ins Gelag<br />

hinein geschwatzt werden kann, und niemand über das, was er<br />

spricht, verantwortlich sein will, weil es nur auf die augenblickliche<br />

Unterhaltung, nicht auf einen bleibenden Stoff zum Nachdenken oder<br />

12


Nachsagen, angelegt ist. (Hiezu gehört denn auch die Art, wie der<br />

Tisch zum Genüsse ausgerüstet ist, oder wohl gar bei großen Gelagen<br />

die Tafelmusik: ein wunderliches Ding, welches nur als ein angenehmes<br />

Geräusch die Stimmung der Gemüter zur Fröhlichkeit unterhalten<br />

soll, und, ohne daß jemand auf die Komposition derselben<br />

die mindeste Aufmerksamkeit verwendet, die freie Gesprächigkeit<br />

eines Nachbars mit dem andern begünstigt.) Dazu gehören ferner<br />

alle Spiele, die weiter kein Interesse bei sich führen, als die Zeit unvermerkt<br />

verlaufen zu machen.<br />

Schöne Kunst dagegen ist eine Vorstellungsart, die für sich selbst<br />

zweckmäßig ist, und, obgleich ohne Zweck, dennoch die Kultur der<br />

Gemütskräfte zur geselligen Mitteilung befördert.<br />

Die allgemeine Mitteilbarkeit einer Lust führt es schon in ihrem Begriffe<br />

mit sich, daß diese nicht eine Lust des Genusses, aus bloßer Empfindung,<br />

sondern der Reflexion sein müsse; und so ist ästhetische<br />

Kunst, als schöne Kunst, eine solche, die die reflektierende Urteilskraft<br />

und nicht die Sinnenempfindung zum Richtmaße hat.<br />

§ 45. Schöne Kunst ist eine Kunst, sofern sie zugleich Natur zu<br />

sein scheint<br />

An einem Produkte der schönen Kunst muß man sich bewußt werden,<br />

daß es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit<br />

in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln<br />

so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei. Auf<br />

diesem Gefühle der Freiheit im Spiele unserer Erkenntnisvermögen,<br />

welches doch zugleich zweckmäßig sein muß, beruht diejenige Lust,<br />

/241/<br />

welche allein allgemein mitteilbar ist, ohne sich doch auf Begriffe zu<br />

gründen. Die Natur war schön, wenn sie zugleich als Kunst aussah;<br />

und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt<br />

sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht.<br />

Denn wir können allgemein sagen, es mag die Natur oder die Kunstschönheit<br />

betreffen: schön ist das, was in der bloßen Beurteilung<br />

(nicht in der Sinnenempfindung, noch durch einen Begriff) gefällt.<br />

Nun hat Kunst jederzeit eine bestimmte Absicht, etwas hervorzubringen.<br />

Wenn dieses aber bloße Empfindung (etwas bloß Subjektives)<br />

wäre, die mit Lust begleitet sein sollte, so würde dies Produkt, in der<br />

Beurteilung, nur vermittelst des Sinnengefühls gefallen. Wäre die<br />

Absicht auf die Hervorbringung eines bestimmten Objekts gerichtet,<br />

so würde, wenn sie durch die Kunst erreicht wird, das Objekt nur<br />

durch Begriffe gefallen. In beiden Fällen aber würde die Kunst nicht in<br />

der bloßen Beurteilung, d.i. nicht als schöne, sondern mechanische<br />

Kunst gefallen.<br />

Also muß die Zweckmäßigkeit im Produkte der schönen Kunst, ob sie<br />

zwar absichtlich ist, doch nicht absichtlich scheinen; d.i. schöne<br />

Kunst muß als Natur anzusehen sein, ob man sich ihrer zwar als<br />

Kunst bewußt ist. Als Natur aber erscheint ein Produkt der Kunst da-<br />

13


durch, daß zwar alle Pünktlichkeit in der Übereinkunft mit Regeln,<br />

nach denen allein das Produkt das werden kann, was es sein soll,<br />

angetroffen wird; aber ohne Peinlichkeit, ohne daß die Schulform<br />

durchblickt, d.i. ohne eine Spur zu zeigen, daß die Regel dem Künstler<br />

vor Augen geschwebt, und seinen Gemütskräften Fesseln angelegt<br />

habe.<br />

§ 46. Schöne Kunst ist Kunst des Genies<br />

Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt.<br />

Da das Talent, als angebornes produktives Vermögen des Künstlers,<br />

selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken:<br />

Genie ist die angeborne<br />

/242/<br />

Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel<br />

gibt.<br />

Was es auch mit dieser Definition für eine Bewandtnis habe, und ob<br />

sie bloß willkürlich, oder dem Begriffe, welchen man mit dem Worte<br />

Genie zu verbinden gewohnt ist, angemessen sei, oder nicht (welches<br />

in dem folgenden § erörtert werden soll): so kann man doch<br />

schon zum voraus beweisen, daß, nach der hier angenommenen<br />

Bedeutung des Worts, schöne Künste notwendig als Künste des Genies<br />

betrachtet werden müssen.<br />

Denn eine jede Kunst setzt Regeln voraus, durch deren Grundlegung<br />

allererst ein Produkt, wenn es künstlich heißen soll, als möglich vorgestellt<br />

wird. Der Begriff der schönen Kunst aber verstattet nicht, daß<br />

das Urteil über die Schönheit ihres Produkts von irgend einer Regel<br />

abgeleitet werde, die einen Begriff zum Bestimmungsgrunde habe,<br />

mithin einen Begriff von der Art, wie es möglich sei, zum Grunde lege.<br />

Also kann die schöne Kunst sich selbst nicht die Regel ausdenken,<br />

nach der sie ihr Produkt zu Stande bringen soll. Da nun gleichwohl<br />

ohne vorhergehende Regel ein Produkt niemals Kunst heißen<br />

kann, so muß die Natur im Subjekte (und durch die Stimmung der<br />

Vermögen desselben) der Kunst die Regel geben, d.i. die schöne<br />

Kunst ist nur als Produkt des Genies möglich.<br />

Man sieht hieraus, daß Genie 1) ein Talent sei, dasjenige, wozu sich<br />

keine bestimmte Regel geben läßt, hervorzubringen: nicht Geschicklichkeitsanlage<br />

zu dem, was nach irgend einer Regel gelernt werden<br />

kann; folglich daß Originalität seine erste Eigenschaft sein müsse. 2)<br />

Daß, da es auch originalen Unsinn geben kann, seine Produkte zugleich<br />

Muster, d.i. exemplarisch sein müssen; mithin, selbst nicht<br />

durch Nachahmung entsprungen, anderen doch dazu, d.i. zum<br />

Richtmaße oder Regel der Beurteilung, dienen müssen. 3) Daß es,<br />

wie es sein Produkt zu Stande bringe, selbst nicht beschreiben, oder<br />

wissenschaftlich anzeigen könne, sondern daß es als Natur die Regel<br />

gebe; und daher<br />

14


243/<br />

der Urheber eines Produkts, welches er seinem Genie verdankt,<br />

selbst nicht weiß, wie sich in ihm die Ideen dazu herbei finden, auch<br />

es nicht in seiner Gewalt hat, dergleichen nach Belieben oder planmäßig<br />

auszudenken, und anderen in solchen Vorschriften mitzuteilen,<br />

die sie in Stand setzen, gleichmäßige Produkte hervorzubringen.<br />

(Daher denn auch vermutlich das Wort Genie von genius, dem eigentümlichen<br />

einem Menschen bei der Geburt mitgegebenen schützenden<br />

und leitenden Geist, von dessen Eingebung jene originale Ideen<br />

herrührten, abgeleitet ist.) 4) Daß die Natur durch das Genie nicht der<br />

Wissenschaft, sondern der Kunst die Regel vorschreibe; und auch<br />

dieses nur, in sofern diese letztere schöne Kunst sein soll.<br />

§ 47. Erläuterung und Bestätigung obiger Erklärung vom Genie<br />

Darin ist jedermann einig, daß Genie dem Nachahmungsgeiste gänzlich<br />

entgegen zu setzen sei. Da nun Lernen nichts als Nachahmen<br />

ist, so kann die größte Fähigkeit, Gelehrigkeit (Kapazität), als Gelehrigkeit,<br />

doch nicht für Genie gelten. Wenn man aber auch selbst<br />

denkt oder dichtet, und nicht bloß was andere gedacht haben, auffaßt,<br />

ja sogar für Kunst und Wissenschaft manches erfindet: so ist<br />

doch dieses auch noch nicht der rechte Grund, um einen solchen<br />

(oftmals großen) Kopf (im Gegensatze mit dem, welcher, weil er niemals<br />

etwas mehr als bloß lernen und nachahmen kann, ein Pinsel<br />

heißt) ein Genie zu nennen: weil eben das auch hätte können gelernt<br />

werden, also doch auf dem natürlichen Wege des Forschens und<br />

Nachdenkens nach Regeln liegt, und von dem, was durch Fleiß vermittelst<br />

der Nachahmung erworben werden kann, nicht spezifisch<br />

unterschieden ist. So kann man alles, was Newton in seinem unsterblichen<br />

Werke der Prinzipien der Naturphilosophie, so ein großer Kopf<br />

auch erforderlich war, dergleichen zu erfinden, vorgetragen hat, gar<br />

wohl lernen; aber man kann<br />

/244/<br />

nicht geistreich dichten lernen, so ausführlich auch alle Vorschriften<br />

für die Dichtkunst, und so vor trefflich auch die Muster derselben sein<br />

mögen. Die Ursache ist, daß Newton alle seine Schritte, die er, von<br />

den ersten Elementen der Geometrie an, bis zu seinen großen und<br />

tiefen Erfindungen, zu tun hatte, nicht allein sich selbst, sondern jedem<br />

andern, ganz anschaulich und zur Nachfolge bestimmt vormachen<br />

könnte; kein Homer aber oder Wieland anzeigen kann, wie sich<br />

seine phantasiereichen und doch zugleich gedankenvollen Ideen in<br />

seinem Kopfe hervor und zusammen finden, darum weil er es selbst<br />

nicht weiß, und es also auch keinen andern lehren kann. Im Wissenschaftlichen<br />

also ist der größte Erfinder vom mühseligsten Nachahmer<br />

und Lehrlinge nur dem Grade nach, dagegen von dem, welchen<br />

die Natur für die schöne Kunst begabt hat, spezifisch unterschieden.<br />

Indes liegt hierin keine Herabsetzung jener großen Männer, denen<br />

das menschliche Geschlecht so viel zu verdanken hat, gegen die<br />

Günstlinge der Natur in Ansehung ihres Talents für die schöne Kunst.<br />

15


Eben darin, daß jener Talent zur immer fortschreitenden größeren<br />

Vollkommenheit der Erkenntnisse und alles Nutzens, der davon abhängig<br />

ist, imgleichen zur Belehrung anderer in eben denselben<br />

Kenntnissen gemacht ist, besteht ein großer Vorzug derselben vor<br />

denen, welche die Ehre verdienen, Genies zu heißen: weil für diese<br />

die Kunst irgendwo still steht, indem ihr eine Grenze gesetzt ist, über<br />

die sie nicht weiter gehen kann, die vermutlich auch schon seit lange<br />

her erreicht ist und nicht mehr erweitert werden kann; und überdem<br />

eine solche Geschicklichkeit sich auch nicht mitteilen läßt, sondern<br />

jedem unmittelbar von der Hand der Natur erteilt sein will, mit ihm<br />

also stirbt, bis die Natur einmal einen andern wiederum eben so begabt,<br />

der nichts weiter als eines Beispiels bedarf, um das Talent,<br />

dessen er sich bewußt ist, auf ähnliche Art wirken zu lassen.<br />

Da die Naturgabe der Kunst (als schönen Kunst) die Regel geben<br />

muß: welcherlei Art ist denn diese Regel? Sie kann in keiner Formel<br />

abgefaßt zur Vorschrift dienen; denn<br />

/245/<br />

sonst würde das Urteil über das Schöne nach Begriffen bestimmbar<br />

sein: sondern die Regel muß von der Tat, d.i. vom Produkt abstrahiert<br />

werden, an welchem andere ihr eigenes Talent prüfen mögen,<br />

um sich jenes zum Muster, nicht der Nachmachung, sondern der<br />

Nachahmung, dienen zu lassen. Wie dieses möglich sei, ist schwer<br />

zu erklären. Die Ideen des Künstlers erregen ähnliche Ideen seines<br />

Lehrlings, wenn ihn die Natur mit einer ähnlichen Proportion der Gemütskräfte<br />

versehen hat. Die Muster der schönen Kunst sind daher<br />

die einzigen Leitungsmittel, diese auf die Nachkommenschaft zu<br />

bringen: welches durch bloße Beschreibungen nicht geschehen<br />

könnte (vornehmlich nicht im Fache der redenden Künste); und auch<br />

in diesen können nur die in alten, toten, und jetzt nur als gelehrte<br />

aufbehaltenen Sprachen klassisch werden.<br />

Ob zwar mechanische und schöne Kunst, die erste als bloße Kunst<br />

des Fleißes und der Erlernung, die zweite als die des Genies, sehr<br />

von einander unterschieden sind: so gibt es doch keine schöne<br />

Kunst, in welcher nicht etwas Mechanisches, welches nach Regeln<br />

gefaßt und befolgt werden kann, und also etwas Schulgerechtes die<br />

wesentliche Bedingung der Kunst ausmachte. Denn etwas muß dabei<br />

als Zweck gedacht werden, sonst kann man ihr Produkt gar keiner<br />

Kunst zuschreiben; es wäre ein bloßes Produkt des Zufalls. Um aber<br />

einen Zweck ins Werk zu richten, dazu werden bestimmte Regeln<br />

erfordert, von denen man sich nicht frei sprechen darf. Da nun die<br />

Originalität des Talents ein (aber nicht das einzige) wesentliches<br />

Stück vom Charakter des Genies ausmacht: so glauben seichte Köpfe,<br />

daß sie nicht besser zeigen können, sie wären aufblühende Genies,<br />

als wenn sie sich vom Schulzwange aller Regeln lossagen, und<br />

glauben, man paradiere besser auf einem kollerichten Pferde, als auf<br />

einem Schulpferde. Das Genie kann nur reichen Stoff zu Produkten<br />

der schönen Kunst hergeben; die Verarbeitung desselben und die<br />

Form erfordert ein durch die Schule gebildetes Talent, um einen Ge-<br />

16


auch davon zu machen, der vor der Urteilskraft bestehen kann.<br />

Wenn aber jemand sogar in Sa chen der sorgfältigsten Ver-<br />

/246/<br />

nunftuntersuchung wie ein Genie spricht und entscheidet, so ist es<br />

vollends lächerlich; man weiß nicht recht, ob man mehr über den<br />

Gaukler, der um sich so viel Dunst verbreitet, wobei man nichts deutlich<br />

beurteilen, aber desto mehr sich einbilden kann, oder mehr über<br />

das Publikum lachen soll, welches sich treuherzig einbildet, daß sein<br />

Unvermögen, das Meisterstück der Einsicht deutlich erkennen und<br />

fassen zu können, daher komme, weil ihm neue Wahrheiten in ganzen<br />

Massen zugeworfen werden, wogegen ihm das Detail (durch<br />

abgemessene Erklärungen und schulgerechte Prüfung der Grundsätze)<br />

nur Stümperwerk zu sein scheint.<br />

§ 48. Vom Verhältnisse des Genies zum Geschmack<br />

Zur Beurteilung schöner Gegenstände, als solcher, wird Geschmack,<br />

zur schönen Kunst selbst aber, d.i. der Hervorbringung solcher Gegenstände,<br />

wird Genie erfordert.<br />

Wenn man das Genie als Talent zur schönen Kunst betrachtet (welches<br />

die eigentümliche Bedeutung des Worts mit sich bringt), und es<br />

in dieser Absicht in die Vermögen zergliedern will, die ein solches<br />

Talent auszumachen zusammen kommen müssen: so ist nötig, zuvor<br />

den Unterschied zwischen der Natur schönheit, deren Beurteilung nur<br />

Geschmack, und der Kunstschönheit, deren Möglichkeit (worauf in<br />

der Beurteilung eines dergleichen Gegenstandes auch Rücksicht<br />

genommen werden muß) Genie erfordert, genau zu bestimmen.<br />

Eine Naturschönheit ist ein schönes Ding; die Kunstschönheit ist eine<br />

schöne Vorstellung von einem Dinge.<br />

Um eine Naturschönheit als eine solche zu beurteilen, brauche ich<br />

nicht vorher einen Begriff davon zu haben, was der Gegenstand für<br />

ein Ding sein solle; d.i. ich habe nicht nötig, die materiale Zweckmäßigkeit<br />

(den Zweck) zu kennen, sondern die bloße Form ohne Kenntnis<br />

des Zwecks gefällt in der Beurteilung für sich selbst. Wenn aber<br />

der Ge-<br />

/247/<br />

genstand für ein Produkt der Kunst gegeben ist, und als solches für<br />

schön erklärt werden soll: so muß, weil Kunst immer einen Zweck in<br />

der Ursache (und deren Kausalität) voraussetzt, zuerst ein Begriff<br />

von dem zum Grunde gelegt werden, was das Ding sein soll; und, da<br />

die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in einem Dinge, zu einer<br />

innern Bestimmung desselben als Zweck, die Vollkommenheit des<br />

Dinges ist, so wird in der Beurteilung der Kunstschönheit zugleich die<br />

Vollkommenheit des Dinges in Anschlag gebracht werden müssen,<br />

17


wornach in der Beurteilung einer Naturschönheit (als einer solchen)<br />

gar nicht die Frage ist. – Zwar wird in der Beurteilung, vornehmlich<br />

der belebten Gegenstände der Natur, z.B. des Menschen oder eines<br />

Pferdes, auch die objektive Zweckmäßigkeit gemeiniglich mit in Betracht<br />

gezogen, um über die Schönheit derselben zu urteilen; alsdann<br />

ist aber auch das Urteil nicht mehr rein ästhetisch, d.i. bloßes Geschmacksurteil.<br />

Die Natur wird nicht mehr beurteilt, wie sie als Kunst<br />

erscheint, sondern sofern sie wirklich (obzwar übermenschliche)<br />

Kunst ist; und das teleologische Urteil dient dem ästhetischen zur<br />

Grundlage und Bedingung, worauf dieses Rücksicht nehmen muß. In<br />

einem solchen Falle denkt man auch, wenn z.B. gesagt wird: »das ist<br />

ein schönes Weib«, in der Tat nichts anders, als: die Natur stellt in<br />

ihrer Gestalt die Zwecke im weiblichen Baue schön vor; denn man<br />

muß noch über die bloße Form auf einen Begriff hinaussehen, damit<br />

der Gegenstand auf solche Art durch ein logisch-bedingtes ästhetisches<br />

Urteil gedacht werde.<br />

Die schöne Kunst zeigt darin eben ihre Vorzüglichkeit, daß sie Dinge,<br />

die in der Natur häßlich oder mißfällig sein würden, schön beschreibt.<br />

Die Furien, Krankheiten, Verwüstungen des Krieges, u.d.gl. können,<br />

als Schädlichkeiten, sehr schön beschrieben, ja sogar im Gemälde<br />

vorgestellt werden; nur eine Art Häßlichkeit kann nicht der Natur gemäß<br />

vorgestellt werden, ohne alles ästhetische Wohlgefallen, mithin<br />

die Kunstschönheit, zu Grunde zu richten: nämlich diejenige, welche<br />

Ekel erweckt. Denn, weil<br />

/248/<br />

in dieser sonderbaren, auf lauter Einbildung beruhenden Empfindung<br />

der Gegenstand gleichsam, als ob er sich zum Genüsse aufdränge,<br />

wider den wir doch mit Gewalt streben, vorgestellt wird: so wird die<br />

künstliche Vorstellung des Gegenstandes von der Natur dieses Gegenstandes<br />

selbst in unserer Empfindung nicht mehr unterschieden,<br />

und jene kann alsdann unmöglich für schön gehalten werden. Auch<br />

hat die Bildhauerkunst, weil an ihren Produkten die Kunst mit der Natur<br />

beinahe verwechselt wird, die unmittelbare Vorstellung häßlicher<br />

Gegenstände von ihren Bildungen ausgeschlossen, und dafür z.B.<br />

den Tod (in einem schönen Genius), den Kriegsmut (am Mars) durch<br />

eine Allegorie oder Attribute, die sich gefällig ausnehmen, mithin nur<br />

indirekt vermittelst einer Auslegung der Vernunft, und nicht für bloß<br />

ästhetische Urteilskraft, vorzustellen erlaubt.<br />

So viel von der schönen Vorstellung eines Gegenstandes, die eigentlich<br />

nur die Form der Darstellung eines Begriffs ist, durch welche dieser<br />

allgemein mitgeteilt wird. – Diese Form aber dem Produkte der<br />

schönen Kunst zu geben, dazu wird bloß Geschmack erfordert, an<br />

welchem der Künstler, nachdem er ihn durch mancherlei Beispiele<br />

der Kunst, oder der Natur, geübt und berichtigt hat, sein Werk hält,<br />

und, nach manchen oft mühsamen Versuchen, denselben zu befriedigen,<br />

diejenige Form findet, die ihm Genüge tut: daher diese nicht<br />

gleichsam eine Sache der Eingebung, oder eines freien Schwunges<br />

der Gemütskräfte, sondern einer langsamen und gar peinlichen<br />

18


Nachbesserung ist, um sie dem Gedanken angemessen und doch<br />

der Freiheit im Spiele derselben nicht nachteilig werden zu lassen.<br />

Geschmack ist aber bloß ein Beurteilungs-, nicht ein produktives Vermögen;<br />

und, was ihm gemäß ist, ist darum eben nicht ein Werk der<br />

schönen Kunst: es kann ein zur nützlichen und mechanischen Kunst,<br />

oder gar zur Wissenschaft gehöriges Produkt nach bestimmten<br />

Regeln sein, die gelernt werden können und genau befolgt werden<br />

müssen. Die gefällige Form aber, die man ihm gibt, ist nur das<br />

Vehikel der Mitteilung und eine Manier gleichsam des Vor-<br />

/249/<br />

trages, in Ansehung dessen man noch in gewissem Maße frei bleibt,<br />

wenn er doch übrigens an einen bestimmten Zweck gebunden ist. So<br />

verlangt man, daß das Tischgeräte, oder auch eine moralische Abhandlung,<br />

sogar eine Predigt diese Form der schönen Kunst, ohne<br />

doch gesucht zu scheinen, an sich haben müsse; man wird sie aber<br />

darum nicht Werke der schönen Kunst nennen. Zu der letzteren aber<br />

wird ein Gedicht, eine Musik, eine Bildergalerie u.d.gl. gezählt; und<br />

da kann man an einem seinsollenden Werke der schönen Kunst oftmals<br />

Genie ohne Geschmack, an einem andern Geschmack ohne<br />

Genie, wahrnehmen.<br />

§ 49. Von den Vermögen des Gemüts, welche das Genie ausmachen<br />

Man sagt von gewissen Produkten, von welchen man erwartet, daß<br />

sie sich, zum Teil wenigstens, als schöne Kunst zeigen sollten: sie<br />

sind ohne Geist; ob man gleich an ihnen, was den Geschmack betrifft,<br />

nichts zu tadeln findet. Ein Gedicht kann recht nett und elegant<br />

sein, aber es ist ohne Geist. Eine Geschichte ist genau und ordentlich,<br />

aber ohne Geist. Eine feierliche Rede ist gründlich und zugleich<br />

zierlich, aber ohne Geist. Manche Konversation ist nicht ohne Unterhaltung,<br />

aber doch ohne Geist; selbst von einem Frauenzimmer sagt<br />

man wohl, sie ist hübsch, gesprächig und artig, aber ohne Geist. Was<br />

ist denn das, was man hier unter Geist versteht?<br />

Geist, in ästhetischer Bedeutung, heißt das belebende Prinzip im<br />

Gemüte. Dasjenige aber, wodurch dieses Prinzip die Seele belebt,<br />

der Stoff, den es dazu anwendet, ist das, was die Gemütskräfte<br />

zweckmäßig in Schwung versetzt, d.i. in ein solches Spiel, welches<br />

sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt.<br />

Nun behaupte ich, dieses Prinzip sei nichts anders, als das Vermögen<br />

der Darstellung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee<br />

aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel<br />

zu denken veranlaßt,<br />

/250/<br />

ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat<br />

sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und ver-<br />

19


ständlich machen kann. – Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück<br />

(Pendant) von einer Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff<br />

ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat<br />

sein kann.<br />

Die Einbildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) ist nämlich<br />

sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer andern Natur, aus<br />

dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt. Wir unterhalten uns mit ihr, wo<br />

uns die Erfahrung zu alltäglich vorkommt; bilden diese auch wohl um:<br />

zwar noch immer nach analogischen Gesetzen, aber doch auch nach<br />

Prinzipien, die höher hinauf in der Vernunft liegen (und die uns eben<br />

sowohl natürlich sind, als die, nach welchen der Verstand die empirische<br />

Natur auffaßt); wobei wir unsere Freiheit vom Gesetze der Assoziation<br />

(welches dem empirischen Gebrauche jenes Vermögens<br />

anhängt) fühlen, nach welchem uns von der Natur zwar Stoff geliehen,<br />

dieser aber von uns zu etwas ganz anderem, nämlich dem, was<br />

die Natur übertrifft, verarbeitet werden kann.<br />

Man kann dergleichen Vorstellungen der Einbildungskraft Ideen nennen:<br />

eines Teils darum, weil sie zu etwas über die Erfahrungsgrenze<br />

hinaus Liegendem wenigstens streben, und so einer Darstellung der<br />

Vernunftbegriffe (der intellektuellen Ideen) nahe zu kommen suchen,<br />

welches ihnen den Anschein einer objektiven Realität gibt; andrerseits,<br />

und zwar hauptsächlich, weil ihnen, als innern Anschauungen,<br />

kein Begriff völlig adäquat sein kann. Der Dichter wagt es. Vernunftideen<br />

von unsichtbaren Wesen, das Reich der Seligen, das Höllenreich,<br />

die Ewigkeit, die Schöpfung u.d.gl. zu versinnlichen; oder auch<br />

das, was zwar Beispiele in der Erfahrung findet, z.B. den Tod, den<br />

Neid und alle Laster, imgleichen die Liebe, den Ruhm u.d.gl. über die<br />

Schranken der Erfahrung hinaus, vermittelst einer Einbildungskraft,<br />

die dem Vernunft-Vorspiele in Er-<br />

/251/<br />

reichung eines Größten nacheifert, in einer Vollständigkeit sinnlich zu<br />

machen, für die sich in der Natur kein Beispiel findet; und es ist eigentlich<br />

die Dichtkunst, in welcher sich das Vermögen ästhetischer<br />

Ideen in seinem ganzen Maße zeigen kann. Dieses Vermögen aber,<br />

für sich allein betrachtet, ist eigentlich nur ein Talent (der Einbildungskraft).<br />

Wenn nun einem Begriffe eine Vorstellung der Einbildungskraft untergelegt<br />

wird, die zu seiner Darstellung gehört, aber für sich allein so<br />

viel zu denken veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten Be<br />

griff zusammenfassen läßt, mithin den Begriff selbst auf unbegrenzte<br />

Art ästhetisch erweitert: so ist die Einbildungskraft hiebei schöpferisch,<br />

und bringt das Vermögen intellektueller Ideen (die Vernunft) in<br />

Bewegung, mehr nämlich bei Veranlassung einer Vorstellung zu denken<br />

(was zwar zu dem Begriffe des Gegenstandes gehört), als in ihr<br />

aufgefaßt und deutlich gemacht werden kann.<br />

Man nennt diejenigen Formen, welche nicht die Darstellung eines<br />

gegebenen Begriffs selber ausmachen, sondern nur, als Nebenvorstellungen<br />

der Einbildungskraft, die damit verknüpften Folgen und die<br />

20


Verwandtschaft desselben mit andern ausdrücken, Attribute (ästhetische)<br />

eines Gegenstandes, dessen Begriff, als Vernunftidee, nicht<br />

adäquat dargestellt werden kann. So ist der Adler Jupiters mit dem<br />

Blitze in den Klauen, ein Attribut des mächtigen Himmelskönigs, und<br />

der Pfau der prächtigen Himmelskönigin. Sie stellen nicht, wie die<br />

logischen Attribute, das was in unsern Begriffen von der Erhabenheit<br />

und Majestät der Schöpfung liegt, sondern etwas anderes vor, was<br />

der Einbildungskraft Anlaß gibt, sich über eine Menge von verwandten<br />

Vorstellungen zu verbreiten, die mehr denken lassen, als man in<br />

einem durch Worte bestimmten Begriff ausdrücken kann; und geben<br />

eine ästhetische Idee, die jener Vernunftidee statt logischer Darstellung<br />

dient, eigentlich aber um das Gemüt zu beleben, indem sie ihm<br />

die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen<br />

/252/<br />

eröffnet. Die schöne Kunst aber tut dieses nicht allein in der Malerei<br />

oder Bildhauerkunst (wo der Namen der Attribute gewöhnlich gebraucht<br />

wird); sondern die Dichtkunst und Beredsamkeit nehmen den<br />

Geist, der ihre Werke belebt, auch lediglich von den ästhetischen<br />

Attributen der Gegenstände her, welche den logischen zur Seite gehen,<br />

und der Einbildungskraft einen Schwung geben, mehr dabei,<br />

obzwar auf unentwickelte Art, zu denken, als sich in einem Begriffe,<br />

mithin in einem bestimmten Sprachausdrucke, zusammenfassen läßt.<br />

– Ich muß mich der Kürze wegen nur auf wenige Beispiele einschränken.<br />

Wenn der Große König sich In einem seiner Gedichte so ausdrückt:<br />

»Laßt uns aus dem Leben ohne Murren weichen und ohne etwas zu<br />

bedauern, indem wir die Welt noch alsdann mit Wohltaten überhäuft<br />

zurücklassen. So verbreitet die Sonne, nachdem sie ihren Tageslauf<br />

vollendet hat, noch ein mildes Licht am Himmel; und die letzten<br />

Strahlen, die sie in die Lüfte schickt, sind ihre letzten Seufzer für das<br />

Wohl der Welt«: so belebt er seine Vernunftidee, von weltbürgerlicher<br />

Gesinnung noch am Ende des Lebens, durch ein Attribut, welches<br />

die Einbildungskraft (in der Erinnerung an alle Annehmlichkeiten eines<br />

vollbrachten schönen Sommertages, die uns ein heiterer Abend<br />

ins Gemüt ruft) jener Vorstellung beigesellt, und welches eine Menge<br />

von Empfindungen und Nebenvorstellungen rege macht, für die sich<br />

kein Ausdruck findet. Andererseits kann sogar ein intellektueller Begriff<br />

umgekehrt zum Attribut einer Vorstellung der Sinne dienen, und<br />

so diese letztern durch die Idee des Übersinnlichen beleben; aber<br />

nur, indem das ästhetische, was dem Bewußtsein des letztern subjektiv<br />

anhänglich ist, hiezu gebraucht wird. So sagt z.B. ein gewisser<br />

Dichter in der Beschreibung eines schönen Morgens: »Die Sonne<br />

quoll hervor, wie Ruh aus Tugend quillt«. Das Bewußtsein der Tugend,<br />

wenn man sich auch nur in Gedanken in die Stelle eines Tugendhaften<br />

versetzt, verbreitet im Gemüte eine Menge erhabener<br />

und beruhigender Gefühle, und eine grenzenlose Aussicht in eine<br />

frohe Zu-<br />

21


253/<br />

kunft, die kein Ausdruck, welcher einem bestimmten Begriffe angemessen<br />

ist, völlig erreicht. 4<br />

Mit einem Worte, die ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe<br />

beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer<br />

solchen Mannigfaltigkeit der Teilvorstellungen in dem freien Gebrauche<br />

derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen<br />

bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, der also zu<br />

einem Begriffe viel Unnennbares hinzu denken läßt, dessen Gefühl<br />

die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem<br />

Buchstaben, Geist verbindet.<br />

Die Gemütskräfte also, deren Vereinigung (in gewissem Verhältnisse)<br />

das Genie ausmachen, sind Einbildungskraft und Verstand. Nur, da,<br />

im Gebrauch der Einbildungskraft zum Erkenntnisse, die Einbildungskraft<br />

unter dem Zwange des Verstandes und der Beschränkung<br />

unterworfen ist, dem Begriffe desselben angemessen zu sein; in ästhetischer<br />

Absicht aber die Einbildungskraft frei ist, um über jene Einstimmung<br />

zum Begriffe, doch ungesucht, reichhaltigen unentwickelten<br />

Stoff für den Verstand, worauf dieser in seinem Begriffe nicht<br />

Rücksicht nahm, zu liefern, welchen dieser aber, nicht sowohl objektiv<br />

zum Erkenntnisse, als subjektiv zur Belebung der Erkenntniskräfte,<br />

indirekt also doch auch zu Erkenntnissen anwendet: so besteht<br />

das Genie eigentlich in dem glücklichen Verhältnisse, welches keine<br />

Wissenschaft lehren und kein Fleiß erlernen kann, zu einem gegebenen<br />

Begriffe Ideen aufzufinden, und andrerseits zu diesen den Ausdruck<br />

zu treffen, durch den<br />

/254/<br />

die dadurch bewirkte subjektive Gemütsstimmung, als Begleitung<br />

eines Begriffs, anderen mitgeteilt werden kann. Das letztere Talent ist<br />

eigentlich dasjenige, was man Geist nennt; denn das Unnennbare in<br />

dem Gemütszustande bei einer gewissen Vorstellung auszudrücken<br />

und allgemein mitteilbar zu machen, der Ausdruck mag nun in Sprache,<br />

oder Malerei, oder Plastik bestehen: das erfordert ein Vermögen,<br />

das schnell vorübergehende Spiel der Einbildungskraft aufzufassen,<br />

und in einen Begriff (der eben darum original ist und zugleich<br />

eine neue Regel eröffnet, die aus keinen vorhergehenden Prinzipien<br />

oder Beispielen hat gefolgert werden können) zu vereinigen, der sich<br />

ohne Zwang der Regeln mitteilen läßt.<br />

4 Vielleicht ist nie etwas Erhabneres gesagt, oder ein Gedanke erhabener<br />

ausgedrückt worden, als in jener Aufschrift über dem Tempel der Isis (der<br />

Mutter Natur): »Ich bin alles was da ist, was da war, und was da sein<br />

wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt«. Segner benutzte<br />

diese Idee, durch eine sinnreiche seiner Naturlehre vorgesetzte<br />

Vignette, um seinen Lehrling, den er in diesen Tempel zu führen bereit<br />

war, vorher mit dem heiligen Schauer zu erfüllen, der das Gemüt zu feierlicher<br />

Aufmerksamkeit stimmen soll.<br />

22


* * *<br />

Wenn wir nach diesen Zergliederungen auf die oben gegebene Erklärung<br />

dessen, was man Genie nennt, zurücksehen, so finden wir:<br />

erstlich, daß es ein Talent zur Kunst sei, nicht zur Wissenschaft, in<br />

welcher deutlich gekannte Regeln vorangehen und das Verfahren in<br />

derselben bestimmen müssen; zweitens, daß es, als Kunsttalent,<br />

einen bestimmten Begriff von dem Produkte, als Zweck, mithin<br />

Verstand, aber auch eine (wenn gleich unbestimmte) Vorstellung von<br />

dem Stoff, d.i. der Anschauung, zur Darstellung dieses Begriffs, mithin<br />

ein Verhältnis der Einbildungskraft um Verstande voraussetze;<br />

daß es sich drittens nicht sowohl in der Ausführung des vorgesetzten<br />

Zwecks in Darstellung eines bestimmten Begriffs, als vielmehr im<br />

Vortrage, oder dem Ausdrucke ästhetischer Ideen, welche zu jener<br />

Absicht reichen Stoff enthalten, zeige, mithin die Einbildungskraft, in<br />

ihrer Freiheit von aller Anleitung der Regeln, dennoch als zweckmäßig<br />

zur Darstellung des gegebenen Begriffs vorstellig mache; daß<br />

endlich viertens die ungesuchte unabsichtliche subjektive Zweckmäßigkeit<br />

in der freien Übereinstimmung der Einbildungskraft zur Gesetzlichkeit<br />

des Verstandes eine solche Proportion und<br />

/255/<br />

Stimmung dieser Vermögen voraussetze, als keine Befolgung von<br />

Regeln, es sei der Wissenschaft oder mechanischen Nachahmung,<br />

bewirken, sondern bloß die Natur des Subjekts hervorbringen kann.<br />

Nach diesen Voraussetzungen ist Genie: die musterhafte Originalität<br />

der Naturgabe eines Subjekts im freien Gebrauche seiner Erkenntnisvermögen.<br />

Auf solche Weise ist das Produkt eines Genies (nach<br />

demjenigen, was in demselben dem Genie, nicht der möglichen Erlernung<br />

oder der Schule, zuzuschreiben ist) ein Beispiel nicht der<br />

Nachahmung (denn da würde das, was daran Genie ist und den<br />

Geist des Werks ausmacht, verloren gehen), sondern der Nachfolge<br />

für ein anderes Genie, welches dadurch zum Gefühl seiner eigenen<br />

Originalität aufgeweckt wird. Zwangsfreiheit von Regeln so in der<br />

Kunst auszuüben, daß diese dadurch selbst eine neue Regel bekommt,<br />

wodurch das Talent sich als musterhaft zeigt. Weil aber das<br />

Genie ein Günstling der Natur ist, dergleichen man nur als seltene<br />

Erscheinung anzusehen hat: so bringt sein Beispiel für andere gute<br />

Köpfe eine Schule her vor, d.i. eine methodische Unterweisung nach<br />

Regeln, soweit man sie aus jenen Geistesprodukten und ihrer Eigentümlichkeit<br />

hat ziehen können: und für diese ist die schöne Kunst<br />

sofern Nachahmung, der die Natur durch ein Genie die Regel gab.<br />

Aber diese Nachahmung wird Nachäffung, wenn der Schüler alles<br />

nachmacht, bis auf das, was das Genie als Mißgestalt nur hat zulassen<br />

müssen, weil es sich, ohne die Idee zu schwächen, nicht wohl<br />

wegschaffen ließ. Dieser Mut ist an einem Genie allein Verdienst; und<br />

eine gewisse Kühnheit im Ausdrucke und überhaupt manche Abweichung<br />

von der gemeinen Regel steht demselben wohl an, ist aber<br />

keinesweges nachahmungswürdig, sondern bleibt immer an sich ein<br />

23


Fehler, den man wegzuschaffen suchen muß, für welchen aber das<br />

Genie gleichsam privilegiert ist, da das Unnachahmliche seines Geistesschwunges<br />

durch ängstliche Behutsamkeit leiden würde. Das<br />

Manierieren ist eine andere Art von Nachäffung, nämlich der bloßen<br />

Eigentüm-<br />

/256/<br />

lichkeit (Originalität) überhaupt, um sich ja von Nachahmern so weit<br />

als möglich zu entfernen, ohne doch das Talent zu besitzen, dabei<br />

zugleich musterhaft zu sein. – Zwar gibt es zweierlei Art (modus)<br />

überhaupt der Zusammenstellung seiner Gedanken des Vertrages,<br />

deren die eine Manier (modus aestheticus), die andere Methode<br />

(modus logicus) heißt, die sich darin von einander unterscheiden:<br />

daß die erstere kein anderes Richtmaß hat, als das Gefühl der Einheit<br />

in der Darstellung, die andere aber hierin bestimmte Prinzipien<br />

befolgt; für die schöne Kunst gilt also nur die erstere. Allein manieriert<br />

heißt ein Kunstprodukt nur alsdann, wenn der Vortrag seiner Idee in<br />

demselben auf die Sonderbarkeit angelegt und nicht der Idee angemessen<br />

gemacht wird. Das Prangende (Preziöse), das Geschrobene<br />

und Affektierte, um sich nur vom Gemeinen (aber ohne Geist) zu unterscheiden,<br />

sind dem Benehmen desjenigen ähnlich, von dem man<br />

sagt, daß er sich sprechen höre, oder welcher steht und geht, als ob<br />

er auf einer Bühne wäre, um angegafft zu werden, welches jederzeit<br />

einen Stümper verrät.<br />

§ 50. Von der Verbindung des Geschmacks mit Genie in Produkten<br />

der schönen Kunst<br />

Wenn die Frage ist, woran in Sachen der schönen Kunst mehr gelegen<br />

sei, ob daran, daß sich an ihnen Genie, oder ob, daß sich Geschmack<br />

zeige, so ist das eben so viel, als wenn gefragt würde, ob<br />

es darin mehr auf Einbildung, als auf Urteilskraft ankomme. Da nun<br />

eine Kunst in Ansehung des ersteren eher eine geistreiche, in Ansehung<br />

des zweiten aber allein eine schöne Kunst genannt zu werden<br />

verdient: so ist das letztere wenigstens als unumgängliche Bedingung<br />

(conditio sine qua non) das Vornehmste, worauf man in Beurteilung<br />

der Kunst als schöne Kunst zusehen hat. Reich und original an<br />

Ideen zu sein, bedarf es nicht so notwendig zum Behuf der Schönheit,<br />

aber wohl der Ange-<br />

/257/<br />

messenheit jener Einbildungskraft in ihrer Freiheit zu der Gesetzmäßigkeit<br />

des Verstandes. Denn aller Reichtum der ersteren bringt in<br />

ihrer gesetzlosen Freiheit nichts als Unsinn hervor; die Urteilskraft ist<br />

aber das Vermögen, sie dem Verstande anzupassen.<br />

Der Geschmack ist, so wie die Urteilskraft überhaupt, die Disziplin<br />

(oder Zucht) des Genies, beschneidet diesem sehr die Flügel und<br />

macht es gesittet oder geschliffen; zugleich aber gibt er diesem eine<br />

Leitung, worüber und bis wie weit es sich verbreiten soll, um zweck-<br />

24


mäßig zu bleiben; und, indem er Klarheit und Ordnung in die Gedankenfülle<br />

hineinbringt, macht er die Ideen haltbar, eines daurenden<br />

zugleich auch allgemeinen Beifalls, der Nachfolge anderer, und einer<br />

immer fortschreitenden Kultur, fähig. Wenn also im Widerstreite beiderlei<br />

Eigenschaften an einem Produkte etwas aufgeopfert werden<br />

soll, so müßte es eher auf der Seite des Genies geschehen: und die<br />

Urteilskraft, welche in Sachen der schönen Kunst aus eigenen Prinzipien<br />

den Ausspruch tut, wird eher der Freiheit und dem Reichtum der<br />

Einbildungskraft, als dem Verstande Abbruch zu tun erlauben.<br />

Zur schönen Kunst würden also Einbildungskraft, Verstand, Geist und<br />

Geschmack erforderlich sein. 5<br />

5 Die drei ersteren Vermögen bekommen durch das vierte allererst ihre<br />

Vereinigung. Hume gibt in seiner Geschichte den Engländern zu verstehen,<br />

daß, obzwar sie in ihren Werken keinem Volke in der Welt in Ansehung<br />

der Beweistümer der drei ersteren Eigenschaften, abgesondert betrachtet,<br />

etwas nachgäben, sie doch in der, welche sie vereinigt, ihren<br />

Nachbaren, den Franzosen, nachstehen müßten.<br />

25


Jean Paul: Vorschule der Ästhetik<br />

In: Werke, Bd. 5, München: Carl <strong>Hans</strong>er, 1959-1963. S.56-67<br />

/56/<br />

III. Programm: Über das Genie<br />

§ 11 Vielkräftigkeit desselben<br />

Der Glaube von instinkmäßiger Einkräftigkeit des Genies konnte nur<br />

durch die Verwechslung des philosophischen und poetischen mit<br />

dem Kunsttriebe der Virtuosen kommen und bleiben. Den Malern,<br />

Tonkünstlern, ja dem Mechaniker muß allerdings ein Organ angeboren<br />

sein, das ihnen die Wirklichkeit zugleich zum<br />

/57/<br />

Gegenstande und zum Werkzeuge der Darstellung zuführt; die Oberherrschaft<br />

eines Organs und einer Kraft, z.B. in Mozart, wirkt alsdann<br />

mit der Blindheit und Sicherheit des Instinktes.<br />

Wer das Genie, das Beste, was die Erde hat, den Wecker der schlafenden<br />

Jahrhunderte, in »merkliche Stärke der untern Seelenkräfte«<br />

setzt, wie Adelung, und wer, wie dieser in seinem Buche über den<br />

Stil, sich ein Genie auch ohne Verstand denken kann: der denkt sich<br />

es eben – ohne Verstand. Unsere Zeit schenkt mir jeden Krieg mit<br />

dieser Sünde gegen den heiligen Geist. Wie verteilen nicht Shakespeare,<br />

Schiller u.a. alle einzelne Kräfte an einzelne Charaktere, und<br />

wie müssen sie nicht oft auf einer Seite witzig, scharfsinnig, verständig,<br />

vernunftend, feurig, gelehrt und alles sein, noch dazu bloß, damit<br />

der Glanz dieser Kräfte nur wie Juwelen spiele, nicht wie LichtEndchen<br />

der Notdurft erhelle! – Nur das einseitige Talent gibt wie eine<br />

Klaviersaite unter dem Hammerschlage einen Ton; aber das Genie<br />

gleicht einer Windharfen-Saite; eine und dieselbe spielet sich selber<br />

zu mannigfachem Tönen vor dem mannigfachen Anwehen. Im Genius<br />

6 stehen alle Kräfte auf einmal in Blüte; und die Phantasie ist darin<br />

6 Dies gilt vom philosophischen ebenfalls, den ich (gegen Kant) vom poetischen<br />

nicht spezifisch unterscheiden kann, man sehe die noch nicht<br />

widerlegten Gründe davon im Kampaner Tal S. 51 etc. Die erfindenden<br />

Philosophen waren alle dichterisch, d.h. die echt-systematischen. Etwas<br />

anderes sind die sichtenden, welche aber nie ein organisches System<br />

erschaffen, sondern höchstens bekleiden, ernähren, amputieren u.s.w.<br />

Der Unterschied der Anwendung verwandter Genialität aber bedarf einer<br />

eignen schweren Erforschung.<br />

26


nicht die Blume, sondern die Blumengöttin, welche die zusammenstäubenden<br />

Blumenkelche für neue Mischungen ordnet, gleichsam<br />

die Kraft voll Kräfte. Das Dasein dieser Harmonie und dieser Harmonistin<br />

begehren und verbürgen zwei große Erscheinungen des Genius.<br />

§ 12 Besonnenheit<br />

Die erste ist die Besonnenheit. Sie setzt in jedem Grade ein Gleichgewicht<br />

und einen Wechselstreit zwischen Tun und Leiden,<br />

/58/<br />

zwischen Subund Objekt voraus. In ihrem gemeinsten Grade, der<br />

den Menschen vom Tier, und den Wachen vom Schläfer absondert,<br />

fodert sie das Äquilibrieren zwischen äußerer und innerer Welt; im<br />

Tiere verschlingt die äußere die innere, im bewegten Menschen diese<br />

oft jene. Nun gibt es eine höhere Besonnenheit, die, welche die innere<br />

Welt selber entzweit und entzweiteilt in ein Ich und in dessen<br />

Reich, in einen Schöpfer und dessen Welt. Diese göttliche Besonnenheit<br />

ist so weit von der gemeinen unterschieden wie Vernunft von<br />

Verstand, eben die Eltern von beiden. Die gemeine geschäftige Besonnenheit<br />

ist nur nach außen gekehrt und ist im höhern Sinne immer<br />

außer sich, nie bei sich, ihre Menschen haben mehr Bewußtsein<br />

als Selbstbewußtsein, welches letzte ein ganzes Sichselbersehen<br />

des zuund des abgewandten Menschen in zwei Spiegeln zugleich ist.<br />

So sehr sondert die Besonnenheit des Genies sich von der andern<br />

ab, daß sie sogar als ihr Gegenteil öfters erscheint, und daß diese<br />

ewige fortbrennende Lampe im Innern, gleich Begräbnis-Lampen,<br />

auslöscht, wenn sie äußere Luft und Welt berührt. 7 – Aber was vermittelt<br />

sie? Gleichheit setzet stärker Freiheit voraus als Freiheit<br />

Gleichheit. Die innere Freiheit der Besonnenheit wird für das Ich<br />

durch das Wechseln und Bewegen großer Kräfte vermittelt und gelassen,<br />

wovon keine sich durch Übermacht zu einem After-Ich konstituiert,<br />

und die es gleichwohl so bewegen und beruhigen kann, daß<br />

sich nie der Schöpfer ins Geschöpf verliert.<br />

Daher ist der Dichter, wie der Philosoph, ein Auge; alle Pfeiler in ihm<br />

sind Spiegelpfeiler; sein Flug ist der freie einer Flamme, nicht der<br />

Wurf durch eine leidenschaftlich-springende Mine. Daher kann der<br />

wildeste Dichter ein sanfter Mensch sein – man schaue nur in Shakespeares<br />

himmelklares Angesicht oder noch lieber in dessen großes<br />

Dramen-Epos –; ja der Mensch kann umgekehrt<br />

7 Denn Unbesonnenheit im Handeln, d.i. das Vergessen der persönlichen<br />

Verhältnisse verträgt sich so gut mit dichtender und denkender Besonnenheit,<br />

dass ja im Traume und Wahnsinne, wo jenes Vergessen am<br />

stärksten waltet, Reflektieren und Dichten häufig eintreten. Das Genie ist<br />

in mehr als einem Sinne ein Nachtwandler: in seinem hellen Traume<br />

vermag es mehr als der Wache und besteigt jede Höhe der Wirklichkeit<br />

im Dunkeln; aber raubt ihm die träumerische Welt, so stürzt es in der<br />

wirklichen.<br />

27


59/<br />

auf dem Sklavenmarkte des Augenblicks jede Minute verkauft werden<br />

und doch dichtend sich sanft und frei erheben, wie Guido im<br />

Sturme seiner Persönlichkeit seine milden Kinder und Engelsköpfe<br />

ründete und auflockte, gleich dem Meere voll Ströme und Wellen, das<br />

dennoch ein ruhendes reines Morgen und Abendrot gen Himmel<br />

haucht. Nur der unverständigte Jüngling kann glauben, geniales Feuer<br />

brenne als leidenschaftliches, so wie etwan für die Büste des<br />

nüchtern-dichterischen Platons die Büste des Bacchus ausgegeben<br />

wird. Der ewig zum Schwindel bewegte Alfieri fand auf Kosten seiner<br />

Schöpfungen weniger Ruhe in als außer sich. Der rechte Genius beruhigt<br />

sich von innen; nicht das hochauffahrende Wogen, sondern die<br />

glatte Tiefe spiegelt die Welt.<br />

Diese Besonnenheit des Dichters, welche man bei den Philosophen<br />

am liebsten voraussetzt, bekräftiget die Verwandtschaft beider. In<br />

wenigen Dichtern und Philosophen leuchtete sie aber so hell als in<br />

Platon, der eben beides war; von seinen scharfen Charakteren an bis<br />

zu seinen Hymnen und Ideen hinauf, diesen Sternbildern eines unterirdischen<br />

Himmels. Man begreift die Möglichkeit, wie man zwanzig<br />

Anfänge seiner Republik nach seinem Tode finden konnte, wenn man<br />

im Phädrus, der alle unsere Rhetoriken verurteilt, die besonnene<br />

spielende Kritik erwägt, womit Sokrates den Hymnus auf die Liebe<br />

zergliedert. Die geniale Ruhe gleicht der sogenannten Unruhe, welche<br />

in der Uhr bloß für das Mäßigen und dadurch für das Unterhalten<br />

der Bewegung arbeitet. Was fehlte unserem großen Herder bei einem<br />

solchen Scharf-, Tiefund Vielund Weitsinne zum höhern Dichter?<br />

Nur die letzte Ähnlichkeit mit Platon; daß nämlich seine Lenkfedern<br />

(pennae rectrices) im abgemessenen Verhältnis gegen seine<br />

gewaltigen Schwungfedern (remiges) gestanden hätten.<br />

Mißverstand und Vorurteil ists, aus dieser Besonnenheit gegen den<br />

Enthusiasmus des Dichters etwas zu schließen; denn er muß ja im<br />

Kleinsten zugleich Flammen werfen und an die Flammen den Wärmemesser<br />

legen; er muß mitten im Kriegfeuer aller Kräfte die zarte<br />

Waage einzelner Silben festhalten und muß (in<br />

/60/<br />

einer andern Metapher) den Strom seiner Empfindungen gegen die<br />

Mündung eines Rheins zu leiten. Nur das Ganze wird von der Begeisterung<br />

er zeugt, aber die Teile werden von der Ruhe erzogen. Beleidigt<br />

übrigens z.B. der Philosoph den Gott in sich, weil er, so gut er<br />

kann, einen Standpunkt nach dem andern zu ersteigen sucht, um in<br />

dessen Licht zu blicken, und ist Philosophieren über das Gewissen<br />

gegen das Gewissen? – Wenn Besonnenheit als solche könnte zu<br />

groß werden: so stände ja der besonnene Mensch hinter dem sinnlosen<br />

Tiere und dem unbesonnenen Kinde, und der Unendliche, der<br />

obwohl uns unfaßbar, nichts sein kann, was er nicht weiß, hinter dem<br />

Endlichen!<br />

28


Gleichwohl muß jenem Mißverstand und Vorurteil ein Verstand und<br />

Urteil vorund unterliegen. Denn der Mensch achtet (nach Jacobi) nur<br />

das, was nicht mechanisch nachzumachen ist; die Besonnenheit aber<br />

scheint eben immer nachzumachen und mit Willkür und Heucheln<br />

göttliche Eingebung und Empfindung nachzuspielen und folglich –<br />

aufzuheben. Und hier braucht man die Beispiele ruchloser Geistes-<br />

Gegenwart nicht aus dem Denken, Dichten und Tun der ausgeleerten<br />

Selbstlinge jetziger Zeit zu holen, sondern die alte gelehrte Welt<br />

reicht uns besonders aus der rhetorischen und humanistischen in<br />

ihren frechen kalten Anleitungen, wie die schönsten Empfindungen<br />

darzustellen sind, besonnene Gliedermänner wie aus Gräbern zu<br />

Exempeln. Mit vergnügter ruhmliebender Kälte wählt und bewegt z.B.<br />

der alte Schulmann seine nötigen Muskeln und Tränendrüsen (nach<br />

Peucer oder Morhof), um mit einem leidenden Gesicht voll Zähren in<br />

einer Threnodie auf das Grab eines Vorfahrers öffentlich herabzusehen<br />

aus dem Schul-Fenster, und zählt mit dem Regenmesser vergnügt<br />

jeden Tropfen.<br />

Wie unterscheidet sich nun die göttliche Besonnenheit von der sündigen?<br />

– Durch den Instinkt des Unbewußten und die Liebe dafür.<br />

§ 13 Der Instinkt des Menschen<br />

Das Mächtigste im Dichter, welches seinen Werken die gute und die<br />

böse Seele einbläset, ist gerade das Unbewußte. Daher wird ein großer<br />

wie Shakespeare Schätze öffnen und geben, welche er so wenig<br />

wie sein Körperherz selber sehen konnte, da die göttliche Weisheit<br />

immer ihr All in der schlafenden Pflanze und im Tierinstinkt ausprägt<br />

und in der beweglichen Seele ausspricht. Überhaupt sieht die Besonnenheit<br />

nicht das Sehen, sondern nur das abgespiegelte oder zergliederte<br />

Auge; und das Spiegeln spiegelt sich nicht. Wären wir uns<br />

unserer ganz bewußt, so wären wir unsre Schöpfer und schrankenlos.<br />

Ein unauslöschliches Gefühl stellet in uns etwas Dunkles, was<br />

nicht unser Geschöpf, sondern unser Schöpfer ist, über alle unsre<br />

Geschöpfe. So treten wir, wie es Gott auf Sinai befahl, vor ihn mit<br />

einer Decke über den Augen.<br />

Wenn man die Kühnheit hat, über das Unbewußte und Unergründliche<br />

zu sprechen: so kann man nur dessen Dasein, nicht dessen Tiefe<br />

bestimmen wollen. Zum Glück kann ich im folgenden mit Platons<br />

und Jacobis Musenpferden pflügen, obwohl für eignen Samen.<br />

Der Instinkt oder Trieb ist der Sinn der Zukunft; er ist blind, aber nur,<br />

wie das Ohr blind ist gegen Licht und das Auge taub gegen Schall. Er<br />

bedeutet und enthält seinen Gegenstand ebenso wie die Wirkung der<br />

Ursache; und wär' uns das Geheimnis aufgetan, wie die mit der gegebenen<br />

Ursache notwendig ganz und zugleich gegebene Wirkung<br />

doch in der Zeit erst der Ursache nachfolget: so verständen wir auch,<br />

wie der Instinkt zugleich seinen Gegenstand fodert, bestimmt, kennt<br />

und doch entbehrt. Jedes Gefühl der Entbehrung setzt die Verwandtschaft<br />

mit dem Entbehrten, also schon dessen teilweisen Besitz vor-<br />

29


aus 8 ; aber doch nur wahre Entbehrung macht den Trieb, eine Ferne<br />

die Richtung möglich. Es gibt, wie körperlich organische, so geistig<br />

/61/<br />

organische Zirkel; wie z.B. Freiheit und Notwendigkeit oder Wollen<br />

und Denken sich wechselseitig voraussetzen.<br />

Nun gibt es im reinen Ich so gut einen Sinn der Zukunft oder Instinkt<br />

wie im unreinen Ich und am Tiere, und sein Gegenstand ist zugleich<br />

so entlegen als gewiß; es müßte denn gerade im Menschen-Herzen<br />

die allgemeine Wahrhaftigkeit der Natur die erste Lüge sagen. Dieser<br />

Instinkt des Geistes – welcher seine Gegenstände ewig ahnet und<br />

fodert ohne Rücksicht auf Zeit, weil sie über jede hinauswohnen –<br />

macht es möglich, daß der Mensch nur die Worte Irdisch, Weltlich,<br />

Zeitlich u.s.w. aussprechen und verstehen kann; denn nur jener Instinkt<br />

gibt ihnen durch die Gegensätze davon den Sinn. Wenn sogar<br />

der gewöhnlichste Mensch das Leben und alles Irdische nur für ein<br />

Stück, für einen Teil ansieht: so kann nur eine Anschauung und Voraussetzung<br />

eines Ganzen in ihm diese Zerstückung setzen und messen.<br />

Sogar dem gemeinsten Realisten, dessen Ideen und Tage sich<br />

auf Raupenfüßen und Raupenringen fortwälzen, macht ein unnennbares<br />

Etwas das breite Leben zu enge; er muß dieses Leben entweder<br />

für ein verworren-tierisches, oder für ein peinlich-lügendes, oder<br />

für ein leeres zeit-vertreibendes Spiel ausrufen, oder, wie die ältern<br />

Theologen, für ein gemein-lustiges Vorspiel zu einem Himmel-Ernst,<br />

für die kindische Schule eines künftigen Throns, folglich für das Widerspiel<br />

der Zukunft. So wohnt schon in irdischen, ja erdigen Herzen<br />

etwas ihnen Fremdes, wie auf dem Harze die Koral len-Insel, welche<br />

vielleicht die frühsten SchöpfungWasser absetzten.<br />

Es ist einerlei, wie man diesen überirdischen Engel des innern Lebens,<br />

diesen Todesengel des Weltlichen im Menschen nennt oder<br />

seine Zeichen aufzählt: genug, wenn man ihn nur nicht in seinen Verkleidungen<br />

verkennt. Bald zeigt er sich den in Schuld und Leib tief<br />

eingehüllten Menschen als ein Wesen, vor dessen Gegenwert, nicht<br />

vor dessen Wirkung wir uns entsetzen 9 ; wir nennen das Gefühl Geisterfurcht,<br />

und das Volk sagt bloß: »Die Gestalt, das Ding lässet sich<br />

hören«, ja oft, um das Unendliche auszudrücken, bloß: es. Bald zeigt<br />

sich der Geist als den Unendlichen,<br />

/62/<br />

und der Mensch betet. Wär' er nicht, wir wären mit den Gärten der<br />

Erde zufrieden; aber er zeigt uns in tiefen Himmeln die rechten Paradiese.<br />

– Er zieht die Abendröte vom romantischen Reiche weg, und<br />

8 Denn reine Negation oder Leerheit schlösse jedes entgegengesetzte<br />

Bestreben aus, und die negative Größe wirkte wie eine positive.<br />

9 Unsichtbare Loge, I. 278.<br />

30


wir blicken in die schimmernden Mond-Länder voll Nachtblumen,<br />

Nachtigallen, Funken, Feen und Spiele hinein.<br />

Es gab zuerst Religion – Todesfurchtgriechisches Schicksal – Aberglauben<br />

– und Prophezeiung 10 – und den Durst der Liebe den Glauben<br />

an einen Teufel – die Romantik, diese verkörperte Geisterwelt,<br />

so wie die griechische Mythologie, diese vergötterte Körperwelt.<br />

Was wird nun der göttliche Instinkt in gemeiner Seele vollends werden<br />

und tun in der genialen?<br />

§ 14 Instinkt des Genies oder genialer Stoff<br />

Sobald im Genius die übrigen Kräfte höher stehen, so muß auch die<br />

himmlische über alle, wie ein durchsichtiger reiner Eisberg über dunkle<br />

Erden-Alpen, sich erheben. Ja eben dieser hellere Glanz des überirdischen<br />

Triebes wirft jenes Licht durch die ganze Seele, das man<br />

Besonnenheit nennt; der augenblickliche Sieg über das Irdische, über<br />

dessen Gegenstände und unsere Triebe dahin, ist eben der Charakter<br />

des Göttlichen, ein Vernichtungkrieg ohne Möglichkeit des Vertrags,<br />

wie ja schon der moralische Geist in uns als ein unendlicher<br />

nichts außer sich für groß erkennt. Sobald alles eben und gleich gemacht<br />

worden, ist das Übersehen der Besonnenheit leicht.<br />

Hier ist nun der Streit, ob die Poesie Stoff bedürfe oder nur mit Form<br />

regiere, leichter zu schließen. Allerdings gibt es einen äußern mechanischen<br />

Stoff, womit uns die Wirklichkeit (die äußere und die psychologische)<br />

umgibt und oft überbauet, welcher, ohne Veredlung<br />

durch Form, der Poesie gleichgültig ist und gar<br />

/63/<br />

nichts; so daß es einerlei bleibt, ob die leere Seele einen Christus<br />

oder dessen Verräter Judas besinge.<br />

Aber es gibt ja etwas Höheres, als was der Tag wiederholt. Es gibt<br />

einen innern Stoff gleichsam angeborne unwillkürliche Poesie, um<br />

welche die Form nicht die Folie, sondern nur die Fassung legt. Wie<br />

der sogenannte kategorische Imperativ (das Bild der Form, so wie die<br />

äußere Handlung das Bild des äußern Stoffs) der Psyche nur den<br />

Scheideweg zeigt, ihr aber nicht das weiße Roß 11 vorspannen kann,<br />

das ihn geht und das schwarze überzieht; und wie die Psyche das<br />

weiße zwar lenken und pflegen, aber nicht erschaffen kann: ebenso<br />

ists mit dem Musenpferd, das am Ende jenes weiße ist, nur mir Flügeln.<br />

Dieser Stoff macht die geniale Originalität, welche der Nachah-<br />

10 Prophezeiung, oder deren Ganzes, Allwissenheit, ist nach unserm Gefühl<br />

etwas Höheres als bloßes vollständiges Erkennen der Ursache, mit welchem<br />

ja der Schluß oder vielmehr die Ansicht der Wirkung sofort gegeben<br />

wäre; denn alsdann wäre sie nicht ein Antizipieren oder Vernichten<br />

der Zeit, sondern ein bloßes Anschauen, d.h. Erleben derselben.<br />

11 Platon bildet bekanntlich mit dem weißen das moralische Genie in uns<br />

ab, und mit dem schwarzen Kants Radikal-Böses.<br />

31


mer bloß in der Form und Manier sucht; so wie er zugleich die geniale<br />

Gleichheit erzeugt; denn es gibt nur ein Göttliches, obwohl vielerlei<br />

Menschliches. Wie Jacobi den philosophischen Tiefsinn aller Zeiten<br />

konzentrisch findet, aber nicht den philosophischen Scharfsinn 12 : so<br />

stehen die dichterischen Genies zwar wie Sterne bei ihrem Aufgange<br />

anfangs scheinbar weiter auseinander, aber in der Höhe, im Scheitelpunkt<br />

der Zeit, rücken sie wie die Sterne zusammen. Hundert Lichter<br />

in einem Zimmer geben nur ein zusammengeflossenes Licht, obwohl<br />

hundert Schatten (Nachahmer). Was gegen den Nachahmer<br />

erkältet, ja oft erbittert, ist nicht etwan ein Raub an witzigen, bildlichen,<br />

erhabenen Gedanken seines Musters – denn nicht selten sind<br />

sie sein eignes Erzeugnis –, sondern es ist das, oft wider Willen der<br />

Parodie verwandte, Nachspielen des Heiligsten im Urbilde, das Nachmachen<br />

des Angebornen. Eben diese Adoption des fremden<br />

Allerheiligsten kann nicht die elterliche Wärme für dasselbe erstatten;<br />

daher der Nachahmer seine Wärme gegen die Nebensachen, die ihm<br />

verwandter sind, ausdrückt und an diesen die Zieraten vervielfältigt;<br />

je kälter, je geschmückter. So ist gerade die kalte Sonne Siberiens<br />

den ganzen Tag mit vielen Nebensonnen und Ringen umzogen.<br />

/64/<br />

Das Herz des Genies, welchem alle andere Glanz und Hülfkräfte nur<br />

dienen, hat und gibt ein echtes Kennzeichen, nämlich neue Welt oder<br />

Lebens-Anschauung. Das Talent stellet nur Teile dar, das Genie das<br />

Ganze des Lebens, bis sogar in einzelnen Sentenzen, welche bei<br />

Shakespeare häufig von der Zeit und Welt, bei Homer und andern<br />

Griechen von den Sterblichen, bei Schiller von dem Leben sprechen.<br />

Die höhere Art der Weltanschauung bleibt als das Feste und Ewige<br />

im Autor und Menschen unverrückt, indes alle einzelnen Kräfte in den<br />

Ermattungen des Lebens und der Zeit wechseln und sinken können;<br />

ja der Genius muß schon als Kind die neue Welt mit andern Gefühlen<br />

als andere aufgenommen und daraus das Gewebe der künftigen Blüten<br />

anders gesponnen haben, weil ohne den frühern Unterschied<br />

kein gewachsener denkbar wäre. Eine Melodie geht durch alle Absätze<br />

des Lebens-Liedes. Nur die äußere Form erschafft der Dichter<br />

in augenblicklicher Anspannung; aber den Geist und Stoff trägt er<br />

durch ein halbes Leben, und in ihm ist entweder jeder Gedanke Gedicht<br />

oder gar keiner.<br />

Dieser Weltgeist des Genius beseelet, wie jeder Geist, alle Glieder<br />

eines Werks, ohne ein einzelnes zu bewohnen. Er kann sogar den<br />

Reiz der Form durch seinen höhern entbehrlich machen, und der<br />

Goethesche z.B. würde uns, wie im nachlässigsten Gedichte, so in<br />

der Reichs-Prose doch anreden. Sobald nur eine Sonne dasteht, so<br />

zeigt sie mit einem Stiftchen so gut die Zeit als mit einem Obeliskus.<br />

Dies ist der Geist, der nie Beweise gibt 13 , nur sich und seine An-<br />

12 Jacobi über Spinoza. Neue Auflage S. 17.<br />

13 Über das Ganze des Lebens oder Seins gibt es nur Anschauungen; über<br />

Teile Beweise, welche sich auf jene gründen.<br />

32


schauung, und dann vertrauet auf den verwandten, und heruntersieht<br />

auf den feindselig geschaffnen.<br />

Manchem göttlichen Gemüte wird vom Schicksal eine unförmliche<br />

Form aufgedrungen, wie dem Sokrates der Satyr-Leib; denn über die<br />

Form, nicht über den innern Stoff regiert die Zeit. So hing der poetische<br />

Spiegel, womit Jakob Böhme Himmel und Erde wiedergibt, in<br />

einem dunklen Orte; auch mangelt dem Glase an einigen Stellen die<br />

Folie. So ist der große Hamann ein tiefer Himmel voll teleskopischer<br />

Sterne, und manche Nebelflecken löset kein Auge auf.<br />

/65/<br />

Darum kamen manche reiche Werke dem Stilistiker, der nur nach<br />

Leibern gräbt und nicht Geister sucht, so arm vor, als die majestätischen<br />

hohen Schweizergebirge dem Bergknappen gegen tiefe Bergwerke<br />

erscheinen. Er sagt, er vermöge wenig oder nichts aus Werken<br />

dieser Art zu ziehen und zu exzerpieren; was so viel ist, als wenn er<br />

klagte, er könne mit und von der Freundschaft nichts weiter gewinnen<br />

als die Freundschaft selber. So kann es philosophische Werke geben,<br />

welche uns philosophischen Geist einhauchen, ohne in besondern<br />

philosophischen Paragraphen Stoff abzusetzen, z.B. einige von<br />

Hemsterhuis und Lessing. So kam über eben diesen besonnenen<br />

Lessing, welcher früher über poetische Gegenstände mehr dachte als<br />

sang, eigentlich nur in seinem Nathan und seinem Falk der dichterische<br />

Pfingstgeist, ein paar Gedichte, welche der gemeine Kritiker<br />

seinem Alter gern vergibt, an die Emilie Galotti sich haltend. Freilich<br />

die poetische Seele läßt sich, wie unsere, nur am ganzen Körper zeigen,<br />

aber nicht an einzelnen, obwohl von ihr belebten Fußzehen und<br />

Fingern, welche etwan ein Beispielsammler ausrisse und hinhielte mit<br />

den Worten: seht, wie regt sich das Spinnenbein!<br />

§ 15 Das geniale Ideal<br />

Wenn es der gewöhnliche Mensch gut meint mit seinen Gefühlen, so<br />

knüpfet er – wie sonst jeder Christ es tat – das feiste Leben geradezu<br />

einem zweiten ätherischen nach dem Tode glaubend an, welches<br />

eben zu jenem wie Geist zu Körper passet, nur aber so wenig durch<br />

vorherbestimmte Harmonie, Einfluß, Gelegenheit mit ihm verbunden<br />

ist, daß anfangs der Leib allein erscheint und waltet, hinterher der<br />

Geist. Je weiter ein Wesen vom Mittelpunkte absteht, desto breiter<br />

laufen ihm dessen Radien auseinander; und ein dumpfer hohler Polype<br />

müßte, wenn er sich ausspräche, mehr Widersprüche in der<br />

Schöpfung finden als alle Seefahrer.<br />

Und so findet man denn bei dem Volke innere und äußere Welt, Zeit<br />

und Ewigkeit als sittliche oder christliche Antithese bei dem Philosophen<br />

als fortgesetzten Gegensatz, nur mit wechselnder<br />

/66/<br />

33


Vernichtung der einen Welt durch die andere – bei dem bessern<br />

Menschen als wechselndes Verfinstern, wie zwischen Mond und Erde<br />

herrscht; bald ist am Janus-Kopfe des Menschen, welcher nach<br />

entgegengesetzten Welten schauet, das eine Augenpaar, bald das<br />

andere zugeschlossen oder zugedeckt.<br />

Wenn es aber Menschen gibt, in welchen der Instinkt des Göttlichen<br />

deutlicher und lauter spricht als in andern; – wenn er in ihnen das<br />

Irdische anschauen lehrt (anstatt in andern das Irdische ihn); – wenn<br />

er die Ansicht des Ganzen gibt und beherrscht: so wird Harmonie und<br />

Schönheit von beiden Welten widerstrahlen und die zu einem Ganzen<br />

machen, da es vor dem Göttlichen nur eines und keinen Widerspruch<br />

der Teile gibt. Und das ist der Genius; und die Aussöhnung<br />

beider Welten ist das sogenannte Ideal. Nur durch Himmelskarten<br />

können Erdkarten gemacht werden; nur durch den Standpunkt von<br />

oben herab (denn der von unten hinauf schneidet ewig den Himmel<br />

mit einer breiten Erde entzwei) entsteht uns eine ganze Himmelskugel,<br />

und die Erdkugel selber wird zwar klein, aber rund und glänzend<br />

darin schwimmen. Daher kann das bloße Talent, das ewig die Götterwelt<br />

zum Nebenplaneten oder höchstens zum Saturn-Ring einer<br />

erdigen Welt erniedrigt, niemals ideal runden und mit dem Teil kein<br />

All ersetzen und erschaffen. Wenn die Greise der Prose, gleich leiblichen<br />

versteinert und voll Erde 14 , uns die Armut, den Kampf mit dem<br />

bürgerlichen Leben oder dessen Siege sehen lassen: so wird uns so<br />

eng und bang beim Gesicht, als müßten wir die Not wirklich erleben;<br />

und in der Tat erlebt man ja doch das Gemälde und dessen Wirkung;<br />

und so fehlt immer ihrem Schmerze ein Himmel und sogar ihrer<br />

Freude ein Himmel. Sogar das Erhabne der Wirklichkeit treten sie<br />

platt, z.B. (wie Leichenpredigten zeigen) das Grab, nämlich das Sterben,<br />

dieses Verleben zwischen zwei Welten, und so die Liebe, die<br />

Freundschaft. Man begegne wenigstens in dem Wundfieber der Wirklichkeit<br />

ihnen nicht, die mit dem Wundpinsel ihrer Dicht-Prose ein<br />

neues ins<br />

/67/<br />

alte impfen, und durch deren Poesien echte nötig werden, um die<br />

falsche nur zu verschmerzen.<br />

Wenn hingegen der Genius uns über die Schlachtfelder des Lebens<br />

führt: so sehen wir so frei hinüber, als wenn der Ruhm oder die Vaterlandsliebe<br />

vorausginge mit den zurückflatternden Fahnen; und neben<br />

ihm gewinnt die Dürftigkeit wie vor einem Paar Liebenden eine arkadische<br />

Gestalt. Überall macht er das Leben frei und den Tod schön;<br />

auf seiner Kugel sehen wir, wie auf dem Meer, die tragenden Segel<br />

früher als das schwere Schiff. Auf diese Weise versöhnet, ja vermählt<br />

er – wie die Liebe und die Jugend – das unbehülfliche Leben mit dem<br />

ätherischen Sinn, so wie am Ufer eines stillen Wassers der äußere<br />

14 Bekanntlich werden im Alter die Gefäße Knorpel und die Knorpel Knochen,<br />

und es kommt so lange Erde in den Körper, bis der Körper in die<br />

Erde kommt.<br />

34


und der abgespiegelte Baum aus einer Wurzel nach zwei Himmeln zu<br />

wachsen scheinen<br />

35


Friedrich Hölderlin: Über die Verfahrungsweise des poetischen<br />

Geistes<br />

In: Sämtliche Werke. Bd.4, Stuttgart: Cotta, 1946-1962, S.251-276<br />

/251/<br />

Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist, wenn er die gemeinschaftliche<br />

Seele, die allem gemein und jedem eigen ist, gefühlt<br />

und sich zugeeignet, sie festgehalten, sich ihrer versichert hat, wenn<br />

er ferner der freien Bewegung, des harmonischen Wechsels und<br />

Fortstrebens, worin der Geist sich in sich selber und in anderen zu<br />

reproduzieren geneigt ist, wenn er des schönen im Ideale des Geistes<br />

vorgezeichneten Progresses und seiner poetischen Folgerungsweise<br />

gewiß ist, wenn er eingesehen hat, daß ein notwendiger Widerstreit<br />

entstehe zwischen der ursprünglichsten Forderung des Geistes,<br />

die auf Gemeinschaft und einiges Zugleichsein aller Teile geht,<br />

und zwischen der anderen Forderung, welche ihm gebietet, aus sich<br />

heraus zu gehen, und in einem schönen Fortschritt und Wechsel sich<br />

in sich selbst und in anderen zu reproduzieren, wenn dieser Widerstreit<br />

ihn immer festhält und fortzieht, auf dem Wege zur Ausführung,<br />

wenn er ferner eingesehen hat, daß einmal jene Gemeinschaft und<br />

Verwandtschaft aller Teile, jener geistige Gehalt gar nicht fühlbar wäre,<br />

wenn diese nicht dem sinnlichen Gehalte, dem Grade nach, auch<br />

den harmonischen Wechsel abgerechnet, auch bei der Gleichheit der<br />

geistigen Form (des Zugleich- und Beisammenseins), verschieden<br />

wären, daß ferner jener harmonische Wechsel, jenes Fortstreben,<br />

wieder nicht fühlbar und ein leeres leichtes Schattenspiel wäre, wenn<br />

die wechselnden Teile, auch bei der Verschiedenheit des sinnlichen<br />

Gehalts, nicht in der sinnlichen Form sich unter dem Wechsel und<br />

Fortstreben gleich bleiben, wenn er eingesehen hat, daß jener Widerstreit<br />

zwischen geistigem Gehalt (zwischen der Verwandtschaft<br />

aller Teile) und geistiger Form (dem<br />

/252/<br />

Wechsel aller Teile), zwischen dem Verweilen und Fortstreben des<br />

Geistes, sich dadurch löse, daß eben beim Fortstreben des Geistes,<br />

beim Wechsel der geistigen Form die Form des Stoffes in allen Teilen<br />

identisch bleibe, und daß sie eben so viel ersetze, als von ursprünglicher<br />

Verwandtschaft und Einigkeit der Teile verloren werden muß im<br />

harmonischen Wechsel, daß sie den objektiven Gehalt ausmache im<br />

Gegensatze gegen die geistige Form, und dieser ihre völlige Bedeutung<br />

gebe, daß auf der anderen Seite der materielle Wechsel des<br />

Stoffes, der das Ewige des geistigen Gehalts begleitet, die Mannigfaltigkeit<br />

desselben die Forderungen des Geistes, die er in seinem Fort-<br />

36


schritt macht, und die durch die Forderung der Einigkeit und Ewigkeit<br />

in jedem Momente aufgehalten sind, befriedige, daß eben dieser materielle<br />

Wechsel die objektive Form, die Gestalt ausmache im Gegensatze<br />

gegen den geistigen Gehalt; wenn er eingesehen hat, daß andererseits<br />

der Widerstreit zwischen dem materiellen Wechsel, und<br />

der materiellen Identität, dadurch gelöst werde, daß der Verlust von<br />

materieller Identität 15 , von leidenschaftlichem, die Unterbrechung fliehendem<br />

Fortschritt<br />

/253/<br />

ersetzt wird durch den immerforttönenden allesausgleichenden geistigen<br />

Gehalt, und der Verlust an materieller Mannigfaltigkeit, der<br />

durch das schnellere Fortstreben zum Hauptpunkt und Eindruck,<br />

durch diese materielle Identität entsteht, ersetzt wird, durch die immerwechselnde<br />

idealische geistige Form; wenn er eingesehen hat,<br />

wie umgekehrterweise eben der Widerstreit zwischen geistigem ruhigem<br />

Gehalt und geistiger wechselnder Form, so viel sie unvereinbar<br />

sind, so auch der Widerstreit zwischen materiellem Wechsel und materiellem<br />

identischem Fortstreben zum Hauptmoment, so viel sie unvereinbar<br />

sind, das eine wie das andere fühlbar macht, wenn er endlich<br />

eingesehen hat, wie der Widerstreit des geistigen Gehalts und<br />

der idealischen Form einerseits, und des materiellen Wechsels und<br />

identischen Fortstrebens andererseits sich vereinigen in den Ruhepunkten<br />

und Hauptmomenten, und so viel sie in diesen nicht verein-<br />

15 materielle Identität? sie muß ursprünglich das im Stoffe sein, vor dem<br />

materiellen Wechsel, was im Geiste die Einigkeit vor dem idealischen<br />

Wechsel ist, sie muß der sinnliche Berührungspunkt aller Teile sein. Der<br />

Stoff muß nämlich auch, wie der Geist, vom Dichter zu eigen gemacht,<br />

und festgehalten werden, mit freiem Interesse, wenn er einmal in seiner<br />

ganzen Anlage gegenwärtig ist, wenn der Eindruck, den er auf den Dichter<br />

gemacht, das erste Wohlgefallen, das auch zufällig sein könnte, untersucht,<br />

und als rezeptiv für die Behandlung des Geistes und wirksam,<br />

angemessen gefunden worden ist, für den Zweck, daß der Geist sich in<br />

sich selber und in anderen reproduziere, wenn er nach dieser Untersuchung<br />

wieder empfunden, und in allen seinen Teilen wieder hervorgerufen,<br />

und in einer noch unausgesprochenen gefühlten Wirkung begriffen<br />

ist. Und diese Wirkung ist eigentlich die Identität des Stoffs, weil in ihr<br />

sich alle Teile konzentrieren. Aber sie ist unbestimmt gelassen, der Stoff<br />

ist noch unentwickelt. Er muß in allen seinen Teilen deutlich ausgesprochen,<br />

und eben hiedurch in der Lebhaftigkeit seines Totaleindrucks geschwächt<br />

werden. Er muß dies, denn in der unausgesprochenen Wirkung<br />

ist er wohl dem Dichter, aber nicht anderen gegenwärtig, überdies hat<br />

dies in der unausgesprochenen Wirkung der Geist noch nicht wirklich reproduziert,<br />

sie gibt ihm nur die Fähigkeit, die im Stoffe dazu liegt, zu erkennen,<br />

und ein Streben, die Reproduktion zu realisieren. Der Stoff muß<br />

also verteilt, der Totaleindruck muß aufgehalten, und die Identität ein<br />

Fortstreben von einem Punkte zum andern werden, wo denn der Totaleindruck<br />

sich wohl also findet, daß der Anfangspunkt und Mittelpunkt und<br />

Endpunkt in der innigsten Beziehung stehen, so daß beim Beschlusse<br />

der Endpunkt auf den Anfangspunkt und dieser auf den Mittelpunkt zurückkehrt.<br />

37


ar sind, eben in diesen auch und ebendeswegen fühlbar und gefühlt<br />

werden, wenn er dieses eingesehen hat, so kommt ihm alles an auf<br />

die Rezeptivität des Stoffs zum idealischen Gehalt und zur idealischen<br />

Form. Ist er des einen gewiß und mächtig wie des andern, der<br />

Rezeptivität des Stoffs, wie des Geistes, so kann es im Hauptmomente<br />

nicht fehlen.<br />

/254/<br />

Wie muß nun der Stoff beschaffen sein, der für das Idealische, für<br />

seinen Gehalt, für die Metapher, und seine Form, den Übergang, vorzüglich<br />

rezeptiv ist?<br />

Der Stoff ist entweder eine Reihe Voll Begebenheiten, oder Anschauungen,<br />

Wirklichkeiten, subjektiv oder objektiv zu beschreiben,<br />

zu malen, oder er ist eine Reihe von Bestrebungen, Vorstellungen,<br />

Gedanken, oder Leidenschaften, Notwendigkeiten, subjektiv oder<br />

objektiv zu bezeichnen, oder eine Reihe von Phantasien, Möglichkeiten,<br />

subjektiv oder objektiv zu bilden. 16 In allen drei Fällen muß er der<br />

idealischen Behandlung fähig sein, wenn nämlich ein echter Grund<br />

zu den Begebenheiten, zu den Anschauungen, die erzählt, beschrieben,<br />

oder zu den Gedanken und Leidenschaften, welche gezeichnet,<br />

oder zu den Phantasien, welche gebildet werden sollen, vorhanden<br />

ist, wenn die Begebenheiten oder Anschauungen hervorgehn aus<br />

rechten Bestrebungen, die Gedanken und Leidenschaften aus einer<br />

rechten Sache, die Phantasien aus schöner Empfindung. Dieser<br />

Grund des Gedichts, seine Bedeutung, soll den Übergang bilden zwischen<br />

dem Ausdruck, dem Dargestellten, dem sinnlichen Stoffe, dem<br />

eigentlich Ausgesprochenen im Gedichte, und zwischen dem Geiste,<br />

der idealischen Behandlung. Die Bedeutung des Gedichts kann<br />

zweierlei heißen, so wie auch der Geist, das Idealische, wie auch der<br />

Stoff, die Darstellung, zweierlei heißen, nämlich in so fern es angewandt<br />

oder unangewandt verstanden wird. Unangewandt sagen diese<br />

Worte nichts aus, als die poetische Verfahrungsweise, wie sie genialisch<br />

und vom Urteile geleitet in jedem echtpoetischen Geschäfte<br />

bemerkbar ist; angewandt bezeichnen jene Worte die Angemessenheit<br />

des jedesmaligen<br />

/255/<br />

poetischen Wirkungskreises zu jener Verfahrungsweise, die Möglichkeit,<br />

die im Elemente liegt, jene Verfahrungsweise zu realisieren, so<br />

daß man sagen kann, im jedesmaligen Elemente liege objektiv und<br />

reell Idealisches dem Idealischen, Lebendiges dem Lebendigen, Indi-<br />

16 Ist die Empfindung Bedeutung, so ist die Darstellung bildlich, und die<br />

geistige Behandlung zeigt sich episodisch. Ist die intellektuelle Anschauung<br />

Bedeutung, so ist der Ausdruck, das Materielle, leidenschaftlich, die<br />

geistige Behandlung zeigt sich mehr im Stil. Ist die Bedeutung ein eigentlicherer<br />

Zweck, so ist der Ausdruck sinnlich, die freie Behandlung metaphorisch.<br />

38


viduelles dem Individuellen gegenüber, und es fragt sich nur, was<br />

unter diesem Wirkungskreise zu verstehen sei. Er ist das, worin und<br />

woran das jedesmalige poetische Geschäft und Verfahren sich realisiert,<br />

das Vehikel des Geistes, wodurch er sich in sich selbst und in<br />

andern reproduziert. An sich ist der Wirkungskreis größer als der<br />

poetische Geist, aber nicht für sich selber. Insofern er im Zusammenhange<br />

der Welt betrachtet wird, ist er größer; insofern er vom Dichter<br />

festgehalten, und zugeeignet ist, ist er subordiniert. Er ist der Tendenz<br />

nach, dem Gehalte seines Strebens nach dem poetischen Geschäfte<br />

entgegen, und der Dichter wird nur zu leicht durch seinen<br />

Stoff irre geführt, indem dieser aus dem Zusammenhange der lebendigen<br />

Welt genommen der poetischen Beschränkung widerstrebt,<br />

indem er dem Geiste nicht bloß als Vehikel dienen will; indem, wenn<br />

er auch recht gewählt ist, sein nächster und erster Fortschritt in<br />

Rücksicht auf ihn Gegensatz und Sporn ist in Rücksicht auf die dichterische<br />

Erfüllung, so daß sein zweiter Fortschritt zum Teil unerfüllt,<br />

zum Teil erfüllt werden muß. p. p.<br />

Es muß sich aber zeigen, wie dieses Widerstreits ungeachtet, in dem<br />

der poetische Geist bei seinem Geschäfte mit dem jedesmaligen<br />

Elemente und Wirkungskreise steht, dieser dennoch jenen begünstige,<br />

und wie sich jener Widerstreit auflöse, wie in dem Elemente, das<br />

sich der Dichter zum Vehikel wählt, dennoch eine Rezeptivität für das<br />

poetische Geschäft liege, und wie er alle Forderungen, die ganze<br />

poetische Verfahrungsweise in ihrem Metaphorischen, ihrem Hyperbolischen,<br />

und ihrem Charakter in sich realisiere in Wechselwirkung<br />

mit dem Elemente, das zwar in seiner anfänglichen Tendenz widerstrebt,<br />

und gerade entgegengesetzt ist, aber im Mittelpunkte sich mit<br />

jenen vereiniget.<br />

/256/<br />

Zwischen dem Ausdrucke (der Darstellung) und der freien idealischen<br />

Behandlung liegt die Begründung und Bedeutung des Gedichts.<br />

Sie ists, die dem Gedichte seinen Ernst, seine Festigkeit, seine<br />

Wahrheit gibt, sie sichert das Gedicht davor, daß die freie idealische<br />

Behandlung nicht zur leeren Manier, und Dar stellung nicht zur<br />

Eitelkeit werde. Sie ist das Geistigsinnliche, das Formalmaterielle,<br />

des Gedichts; und wenn die idealische Behandlung in ihrer Metapher,<br />

ihrem Übergang, ihren Episoden, mehr vereinigend ist, hingegen der<br />

Ausdruck, die Darstellung in ihren Charakteren, ihrer Leidenschaft,<br />

ihren Individualitäten, mehr trennend, so stehet die Bedeutung zwischen<br />

beiden, sie zeichnet sich aus dadurch, daß sie sich selber<br />

überall entgegengesetzt ist: daß sie, statt daß der Geist alles der<br />

Form nach Entgegengesetzte vergleicht, alles Einige trennt, alles<br />

Freie festsetzt, alles Besondere verallgemeinert, weil nach ihr das<br />

Behandelte nicht bloß ein individuelles Ganze, noch ein mit seinem<br />

Harmonischentgegengesetzten zum Ganzen verbundenes Ganze,<br />

sondern ein Ganzes überhaupt ist und die Verbindung mit dem Harmonischentgegengesetzten<br />

auch möglich ist durch ein der individuellen<br />

Tendenz nach, aber nicht der Form nach Entgegengesetztes; daß<br />

sie durch Entgegensetzung, durch das Berühren der Extreme vereiniget,<br />

indem diese sich nicht dem Gehalte nach, aber in der Richtung<br />

39


und dem Grade der Entgegensetzung vergleichbar sind, so daß sie<br />

auch das Widersprechendste vergleicht, und durchaus hyperbolisch<br />

ist, daß sie nicht fortschreitet durch Entgegensetzung in der Form, wo<br />

aber das erste dem zweiten dem Gehalte nach verwandt ist, sondern<br />

durch Entgegensetzung im Gehalt, wo aber das erste dem zweiten<br />

der Form nach gleich ist, so daß naive und heroische und idealische<br />

Tendenz, im Objekt ihrer Tendenz, sich widersprechen, aber in der<br />

Form des Widerstreits und Strebens vergleichbar sind, und einig<br />

nach dem Gesetze der Tätigkeit, also einig im Allgemeinsten, im Leben.<br />

Eben dadurch, durch dieses hyperbolische Verfahren, nach welchem<br />

das Idealische, harmonisch Entgegengesetzte und Verbundene,<br />

/257/<br />

nicht bloß als dieses, als schönes Leben, sondern auch als Leben<br />

überhaupt betrachtet, also auch als eines andern Zustandes fähig<br />

betrachtet wird, und zwar nicht eines andern harmonischentgegengesetzten,<br />

sondern eines geradentgegengesetzten, eines Äußersten, so<br />

daß dieser neue Zustand mit dem vorigen nur vergleichbar ist durch<br />

die Idee des Lebens überhaupt, – eben dadurch gibt der Dichter dem<br />

Idealischen einen Anfang, eine Richtung, eine Bedeutung. Das Idealische<br />

in dieser Gestalt ist der subjektive Grund des Gedichts, von<br />

dem aus, auf den zurückgegangen wird, und da das innere idealische<br />

Leben in verschiedenen Stimmungen aufgefaßt, als Leben überhaupt,<br />

als ein Verallgemeinbares, als ein Festsetzbares, als ein<br />

Trennbares betrachtet werden kann, so gibt es auch verschiedene<br />

Arten des subjektiven Begründens; entweder wird die idealische<br />

Stimmung als Empfindung aufgefaßt, dann ist sie der subjektive<br />

Grund des Gedichts, die Hauptstimmung des Dichters beim ganzen<br />

Geschäfte, und eben weil sie als Empfindung festgehalten ist, wird<br />

sie durch das Begründen als ein Verallgemeinbares betrachtet, –<br />

oder sie wird als Streben festgesetzt, dann wird sie die Hauptstimmung<br />

des Dichters beim ganzen Geschäfte, und daß sie als Streben<br />

festgesetzt ist, macht, daß sie als Erfüllbares durch das Begründen<br />

betrachtet wird, oder wird sie als intellektuale Anschauung festgehalten,<br />

dann ist diese die Grundstimmung des Dichters beim ganzen<br />

Geschäfte, und eben daß sie als diese festgehalten worden ist,<br />

macht, daß sie als Realisierbares betrachtet wird. Und so fordert und<br />

bestimmt die subjektive Begründung eine objektive, und bereitet sie<br />

vor. Im ersten Fall wird also der Stoff als Allgemeines zuerst, im zweiten<br />

als Erfüllendes, im dritten als Geschehendes, aufgefaßt werden.<br />

Ist das freie idealische poetische Leben einmal so fixiert, und ist ihm,<br />

je nachdem es fixiert war, seine Bedeutsamkeit gegeben, als Verallgemeinbares,<br />

als Erfüllbares, als Realisierbares, ist es, auf diese Art,<br />

durch die Idee des Lebens überhaupt, mit seinem direkt Entgegengesetzten<br />

verbunden, und hyperbolischgenommen, so fehlt in der Verfahrungsweise<br />

/258/<br />

40


des poetischen Geistes noch ein wichtiger Punkt, wodurch er seinem<br />

Geschäfte nicht die Stimmung, den Ton, auch nicht die Bedeutung<br />

und Richtung, aber die Wirklichkeit gibt.<br />

Als reines poetisches Leben betrachtet, bleibt nämlich seinem Gehalte<br />

nach, als vermöge des Harmonischen überhaupt und des zeitlichen<br />

Mangels ein mit Harmonischentgegengesetzten Verbundenes,<br />

das poetische Leben sich durchaus einig, und nur im Wechsel der<br />

Formen ist es entgegengesetzt, nur in der Art, nicht im Grunde seines<br />

Fortstrebens, es ist nur geschwungner oder zielender oder geworfner,<br />

nur zufällig mehr oder weniger unterbrochen; als durch die poetische<br />

Reflexion vermöge der Idee des Lebens überhaupt und des<br />

Mangels in der Einigkeit bestimmtes und begründetes Leben betrachtet,<br />

fängt es mit einer idealisch charakteristischen Stimmung an, es<br />

ist nun nicht mehr ein mit Harmonischentgegengesetzten Verbundenes<br />

überhaupt, es ist als solches in bestimmter Form vorhanden, und<br />

schreitet fort im Wechsel der Stimmungen, wo jedesmal die nachfolgende<br />

durch die vorhergehende bestimmt, und ihr dem Gehalt nach,<br />

das heißt, den Organen nach, in denen sie begriffen, entgegengesetzt<br />

und insofern individueller allgemeiner voller ist, so daß die verschiedenen<br />

Stimmungen nur in dem, worin das Reine seine Entgegensetzung<br />

findet, nämlich in der Art des Fortstrebens, verbunden<br />

sind, als Leben überhaupt, so daß das rein poetische Leben nicht<br />

mehr zu finden ist, denn in jeder der wechselnden Stimmungen ist es<br />

in besonderer Form also mit seinem Geradentgegenge setzten verbunden,<br />

also nicht mehr rein, im Ganzen ist es nur als fortstrebendes<br />

und nach dem Gesetze des Fortstrebens nur als Leben überhaupt<br />

vorhanden, und es herrscht auf diesem Gesichtspunkte durchaus ein<br />

Widerstreit von Individuellem (Materialem), Allgemeinem (Formalem)<br />

und Reinem.<br />

Das Reine in jeder besondern Stimmung begriffenes widerstreitet<br />

dem Organ, in dem es begriffen, es widerstreitet dem Reinen des<br />

andern Organs, es widerstreitet dem Wechsel.<br />

/259/<br />

Das Allgemeine widerstreitet als besonderes Organ (Form), als charakteristische<br />

Stimmung dem Reinen, welches es in dieser Stimmung<br />

begreift, es widerstreitet als Fortstreben im Ganzen dem Reinen,<br />

welches in ihm begriffen ist, es widerstreitet als charakteristische<br />

Stimmung der zunächst liegenden.<br />

Das Individuelle widerstreitet dem Reinen, welches es begreift, es<br />

widerstreitet der zunächst liegenden Form, es widerstreitet als Individuelles<br />

dem Allgemeinen des Wechsels.<br />

Die Verfahrungsweise des poetischen Geistes bei seinem Geschäfte<br />

kann also unmöglich hiemit enden. Wenn sie die wahre ist, so muß<br />

noch etwas anders in ihr aufzufinden sein, und es muß sich zeigen,<br />

daß die Verfahrungsart, welche dem Gedichte seine Bedeutung gibt,<br />

nur der Übergang vom Reinen zu diesem Aufzufindenden, so wie<br />

rückwärts von diesem zum Reinen ist. (Verbindungsmittel zwischen<br />

Geist und Zeichen.)<br />

41


Wenn nun das dem Geiste direkt entgegengesetzte, das Organ, worin<br />

er enthalten und wodurch alle Entgegensetzung möglich ist, könnte<br />

betrachtet und begriffen werden, nicht nur als das, wodurch das<br />

Harmonischverbundene formal entgegengesetzt, sondern, wodurch<br />

es auch formal verbunden ist, wenn es könnte betrachtet und begriffen<br />

werden, nicht nur als das, wodurch die verschiedenen unharmonischen<br />

Stimmungen materiell entgegengesetzt und formal verbunden,<br />

sondern wodurch sie auch materiell verbunden und formal entgegengesetzt<br />

sind, wenn es könnte betrachtet und begriffen werden<br />

nicht nur als das, was als verbindendes bloß formales Leben überhaupt,<br />

und als besonderes und materielles nicht verbindend, nur entgegensetzend<br />

und trennend, ist, wenn es als materielles als verbindend,<br />

wenn das Organ des Geistes könnte betrachtet werden als<br />

dasjenige, welches, um das Harmonischentgegengesetzte möglich<br />

zu machen, REZEPTIV sein muß so wohl für das eine, wie für das<br />

andre Harmonischentgegengesetzte, daß es also, insofern es für das<br />

rein poetische Leben formale Entgegensetzung<br />

/260/<br />

ist, auch formale Verbindung sein muß, daß es, insofern es für das<br />

bestimmte poetische Leben und seine Stimmungen material entgegensetzend<br />

ist, auch material verbindend sein muß, daß das begrenzende<br />

und bestimmende nicht bloß negativ, daß es auch positiv<br />

ist, daß es zwar bei harmonisch Verbundenem abgesondert betrachtet<br />

dem einen wie dem andern entgegengesetzt ist, aber beide zusammengedacht<br />

die Vereinigung von beiden ist, dann wird derjenige<br />

Akt des Geistes, welcher in Rücksicht auf die Bedeutung nur einen<br />

durchgängigen Widerstreit zur Folge hatte, ein ebenso vereinigender<br />

sein, als er entgegensetzend war.<br />

Wie wird er aber in dieser Qualität begriffen? als möglich und als<br />

Notwendig? Nicht bloß durch das Leben überhaupt, denn so ist er es,<br />

insofern er bloß als material entgegensetzend und formal verbindend,<br />

das Leben direkt bestimmend, betrachtet wird. Auch nicht bloß durch<br />

die Einigkeit überhaupt, denn so ist er es, insofern er bloß als formal<br />

entgegensetzend betrachtet wird, aber im Begriffe der Einheit des<br />

Einigen, so daß von Harmonischverbundenem eines wie das andere<br />

im Punkte der Entgegensetzung und Vereinigung vorhanden ist, und<br />

daß IN DIESEM PUNKTE DER GEIST IN SEINER UNENDLICHKEIT<br />

FÜHLBAR ist, der durch die Entgegensetzung als Endliches erschien,<br />

daß das Reine, das dem Organ an sich widerstritt, in eben<br />

diesem Organ sich selber gegenwärtig und so erst ein Lebendiges<br />

ist, daß, wo es in verschiedenen Stimmungen vorhanden ist, die unmittelbar<br />

auf die Grundstimmung folgende nur der verlängerte Punkt<br />

ist, der dahin, nämlich zum Mittelpunkte führt, wo sich die harmonisch<br />

entgegengesetzten Stimmungen begegnen, daß also gerade im<br />

stärksten Gegensatz, im Gegensatz der ersten idealischen und zweiten<br />

künstlich reflektierten Stimmung, in der materiellsten Entgegensetzung<br />

(die zwischen harmonisch verbundenem im Mittelpunkte zusammentreffendem,<br />

im Mittelpunkte gegenwärtigem Geist und Leben<br />

liegt), daß gerade in dieser materiellsten Entgegensetzung, welche<br />

sich selbst entgegengesetzt ist (in Beziehung<br />

42


261/<br />

auf den Vereinigungspunkt, wohin sie strebt), in den widerstreitenden<br />

fortstrebenden Akten des Geistes, wenn sie nur aus dem wechselseitigen<br />

Charakter der harmonischentgegengesetzten Stimmungen entstehen,<br />

daß gerade da das Unendlichste sich am fühlbarsten, am<br />

negativpositivsten und hyperbolisch darstellt, daß durch diesen Gegensatz<br />

der Darstellung des Unendlichen im widerstreitenden Fortstreben<br />

zum Punkt, und seines Zusammentreffens im Punkt die simultane<br />

Innigkeit und Unterscheidung der harmonischentgegengesetzten<br />

lebendigen zum Grunde liegenden Empfindung ersetzt und<br />

zugleich klarer von dem freien Bewußtsein und gebildeter, allgemeiner,<br />

als eigene Welt der Form nach, als Welt in der Welt, und so als<br />

Stimme des Ewigen zum Ewigen dargestellt wird.<br />

Der Poetische Geist kann also in der Verfahrungs weise, die er bei<br />

seinem Geschäfte beobachtet, sich nicht begnügen, in einem harmonischentgegengesetzten<br />

Leben, auch nicht bei dem Auffassen und<br />

Festhalten desselben durch hyperbolische Entgegensetzung, wenn<br />

er so weit ist, wenn es seinem Geschäfte weder an harmonischer<br />

Einigkeit noch an Bedeutung und Energie gebricht, weder an harmonischem<br />

Geiste überhaupt, noch an harmonischem Wechsel gebricht,<br />

so ist notwendig, wenn das Einige nicht entweder (sofern es an sich<br />

selbst betrachtet werden kann) als ein Ununterscheidbares sich<br />

selbst aufheben und zur leeren Unendlichkeit werden soll, oder wenn<br />

es nicht in einem Wechsel von Gegensätzen, seien diese auch noch<br />

so harmonisch, seine Identität verlieren, also nichts Ganzes und Einiges<br />

mehr sein, sondern in eine Unendlichkeit isolierter Momente<br />

(gleichsam eine Atomenreihe) zerfallen soll, – ich sage: so ist notwendig,<br />

daß der poetische Geist bei seiner Einigkeit, und harmonischem<br />

Progreß auch einen unendlichen Gesichtspunkt sich gebe,<br />

beim Geschäfte, eine Einheit, wo im harmonischen Progreß und<br />

Wechsel alles vor und rückwärts gehe, und durch seine durchgängige<br />

charakteristische Beziehung auf diese Einheit nicht bloß objektiven<br />

Zusammenhang,<br />

/262/<br />

für den Betrachter, auch gefühlten und fühlbaren Zusammenhang<br />

und Identität im Wechsel der Gegensätze gewinne, und es ist seine<br />

letzte Aufgabe, beim harmonischen Wechsel einen Faden, eine Erinnerung<br />

zu haben, damit der Geist nie im einzelnen Momente, und<br />

wieder einem einzelnen Momente, sondern in einem Momente wie im<br />

andern fortdauernd, und in den verschiedenen Stimmungen sich gegenwärtig<br />

bleibe, so wie er sich ganz gegenwärtig ist, IN DER UN-<br />

ENDLICHEN EINHEIT, welche einmal Scheidepunkt des Einigen als<br />

Einigen, dann aber auch Vereinigungspunkt des Einigen als Entgegengesetzten,<br />

endlich auch beedes zugleich ist, so daß in ihr das<br />

Harmonischentgegengesetzte weder als Einiges entgegengesetzt,<br />

noch als Entgegengesetztes vereinigt, sondern als beedes in Einem,<br />

als einig entgegengesetztes unzertrennlich gefühlt, und als gefühltes<br />

erfunden wird. Dieser Sinn ist eigentlich poetischer Charakter, weder<br />

43


Genie noch Kunst, poetische Individualität, und dieser allein ist die<br />

Identität der Begeisterung, ihr die Vollendung des Genie und der<br />

Kunst, die Vergegenwärtigung des Unendlichen, der göttliche Moment<br />

gegeben.<br />

Sie ist also nie bloß Entgegensetzung des Einigen, auch nie bloß<br />

Beziehung Vereinigung des Entgegengesetzten und Wechselnden,<br />

Entgegengesetztes und Einiges ist in ihr unzertrennlich. Wenn dies<br />

ist, so kann sie in ihrer Reinheit und subjektiven Ganzheit, als ursprünglicher<br />

Sinn, zwar in den Akten des Entgegensetzens und Vereinigens,<br />

womit sie in harmonischentgegengesetztem Leben wirksam<br />

ist, passiv sein, aber in ihrem letzten Akt, wo das Harmonischentgegengesetzte<br />

als Harmonisches entgegengesetztes, das Einige als<br />

Wechselwirkung in ihr als Eines begriffen ist, in diesem Akte kann<br />

und darf sie schlechterdings nicht durch sich selbst begriffen, sich<br />

selber zum Objekte werden, wenn sie nicht statt einer unendlich einigen<br />

und lebendigen Einheit, eine tote und tötende Einheit, ein unendlich<br />

positives Gewordenes sein soll; denn wenn Einigkeit und Entgegensetzung<br />

in ihr unzertrennlich verbunden und Eines ist, so kann sie<br />

der Reflexion<br />

/263/<br />

weder als entgegensetzbares Einiges, noch als vereinbares Entgegengesetztes<br />

erscheinen, sie kann also gar nicht erscheinen, oder<br />

nur im Charakter eines positiven Nichts, eines unendlichen Stillstands,<br />

und es ist die Hyperbel aller Hyperbeln der kühnste und letzte<br />

Versuch des poetischen Geistes, wenn er in seiner Verfahrungsweise<br />

ihn je macht, die ursprüngliche poetische Individualität, das poetische<br />

Ich aufzufassen, ein Versuch, wodurch er diese Individualität und ihr<br />

reines Objekt, das Einige, und Lebendige, harmonische, wechselseitig<br />

wirksame Leben aufhöbe, und doch muß er es, denn da er alles,<br />

was er in seinem Geschäfte ist, mit Freiheit sein soll, und muß, indem<br />

er eine eigene Welt schafft, und der Instinkt natürlicherweise zur eigentlichen<br />

Welt, in der er da ist, gehört, da er also alles mit Freiheit<br />

sein soll, so muß er auch dieser seiner Individualität sich versichern.<br />

Da er aber sie nicht durch sich selbst und an sich selbst erkennen<br />

kann, so ist ein äußeres Objekt notwendig und zwar ein solches, wodurch<br />

die reine Individualität, unter mehreren besondern weder bloß<br />

entgegensetzenden, noch bloß beziehenden, sondern poetischen<br />

Charakteren, die sie annehmen kann, irgend Einen anzunehmen bestimmt<br />

werde, so daß also sowohl an der reinen Individualität, als an<br />

den andern Charakteren, die jetzt gewählte Individualität und ihr<br />

durch den jetzt gewählten Stoff bestimmter Charakter erkennbar und<br />

mit Freiheit festzuhalten ist.<br />

(Innerhalb der subjektiven Natur kann das Ich nur als Entgegensetzendes,<br />

oder als Beziehendes, innerhalb der subjektiven Natur kann<br />

es sich aber nicht als poetisches Ich in dreifacher Eigenschaft erkennen,<br />

denn so wie es innerhalb der subjektiven Natur erscheint, und<br />

von sich selber unterschieden wird, und an und durch sich selber<br />

unterschieden, so muß das erkannte immer nur mit dem Erkennenden<br />

und der Erkenntnis beeder zusammengenommen jene dreifache<br />

44


Natur des poetischen Ich ausmachen, und weder als Erkanntes aufgefaßt<br />

vom Erkennenden, noch als Erkennendes aufgefaßt vom Erkennenden,<br />

noch als Erkanntes und Erkennendes aufgefaßt, von der<br />

/264/<br />

Erkenntnis, noch als Erkenntnis aufgefaßt vom Erkennenden, in keiner<br />

dieser drei abgesondert gedachten Qualitäten wird es als reines<br />

poetisches Ich in seiner dreifachen Natur, als entgegensetzend das<br />

Harmonischentgegengesetzte, als (formal) vereinigend das Harmonischentgegengesetzte,<br />

als in Einem begreifend das Harmonischentgegengesetzte,<br />

die Entgegensetzung und Vereinigung, erfunden, im<br />

Gegenteile bleibt es mit und für sich selbst im realen Widerspruche. 17<br />

– Also nur, insofern es nicht von sich selber und an und<br />

17 Es ist sich als material Entgegengesetztes hiemit (für ein drittes aber<br />

nicht für sich selbst) formal Vereinendes (als Erkanntes), als Entgegensetzendes<br />

hiemit (für ein drittes) formal Vereinigtes, als Erkennen des<br />

schlechterdings nicht begreiflich in seinem realen Widerstreit; als Entgegengesetztes,<br />

formal Vereinendes, als Entgegensetzendes, formal Vereinigtes<br />

in der Erkenntnis, im material Vereinigten und Entgegengesetzten<br />

entgegengesetzt, also Indem nämlich das Ich in seiner subjektiven<br />

Natur sich von sich selber unterscheidet und sich setzt als entgegensetzende<br />

Einheit im Harmonischentgegengesetzten, insofern dieses harmonisch<br />

ist, oder als vereinende Einheit im Harmonischentgegengesetzten,<br />

insofern dieses entgegengesetzt ist, so muß es entweder die Realität des<br />

Gegensatzes, des Unterschiedes, in dem es sich selbst erkennt, leugnen,<br />

und das Unterscheiden innerhalb der subjektiven Natur entweder für<br />

eine Täuschung und Willkür erklären, die es sich selbst als Einheit<br />

macht, um seine Identität zu erkennen, dann ist auch die Identität, als<br />

daraus erkannt, eine Täuschung, es erkennt sich nicht oder es ist nicht<br />

Einheit, nimmt die Unterscheidung von sich selber für (dogmatisch) real<br />

an, daß nämlich das Ich als Unterscheidendes oder als Vereinendes sich<br />

verhalte, je nachdem es, in seiner subjektiven Natur, ein zu Unterscheidendes<br />

oder ein zu Vereinendes vorfinde; es setzt sich also als Unterscheidendes<br />

und als Vereinendes abhängig, und weil dies in seiner subjektiven<br />

Natur stattfinden soll, von der es nicht abstrahieren kann, ohne<br />

sich aufzuheben, absolut abhängig in seinen Akten, so daß es weder als<br />

Entgegensetzendes noch als Vereinendes sich selbst, seinen Akt erkennt.<br />

In diesem Falle kann es sich wieder nicht als identisch erkennen,<br />

weil die verschiedenen Akte, in denen es vorhanden ist, nicht seine Akte<br />

sind, es kann sich nicht einmal setzen als in diesen Akten begriffen, denn<br />

diese Akte hängen nicht von ihm ab, nicht das Ich ist das von sich selber<br />

unterschiedene, sondern seine Natur ists, in der es sich als getriebenes<br />

so verhält. Aber wenn nun auch das Ich sich setzen wollte als identisch<br />

mit dem Harmonischentgegengesetzten seiner Natur (den Widerspruch<br />

zwischen Kunst und Genie, Freiheit und organischer Notwendigkeit, diesen<br />

ewigen Knoten mit dem Schwert zerhauen), so hilft es nichts; denn<br />

ist der Unterschied des Entgegensetzens und Vereinens nicht reell, so ist<br />

weder das Ich in seinem harmonischentgegengesetzten Leben, noch das<br />

harmonischentgegengesetzte Leben im Ich als Einheit erkennbar; ist er<br />

reell, so ist wiederum weder das Ich im Harmonischentgegengesetzten<br />

als Einheit durch sich erkennbar, denn es ist ein getriebnes, noch ist das<br />

Harmonischentgegengesetzte als Einheit erkennbar in seinem Ich, denn<br />

45


266/<br />

durch sich selber unterschieden wird, wenn es durch ein drittes bestimmt<br />

unterscheidbar gemacht wird, und wenn dieses dritte, insoferne<br />

es mit Freiheit erwählt war, insofern auch in seinen Einflüssen und<br />

Bestimmungen die reine Individualität nicht aufhebt, sondern //<br />

von dieser betrachtet werden kann, wo sie dann zugleich sich selbst<br />

als ein durch eine Wahl Bestimmtes, empirisch Individualisiertes und<br />

Charakterisiertes betrachtet, nur dann ist es möglich, daß das Ich im<br />

harmonischentgegengesetzten Leben als Einheit, und umgekehrt das<br />

Harmonisch-Entgegengesetzte, als Einheit im Ich erscheine und in<br />

schöner Individualität zum Objekte werde.)<br />

a) Wie ist es aber möglich? im Allgemeinen?<br />

b) Wenn es auf solche Art möglich wird, daß das Ich sich in poetischer<br />

Individualität erkenne und verhalte, welches Resultat entspringt<br />

daraus für die poetische Darstellung? (Es erkennt in den dreierlei<br />

subjektiven und objektiven Versuchen das Streben zu reiner Einheit.)<br />

a) Wenn der Mensch in diesem Alleinsein, in diesem Leben mit sich<br />

selbst, diesem widersprechenden Mittelzustande zwischen natürlichem<br />

Zusammenhange mit einer natürlich vorhandenen Welt, und<br />

zwischen dem höheren Zusammenhange mit einer auch natürlich<br />

vorhandenen, aber mit freier Wahl zur Sphäre erkornen voraus erkannten<br />

und in allen ihren Einflüssen nicht ohne seinen Willen ihn<br />

bestimmenden Welt, wenn er in jenem Mittelzustande zwischen<br />

Kindheit und reifer Humanität, zwischen mechanisch schönem und<br />

menschlich schönem, mit Freiheit schönem Leben gelebt hat, und<br />

diesen Mittelzustand erkannt und erfahren, wie er schlechterdings im<br />

Widerspruche mit sich selber, im notwendigen Widerstreite 1) des<br />

Strebens zur reinen Selbstheit und Identität, 2) des Strebens zur Bedeutenheit<br />

und Unterscheidung, 3) des Strebens zur Harmonie<br />

verbleiben, und wie in diesem Widerstreite jede dieser Bestrebungen<br />

sich aufheben und als unrealisierbar sich zeigen muß, wie er also<br />

resignieren, in Kindheit zurückfallen oder in fruchtlosen Widersprüchen<br />

mit sich selber sich aufreiben muß, wenn er in diesem Zustande<br />

verharrt, so ist Eines, was ihn aus dieser traurigen Alternative zieht,<br />

und das Problem, frei zu sein, wie ein Jüngling, und in der Welt zu<br />

dies ist, als getriebenes, nicht als Einheit erkennbar. Alles kommt also<br />

darauf an, daß das Ich nicht bloß mit seiner subjektiven Natur, von der<br />

es nicht abstrahieren kann, ohne sich aufzuheben, in Wechselwirkung<br />

bleibe, sondern daß es sich mit Freiheit ein Objekt wähle, von dem es,<br />

wenn es will, abstrahieren kann, um von diesem durchaus angemessen<br />

bestimmt zu werden und es zu bestimmen. Hierin liegt die Möglichkeit,<br />

daß das Ich im harmonischentgegengesetzten Leben als Einheit, und<br />

das Harmonisch-Entgegengesetzte, als Einheit erkennbar werde im Ich<br />

in reiner (poetischer) Individualität. Zur freien Individualität, zur Einheit<br />

und Identität in sich selbst gebracht wird das reine subjektive Leben erst<br />

durch die Wahl seines Gegenstands.<br />

46


leben wie ein Kind, der Unabhängigkeit eines kultivierten Menschen,<br />

und<br />

/267/<br />

der Akkommodation eines gewöhnlichen Menschen, löst sich auf in<br />

Befolgung der Regel:<br />

Setze dich mit freier Wahl in harmonische Entgegensetzung mit einer<br />

äußeren Sphäre, so wie du in dir selber in harmonischer Entgegensetzung<br />

bist, von Natur, aber unerkennbarerweise, solange du in dir<br />

selbst bleibst.<br />

Denn hier, in Befolgung dieser Regel ist ein wichtiger Unterschied<br />

von dem Verhalten im vorigen Zustande.<br />

Im vorigen Zustande, in dem des Alleinseins nämlich, konnte darum<br />

die harmonischentgegengesetzte Natur nicht zur erkennbaren Einheit<br />

werden, weil das Ich, ohne sich aufzuheben, sich weder als tätige<br />

Einheit setzen und erkennen könnte, ohne die Realität der Unterscheidung,<br />

also die Realität des Erkennens aufzuheben, noch als<br />

leidende Einheit, ohne die Realität der Einheit, ihr Kriterium der Identität,<br />

nämlich die Tätigkeit aufzuheben, und daß das Ich, indem es<br />

seine Einheit im Harmonischentgegengesetzten, und das Harmonischentgegengesetzte<br />

in seiner Einheit zu erkennen strebt, sich so<br />

absolut und dogmatisch als tätige Einheit, oder als leidende Einheit<br />

setzen muß, entstehet daher, weil es, um sich selber durch sich selber<br />

zu erkennen, die natürliche innige Verbindung, in der es mit sich<br />

selber steht, und wodurch das Unterscheiden ihm erschwert wird, nur<br />

durch eine unnatürliche (sich selber aufhebende) Unterscheidung<br />

ersetzen kann, weil es so von Natur Eines in seiner Verschiedenheit<br />

mit sich selber ist, daß die zur Erkenntnis notwendige Verschiedenheit,<br />

die es sich durch Freiheit gibt, nur in Extremen möglich ist, also<br />

nur in Streben in Denkversuchen, die auf diese Art realisiert, sich<br />

selber aufheben würden, weil es, um seine Einheit im (subjektiven)<br />

Harmonischentgegengesetzten,<br />

/268/<br />

und das (subjektive) Harmonisch-Entgegengesetzte in seiner Einheit<br />

zu erkennen, notwendigerweise von sich selber abstrahieren muß,<br />

insofern es im (subjektiven) Harmonischentgegengesetzten gesetzt<br />

ist, und auf sich reflektieren, insofern es nicht im (subjektiven) Harmonischentgegengesetzten<br />

gesetzt ist, und umgekehrt, da es aber<br />

diese Abstraktion von seinem Sein im (subjektiven) Harmonischentgegengesetzten,<br />

und diese Reflexion aufs Nichtsein in ihm nicht machen<br />

kann, ohne sich und das Harmonischentgegengesetzte, ohne<br />

das subjektive Harmonische und Entgegengesetzte und die Einheit<br />

aufzuheben, so müssen auch die Versuche, die es auf diese Art dennoch<br />

macht, solche Versuche sein, die, wenn sie auf diese Art realisiert<br />

würden, sich selbst aufhöben.<br />

Dies ist also der Unterschied zwischen dem Zustande des Alleinseins<br />

(der Ahndung seines Wesens) und dem neuen Zustande, wo sich der<br />

47


Mensch mit einer äußern Sphäre, durch freie Wahl in harmonische<br />

Entgegensetzung setzt, daß er, eben weil er mit dieser nicht so innig<br />

verbunden ist, von dieser abstrahieren und von sich, insofern er in ihr<br />

gesetzt ist, und auf sich reflektieren kann, insofern er nicht in ihr gesetzt<br />

ist, dies ist der Grund, warum er aus sich herausgeht, dies die<br />

Regel für seine Verfahrungsart in der äußern Welt. Auf diese Art erreicht<br />

er seine Bestimmung, welche ist – Erkenntnis des Harmonischentgegengesetzten<br />

in ihm, in seiner Einheit und Individualität,<br />

und hinwiederum Erkenntnis seiner Identität, seiner Einheit und Individualität<br />

im Harmonischentgegengesetzten. Dies ist die wahre Freiheit<br />

seines Wesens, und wenn er an dieser äußerlichen harmonischentgegengesetzten<br />

Sphäre nicht zu sehr hängt, nicht identisch mit ihr<br />

wird, wie mit sich selbst, so daß er nimmer von ihr abstrahieren kann,<br />

noch auch zu sehr an sich sich hängt, und von sich als Unabhängigem<br />

zu wenig abstrahieren kann, wenn er weder auf sich zu sehr<br />

reflektiert, noch auf seine Sphäre und Zeit zu sehr reflektiert, dann ist<br />

er auf dem rechten Wege seiner Bestimmung. Die Kindheit des gewöhnlichen<br />

Lebens, wo er identisch mit der Welt war, und gar nicht<br />

von ihr abstrahieren konnte, ohne Freiheit war, deswegen ohne Erkenntnis<br />

seiner selbst im Harmonischentgegengesetzten, noch des<br />

Harmonischentgegengesetzten in ihm selbst, an sich betrachtet ohne<br />

Festigkeit, Selbstständigkeit,<br />

/269/<br />

eigentliche Identität im reinen Leben, diese Zeit wird von ihm, als die<br />

Zeit der Wün sche, betrachtet werden, wo der Mensch sich im Harmonischentgegengesetzten<br />

und jenes in ihm selber als Einheit zu<br />

erkennen strebt, dadurch daß er sich dem objektiven Leben ganz<br />

hingibt; wo aber sich die Unmöglichkeit einer erkennbaren Identität im<br />

Harmonischentgegengesetzten objektiv zeigt, wie sie subjektiv schon<br />

gezeigt worden ist. Denn, da er in diesem Zustande sich gar nicht in<br />

seiner subjektiven Natur kennt, bloß objektives Leben im Objektiven<br />

ist, so kann er die Einheit im Harmonischentgegengesetzten nur dadurch<br />

zu erkennen streben, daß er in seiner Sphäre, von der er so<br />

wenig abstrahieren kann, als der subjektive Mensch von seiner subjektiven<br />

Sphäre, eben so verfährt wie dieser in der seinen. Er ist in ihr<br />

gesetzt als in Harmonischentgegengesetztem. Er muß sich zu erkennen<br />

streben, sich von sich selber in ihr zu unterscheiden suchen, indem<br />

er sich zum Entgegensetzenden macht, insoferne sie harmonisch<br />

ist, und zum Vereinenden, insofern sie entgegengesetzt ist.<br />

Aber wenn er sich in dieser Verschiedenheit zu erkennen strebt, so<br />

muß er entweder die Realität des Widerstreits, in dem er sich mit sich<br />

selber findet, vor sich selber leugnen, und dies widerstreitende Verfahren<br />

für eine Täuschung und Willkür halten, die bloß dahin sich<br />

äußert, damit er seine Identität im Harmonischentgegengesetzten<br />

erkenne, aber dann ist auch diese seine Identität, als Erkanntes, eine<br />

Täuschung, oder er hält jene Unterscheidung für reell, daß er nämlich<br />

als Vereinendes und als Unterscheidendes sich verhalte, je<br />

nachdem er in seiner objektiven Sphäre ein zu Unterscheidendes<br />

oder zu Vereinendes vorfinde, setzt sich also als Vereinendes und als<br />

Unterscheidendes abhängig und weil dies in seiner objektiven Sphäre<br />

48


stattfinden soll, von der er nicht abstrahieren kann, ohne sich selber<br />

aufzuheben, absolut abhängig, so daß er weder als Vereinendes,<br />

noch als Entgegensetzendes sich selber seinen Akt erkennt. In diesem<br />

Falle kann er sich wieder nicht erkennen, als identisch, weil die<br />

verschiedenen Akte, in denen er sich findet, nicht seine Akte sind. Er<br />

kann<br />

/270/<br />

sich gar nicht erkennen, er ist kein Unterscheidbares, seine Sphäre<br />

ist es, in der er sich mechanisch so verhält. Aber wenn er nun auch<br />

als identisch mit dieser sich setzen wollte, den Widerstreit des Lebens<br />

und der Personalität, den er immer zu vereinigen und in Einem<br />

zu erkennen strebt und streben muß, in höchster Innigkeit auflösen,<br />

so hilft es nichts, insofern er sich so in seiner Sphäre verhält, daß er<br />

nicht von ihr abstrahieren kann, denn er kann sich ebendeswegen<br />

nur in Extremen von Gegensätzen des Unterscheidens und Vereinens<br />

erkennen, weil er zu innig in seiner Sphäre lebt.<br />

Der Mensch sucht also in einem zu subjektiven Zustande, wie in einem<br />

zu objektiven vergebens seine Bestimmung zu erreichen, welche<br />

darin besteht, daß er sich als Einheit in Göttlichem-<br />

Harmonischentgegengesetztem enthalte 'so wie umgekehrt, das<br />

Göttliche, Einige, Harmonischentgegengesetzte, in sich, als Einheit<br />

enthalten erkenne. Denn dies ist allein in schöner heiliger, göttlicher<br />

Empfindung möglich, in einer Empfindung, welche darum schön ist,<br />

weil sie weder bloß angenehm und glücklich, noch bloß erhaben und<br />

stark, noch bloß einig und ruhig, sondern alles zugleich ist, und allein<br />

sein kann, in einer Empfindung, welche darum heilig ist, weil sie weder<br />

bloß uneigennützig ihrem Objekte hingegeben, noch bloß<br />

uneigennützig auf ihrem innern Grunde ruhend, noch bloß<br />

uneigennützig zwischen ihrem innern Grunde und ihrem Objekte<br />

schwebend, sondern alles zugleich ist und allein sein kann, in einer<br />

Empfindung, welche darum göttlich ist, weil sie weder bloßes<br />

Bewußtsein, bloße Reflexion (subjektive, oder objektive,) mit Verlust<br />

des innern und äußern Lebens noch bloßes Streben (subjektiv oder<br />

objektiv bestimmtes) mit Verlust der innern und äußern Harmonie,<br />

noch bloße Harmonie, wie die intellektuale Anschauung und ihr<br />

mythisches bildliches Subjekt, Objekt, mit Verlust des Bewußtseins,<br />

und der Einheit, sondern weil sie alles dies zugleich ist, und allein<br />

sein kann, in einer Empfindung, welche darum transzendental ist und<br />

dies allein sein kann, weil sie in Vereinigung und Wechselwir kung<br />

der genannten<br />

/271/<br />

Eigenschaften weder zu angenehm und sinnlich, noch zu energisch<br />

und wild, noch zu innig und schwärmerisch, weder zu uneigennützig,<br />

d.h. zu selbstvergessen ihrem Objekte hingegeben, noch zu uneigennützig,<br />

d.h. zu eigenmächtig auf ihrem innern Grunde ruhend,<br />

noch zu eigennützig, d.h. zu unentschieden, und leer und unbestimmt<br />

zwischen ihrem innern Grunde und ihrem Objekte schwebend, weder<br />

zu reflektiert, sich ihrer zu bewußt, zu scharf und ebendeswegen ih-<br />

49


es innern und äußern Grundes unbewußt, noch zu bewegt, zu sehr<br />

in ihrem innern und äußern Grunde begriffen, ebendeswegen der<br />

Harmonie des Innern und Äußern unbewußt, noch zu harmonisch,<br />

ebendeswegen sich ihrer selbst, und des innern und äußern Grundes<br />

zu wenig bewußt, ebendeswegen zu unbestimmt, und des eigentlich<br />

Unendlichen, welches durch sie als eine bestimmte wirkliche Unendlichkeit,<br />

als außerhalb liegend bestimmt wird, weniger empfänglich,<br />

und geringerer Dauer fähig. Kurz, sie ist, weil sie in dreifacher Eigenschaft<br />

vorhanden ist, und dies allein sein kann, weniger einer Einseitigkeit<br />

ausgesetzt in irgend einer der drei Eigenschaften. Im Gegenteil<br />

erwachsen aus ihr ursprünglich alle die Kräfte, welche jene Eigenschaften<br />

zwar bestimmter und erkennbarer, aber auch isolierter besitzen,<br />

so wie sich jene Kräfte, und ihre Eigenschaften und Äußerungen<br />

auch wieder in ihr konzentrieren, und in ihr und durch gegenseitigen<br />

Zusammenhang und lebendige für sich selbst bestehende Bestimmtheit,<br />

als Organe von ihr, und Freiheit, als zu ihr gehörig und<br />

nicht in ihrer Beschränktheit auf sich selber eingeschränkt, und Vollständigkeit,<br />

als in ihrer Ganzheit begriffen, gewinnen, jene drei Eigenschaften<br />

mögen als Bestrebungen, das Harmonischentgegengesetzte<br />

in der lebendigen Einheit oder diese in jenem zu erkennen, im<br />

subjektiveren oder objektiveren Zustande sich äußern. Denn eben<br />

diese verschiedenen Zustände gehen auch aus ihr als der Vereinigung<br />

derselben hervor.<br />

/272/<br />

Wink für die Darstellung und Sprache.<br />

Ist die Sprache nicht, wie die Erkenntnis, von der die Rede war, und<br />

von der gesagt wurde, daß in ihr, als Einheit, das Einige enthalten<br />

seie, und umgekehrt? und daß sie dreifacher Art sei p. p.<br />

Muß nicht für das eine wie für das andere der schönste Moment da<br />

liegen, wo der eigentliche Ausdruck, die geistigste Sprache, das lebendigste<br />

Bewußtsein, wo der Übergang von einer bestimmten Unendlichkeit<br />

zur allgermeineren liegt?<br />

Liegt nicht eben hierin der feste Punkt, wodurch der Folge der Zeichnung,<br />

ihre Verhältnisart, und den Lokalfarben wie der Beleuchtung ihr<br />

Charakter und Grad bestimmt wird?<br />

Wird nicht alle Beurteilung der Sprache sich darauf reduzieren, daß<br />

man nach DEN SICHERSTEN UND MÖGLICH UNTRÜGLICHSTEN<br />

KENNZEICHEN sie prüft, ob sie die Sprache einer echten schön beschriebenen<br />

Empfindung sei?<br />

So wie die Erkenntnis die Sprache ahndet, so erinnert sich die Sprache<br />

der Erkenntnis.<br />

Die Erkenntnis ahndet die Sprache, nachdem sie 1) noch unreflektierte<br />

reine Empfindung des Lebens war, der bestimmten Unendlichkeit,<br />

worin sie enthalten ist, 2) nachdem sie sich in den Dissonanzen des<br />

innerlichen Reflektierens und Strebens und Dichtens wiederholt hatte,<br />

und nun, nach diesen vergebenen Versuchen, sich innerlich wiederzufinden<br />

und zu reproduzieren, nach diesen verschwiegenen<br />

50


Ahndungen, die auch ihre Zeit haben müssen, über sich selbst hinausgeht,<br />

und in der ganzen Unendlichkeit sich wiederfindet, d.h.<br />

durch die stofflose reine Stimmung, gleichsam durch den Widerklang<br />

der ursprünglichen lebendigen Empfindung, den sie gewann und gewinnen<br />

konnte, durch die gesamte Wirkung aller innerlichen Versuche,<br />

durch diese höhere göttliche Empfänglichkeit ihres ganzen innern<br />

und äußern Lebens mächtig und inne wird. In eben diesem<br />

/273/<br />

Augenblicke, wo sich die ursprüngliche lebendige, nun zur reinen<br />

eines Unendlichen empfänglichen Stimmung geläuterte Empfindung,<br />

als Unendliches im Unendlichen, als geistiges Ganze im lebendigen<br />

Ganzen befindet, in diesem Augenblicke ist es, wo man sagen kann,<br />

daß die Sprache geahndet wird, und wenn nun wie in der ursprünglichen<br />

Empfindung eine Reflexion erfolgt, so ist sie nicht mehr auflösend<br />

und verallgemeinernd, verteilend, und ausbildend, bis zur bloßen<br />

Stimmung, sie gibt dem Herzen alles wieder, was sie ihm nahm,<br />

sie ist belebende Kunst, wie sie zuvor vergeistigende Kunst war, und<br />

mit einem Zauberschlage um den andern ruft sie das verlorene Leben<br />

schöner hervor, bis es wieder so ganz sich fühlt, wie es sich ursprünglich<br />

fühlte. Und wenn es der Gang und die Bestimmung des<br />

Lebens überhaupt ist, aus der ursprünglichen Einfalt sich zur höchsten<br />

Form zu bilden, wo dem Menschen ebendeswegen das unendliche<br />

Leben gegenwärtig ist, und wo er als das abstrakteste alles nur<br />

um so inniger aufnimmt, dann aus dieser höchsten Entgegensetzung<br />

und Vereinigung des Lebendigen und Geistigen, des formalen und<br />

des materialen Subjekt-Objekts, dem Geistigen sein Leben, dem Lebendigen<br />

seine Gestalt, dem Menschen seine Liebe und sein Herz<br />

und seiner Welt den Dank wiederzubringen, und endlich nach erfüllter<br />

Ahndung, und Hoffnung, wenn nämlich in der Äußerung jener höchste<br />

Punkt der Bildung, die höchste Form im höchsten Leben vorhanden<br />

war, und nicht bloß an sich selbst, wie im Anfang der eigentlichen<br />

Äußerung, noch im Streben, wie im Fortgang derselben, wo die<br />

Äußerung das Leben aus dem Geiste und aus dem Leben den Geist<br />

hervorruft, sondern wo sie das ursprüngliche Leben in der höchsten<br />

Form gefunden hat, wo Geist und Leben auf beiden Seiten gleich ist,<br />

und ihren Fund, das Unendliche im Unendlichen, erkennt, nach dieser<br />

letzten und dritten Vollendung, die nicht bloß ursprüngliche Einfalt,<br />

des Herzens und Lebens, wo sich der Mensch unbefangen als in<br />

einer beschränkten Unendlichkeit fühlt, auch nicht bloß errungene<br />

Einfalt des Geistes,<br />

/274/<br />

wo eben jene Empfindung, zur reinen formalen Stimmung ge läutert,<br />

die ganze Unendlichkeit des Lebens aufnimmt (und Ideal ist), sondern<br />

die aus dem unendlichen Leben wiederbelebter Geist, nicht<br />

Glück, nicht Ideal, sondern gelungenes Werk, und Schöpfung ist, und<br />

nur in der Äußerung gefunden werden und außerhalb der Äußerung<br />

nur in dem aus ihrer bestimmten ursprünglichen Empfindung hervorgegangenen<br />

Ideale gehofft werden kann, wie endlich nach dieser<br />

51


dritten Vollendung, wo die bestimmte Unendlichkeit so weit ins Leben<br />

gerufen, die unendliche so weit vergeistigt ist, daß eines an Geist und<br />

Leben dem andern gleich ist, wie nach dieser dritten Vollendung das<br />

Bestimmte immer mehr belebt, das Unendliche immer mehr vergeistigt<br />

wird, bis die ursprüngliche Empfindung eben so als Leben endigt,<br />

wie sie in der Äußerung als Geist anfing, und sich die höhere<br />

Unendlichkeit, aus der sie ihr Leben nahm, eben so vergeistigt, wie<br />

sie in der Äußerung als Lebendiges vorhanden war, –<br />

also wenn dies der Gang und die Bestimmung des Menschen überhaupt<br />

zu sein scheint, so ist ebendasselbe der Gang und die Bestimmung<br />

aller und jeder Poesie, und wie auf jener Stufe der Bildung,<br />

wo der Mensch aus ursprünglicher Kindheit hervorgegangen in entgegengesetzten<br />

Versuchen zur höchsten Form, zum reinen Widerklang<br />

des ersten Lebens emporgerungen hat, und so als unendlicher<br />

Geist im unendlichen Leben sich fühlt, wie der Mensch auf dieser<br />

Stufe der Bildung erst eigentlich das Leben antritt und sein Wirken<br />

und seine Bestimmung ahndet, so ahndet der Dichter, auf jener Stufe,<br />

wo er auch aus einer ursprünglichen Empfindung, durch entgegengesetzte<br />

Versuche, sich zum Ton, zur höchsten reinen Form derselben<br />

Empfindung emporgerungen hat und ganz in seinem ganzen<br />

inneren und äußeren Leben mit jenem Tone sich begriffen sieht, auf<br />

dieser Stufe ahndet er seine Sprache, und mit ihr die eigentliche<br />

Vollendung für die jetzige und zugleich für alle Poesie.<br />

/275/<br />

Es ist schon gesagt worden, daß auf jener Stufe eine neue Reflexion<br />

eintrete, welche dem Herzen alles wieder gebe, was sie ihm genommen<br />

habe, welche für den Geist des Dichters und seines zukünftigen<br />

Gedichts belebende Kunst sei, wie sie für die ursprüngliche Empfindung<br />

des Dichters und seines Gedichts seie vergeistigende Kunst<br />

gewesen. Das Produkt dieser schöpferischen Reflexion ist die Sprache.<br />

Indem sich nämlich der Dichter mit dem reinen Tone seiner ursprünglichen<br />

Empfindung in seinem ganzen innern und äußern Leben<br />

begriffen fühlt, und sich umsieht in seiner Welt, ist ihm diese<br />

eben so neu und unbekannt,<br />

die Summe aller seiner Erfahrungen, seines Wissens, seines Anschauens,<br />

seines Denkens, Kunst und Natur, wie sie in ihm und außer<br />

ihm sich darstellt, alles ist wie zum erstenmale, ebendeswegen<br />

unbegriffen, unbestimmt, in lauter Stoff und Leben aufgelöst, ihm<br />

gegenwärtig, und es ist vorzüglich wichtig, daß er in diesem Augenblicke<br />

nichts als gegeben annehme, von nichts positivem ausgehe,<br />

daß die Natur und Kunst, so wie er sie kennen gelernt hat und sieht,<br />

nicht eher spreche, ehe für ihn eine Sprache da ist, d.h. ehe das jetzt<br />

Unbekannte und Ungenannte in seiner Welt ebendadurch für ihn bekannt<br />

und namhaft wird, daß es mit seiner Stimmung verglichen und<br />

als übereinstimmend erfunden worden ist, denn wäre vor der Reflexion<br />

auf den unendlichen Stoff und die unendliche Form irgend eine<br />

Sprache der Natur und Kunst für ihn in bestimmter Gestalt da, so<br />

wäre er insofern nicht innerhalb seines Wirkungskreises, er träte aus<br />

seiner Schöpfung heraus, und die Sprache der Natur oder der Kunst,<br />

52


jeder modus exprimendi der einen oder der andern wäre erstlich, insofern<br />

sie nicht seine Sprache, nicht aus seinem Leben und aus seinem<br />

Geiste hervorgegangenes Produkt, sondern als Sprache der<br />

Kunst, sobald sie in bestimmter Gestalt mir gegenwärtig ist, schon<br />

zuvor ein bestimmender Akt der schöpferischen Reflexion des Künstlers,<br />

welcher darin bestand, daß er aus seiner Welt, aus der Summe<br />

seines äußern und innern Lebens, das mehr oder weniger auch das<br />

/276/<br />

meinige ist, daß er aus dieser Welt den Stoff nahm, um die Töne seines<br />

Geistes zu bezeichnen, aus seiner Stimmung das zum Grunde<br />

liegende Leben durch dies verwandte Zeichen hervorzu rufen, daß er<br />

also, insofern er mir dieses Zeichen nennt, aus meiner Welt den Stoff<br />

entlehnt, mich veranlaßt, diesen Stoff in das Zeichen überzutragen,<br />

wo dann derjenige wichtige Unterschied zwischen mir als bestimmtem<br />

und ihm als bestimmendem ist, daß er, indem er sich verständlich<br />

und faßlich macht, von der leblosen, immateriellen, ebendeswegen<br />

weniger entgegensetzbaren und bewußtloseren Stimmung fortschreitet,<br />

ebendadurch, daß er sie erklärt 1) in ihrer Unendlichkeit der<br />

Zusammenstimmung durch eine sowohl der Form als Materie nach<br />

verhältnismäßige Totalität verwandten Stoffs, und durch idealisch<br />

wechselnde Welt, 2) in ihrer Bestimmtheit und eigentlichen Endlichkeit<br />

durch die Darstellung und Aufzählung ihres eigenen Stoffs, 3) in<br />

ihrer Tendenz, ihrer Allgemeinheit im Besondern, durch den Gegensatz<br />

ihres eigenen Stoffs zum unendlichen Stoff, 4) in ihrem Maß, in<br />

der schönen Bestimmtheit und Einheit und Festigkeit ihrer unendlichen<br />

Zusammenstimmung, in ihrer unendlichen Identität und Individualität,<br />

und Haltung, in ihrer poetischen Prosa eines allbegrenzenden<br />

Moments, wohin und worin sich negativ und ebendeswegen ausdrücklich<br />

und sinnlich alle genannten Stücke beziehen und vereinigen,<br />

nämlich die unendliche Form mit dem unendlichen Stoffe dadurch,<br />

daß durch jenen Moment die unendliche Form ein Gebild, den<br />

Wechsel des Schwächern und Stärkern, der unendliche Stoff einen<br />

Wohlklang annimmt, einen Wechsel des Hellern und Leisern, und<br />

sich beede in der Langsamkeit und Schnelligkeit endlich im Stillstande<br />

der Bewegung negativ vereinigen, immer durch ihn und die ihm<br />

zum Grunde liegende Tätigkeit, die unendliche schöne Reflexion,<br />

welche in der durchgängigen Begrenzung zugleich durchgängig beziehend<br />

und vereinigend ist.<br />

53


Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung<br />

In: Sämtliche Werke, Band 1–5, 3. Auflage, München: <strong>Hans</strong>er, 1962.<br />

Bd.5, S.704-706<br />

/704/<br />

Naiv muß jedes wahre Genie sein, oder es ist keines. Seine Naivetät<br />

allein macht es zum Genie, und was es im Intellektuellen und Ästhetischen<br />

ist, kann es im Moralischen nicht verleugnen. Unbekannt mit<br />

den Regeln, den Krücken der Schwachheit und den Zuchtmeistern<br />

der Verkehrtheit, bloß von der Natur oder dem Instinkt, seinem schützenden<br />

Engel, geleitet, geht es ruhig und sicher durch alle Schlingen<br />

des falschen Geschmackes, in welchen, wenn es nicht so klug ist, sie<br />

schon von weitem zu vermeiden, das Nichtgenie unausbleiblich verstrickt<br />

wird. Nur dem Genie ist es gegeben, außerhalb des Bekannten<br />

noch immer zu Hause zu sein und die Natur zu erweitern, ohne über<br />

sie hinauszugehen. Zwar begegnet letzteres zuweilen auch den<br />

größten Genies, aber nur, weil auch diese ihre phantastischen Augenblicke<br />

haben, wo die schützende Natur sie verläßt, weil die Macht<br />

des Beispiels sie hinreißt oder der verderbte Geschmack ihrer Zeit<br />

sie verleitet.<br />

Die verwickeltsten Aufgaben muß das Genie mit anspruchloser Simplizität<br />

und Leichtigkeit lösen; das Ei des Kolumbus gilt von jeder genialischen<br />

Entscheidung. Dadurch allein legitimiert es sich als Genie,<br />

daß es durch Einfalt über die verwickelte Kunst triumphiert. Es verfährt<br />

nicht nach erkannten Prinzipien, sondern nach Einfällen und<br />

Gefühlen; aber seine Einfälle sind Eingebungen eines Gottes (alles,<br />

was die gesunde Natur tut, ist göttlich), seine Gefühle<br />

/705/<br />

sind Gesetze für alle Zeiten und für alle Geschlechter der Menschen.<br />

Den kindlichen Charakter, den das Genie in seinen Werken abdrückt,<br />

zeigt es auch in seinem Privatleben und in seinen Sitten. Es ist<br />

schamhaft, weil die Natur dieses immer ist: aber es ist nicht dezent,<br />

weil nur die Verderbnis dezent ist. Es ist verständig, denn die Natur<br />

kann nie das Gegenteil sein; aber es ist nicht listig, denn das kann<br />

nur die Kunst sein. Es ist seinem Charakter und seinen Neigungen<br />

treu, aber nicht sowohl weil es Grundsätze hat, als weil die Natur bei<br />

allem Schwanken immer wieder in die vorige Stelle rückt, immer das<br />

alte Bedürfnis zurückbringt. Es ist bescheiden, ja blöde, weil das<br />

Genie immer sich selbst ein Geheimnis bleibt, aber es ist nicht ängstlich,<br />

weil es die Gefahren des Weges nicht kennt, den es wandelt.<br />

Wir wissen wenig von dem Privatleben der größten Genies, aber<br />

auch das wenige, was uns z.B. von Sophokles, von Archimed, von<br />

Hippokrates und aus neueren Zeiten von Ariost, Dante und Tasso,<br />

54


von Raphael, von Albrecht Dürer, Cervantes, Shakespeare, von Fielding,<br />

Sterne u.a. aufbewahrt worden ist, bestätigt diese Behauptung.<br />

Ja, was noch weit mehr Schwierigkeit zu haben scheint, selbst der<br />

große Staatsmann und Feldherr werden, sobald sie durch ihr Genie<br />

groß sind, einen naiven Charakter zeigen. Ich will hier unter den Alten<br />

nur an Epaminondas und Julius Cäsar, unter den Neuern nur an<br />

Heinrich IV. von Frankreich, Gustav Adolf von Schweden und den Zar<br />

Peter den Großen erinnern. Der Herzog von Marlborough, Turenne,<br />

Vendôme zeigen uns alle diesen Charakter. Dem andern Geschlecht<br />

hat die Natur in dem naiven Charakter seine höchste Vollkommenheit<br />

angewiesen. Nach nichts ringt die weibliche Gefallsucht so sehr als<br />

nach dem Schein des Naiven; Beweis genug, wenn man auch sonst<br />

keinen hätte, daß die größte Macht des Geschlechts auf dieser Eigenschaft<br />

beruhet. Weil aber die herrschenden Grundsätze bei der<br />

weiblichen Erziehung mit diesem Charakter in ewigem Streit liegen,<br />

so ist es dem Weibe im Moralischen ebenso schwer als dem Mann<br />

im Intellektuellen, mit den Vorteilen der guten Erziehung jenes herrliche<br />

Geschenk der Natur unverloren zu behalten; und die Frau, die<br />

mit einem geschickten Betragen für die große Welt dieses Naive der<br />

Sitten verknüpft, ist ebenso hochachtungswürdig<br />

/706/<br />

als der Gelehrte, der mit der ganzen Strenge der Schule genialische<br />

Freiheit des Denkens verbindet.<br />

Aus der naiven Denkart fließt notwendigerweise auch ein naiver Ausdruck<br />

sowohl in Worten als Bewegungen, und es ist das wichtigste<br />

Bestandstück der Grazie. Mit dieser naiven Anmut drückt das Genie<br />

seine erhabensten und tiefsten Gedanken aus; es sind Göttersprüche<br />

aus dem Mund eines Kindes. Wenn der Schulverstand, immer vor<br />

Irrtum bange, seine Worte wie seine Begriffe an das Kreuz der<br />

Grammatik und Logik schlägt, hart und steif ist, um ja nicht unbestimmt<br />

zu sein, viele Worte macht, um ja nicht zu viel zu sagen, und<br />

dem Gedanken, damit er ja den Unvorsichtigen nicht schneide, lieber<br />

die Kraft und die Schärfe nimmt, so gibt das Genie dem seinigen mit<br />

einem einzigen glücklichen Pinselstrich einen ewig bestimmten, festen<br />

und dennoch ganz freien Umriß. Wenn dort das Zeichen dem<br />

Bezeichneten ewig heterogen und fremd bleibt, so springt hier wie<br />

durch innere Notwendigkeit die Sprache aus dem Gedanken hervor<br />

und ist so sehr eins mit demselben, daß selbst unter der körperlichen<br />

Hülle der Geist wie entblößet erscheint. Eine solche Art des Ausdrucks,<br />

wo das Zeichen ganz in dem Bezeichneten verschwindet,<br />

und wo die Sprache den Gedanken, den sie ausdrückt, noch gleichsam<br />

nackend läßt, da ihn die andre nie darstellen kann, ohne ihn<br />

zugleich zu verhüllen, ist es, was man in der Schreibart vorzugsweise<br />

genialisch und geistreich nennt.<br />

Frei und natürlich, wie das Genie in seinen Geisteswerken, drückt<br />

sich die Unschuld des Herzens im lebendigen Umgang aus. Bekanntlich<br />

ist man im gesellschaftlichen Leben von der Simplizität und<br />

strengen Wahrheit des Ausdrucks in demselben Verhältnis wie von<br />

der Einfalt der Gesinnungen abgekommen, und die leicht zu verwun-<br />

55


dende Schuld sowie die leicht zu verführende Einbildungskraft haben<br />

einen ängstlichen Anstand notwendig gemacht. Ohne falsch zu sein,<br />

redet man öfters anders, als man denkt; man muß Umschweife nehmen,<br />

um Dinge zu sagen, die nur einer kranken Eigenliebe Schmerz<br />

bereiten, nur einer verderbten Phantasie Gefahr bringen können.<br />

56


G.W.F. Hegel: Vorlesung über Ästhetik I<br />

In: Theorie Werkausgabe Bd. 13, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970,<br />

S.362-385<br />

/362/<br />

C. DER KÜNSTLER<br />

Wir haben in diesem ersten Teile zunächst die allgemeine Idee des<br />

Schönen, sodann das mangelhafte Dasein derselben in der Schönheit<br />

der Natur betrachtet, um drittens zum Ideal als der adäquaten<br />

Wirklichkeit des Schönen hindurchzudringen. Das Ideal entwickelten<br />

wir erstens selbst wieder seinem allgemeinen Begriff nach, der uns<br />

zweitens jedoch auf die bestimmte Darstellungsweise desselben führte.<br />

Indem nun aber das Kunstwerk aus dem Geiste entspringt, so<br />

bedarf es einer produzierenden subjektiven Tätigkeit, aus welcher es<br />

hervorgeht und als Produkt derselben für anderes, für die Anschauung<br />

und die Empfindung des Publikums ist. Diese Tätigkeit ist die<br />

Phantasie des Künstlers. Wir haben deshalb als dritte Seite des Ideals<br />

jetzt zum Schluß noch zu besprechen, wie das Kunstwerk dem<br />

subjektiven Inneren angehört, als dessen Erzeugnis es noch nicht zur<br />

Wirklichkeit herausgeboren ist, sondern sich erst in der schöpferischere<br />

Subjektivität, im Genie und Talent des Künstlers gestaltet.<br />

Doch brauchen wir eigentlich eher dieser Seite nur deshalb zu erwähnen,<br />

um von ihr zu sagen, daß sie aus dem Kreise philosophischer<br />

Betrachtung auszuschließen sei oder doch nur wenige allgemeine<br />

Bestimmungen liefere, obschon es eine häufig aufgeworfene<br />

Frage ist, wo denn der Künstler diese Gabe und Fähigkeit der Konzeption<br />

und Ausführung hernehme, wie er das Kunstwerk mache.<br />

Man möchte gleichsam ein Rezept, eine Vorschrift dafür haben, wie<br />

man es anstellen, in welche Umstände und Zustände man sich versetzen<br />

müsse, um Ähnliches hervorzubringen. So befragte der<br />

/363/<br />

Kardinal von Este Ariosto über seinen Rasenden Roland: »Meister<br />

Ludwig, wo habt ihr all das verdammte Zeug her?« Raffael, ähnlich<br />

befragt, antwortete in einem bekannten Briefe, er strebe einer gewissen<br />

Idea nach.<br />

Die näheren Beziehungen können wir nach drei Gesichtspunkten<br />

betrachten, indem wir<br />

erstens den Begriff des künstlerischen Genies und der Begeisterung<br />

feststellen,<br />

zweitens von der Objektivität dieser schaffenden Tätigkeit sprechen<br />

und<br />

drittens den Charakter der wahren Originalität zu ermitteln suchen.<br />

57


1. Phantasie, Genie und Begeisterung<br />

Bei der Frage nach dem Genie handelt es sich sogleich um eine nähere<br />

Bestimmung desselben; denn Genie ist ein ganz allgemeiner<br />

Ausdruck, welcher nicht nur in betreff auf Künstler, sondern ebensosehr<br />

von großen Feldherren und Königen als auch von den Heroen<br />

der Wissenschaft gebraucht wird. Wir können aυch hier wieder drei<br />

Seiten bestimmter unterscheiden.<br />

a. Die Phantasie<br />

Was erstens das allgemeine Vermögen zur künstlerischen Produktion<br />

angeht, so ist, wenn einmal von Vermögen soll geredet werden, die<br />

Phantasie als diese hervorstechend künstlerische Fähigkeit zu bezeichnen.<br />

Dann muß man sich jedoch sogleich hüten, die Phantasie<br />

mit der bloß passiven Einbuldungskraft zu verwechseln. Die Phantasie<br />

ist schaffend.<br />

α) Zu dieser schöpferischen Tätigkeit gehört nun zunächst die Gabe<br />

und der Sinn für das Auffassen der Wirklichkeit und ihrer Gestalten,<br />

welche durch das aufmerksame Hören und Sehen die mannigfaltigsten<br />

Bilder des Vorhandenen dem Geiste einprägen, sowie das aufbewahrende<br />

Gedächtnis für die bunte Welt dieser vielgestaltigen Bilder.<br />

Der Künstler<br />

/364/<br />

ist deshalb von dieser Seite her nicht an selbstgemachte Einbildungen<br />

verwiesen, sondern von dem flachen sogenannten Idealen<br />

ab hat er an die Wirklichkeit heranzutreten. Ein idealischer Anfang in<br />

der Kunst und Poesie ist immer sehr verdächtig, denn der Künstler<br />

hat aus der Überfülle des Lebens und nickt aus der Überfülle abstrakter<br />

Allgemeinheit zu schöpfen, indem in der Kunst nicht wie in der<br />

Philosophie der Gedanke, sondern die wirkliche äußere Gestaltung<br />

das Element der Produktion abgibt. In diesem Element muß sich daher<br />

der Künstler befinden und heimisch werden . Er muß viel gesehen,<br />

viel gehört und viel in sich aufbewahrt haben, wie überhaupt die<br />

großen Individuen sich fast immer durch ein großes Gedächtnis auszuzeichnen<br />

pflegen. Denn was den Menschen interessiert, das behält<br />

er, und ein tiefer Geist breitet das Feld seiner Interessen über unzählige<br />

Gegenstände aus. Goethe z. B. hat in solcher Weise angefangen<br />

und den Kreis seiner Anschauungen sein ganzes Leben hindurch<br />

mehr und mehr erweitert. Diese Gabe und dieses Interesse einer<br />

bestimmten Auffassung des Wirklichen in seiner realen Gestalt sowie<br />

das Festhalten des Erschauten also ist das nächste Erfordernis. Mit<br />

der genauen Bekanntschaft der Außengestalt ist nun umgekehrt<br />

ebensosehr die gleiche Vertrautheit mit dem Innern des Menschen,<br />

mit den Leidenschaften des Gemüts und allen Zwecken der menschli<br />

chen Brust, zu verbinden, und zu dieser doppelten Kenntnis muß sich<br />

die Bekanntschaft mit der Art und Weise fügen, wie das Innere des<br />

Geistes sich ín der Realität ausdrückt und durch deren Äußerlichkeit<br />

58


hindurchscheint.<br />

β) Zweitens aber bleibt die Phantasie nicht bei diesem bloßen Aufnehmen<br />

der äußeren und inneren Wirklichkeit stehen, denn zum<br />

idealen Kunstwerk gehört nicht nur das Erscheinen des inneren Geistes<br />

in der Realität äußerer Gestalten, sondern die an und für sich<br />

seiende Wahrheit und Vernünftigkeit des Wirklichen ist es, welche zur<br />

äußeren Erscheinung gelangen soll. Diese Vernünftigkeit seines bestimmten<br />

Gegenstandes, den er erwählt hat, muß nicht nur<br />

/365/<br />

in dem Bewußtsein des Künstlers gegenwärtig sein und ihn bewegen,<br />

sondern er muß das Wesentliche und Wahrhaftige seinem ganzen<br />

Umfang und seiner ganzen Tiefe nach durch-sonnen haben. Denn<br />

ohne Nachdenken bringt der Mensch sich das, was in ihm ist, nicht<br />

zum Bewußtsein, und so merkt man es auch jedem großen Kunstwerk<br />

an, daß der Stoff nach allen Richtungen hin lange und tief erwogen<br />

und durchdacht ist. Aus der Leichtfertigkeit der Phantasie geht<br />

kein gediegenes Werk hervor. Damit soll jedoch nicht gesagt sein,<br />

daß der Künstler das Wahrhaftige aller Dinge, welches wie in der<br />

Religion, so auch in der Philosophie und Kunst die allgemeine Grundlage<br />

ausmacht, in Form philosophischer Gedanken ergreifen müsse.<br />

Philosophie ist ihm nicht notwendig, und denkt er in philosophischer<br />

Weise, so treibt er damit ein der Kunst in betreff auf die Form des<br />

Wissens gerade entgegengesetztes Geschäft. Denn die Aufgabe der<br />

Phantasie besteht allein darin, sich von jener inneren Vernünftigkeit<br />

nicht in Form allgemeiner Sätze und Vorstellungen, sondern in konkreter<br />

Gestalt und individueller Wirklichkeit ein Bewußtsein zu geben.<br />

Was daher in ihm lebt und gärt, muß der Künstler sich in den Formen<br />

und Erscheinungen, deren Bild und Gestalt er in sich aufgenommen<br />

hat, darstellen, indem er sie zu seinem Zwecke insoweit zu bewältigen<br />

weiß, daß sie das in sich selbst Wahrhaftige nun auch ihrerseits<br />

aufzunehmen und vollständig auszudrücken befähigt werden. — Bei<br />

dieser Ineinanderarbeitung des vernünftigen Inhalts und der realen<br />

Gestalt hat sich der Künstler einerseits die wache Besonnenheit des<br />

Verstandes, andererseits die Tiefe des Gemüts und der beseelenden<br />

Empfindung zu Hilfe zu nehmen. Es ist deshalb eine Abgeschmacktheit,<br />

zu meinen, Gedichte wie die Homerischen seien dem Dichter im<br />

Schlafe gekommen. Ohne Besonnenheit, Sonderung, Unterscheidung<br />

vermag der Künstler keinen Gehalt, den er gestalten soll, zu<br />

beherrschen, und es ist töricht, zu glauben, der echte Künstler wisse<br />

nicht, was er tut. Ebenso nötig ist ihm die Konzentration des Gemüts.<br />

/366/<br />

.γ) Durch diese Empfindung nämlich, die das Ganze durch-dringt und<br />

beseelt, hat der Künstler seinen Stoff und dessen Gestaltung als sein<br />

eigenstes Selbst, als innerstes Eigentum seiner als Subjekt. Denn<br />

das bildliche Veranschaulichen entfremdet jeden Gehalt zur Äußerlichkeit,<br />

und die Empfindung erst hält ihn in subjektiver Einheit mit<br />

59


dem inneren Selbst. Nach dieser Seite hin muß der Künstler sich<br />

nicht nur viel in der Welt umgesehen und mit ihren äußeren und inneren<br />

Erscheinungen bekannt gemacht haben, sondern es muß auch<br />

vieles und Großes durch seine eigene Brust gezogen, sein Herz muß<br />

schon tief ergriffen und bewegt worden sein, er muß viel durchgemacht<br />

und durchgelebt haben, ehe er die echten Tiefen des Lebens<br />

zu konkreten Erscheinungen herauszubilden imstande ist. Deshalb<br />

braust wohl in der Jugend der Genius auf, wie dies bei Goethe und<br />

Schiller z. B. der Fall war, aber das Mannes- und Greisenalter erst<br />

kann die echte Reife des Kunstwerks zur Vollendung bringen.<br />

b. Das Talent und Genie<br />

Diese produktive Tätigkeit nun der Phantasie, durch welche der<br />

Künstler das an und für sich Vernünftige in sich selbst als sein eigenstes<br />

Werk zur realen Gestalt herausarbeitet, ist es, die Genie, Talent<br />

usf. genannt wird.<br />

α) Welche Seiten zum Genie gehören, haben wir daher soeben bereits<br />

betrachtet. Das Genie ist die allgemeine Fähigkeit zur wahren<br />

Produktion des Kunstwerks sowie die Energie der Ausbildung und<br />

Betätigung derselben. Ebensosehr aber ist diese Befähigung und<br />

Energie zugleich nur als subjektive, denn geistig produzieren kann<br />

nur ein selbstbewußtes Subjekt, das sich ein solches Hervorbringen<br />

zum Zwecke setzt. Näher jedoch pflegt man noch einen bestimmten<br />

Unterschied zwischen Genius und Talent zu machen. Und in der Tat<br />

sind beide auch nicht unmittelbar identisch, obschon ihre Identität<br />

zum vollkommenen künstlerischen Schaffen notwendig ist. Die Kunst<br />

nämlich, insofern sie überhaupt individualisiert und zur realen Erscheinung<br />

ihrer Produkte<br />

/367/<br />

herauszutreten hat, fordert nun auch zu den besonderen Arten dieser<br />

Verwirklichung unterschiedene besondere Fähigkeiten. Eine solche<br />

kann man als Talent bezeichnen, wie der eine z. B. ein Talent zum<br />

vollendeten Violinspiel hat, der andere zum Gesang usf. Ein bloßes<br />

Talent aber kann es nur in einer so ganz vereinzelten Seite der Kunst<br />

zu etwas Tüchtigem bringen und fordert, um in sich selber vollendet<br />

zu sein, dennoch immer wieder die allgemeine Kunstbefähigung und<br />

Beseelung, welche der Genius allein verleiht. Talent ohne Genie daher<br />

kommt nicht weit über die äußere Fertigkeit hinaus.<br />

β) Talent und Genie nun ferner, heißt es gewöhnlich, müßten dem<br />

Menschen angeboren sein. Auch hierin liegt eine Seite, mit der es<br />

seine Richtigkeit hat, obschon sie in anderer Beziehung ebensosehr<br />

wieder falsch ist. Denn der Mensch als Mensch ist auch zur Religion<br />

z. B., zum Denken, zur Wissenschaft geboren, d. h. er hat als<br />

Mensch die Fähigkeit, ein Bewußtsein von Gott zu erhalten und zur<br />

denkenden Erkenntnis zu kommen. Es braucht dazu nichts als der<br />

Geburt überhaupt und der Erziehung, Bildung, des Fleißes. Mit der<br />

Kunst verhält es sich anders; sie fordert eine spezifische Anlage, in<br />

welche auch ein natürliches Moment als wesentlich hineinspielt. Wie<br />

60


die Schönheit selber die im Sinnlichen und Wirklichen realisierte Idee<br />

ist und das Kunstwerk das Geistige zur Unmittelbarkeit des Daseins<br />

für Auge und Ohr herausstellt, so muß auch der Künstler nicht in der<br />

ausschließlich geistigen Form des Denkens, sondern innerhalb der<br />

Anschauung und Empfindung und näher in bezug auf ein sinnliches<br />

Material und im Elemente desselben gestalten. Dies künstlerische<br />

Schaffen schließt deshalb, wie die Kunst überhaupt, die Seite der<br />

Unmittelbarkeit und Natürlichkeit in sich, und diese Seite ist es, welche<br />

das Subjekt nicht in sich selbst hervorbringen kann, sondern als<br />

unmittelbar gegeben in sich vorfinden muß. Dies allein ist die Bedeutung,<br />

in welcher man sagen kann, das Genie und Talent müsse angeboren<br />

sein.<br />

/368/<br />

ln ähnlicher Art sind auch die verschiedenen Künste mehr oder weniger<br />

nationell und stehen mit der Naturseite eines Volks im Zusammenhange.<br />

Die Italiener z. B. haben Gesang und Melodie fast von<br />

Natur, bei den nordische n Völkern dagegen ist die Musik und Oper,<br />

obgleich sie die Ausbildung derselben sich mit großem Erfolg haben<br />

angelegentlich sein lassen, ebensowenig als die Orangenbäume vollständig<br />

einheimisch geworden. Den Griechen ist die schönste Ausgestaltung<br />

der epischen Dichtkunst und vor allem die Vollendung der<br />

Skulptur eigen, wogegen die Römer keine eigentlich selbständige<br />

Kunst besaßen, sondern sie erst von Griechenland her in ihren Boden<br />

verpflanzen mußten. Am allgemeinsten verbreitet ist daher überhaupt<br />

die Poesie, weil in ihr das sinnliche Material und dessen Formierung<br />

die wenigsten Anforderungen macht. Innerhalb der Poesie<br />

ist wiederum das Volkslied am meisten nationell und an Seiten der<br />

Natürlichkeit geknüpft, weshalb das Volkslied auch den Zeiten geringer<br />

geistiger Ausbildung angehört und am meisten die Unbefangenheit<br />

des Natürlichen bewahrt. Goethe hat in allen Formen und Gattungen<br />

der Poesie Kunstwerke produziert, das Innigste aber und Unabsichtlichste<br />

sind seine ersten Lieder. Zu ihnen gehört die geringste<br />

Kultur. Die Neugriechen z. B. sind ηοch jetzt ein dichtendes, singendes<br />

Volk. Was heut oder gestern Tapferes geschehen, ein Todesfall,<br />

die besonderen Umstände desselben, ein Begräbnis, jedes Abenteuer,<br />

eine einzelne Unterdrückung von seiten der Türken — alles und<br />

jedes wird bei ihnen sogleich zum Liede, und man hat viele Beispiele,<br />

daß oft an dem Tage einer Schlacht schon Lieder auf den neuerrungenen<br />

Sieg gesungen wurden. Fauriel 18 hat eine Sammlung neugriechischer<br />

Lieder herausgegeben, zum Teil aus dem Munde der Frauen,<br />

Ammen und Kindermädchen, die sich nicht genug verwundern<br />

konnten, daß er über ihre Lieder erstaunte. — In dieser Weise hängt<br />

die Kunst und ihre bestimmte Produktionsart mit der<br />

/369/<br />

18 Claude Charles Fauriel, 1772-1844, französischer Philologe<br />

61


estimmten Nationalität der Völker zusammen. So sind die Improvisatoren<br />

hauptsächlich in Italien einheimisch und von bewunderungswürdigem<br />

Talent. Ein Italiener improvisiert noch heute fünfaktige<br />

Dramen, und dabei ist nichts Auswendiggelerntes, sondern alles entspringt<br />

aus der Kenntnis menschlicher Leidenschaften und Situationen<br />

und aus tiefer gegenwärtiger Begeisterung. Ein armer Improvisator,<br />

als er eine geraume Zeit gedichtet hatte und endlich um-herging,<br />

um von den Umstehenden in einen schlechten Hut Geld einzusammeln,<br />

war noch so in Eifer und Feuer, daß er zu deklamieren nicht<br />

aufhören konnte und mit den Armen und Händen so lange fortgestikulierte<br />

und schwenkte, bis am Ende all sein zusammengebetteltes<br />

Geld verschüttet war.<br />

y) Zum Genie nun drittens gehört, weil es diese Seite der Natürlichkeit<br />

in sich faßt, auch die Leichtigkeit der inneren Produktion und der<br />

äußeren technischen Geschicklichkeit in Ansehung bestimmter Künste.<br />

Man spricht in dieser Beziehung z. B. bei einem Dichter viel von<br />

der Fessel des Versmaßes und Reims oder bei einem Maler von den<br />

mannigfaltigen Schwierigkeiten, welche Zeichnung, Farbenkenntnis,<br />

Schatten und Licht der Erfindung und Ausführung in den Weg legten.<br />

Allerdings gehört zu allen Künsten ein weitläufiges Studium, ein anhaltender<br />

Fleiß, eine vielfach ausgebildete Fertigkeit; je größer jedoch<br />

und reichhaltiger das Talent und Genie ist, desto weniger weiß<br />

es von einer Mühseligkeit im Erwerben der für die Produktion notwendigen<br />

Geschicklichkeiten. Denn der echte Künstler hat den natürlichen<br />

Trieb und das unmittelbare Bedürfnis, alles, was er in seiner<br />

Empfindung und Vorstellung hat, sogleich zu gestalten. Diese Gestaltungsweise<br />

ist seine Art der Empfindung und Anschauung, welche er<br />

mühelos als das eigentliche ihm angemessene Organ in sich findet.<br />

Ein Musiker z. B. kann das Tiefste, was sich in ihm regt und bewegt,<br />

nur in Melodien kundgeben, und was er empfindet, wird ihm unmittelbar<br />

zur Melodie, wie es dem Maler zu Gestalt und Farbe und<br />

/370/<br />

dem Dichter zur Poesie der Vorstellung wird, die ihre Gebilde in wohllautende<br />

Worte kleidet. Und diese Gestaltungsgabe besitzt er nicht<br />

nur als theoretische Vorstellung, Einbildungskraft und Empfindung,<br />

sondern ebenso unmittelbar auch als praktische Empfindung, d. h.<br />

als Gabe wirklicher Ausführung. Beides ist im echten Künstler verbunden.<br />

Was in seiner Phantasie lebt, kommt ihm dadurch gleichsam<br />

in die Finger, wie es uns in den Mund kommt, herauszusagen, was<br />

wir denken, oder wie unsere innersten Gedanken, Vorstellungen und<br />

Empfindungen unmittelbar an uns selber in Stellung- und Gebärden<br />

erscheinen. Der echte Genius ist seit jeher mit den Außenseiten der<br />

technischen Ausführung leicht zustande gekommen und hat auch<br />

selbst das ärmste und scheinbar ungefügigste Material so weit bezwungen,<br />

daß es die inneren Gestalten der Phantasie in sich aufzunehmen<br />

und dar zustellen genötigt wurde. Was in dieser Weise unmittelbar<br />

in ihm liegt, muß der Künstler zwar zur vollständigen Fertigkeit<br />

durchüben, die Möglichkeit unmittelbarer Ausführung jedoch muß<br />

ebensosehr als Naturgabe in ihm sein; sonst bringt es die bloß eingelernte<br />

Fertigkeit nie zu einem lebendigen Kunstwerk. Beide Seiten,<br />

62


die innere Produktion und deren Realisierung, gehen dem Begriff der<br />

Kunst gemäß durchweg Hand in Hand.<br />

c. Die Begeisterung<br />

Die Tätigkeit der Phantasie und technischen Ausführung nun, als<br />

Zustand im Künstler für sieh betrachtet , ist das, was man drittens<br />

Begeisterung zu nennen gewohnt ist.<br />

α) In betreff auf sie fragt es sich zunächst nach der Art ihrer Entstehung,<br />

rücksichtlich welcher die verschiedenartigsten Vorstellungen<br />

verbreitet sind.<br />

αα) Insofern das Genie überhaupt im engsten Zusammenhange des<br />

Geistigen und Natürlichen steht, hat man geglaubt, daß die Begeisterung<br />

vornehmlich durch sinnliche Anregung könne zuwege gebracht<br />

werden. Aber die Wärme des Bluts macht's nicht allein, Champagner<br />

gibt noch keine<br />

/371/<br />

Poesie; wie Marmontel z. B. erzählt, er habe in der Champagne in<br />

einem Keller bei sechstausend Flaschen vor sich gehabt, und es sei<br />

ihm doch nichts Poetisches zugeflossen. Ebenso kann sich das beste<br />

Genie oft genug morgens und abends beim frischen Wehen der Lüfte<br />

ins grüne Gras legen und in den Himmel sehen und wird doch von<br />

keiner sanften Begeisterung angehaucht werden.<br />

ββ) Umgekehrt läßt sich die Begeisterung ebensowenig durch die<br />

bloß geistige Absicht zur Produktion hervorrufen. Wer sich bloß vornimmt,<br />

begeistert zu sein, um ein Gedicht zu machen oder ein Bild zu<br />

malen und eine Melodie zu erfinden, ohne irgendeinen Gehalt schon<br />

zu lebendiger Anregung in sich zu tragen, und nun erst hier und dort<br />

nach einem Stoffe umhersuchen muß, der wird aus dieser bloßen<br />

Absicht heraus, alles Talentes unerachtet, noch keine schöne Konzeption<br />

zu fassen oder ein gediegenes Kunstwerk hervorzubringen<br />

imstande sein. Weder jene nur sinnliche Anregung noch der bloße<br />

Wille und Entschluß verschafft echte Begeisterung, und solche Mittel<br />

anzuwenden beweist nur, daß das Gemüt und die Phantasie noch<br />

kein wahrhaftes Interesse in sich gefaßt haben. Ist dagegen der<br />

künstlerische Trieb rechter Art, so hat sich dies Interesse schon im<br />

voraus auf einen bestimmten Gegenstand und Gehalt geworfen und<br />

ihn festgehalten.<br />

γγ) Die wahre Begeisterung deshalb entzündet sich an irgendeinem<br />

bestimmten Inhalt, den die Phantasie, um ihn künstlerisch auszudrücken,<br />

ergreift, und ist der Zustand dieses tätigen Ausgestalten<br />

selbst – sowohl im subjektiven Innern als auch in der objektiven Ausführung<br />

des Kunstwerks; denn für diese gedoppelte Tätigkeit ist Begeisterung<br />

notwendig. Da läßt sich nun wieder die Frage aufwerfen,<br />

in welcher Weise solch ein Stoff an den Künstler kommen müsse.<br />

Auch in dieser Beziehung gibt es mehrfache Ansichten. Wie oft hört<br />

man nicht die Forderung aufstellen, der Künstler habe seinen Stoff<br />

nur aus sich selber zu schöpfen. Allerdings kann dies der Fall sein,<br />

63


wenn z. B. der Dichter »wie<br />

/372/<br />

der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet«. Der eigene Frohsinn ist<br />

dann der Anlaß, der auch zugleich aus dem Innern heraus sich selbst<br />

als Stoff und Inhalt darbieten kann, indem er zum künstlerischen Genuß<br />

der eigenen Heiterkeit treibt. Dann ist auch »das Lied, das aus<br />

der Kehle dringt, ein Lohn, der reichlich lohnet«. Auf der anderen Seite<br />

jedoch sind oft die größten Kunstwerke auf eine ganz äußerliche<br />

Veranlassung geschaffen worden. Die Preisgesänge Pindars z. B.<br />

sind häufig aus Aufträgen entstanden, ebenso ist den Künstlern für<br />

Gebäude und Gemälde der Zweck und Gegenstand unzähligemal<br />

aufgegeben worden, und sie haben sich doch dafür zu begeistern<br />

vermocht. Ja, es ist sogar eine vielfach zu vernehmende Klage der<br />

Künstler, daß es ihnen an Stoffen fehle, die sie bearbeiten könnten.<br />

Eine solche Äußerlichkeit und deren Anstoß zur Produktion ist hier<br />

das Moment der Natürlichkeit und Unmittelbarkeit, welche zum Begriff<br />

des Talents gehört und sich in Rücksicht auf den Beginn der Begeisterung<br />

daher gleichfalls hervorzutun hat . Die Stellung des Künstlers<br />

ist nach dieser Seite hin von der Art, daß er eben als natürliches<br />

Talent in Verhältnis zu einem vorgefundenen gegebenen Stoffe tritt,<br />

indem er sich durch einen äußeren Anlaß, durch ein Begebnis, oder<br />

wie Shakespeare z. B. durch Sagen, alte Balladen, Novellen, Chroniken<br />

in sich aufgefordert findet, diesen Stoff zu gestalten und sich<br />

überhaupt darauf zu äußern. Die Veranlassung also zur Produktion<br />

kann ganz von außen kommen, und das einzig wichtige Erfordernis<br />

ist nur, daß der Künstler ein wesentliches Interesse fasse und den<br />

Gegenstand in sich lebendig werden lasse. Dann kommt die Begeisterung<br />

des Genies von .selbst. Und ein echt lebendiger Künstler<br />

findet eben durch diese Lebendigkeit tausend Veranlassungen zur<br />

Tätigkeit und Begeisterung — Veranlassungen, an welchen andere,<br />

ohne davon berührt zu werden, vorübergehen.<br />

β) Fragen wir weiter, worin die künstlerische Begeisterung bestehe,<br />

so ist sie nichts anderes, als von der Sache ganz er-<br />

/373/<br />

füllt zu werden, ganz in der Sache gegenwärtig zu sein und nicht eher<br />

zu ruhen, als bis die Kunstgestalt ausgeprägt und in sich abgerundet<br />

ist.<br />

γ) Wenn nun aber der Künstler in dieser Weise den Gegenstand ganz<br />

zu dem seinigen hat werden lassen, muß er umgekehrt seine subjektive<br />

Besonderheit und deren zufällige Partikularitäten zu vergessen<br />

wissen und sich seinerseits ganz in den Stoff versenken, so daß er<br />

als Subjekt nur gleichsam die Form ist für das Formieren des Inhaltes,<br />

der ihn ergriffen hat. Eine Begeisterung, in welcher sich das Subjekt<br />

als Subjekt aufspreizt und geltend macht, statt das Organ und die<br />

64


lebendige Tätigkeit der Sache selber zu sein, ist eine schlechte Begeisterung.<br />

— Dieser Punkt führt uns zu der sogenannten Objektivität<br />

künstlerischer Hervorbringungen hinüber.<br />

2. Die Objektivität der Darstellung<br />

a) Im gewöhnlichen Sinne des Wortes wird die Objektivität so verstanden,<br />

daß im Kunstwerk jeder Inhalt die Form der sonst schon<br />

vorhandenen Wirklichkeit annehmen und uns in dieser bekannten<br />

Außengestalt entgegentreten müsse. Wollten wir uns mit solch einer<br />

Objektivität begnügen, so könnten wir auch Kotzebue einen objektiven<br />

Dichter nennen. Bei ihm finden wir die gemeine Wirklichkeit<br />

durchweg wieder. Der Zweck der Kunst aber ist es gerade, sowohl<br />

den Inhalt als die Erscheinungsweise des Alltäglichen abzustreifen<br />

und nur das an und für sich Vernünftige zu dessen wahrhafter Außengestalt<br />

durch geistige Tätigkeit aus dem Innern herauszuarbeiten.<br />

— Auf die bloß äußerliche Objektivität daher, der die<br />

volle Substanz des Inhalts abgeht, hat der Künstler nicht loszugehen.<br />

Denn die Auffassung des sonst schon Vorhandenen kann weiter hinauf<br />

zwar in sich selbst von höchster Lebendigkeit sein und, wie wir<br />

schon früher an einigen Beispielen aus Goethes Jugendwerken sahen,<br />

durch ihre innere Beseelung eine große Anziehung ausüben;<br />

wenn<br />

/374/<br />

ihr aber ein echter Gehalt abgeht, so bringt sie es dennoch nicht zur<br />

wahren Schönheit der Kunst.<br />

b) Eine zweite Art macht sich deshalb das Äußerliche als solches<br />

nicht zum Zweck, sondern der Künstler hat seinen Gegenstand mit<br />

tiefer Innerlichkeit des Gemüts ergriffen. Dies Innere aber bleibt so<br />

sehr verschlossen und konzentriert, daß es sich nicht zur bewußten<br />

Klarheit hervorringen und zur wahren Entfaltung kommen kann. Die<br />

Beredsamkeit des Pathos beschränkt sich darauf, sich durch äußerliche<br />

Erscheinungen, an welche es anklingt, ahnungsreich anzudeuten,<br />

ohne die Kraft und Bildung zu haben, die volle Natur des Inhalts<br />

explizieren zu können. Volkslieder besonders gehören dieser<br />

Weise der Darstellung an. Äußerlich einfach, deuten sie auf ein weiteres,<br />

tiefes Gefühl hin, das ihnen zugrunde liegt, doch sich nicht<br />

deutlich auszusprechen vermag, indem die Kunst hier selbst noch<br />

nicht zu der Bildung gekommen ist, ihren Gehalt in offener Durchsichtigkeit<br />

zutage zu bringen, und sich damit begnügen muß, denselben<br />

durch Äußerlichkeiten für die Ahnung des Gemüts erratbar zu machen.<br />

Das Herz bleibt in sich gedrungen und gepreßt und spiegelt<br />

sich, um dem Herzen verständlich zu sein, nur an ganz endlichen<br />

äußeren Umständen und Erscheinungen ab, die allerdings sprechend<br />

sind, wenn ihnen auch nur eine ganz leise Wendung auf das Gemüt<br />

und die Empfindung hin gegeben wird. Auch Goethe hat in solcher<br />

Weise höchst vortreffliche Lieder geliefert. »Schäfers Klagelied« z. B.<br />

ist eins der schönsten dieser Art. Das von Schmerz und Sehnsucht<br />

gebrochene Gemüt gibt sich in lauter äußerlichen Zügen stumm und<br />

verschlossen kund, und dennoch klingt die konzentrierteste Tiefe der<br />

Empfindung unausgesprochen hiηdurch. Im »Erlkönig« und so vielen<br />

65


anderen herrscht derselbe Ton. Dieser Ton jedoch kann auch bis zur<br />

Barbarei der Stumpfheit herunterkommen, die das Wesen. der Sache<br />

und Situation sich nicht zum Bewußtsein gelangen läßt und sich nur<br />

an teils rohe, teils abgeschmackte Äußerlichkeiten hält. Wie es z. B.<br />

in dem Tambours-Gesellen aus Des Knaben<br />

/375/<br />

Wunderhorn heißt: »O Galgen, du hohes Haus!« oder: »Adje, Herr<br />

Korporal«, was denn als höchst rührend ist gepriesen worden. Wenn<br />

dagegen Goethe singt [»Blumengruß«]:<br />

Der Strauß, den ich gepflücket,<br />

Grüße dich vieltausendmal!<br />

Ich habe mich oft gebücket,<br />

Ach, wohl eintausendmal,<br />

Und ihn ans Herz gedrücket<br />

Wie hunderttausendmal! –<br />

so ist hier die Innigkeit in einer ganz anderen Weise angedeutet, die<br />

nichts Triviales und in sich selbst Widriges vor unsere Anschauung<br />

stellt. Was aber überhaupt dieser ganzen Art der Objektivität abgeht,<br />

ist das wirkliche, klare Heraustreten der Empfindung und Leidenschaft,<br />

welche in der echten Kunst nicht jene verschlossene Tiefe<br />

bleiben darf, die nur leise anklingend sich durch das Äußere hindurchzieht,<br />

sondern sich vollständig entweder für sich herauskehren<br />

oder das Äußere, in welches sie sich hineinlegt, hell und ganz durchscheinen<br />

muß. Schiller z. B. ist bei seinem Pathos mit der ganzen<br />

Seele dabei, aber mit einer großen Seele, welche sich in das Wesen<br />

der Sache einlebt und deren Tiefen zugleich aufs freieste und glänzendste<br />

in der Fülle des Reichtums und Wohlklanges auszusprechen<br />

vermag.<br />

c) In dieser Beziehung können wir, dem Begriff des Ideals gemäß,<br />

auch hier von seiten der subjektiven Äußerung die wahre Objektivität<br />

dahin feststellen, daß von dem echten Gehalt; der den Künstler begeistert,<br />

nichts in dem subjektiven Inneren zurückbehalten, sondern<br />

alles vollständig, und zwar in einer Weise entfaltet werden muß, in<br />

welcher die allgemeine Seele und Substanz des erwählten Gegenstandes<br />

ebensosehr hervorgehoben als die individuelle Gestaltung<br />

desselben in sich vollendet abgerundet und der ganzen Darstellung<br />

nach von jener Seele und Substanz durchdrungen erscheint. Denn<br />

das Höchste und Vortrefflichste ist nicht etwa das Unaussprechbare,<br />

so daß der Dichter in sich noch von größerer Tiefe wäre, als das<br />

Werk dartut, sondern seine<br />

/376/<br />

Werke sind das Beste des Künstlers und das Wahre; was er ist, das<br />

66


ist er, was aber nur im Innern bleibt, da s ist er nicht.<br />

3. Manier, Stil und Originalität<br />

Wie sehr nun aber vom Künstler eine Objektivität in dem soeben angedeuteten<br />

Sinne muß gefordert werden, so ist die Darstellung dennoch<br />

das Werk seiner Begeisterung. Denn er hat sich als Subjekt<br />

ganz mit dem Gegenstande zusammengeschlossen und die Kunstverkörperung<br />

aus der inneren Lebendigkeit seines Gemüts und seiner<br />

Phantasie heraus geschaffen. Diese Identität der Subjektivität<br />

des Künstlers und der wahren Objektivität der Darstellung ist die dritte<br />

Hauptseite, die wir noch kurz betrachten müssen, insofern sich in<br />

ihr das vereinigt zeigt, was wir bisher als Ge nie und Objektivität ge<br />

sondert haben. Wir können diese Einheit als den Begriff der echten<br />

Originalität bezeichnen.<br />

Ehe wir jedoch bis zur Feststellung dessen vordringen, was dieser<br />

Begriff in sich enthält, haben wir noch zwei Punkte ins Auge zu fassen,<br />

deren Einseitigkeit aufzuheben ist, wenn die wahre Originalität<br />

soll hervortreten können. Dies ist die subjektive Manier und der Stil.<br />

a. Die subjektive Manier<br />

Die bloße Manier muß wesentlich von der Originalität unterschieden<br />

werden. Denn die Manier betrifft :nur die partikulären und dadurch<br />

zufälligen Eigentümlichkeiten des Künstlers, die statt der Sache<br />

selbst und deren idealer Darstellung in der Produktion des Kunstwerks<br />

hervortreten und sich geltend machen.<br />

α) Manier in diesem Sinne betrifft dann nicht die allgemeinen Arten<br />

der Kunst, welche an und für sich eine unterschiedene Darstellungsweise<br />

erfordern, wie z. B. der Landschaftsmaler die Gegenstände<br />

anders aufzufassen hat als der historische Maler, der epische Dichter<br />

anders als der lyrische<br />

/377/<br />

oder dramatische, — sondern Manier ist eine nur diesem Subjekt<br />

angehörige Konzeption und zufällige Eigentümlichkeit der Ausführung,<br />

welche sogar bis dahin fortgehen kann, mit dem wahren Begriff<br />

des Ideals in direkten Widerspruch zu geraten. Von dieser Seite her<br />

betrachtet, ist die Manier das Schlechteste, dem sich der Künstler<br />

hingeben kann, indem er sich nur in seiner beschränkten Subjektivität<br />

als solcher gehenläßt. Die Kunst aber hebt überhaupt die bloße Zufälligkeit<br />

des Gehalts sowohl als der äußeren Erscheinung auf und<br />

macht daher auch an den Künstler die Forderung, daß er die zufälligen<br />

Partikularitäten seiner subjektiven Eigentümlichkeit in sich austilge.<br />

β) Deshalb stellt sich denn auch zweitens die Manier nicht etwa der<br />

wahren Kunstdarstellung direkt entgegen, sondern behält sich mehr<br />

nur die äußeren Seiten als Spielraum vor. Am meisten gewinnt sie in<br />

der Malerei und Musik ihren Platz, weil diese Künste für die Auffas-<br />

67


sung und Ausführung die größte Breite äußerlicher Seiten darbieten.<br />

Eine eigentümliche, dem besonderen Künstler und dessen Nachfolgern<br />

und Schülern angehörige und durch häufige Wiederholung bis<br />

zur Gewohnheit ausgebildete Darstellungsweise macht hier die Manier<br />

aus, welche sich nach zwei Seiten hin zu er-gehen die Gelegenheit<br />

hat.<br />

αα) Die erste Seite betrifft die Auffassung. Der Ton der Luft z. B., der<br />

Baumschlag, die Verteilung des Lichts und Schattens, der ganze Ton<br />

der Färbung überhaupt läßt in der Malerei eine unendliche Mannigfaltigkeit<br />

zu. Besonders in der Art der Färbung und Beleuchtung finden<br />

wir deshalb auch bei den Malern die größte Verschiedenheit und eigentümlichste<br />

Auffassungsweise. Dies kann etwa auch ein Farbton<br />

sein, den wir im allgemeinen in der Natur nicht wahrnehmen, weil wir<br />

unsere Aufmerksamkeit, obschon er vorkommt, nicht darauf gerichtet<br />

haben. Diesem oder jenem Künstler aber ist er aufgefallen, er hat ihn<br />

sich angeeignet und ist nun alles in dieser Art der Färbung und Beleuchtung<br />

zu sehen und wiederzugeben gewohnt geworden. Wie mit<br />

der Fär-<br />

/378/<br />

bung kann es ihm dann auch mit den Gegenständen selber, ihrer<br />

Gruppierung, Stellung, Bewegung gehen. Bei de n Niederländern<br />

hauptsächlich treffen wir diese Seite der Manier häufig an; van der<br />

Neers Nachtstücke z. B. und sei ne Behandlung des Mondlichts, van<br />

der Goyens Sandhügel in so vielen seiner Landschaften, der immer<br />

wiederkehrende Glanz des Atlas und anderer Seidenstoffe auf so<br />

vielen Bildern anderer Meister gehören in diese Kategorie.<br />

ββ) Weiter sodann erstreckt die Manier sich auf die Exekution, auf die<br />

Führung des Pinsels, den Auftrag, die Verschmelzung der Farben<br />

usw.<br />

yy) Indem nun aber solch eine spezifische Art der Auffassung und<br />

Darstellung durch die stets sich erneuernde Wiederkehr zur Gewohnheit<br />

verallgemeinert und dem Künstler zur anderen Natur wird,<br />

liegt die Gefahr nahe, daß die Manier, je spezieller sie ist, um so<br />

leichter zu einer seelenlosen und dadurch kahlen Wiederholung und<br />

Fabrikation ausartet, bei welcher der Künstler nicht mehr mit vollem<br />

Sinn und ganzer Begeisterung dabei ist. Dann sinkt die Kunst zu einer<br />

bloßen Handgeschicklichkeit und Handwerksfertigkeit herunter,<br />

und die an sich selbst nicht verwerfliche Manier kann zu etwas Nüchternem<br />

und Leblosem werden.<br />

y) Die echtere Manier hat sich deshalb dieser beschränkten Besonderheit<br />

zu entheben und in sich selbst so zu erweitern, daß dergleichen<br />

spezielle Behandlungsarten sich ni cht zu einer bloßen Gewohnheitssache<br />

abtöten können, indem sich der Künstler in allgemeinerer<br />

Weise an die Natur der Sache hält und sich diese allgemeinere<br />

Behandlungsart, wie deren Begriff es mit sich führt, zu eigen zu<br />

machen versteht. In diesem Sinne kann man es z. B. bei Goethe Manier<br />

nennen, daß er nicht nur gesellschaftliche Gedichte, sondern<br />

68


auch sonstige ernsthaftere Anfänge durch eine heitere Wendung geschickt<br />

zu beendigen weiß, um das Ernsthafte der Betrachtung oder<br />

Situation wieder aufzuheben oder zu entfernen. Auch Horaz in seinen<br />

Briefen folgt dieser Manier. Dies ist eine Wendung der Konversation<br />

und geselligen Behaglichkeit<br />

/379/<br />

überhaupt, welche, um nicht tiefer ins Zeug hineinzugeraten, an sich<br />

hält, abbricht und das Tiefere selbst wieder mit Gewandtheit ins Heitere<br />

hinüberspielt. Auch diese Auffassungsweise ist zwar Manier und<br />

gehört zur Subjektivität der Behandlung, aber zu einer Subjektivität,<br />

die allgemeinerer Art ist und ganz so verfährt, wie es innerhalb der<br />

beabsichtigten Darstellungsart notwendig ist. Von dieser letzten Stufe<br />

der Manier aus können wir zur Betrachtung des Stils hinüberschreiten.<br />

b. Stil<br />

»Le style c'est l'homme même« ist ein bekanntes französisches Wort.<br />

Hier heißt Stil überhaupt die Eigentümlichkeit des Subjekts, welche<br />

sich in seiner Ausdrucksweise, der Art seiner Wendungen usf. vollständig<br />

zu erkennen gibt. Umgekehrt sucht Herr von Rumohr (Italienische<br />

Forschungen 19 , Bd. I, S. 87) den Ausdruck Stil »als ein zur<br />

Gewohnheit gediehenes Sichfügen in die inneren Forderungen des<br />

Stoffes (zu) erklären, in welchem der Bildner seine Gestalten wirklich<br />

bildet, der Maler sie erscheinen macht«, und teilt in dieser Beziehung<br />

höchst wichtige Bemerkungen über die Darstellungsweise mit, welche<br />

das bestimmte sinnliche Material der Skulptur z. B. erlaubt oder<br />

verbietet. Jedoch braucht man das Wort Stil nicht bloß auf diese Seite<br />

des sinnlichen Elementes zu beschränken, sondern kann es auf<br />

diejenigen Bestimmungen und Gesetze künstlerischer Darstelluilg<br />

ausdehnen, welche aus der Natur einer Kunstgattung, innerhalb derer<br />

ein Gegenstand zur Ausführung kommt, hervorgehen. In dieser<br />

Rücksicht unterscheidet man in der Musik Kirchenstil und Opernstil,<br />

in der Malerei historischen Stil von dem der Genremalerei. Der Stil<br />

betrifft dann eine Darstellungsweise, welche den Bedingungen ihres<br />

Materials ebensosehr nachkommt, als sie den Forderungen bestimmter<br />

Kunstgattungen und deren aus dem Begriff der<br />

/380/<br />

Sache herfließen den Gesetzen durchgängig entspricht . Der Mangel<br />

an Stil in dieser weiteren Wortbedeutung ist dann entweder das Unvermögen,<br />

sich eine solche in sich selbst notwendige Darstellungsweise<br />

aneignen zu können, oder die subjektive Willkür, statt des Gesetzmäßigen<br />

nur der eigenen Beliebigkeit freien Lauf zu lassen und<br />

eine schlechte Manier an die Stelle zu setzen. Deshalb ist es auch,<br />

19 Siehe Fn. 1, S. 145<br />

69


wie schon Herr von Rumohr bemerkt, unstatthaft, die Stilgesetze der<br />

einen Kunstgattung auf die der anderen zu übertragen, wie es Mengs<br />

z. B. in seiner bekannten Musenversammlung in der Villa Albani tat,<br />

wo er »die kolorierten Formen seines Apollo im Prinzipe der Skulptur<br />

auffaßte und ausführte«. In ähnlicher Wei se sieht man es vielen Dürerschen<br />

Gemälden an, daß Dürer den Stil des Holzschnittes sich<br />

ganz zu eigen gemacht und auch in der Malerei besonders im Faltenwurf<br />

vor sich hatte.<br />

c. Originalität<br />

Die Originalität nun endlich besteht nicht nur im Befolgen der Gesetze<br />

des Stils, sondern in der subjektiven Begeisterung, welche, statt<br />

sich der bloßen Manier hinzugeben, einen an und für sich vernünftigen<br />

Stoff ergreift und den selben ebensosehr im Wesen und Begriff<br />

einer bestimmten Kunstgattung als dem allgemeinen Begriff des Ideals<br />

gemäß von innen her aus der künstlerischen Subjektivität heraus<br />

gestaltet.<br />

a) Die Originalität ist deshalb identisch mit der wahren Objektivität<br />

und schließt das Subjektive und Sachliche der Darstellung in der<br />

Weise zusammen, daß beide Seiten nichts Fremdes mehr gegeneinander<br />

behalten. In der einen Beziehung daher macht sie die eigenste<br />

Innerlichkeit des Künstlers aus, nach der an deren Seite hin gibt sie<br />

jedoch nichts als die Natur des Gegenstandes, so daß jene Eigentümlichkeit<br />

nur als die Eigentümlichkeit der Sache selbst erscheint<br />

und gleichmäßig aus dieses wie die Sache aus der produktiven Subjektivität<br />

hervorgeht.<br />

/381/<br />

ß) Die Originalität ist deshalb vor allem von der Willkür bloßer Einfälle<br />

abzuscheiden. Denn gewöhnlich pflegt man unter Originalität nur das<br />

Hervorbringen von Absonderlichkeiten zu verstehen, wie sie nur gerade<br />

diesem Subjekt eigentümlich sind und keinem anderen würden<br />

zu Sinne kommen. Das ist dann aber nur eine schlechte Partikularität.<br />

Niemand z. B. ist in dieser Bedeutung des Wortes origineller als<br />

die Engländer, d. h. jeder legt sich auf eine bestimmte Narrheit, die<br />

ihm kein vernünftiger Mensch nachmachen wird, und nennt sich im<br />

Bewußtsein seiner Narrheit originell.<br />

Hiermit hängt denn auch die besonders heutigentags gerühmte Originalität<br />

des Witzes und Humors zusammen. In ihr geht der Künstler<br />

von seiner eigenen Subjektivität aus und kehrt immer wieder zu derselben<br />

zurück, so daß das eigentliche Objekt der Darstellung nur als<br />

eine äußerliche Veranlassung behandelt wird, um den Witzen, Späßen,<br />

Einfällen und Sprüngen der subjektivsten Laune vollen Spielraum<br />

zu geben. Dann fällt aber der Gegenstand und dies Subjektive<br />

auseinander, und mit dem Stoff wird durchaus willkürlich verfahren,<br />

damit ja die Partikularität des Künstlers als Hauptsache hervorleuchten<br />

könne. Solch ein Humor kann voll Geist und tiefer Empfindung<br />

sein und tritt gewöhnlich als höchst imponierend auf, ist aber im ganzen<br />

leichter, als man glaubt. Denn den vernünftigen Lauf der Sache<br />

70


stets zu unterbrechen, willkürlich anzufangen, fortzugehen, zu enden,<br />

eine Reihe von Witzen und Empfindungen bunt durcheinanderzuwürfeln<br />

und dadurch Karikaturen der Phantasie zu erzeugen ist leichter,<br />

als ein in sich gediegenes Ganzes im Zeugnis des wahren Ideals aus<br />

sich zu entwickeln und abzurunden. Der gegenwärtige Humor aber<br />

liebt es, die Widerwärtigkeit eines ungezogenen Talentes herauszukehren,<br />

und schwankt von wirklichem Humor denn auch ebensosehr<br />

zur Plattheit und Faselei herüber. Wahrhaften Humor hat es selten<br />

gegeben; jetzt aber sollen die mattesten Trivialitäten, wenn sie nur<br />

die äußere Farbe und<br />

Prätention des Humors haben, für geistreich und tief gelten. Shakespeare<br />

dagegen hat großen und tiefen Humor, und dennoch fehlt es<br />

auch bei ihm nicht an Flachheiten. Ebenso überrascht auch Jean<br />

Pauls Humor oft durch die Tiefe des Witzes und Schönheit der Empfindung,<br />

ebensooft aber auch in entgegengesetzter Weise durch barocke<br />

Zusammenstellungen von Gegenständen, welche zusammenhangslos<br />

auseinanderliegen und deren Beziehungen, zu welchen der<br />

Hum or sie kombiniert, sich kaum entziffern lassen. Dergleichen hat<br />

selbst der größte Humorist nicht im Gedächtnis prαsent, und so sieht<br />

man es denn auch den Jean Paulschen Kombinationen häufig an,<br />

daß sie nicht aus der Kraft des Genies hervorgegangen, sondern<br />

äußerlich zusammengetragen sind. Jean Paul hat deshalb auch, um<br />

immer neues Material zu haben, in alle Bücher der verschiedensten<br />

Art, botanische, juristische, Reisebeschreibungen, philosophische,<br />

hineingesehen, was ihn frappierte, sogleich notiert, augenblickliche<br />

Einfälle dazugeschrieben und, wenn es nun darauf ankam, selber<br />

ans Erfinden zu gehen, äußerlich das Heterogenste — brasilianische<br />

Pflanzen und das alte Reichskammergericht — zueinandergebracbt.<br />

Das ist dann besonders als Originalität gepriesen oder als Humor,<br />

der alles und jedes zulasse, entschuldigt worden. Die wahre Originalität<br />

aber schließt solche Willkür gerade von sich aus.<br />

Bei dieser Gelegenheit können wir denn auch wieder der Ironie gedenken,<br />

welche sich hauptsächlich dann als die höchste Originalität<br />

auszugeben liebt, wenn es ihr mit keinem Inhalt mehr Ernst ist und<br />

sie ihr Geschäft des Spaßes nur des Spaßes wegen teibt. Nach einer<br />

anderen Seite hin bringt sie in ihren Datstellungen eine Menge Äußerlichkeiten<br />

zusammen, deren innersten Sinn der Dichter für sich<br />

behält, wo denn die List und das Große darin bestehen soll, daß die<br />

Vorstellung verbreitet wird, gerade in diesen Zusammentragungen<br />

und Äußerlichkeiten sei die Poesie der Poesie und alles Tiefste und<br />

Vortrefflichste verborgen, das sich nur eben seiner Tiefe wegen nicht,<br />

aussprechen lasse. So wurde z. B.<br />

/383/<br />

in Friedrich von Schlegels Gedichten zur Zeit, als er sich einbildete,<br />

ein Dichter zu sein, dies Nichtgesagte als das Beste ausgegeben;<br />

doch diese Poesie der Poesie ergab sich gerade als die platteste<br />

Prosa.<br />

71


y) Das wahrhafte Kunstwerk muß von dieser schiefen Originalität<br />

befreit werden, denn es erweist seine echte Originalität nur dadurch,<br />

daß es als die eine eigene Schöpfung eines Geistes erscheint, der<br />

nichts von außen her aufliest und zusammenflickt, sondern das Ganze<br />

im strengen Zusammenhange aus einem Guß, in einem Tone sich<br />

durch sich selber produzieren läßt, wie die Sache sich in sich selbst<br />

zusammengeeint hat. Finden sich dagegen die Szenen und Motive<br />

nicht durch sich selber, sondern bloß von außen her zueinander, so<br />

ist die innere Notwendigkeit ihrer Einigung nicht vorhanden, und sie<br />

erscheinen nur als zufällig durch ein drittes, fremdes Subjekt verknüpft.<br />

So ist Goethes Götz besonders seiner großen Originalität wegen<br />

bewundert worden, und allerdings hat Goethe, wie schon oben<br />

gesagt ist, mit vieler Kühnheit in diesem Werke alles geleugnet und<br />

mit Füßen getreten, was von den damaligen Theorien der schönen<br />

Wissenschaften als Kunstgesetz festgestellt war. Dennoch ist die<br />

Ausführung nicht von wahrhafter Originalität. Denn man sieht diesem<br />

Jugendwerke noch die Armut eigenen Stoffs an, so daß nun viele<br />

Züge und ganze Szenen, statt aus dem großen Inhalte selber herausgearbeitet<br />

zu sein, hier und dort aus den Interessen der Zeit, in<br />

der es verfaßt ist, zusammengerafft und äußerlich eingefügt erscheinen.<br />

Die Szene z. B. des Götz mit dem Bruder Martin, welcher auf<br />

Luther hindeutet, enthält nur Vorstellungen, welche Goethe aus dem<br />

geschöpft hat, worüber man in dieser Periode in Deutschland die<br />

Mönche wieder zu bedauern anfing: daß sie keinen Wein trinken dürften,<br />

schläfrig verdauten, dadurch mancherlei Begierden anheimfielen<br />

und überhaupt die drei unerträglichen Gelübde, der Armut, Keuschheit<br />

und des Gehorsams, ablegen müßten. Dagegen begeistert sich<br />

Bruder Martin für das ritterliche Leben Götzens: wie dieser mit der<br />

/384/<br />

Beute seiner Feinde beladen sich erinnere: »Den stach ich vom<br />

Pferd, eh er schießen konnte, und den rannt ich samt dem Pferd nieder«,<br />

und dann auf sein Schloß komme und sein Weib finde; er trinkt<br />

auf Frau Elisabeths Gesundheit — und wischt sich die Augen. — Mit<br />

diesen zeitlichen Gedanken aber hat Luther nicht angefangen, sondern<br />

eine ganz andere Tiefe der religiösen Anschauung und Überzeugung<br />

aus Augustin als ein frommer Mönch geschöpft. In derselbigen<br />

Weise folgen dann gleich in den nächsten Szenen pädagogische<br />

Zeitbeziehungen, die insbesondere Basedow 20 in Anregung gebracht<br />

hatte. Die Kinder z. B., hieß es dam als, lernten viel unverstandenes<br />

Zeug, die rechte Methode aber bestände darin, sie durch Anschauung<br />

und Erfahrung Realien zu lehren. Karl nun sagt seinem Vater<br />

ganz so, wie es zu Goethes Jugendzeit Mode war, auswendig her:<br />

»Jaxthausen ist ein Dorf und Schloß an der Jaxt, gehört seit zweihundert<br />

Jahren den Herrn von Berlichingen erb- und eigentümlich<br />

zu«; als jedoch Götz ihn fragt: »Kennst du den Herrn von Berlichingen?«,<br />

sieht der Bub ihn starr an und kennt vor lauter Gelehrsamkeit<br />

20 Johann Bernhard Basedow, 1723-1790, Pädagoge<br />

72


seinen eigenen Vater nicht. Götz versichert, er kannte alle Pfade,<br />

Weg und Furten, eh er wußte, wie Fluß, Dorf und Burg hieß. Dies<br />

sind fremdartige Anhängsel, welche den Stoff selbst nichts angehen;<br />

während da, wo derselbe nun in seiner eigentümlichen Tiefe hätte<br />

gefaßt werden können, im Gespräche z.B. Götzen und Weislingens,<br />

nur kalte prosaische Reflexionen über die Zeit zum Vorschein kommen.<br />

Ein ähnliches Anfügen von einzelnen Zügen, die aus dem Inhalte<br />

nicht hervorgehen, finden wir selbst noch in den Wahlverwandtschaften<br />

wieder: die Parkanlagen, die lebenden Bilder und Pendelschwingungen,<br />

das Metallfühlen, die Kopfschmerzen, das ganze aus der<br />

Chemie entlehnte Bild der chemischen Verwandtschaften sind von<br />

dieser Art. Im Roman, der in einer bestimmten prosaischen Zeit<br />

spielt, ist<br />

/385/<br />

dergleichen freilich eher zu gestatten, besonders wenn es wie bei<br />

Goethe so geschickt und anmutig benutzt wird, und außerdem kann<br />

sich ein Kunstwerk nicht von der Bildung seiner Zeit durchweg frei<br />

machen; aber ein anderes ist es, diese Bildung selber abspiegeln, ein<br />

anderes, die Materialien unabhängig vom eigentlichen Inhalt der Darstellung<br />

äußerlich aufsuchen und zusammenbringen. Die echte Originalität<br />

des Künstlers wie des Kunstwerks liegt nur darin, von der<br />

Vernünftigkeit des in sich selber wahren Gehalts beseelt zu sein. Hat<br />

der Künstler diese objektive Vernunft ganz zur seinigen gemacht,<br />

ohne sie von innen oder außen her mit fremden Partikularitäten zu<br />

vermischen und zu verunreinigen, dann allein gibt er in dem gestalteten<br />

Gegenstande auch sich selbst in seiner wahrsten Subjektivität,<br />

die nur der lebendige Durchgangspunkt für das in sich selber abgeschlossene<br />

Kunstwerk sein will. Denn in allem wahrhaftigen Dichten,<br />

Denken und Tun läßt die echte Freiheit das Substantielle als eine<br />

Macht in sich walten, welche zugleich so sehr die eigenste Macht des<br />

subjektiven Denkens und Wollens selber ist, daß in der vollendeten<br />

Versöhnung beider kein Zwiespalt mehr übrigzubleiben vermag. So<br />

zehrt zwar die Originalität der Kunst jede zufällige Besonderheit auf,<br />

aber sie verschlingt sie nur, damit der Künstler ganz dem Zuge und<br />

Schwunge seiner von der Sache allein erfüllten Begeisterung des<br />

Genius folgen und statt der Beliebigkeit und leeren Willkür sein wahres<br />

Selbst in seiner der Wahrheit nach vollbrachten Sache darstellen<br />

könne. Keine Manier zu haben war von jeher die einzig große Manier,<br />

und in diesem Sinne allein sind Homer, Sophokles, Raffael, Shakespeare<br />

originell zu nennen.<br />

73


F.W.J Schelling: System des transzendentalen Idealismus<br />

In: Werke. Auswahl in drei Bänden. Bd.II, Leipzig: Fritz Eckardt 1907,<br />

S.286-298<br />

/286/<br />

Sechster Hauptabschnitt.<br />

Deduktion eines allgemeinen Organs der Philosophie, oder<br />

Hauptsätze der Philosophie der Kunst nach Grundsätzen des<br />

transzendentalen Idealismus<br />

§ 1. Deduktion des Kunstprodukts überhaupt<br />

Die postulierte Anschauung soll zusammenfassen, was in der Erscheinung<br />

der Freiheit und was in der Anschauung des Naturprodukts<br />

getrennt existiert, nämlich Identität des Bewußten und Bewußtlosen<br />

im Ich und Bewußtsein dieser Identität. Das Produkt dieser Anschauung<br />

wird also einerseits an das Naturprodukt, andererseits an<br />

das Freiheitsprodukt grenzen, und die Charaktere beider in sich vereinigen<br />

müssen. Kennen wir das Produkt der Anschauung, so kennen<br />

wir auch die Anschauung selbst, wir brauchen also nur das Produkt<br />

abzuleiten, um die Anschauung abzuleiten.<br />

Das Produkt wird mit dem Freiheitsprodukt gemein haben, daß es ein<br />

mit Bewußtsein Hervorgebrachtes, mit dem Naturprodukt, daß es ein<br />

bewußtlos Hervorgebrachtes ist. In der ersten Rücksicht wird es also<br />

das Umgekehrte des organischen Naturprodukts sein. Wenn aus<br />

dem organischen Produkt die bewußtlose (blinde) Tätigkeit als bewußte<br />

reflektiert wird, so wird umgekehrt aus dem Produkt, von welchem<br />

hier die Rede<br />

/287/<br />

ist, die bewußte Tätigkeit als bewußtlose (objektive) reflektiert werden,<br />

oder, wenn das organische Produkt mir die bewußtlose Tätigkeit<br />

als bestimmt durch die bewußte reflektiert, so wird umgekehrt das<br />

Produkt, welches hier abgeleitet wird, die bewußte Tätigkeit als bestimmt<br />

durch die bewußtlose reflektieren. Kürzer: die Natur fängt bewußtlos<br />

an und endet bewußt, die Produktion ist nicht zweckmäßig,<br />

wohl aber das Produkt. Das Ich in der Tätigkeit, von welcher hier die<br />

Rede ist, muß mit Bewußtsein (subjektiv) anfangen, und im Bewußtlosen<br />

oder objektiv enden, das Ich ist bewußt der Produktion nach,<br />

bewußtlos in Ansehung des Produkts.<br />

74


Wie sollen wir uns nun aber eine solche Anschauung transzendental<br />

erklären, in welcher die bewußtlose Tätigkeit durch die bewußte bis<br />

zur vollkommenen Identität mit ihr gleichsam hindurchwirkt? – Wir<br />

reflektieren vorerst darauf, daß die Tätigkeit eine bewußte sein soll.<br />

Nun ist es aber schlechthin unmöglich, daß mit Bewußtsein etwas<br />

Objektives hervorgebracht werde, was doch hier verlangt wird. Objektiv<br />

ist nur, was bewußtlos entsteht, das eigentlich Objektive in jener<br />

Anschauung muß also auch nicht mit Bewußtsein hinzugebracht<br />

werden können. Wir können uns hierüber unmittelbar auf die Beweise<br />

berufen, die schon wegen des freien Handelns geführt worden sind,<br />

daß nämlich das Objektive in demselben durch etwas von der Freiheit<br />

Unabhängiges hinzukomme. Der Unterschied ist nur der, [a)] daß<br />

im freien Handeln die Identität beider Tätigkeiten aufgehoben sein<br />

muß, eben darum, damit das Handeln als frei erscheine, [hier dagegen<br />

im Bewußtsein selbst ohne Negation desselben beide als Eins<br />

erscheinen sollen]. Auch [b)] können die beiden Tätigkeiten im freien<br />

Handeln nie absolut identisch werden, weshalb auch das Objekt des<br />

freien Handelns notwendig ein unendliches, nie vollständig realisiertes<br />

ist, denn wäre es vollständig realisiert, so fielen die bewußte und<br />

objektive Tätigkeit in Eins zusammen, d.h. die Erscheinung der Freiheit<br />

hörte auf. Was nun durch die Freiheit schlechthin unmöglich war,<br />

soll durch das jetzt postulierte Handeln möglich sein, welches aber<br />

eben um diesen Preis aufhören muß ein freies Handeln zu sein, und<br />

ein solches wird, in welchem Freiheit und Notwendigkeit<br />

/288/<br />

absolut vereinigt sind. Nun sollte aber doch die Produktion mit Bewußtsein<br />

geschehen, welches unmöglich ist, ohne daß beide [Tätigkeiten]<br />

getrennt seien. Hier ist also ein offenbarer Widerspruch. [Ich<br />

stelle ihn nochmals dar]. Bewußte und bewußtlose Tätigkeit sollen<br />

absolut Eins sein im Produkt, gerade wie sie es im organischen Produkt<br />

auch sind, aber sie sollen auf andere Art Eines sein, beide sollen<br />

Eines sein für das Ich selbst. Dies ist aber unmöglich, außer wenn<br />

das Ich sich der Produktion bewußt ist. Aber ist das Ich der Produktion<br />

sich bewußt, so müssen beide Tätigkeiten getrennt sein, denn<br />

dies ist notwendige Bedingung des Bewußtseins der Produktion. Beide<br />

Tätigkeiten müssen also Eines sein, denn sonst ist keine Identität,<br />

beide müssen getrennt sein, denn sonst ist Identität, aber nicht für<br />

das Ich. Wie ist dieser Widerspruch aufzulösen?<br />

Beide Tätigkeiten müssen getrennt sein zum Behuf des Erscheinens,<br />

des Objektivwerdens der Produktion, gerade so, wie sie im freien<br />

Handeln zum Behuf des Objektivwerdens des Anschauens getrennt<br />

sein müssen. Aber sie können nicht ins Unendliche getrennt sein, wie<br />

beim freien Handeln, weil sonst das Objektive niemals eine vollständige<br />

Darstellung jener Identität wäre. 21 Die Identität beider sollte aufgehoben<br />

sein nur zum Behuf des Bewußtseins, aber die Produktion<br />

21 Das, was für das freie Handeln in einem unendlichen Progressus liegt,<br />

soll in der gegenwärtigen Hervorbringung eine Gegenwart sein, in einem<br />

Endlichen wirklich, objektiv werden.<br />

75


soll in Bewußtlosigkeit enden; also muß es einen Punkt geben, wo<br />

beide in Eins zusammenfallen, und umgekehrt, wo beide in Eines<br />

zusammenfallen, muß die Produktion aufhören als eine freie zu erscheinen.<br />

22<br />

Wenn dieser Punkt in der Produktion erreicht ist, so muß. das Produzieren<br />

absolut aufhören, und es muß dem Produzierenden unmöglich<br />

sein weiter zu produzieren, denn die Bedingung alles Produzierens<br />

ist eben die Entgegensetzung der bewußten und der bewußtlosen<br />

Tätigkeit, diese sollen hier aber absolut zusammentreffen,<br />

/289/<br />

es soll also in der Intelligenz aller Streit aufgehoben, aller Widerspruch<br />

vereinigt sein. 23<br />

Die Intelligenz wird also in einer vollkommenen Anerkennung der im<br />

Produkt ausgedrückten Identität, als einer solchen, deren Prinzip in<br />

ihr selbst liegt, d.h. sie wird in einer vollkommenen Selbstanschauung<br />

enden. 24 Da es nun die freie Tendenz zur Selbstanschauung in jener<br />

Identität war, welche die Intelligenz ursprünglich mit sich selbst entzweite,<br />

so wird das Gefühl, was jene Anschauung begleitet, das Gefühl<br />

einer unendlichen Befriedigung sein. Aller Trieb zu produzieren,<br />

steht mit der Vollendung des Produkts stille, alle Widersprüche sind<br />

aufgehoben, alle Rätsel gelöst. Da die Produktion ausgegangen war<br />

von Freiheit, d.h. von einer unendlichen Entgegensetzung der beiden<br />

Tätigkeiten, so wird die Intelligenz jene absolute Vereinigung beider,<br />

in welcher die Produktion endet, nicht der Freiheit zuschreiben können,<br />

denn gleichzeitig mit der Vollendung des Produkts ist alle Erscheinung<br />

der Freiheit hinweggenommen; sie wird sich durch jene<br />

Vereinigung selbst überrascht und beglückt fühlen, d.h. sie gleichsam<br />

als freiwillige Gunst einer höheren Natur ansehen, die das Unmögliche<br />

durch sie möglich gemacht hat.<br />

Dieses Unbekannte aber, was hier die objektive und die bewußte<br />

Tätigkeit in unerwartete Harmonie setzt, ist nichts anderes als jenes<br />

Absolute 25 , welches den allgemeinen Grund der prästabilierten Harmonie<br />

zwischen dem Bewußten und dem Bewußtlosen enthält. Wird<br />

also jenes Absolute reflektiert aus dem Produkt, so wird es der Intelligenz<br />

erscheinen als etwas, das über ihr ist, und was selbst entgegen<br />

der Freiheit zu dem, was mit Bewußtsein und Absicht begonnen war,<br />

das Absichtslose hinzubringt.<br />

22 Da ist die freie Tätigkeit ganz übergegangen in das Objektive, das Notwendige.<br />

Die Produktion also ist im Beginn frei, das Produkt dagegen erscheint<br />

als absolute Identität der freien Tätigkeit mit der notwendigen.<br />

23 der letzte Passus: Wenn dieser Punkt usw. ist im Handexemplar durch-<br />

gestrichen.<br />

24 Denn sie (die Intelligenz) ist selbst das Produzierende; zugleich aber hat<br />

sich diese Identität von ihr ganz losgerissen: sie ist ihr völlig objektiv geworden,<br />

d. i. sie ist sich selbst völlig objektiv geworden.<br />

25 das Urselbst.<br />

76


Dieses unveränderlich Identische, was zu keinem Bewußtsein gelangen<br />

kann und nur aus dem Produkt widerstrahlt, ist<br />

/290/<br />

für das Produzierende eben das, was für das Handelnde das Schicksal<br />

ist, d.h. eine dunkle unbekannte Gewalt, die zu dem Stückwerk<br />

der Freiheit das Vollendete oder das Objektive hinzubringt; und wie<br />

jene Macht, welche durch unser freies Handeln ohne unser Wissen,<br />

und selbst wider unsern Willen, nicht vorgestellte Zwecke realisiert,<br />

Schicksal genannt wird, so wird das Unbegreifliche, was ohne Zutun<br />

der Freiheit und gewissermaßen der Freiheit entgegen, in welcher<br />

ewig sich flieht, was in jener Produktion vereinigt ist, zu dem Bewußten<br />

das Objektive hinzubringt, mit dem dunkeln Begriff des Genies<br />

bezeichnet.<br />

Das postulierte Produkt ist kein anderes als das Genieprodukt 26 ,<br />

oder, da das Genie nur in der Kunst möglich ist, das Kunstprodukt.<br />

Die Deduktion ist vollendet, und wir haben zunächst nichts zu tun, als<br />

durch vollständige Analysis zu zeigen, daß alle Merkmale der postulierten<br />

Produktion in der ästhetischen zusammentreffen.<br />

Daß alle ästhetische Produktion auf einem Gegensatz von Tätigkeiten<br />

beruhe, läßt sich schon aus der Aussage aller Künstler, daß sie<br />

zur Hervorbringung ihrer Werke unwillkürlich getrieben werden, daß<br />

sie durch Produktion derselben nur einen unwiderstehlichen Trieb<br />

ihrer Natur befriedigen, mit Recht schließen, denn wenn jeder Trieb<br />

von einem Widerspruch ausgeht, so, daß, den Widerspruch gesetzt,<br />

die freie Tätigkeit unwillkürlich wird, so muß auch der künstlerische<br />

Trieb aus einem solchen Gefühl eines inneren Widerspruchs hervorgehen.<br />

Dieser Widerspruch aber, da er den ganzen Menschen mit<br />

allen seinen Kräften in Bewegung setzt, ist ohne Zweifel ein Widerspruch,<br />

der das Letzte in ihm, die Wurzel seines ganzen Daseins, 27<br />

angreift. Es ist gleichsam, als ob in den seltenen Menschen, welche<br />

vor andern Künstler sind im höchsten Sinne des Worts, jenes unveränderlich<br />

Identische, auf welches alles Dasein aufgetragen ist, seine<br />

Hülle, mit der es sich in andern umgibt, abgelegt habe, und so wie es<br />

unmittelbar von den Dingen affiziert wird, ebenso<br />

/291/<br />

auch unmittelbar auf alles zurückwirke. Es kann also nur der Widerspruch<br />

zwischen dem Bewußten und dem Bewußtlosen im freien<br />

Handeln sein, welcher den künstlerischen Trieb in Bewegung setzt,<br />

sowie es hinwiederum nur der Kunst gegeben sein kann, unser unendliches<br />

Streben zu befriedigen und auch den letzten und äußersten<br />

Widerspruch in uns aufzulösen.<br />

26 Produkt des Genies.<br />

27 das wahre An sich.<br />

77


So wie die ästhetische Produktion ausgeht vom Gefühl eines scheinbar<br />

unauflöslichen Widerspruchs, ebenso endet sie nach dem Bekenntnis<br />

aller Künstler, und aller, die ihre Begeisterung teilen, im Gefühl<br />

einer unendlichen Harmonie, und daß dieses Gefühl, was die<br />

Vollendung begleitet, zugleich eine Rührung ist, beweist schon, daß<br />

der Künstler die vollständige Auflösung des Widerspruchs, die er in<br />

seinem Kunstwerk erblickt, nicht [allein] sich selbst, sondern einer<br />

freiwilligen Gunst seiner Natur zuschreibt, die, so unerbittlich sie ihn<br />

in Widerspruch mit sich selbst setzte, ebenso gnädig den Schmerz<br />

dieses Widerspruchs von ihm hinwegnimmt; 28 denn so wie der Künstler<br />

unwillkürlich, und selbst mit innerem Widerstreben zur Produktion<br />

getrieben wird (daher bei den Alten die Aussprüche: pati Deum usw.,<br />

daher überhaupt die Vorstellung von Begeisterung durch fremden<br />

Anhauch), ebenso kommt auch das Objektive zu seiner Produktion<br />

gleichsam ohne sein Zutun, d.h. selbst bloß objektiv, hinzu. Ebenso<br />

wie der verhängnisvolle Mensch nicht vollführt, was er will, oder beabsichtigt,<br />

sondern was er durch ein unbegreifliches Schicksal, unter<br />

dessen Einwirkung er steht, vollführen muß, so scheint der Künstler,<br />

so absichtsvoll er ist, doch in Ansehung dessen, was das eigentlich<br />

Objektive in seiner Hervorbringung ist, unter der Einwirkung einer<br />

Macht zu stehen, die ihn von allen andern Menschen absondert, und<br />

ihn Dinge auszusprechen oder darzustellen zwingt, die er selbst nicht<br />

vollständig durchsieht, und deren Sinn unendlich ist. Da nun jenes<br />

absolute Zusammentreffen der beiden sich fliehenden Tätigkeiten<br />

schlechthin nicht weiter erklärbar, sondern bloß eine Erscheinung ist,<br />

die, obschon unbegreiflich, 29 doch nicht geleugnet werden<br />

/292/<br />

kann, so ist die Kunst die einzige und ewige Offenbarung, die es gibt,<br />

und das Wunder, das, wenn es auch nur Einmal existiert hätte, uns<br />

von der absoluten Realität jenes Höchsten überzeugen müßte.<br />

Wenn nun ferner die Kunst durch zwei voneinander völlig verschiedene<br />

Tätigkeiten vollendet wird, so ist das Genie weder die eine noch<br />

die andere, sondern das, was über beiden ist. Wenn wir in der einen<br />

jener beiden Tätigkeiten, der bewußten nämlich, das suchen müssen,<br />

was insgemein Kunst genannt wird, was aber nur der eine Teil derselben<br />

ist, nämlich dasjenige an ihr, was mit Bewußtsein, Überlegung<br />

und Reflexion ausgeübt wird, was auch gelehrt und gelernt, durch<br />

Oberlieferung und durch eigne Übung erreicht werden kann, so werden<br />

wir dagegen in dem Bewußtlosen, was in die Kunst mit eingeht,<br />

dasjenige suchen müssen, was an ihr nicht gelernt, nicht durch<br />

Übung, noch auf andere Art erlangt werden, sondern allein durch<br />

freie Gunst der Natur angeboren sein kann, und welches dasjenige<br />

ist, was wir mit Einem Wort die Poesie in der Kunst nennen können.<br />

28 Im Handexemplar: sondern einer freiwilligen Gunst seiner Natur, also<br />

einem Zusammentreffen der bewußtlosen Tätigkeit mit der bewußten zuschreibt.<br />

29 vom Standpunkt der bloßen Reflexion.<br />

78


Es erhellt aber eben daraus von selbst, daß es eine höchst unnütze<br />

Frage wäre, welchem von den beiden Bestandteilen der Vorzug vor<br />

dem andern zukomme, da in der Tat jeder derselben ohne den andern<br />

keinen Wert hat, und nur beide zusammen das Höchste hervorbringen.<br />

Denn obgleich das, was nicht durch Übung erreicht wird,<br />

sondern mit uns geboren ist, allgemein als das Herrlichere betrachtet<br />

wird, so haben doch die Götter auch die Ausübung jener ursprünglichen<br />

Kraft an das ernstliche Bemühen der Menschen, an den Fleiß<br />

und die Überlegung so fest geknüpft, daß die Poesie, selbst wo sie<br />

angeboren ist, ohne die Kunst nur gleichsam tote Produkte hervorbringt,<br />

an welchen kein menschlicher Verstand sich ergötzen kann,<br />

und welche durch die völlig blinde Kraft, die darin wirksam ist, alles<br />

Urteil und selbst die Anschauung von sich zurückstoßen. Es läßt sich<br />

vielmehr umgekehrt noch eher erwarten, daß Kunst ohne Poesie, als<br />

daß Poesie ohne Kunst etwas zu leisten vermöge, teils weil nicht<br />

leicht ein Mensch von Natur ohne alle Poesie, obgleich viele ohne<br />

alle Kunst sind, teils weil das anhaltende Studium der Ideen großer<br />

Meister den ursprünglichen Mangel an objektiver<br />

/293/<br />

Kraft einigermaßen zu ersetzen imstande ist, obgleich dadurch immer<br />

nur ein Schein von Poesie entstehen kann, der an seiner Oberflächlichkeit<br />

im Gegensatz gegen die unergründliche Tiefe, welche<br />

der wahre Künstler, obwohl er mit der größten Besonnenheit arbeitet,<br />

unwillkürlich in sein Werk legt, und welche weder er noch irgend ein<br />

anderer ganz zu durchdringen vermag, so wie an vielen anderen<br />

Merkmalen, z.B. dem großen Wert, den er auf das bloß Mechanische<br />

der Kunst legt, an der Armut der Form, in welcher er sich bewegt,<br />

usw. leicht unterscheidbar ist.<br />

Es erhellt nun aber auch von selbst, daß ebensowenig als Poesie<br />

und Kunst einzeln und für sich, ebensowenig auch eine abgesonderte<br />

Existenz beider das Vollendete hervorbringen könne 30 daß also, weil<br />

die Identität beider nur ursprünglich sein kann, und durch Freiheit<br />

schlechthin unmöglich und unerreichbar ist, das Vollendete nur durch<br />

das Genie möglich sei, welches eben deswegen für die Ästhetik dasselbe<br />

ist, was das Ich für die Philosophie, nämlich das Höchste absolut<br />

Reelle, was selbst nie objektiv wird, aber Ursache alles Objektiven<br />

ist.<br />

§ 2. Charakter des Kunstprodukts<br />

a) Das Kunstwerk reflektiert uns die Identität der bewußten und der<br />

bewußtlosen Tätigkeit. Aber der Gegensatz dieser beiden ist ein unendlicher,<br />

und er wird aufgehoben ohne alles Zutun der Freiheit. Der<br />

Grundcharakter des Kunstwerks ist also eine bewußtlose Unendlichkeit<br />

[Synthesis von Natur und Freiheit]. Der Künstler scheint in sei-<br />

30 Keines vor dem andern hat eine Priorität. Eben nur die Indifferenz beider<br />

(der Kunst und der Poesie) ist es, die in dem Kunstwerk reflektiert wird.<br />

79


nem Werk außer dem, was er mit offenbarer Absicht darein gelegt<br />

hat, instinktmäßig gleichsam eine Unendlichkeit dargestellt zu haben,<br />

welche ganz zu entwickeln kein endlicher Verstand fähig ist. Um uns<br />

nur durch Ein Beispiel deutlich zu machen, so ist die griechische Mythologie,<br />

von der es unleugbar ist, daß sie einen unendlichen Sinn<br />

/294/<br />

und Symbole für alle Ideen in sich schließt, unter einem Volk und auf<br />

eine Weise entstanden, welche beide eine durchgängige Absichtlichkeit<br />

in der Erfindung und in der Harmonie, mit der alles zu Einem<br />

großen Ganzen vereinigt ist, unmöglich annehmen lassen. So ist es<br />

mit jedem wahren Kunstwerk, indem jedes, als ob eine Unendlichkeit<br />

von Absichten darin wäre, einer unendlichen Auslegung fähig ist, wobei<br />

man doch nie sagen kann, ob diese Unendlichkeit im Künstler<br />

selbst gelegen habe, oder aber bloß im Kunstwerk liege. Dagegen in<br />

dem Produkt, welches den Charakter des Kunstwerks nur heuchelt,<br />

Absicht und Regel an der Oberfläche liegen und so beschränkt und<br />

umgrenzt erscheinen, daß das Produkt nichts anderes als der getreue<br />

Abdruck der bewußten Tätigkeit des Künstlers und durchaus<br />

nur ein Objekt für die Reflexion, nicht aber für die Anschauung ist,<br />

welche im Angeschauten sich zu vertiefen liebt, und nur auf dem Unendlichen<br />

zu ruhen vermag.<br />

b) Jede ästhetische Produktion geht aus vom Gefühl eines unendlichen<br />

Widerspruchs, also muß auch das Gefühl, was die Vollendung<br />

des Kunstprodukts begleitet, das Gefühl einer solchen Befriedigung<br />

sein, und dieses Gefühl muß auch wiederum in das Kunstwerk selbst<br />

übergehen. Der äußere Ausdruck des Kunstwerks ist also der Ausdruck<br />

der Ruhe und der stillen Größe, selbst da, wo die höchste<br />

Spannung des Schmerzes oder der Freude ausgedrückt werden soll.<br />

c) Jede ästhetische Produktion geht aus von einer an sich unendlichen<br />

Trennung der beiden Tätigkeiten, welche in jedem freien Produzieren<br />

getrennt sind. Da nun aber diese beiden Tätigkeiten im Produkt<br />

als vereinigt dargestellt werden sollen, so wird durch dasselbe<br />

ein Unendliches endlich dargestellt. Aber das Unendliche endlich<br />

dargestellt ist Schönheit. Der Grundcharakter jedes Kunstwerks, welcher<br />

die beiden vorhergehenden in sich begreift, ist also die Schönheit,<br />

und ohne Schönheit ist kein Kunstwerk. Denn ob es gleich erhabene<br />

Kunstwerke gibt, und Schönheit und Erhabenheit in gewisser<br />

Rücksicht sich entgegengesetzt sind, indem eine Naturszene z.B.<br />

schön sein kann, ohne deshalb erhaben zu sein, und umgekehrt, so<br />

ist doch der Gegensatz zwischen Schönheit und Erhabenheit ein solcher,<br />

/295/<br />

der nur in Ansehung des Objekts, nicht aber in Ansehung des Subjekts<br />

der Anschauung stattfindet, indem der Unterschied des schönen<br />

und erhabenen Kunstwerks nur darauf beruht, daß, wo Schönheit ist,<br />

der unendliche Widerspruch im Objekt selbst aufgehoben ist, anstatt<br />

daß, wo Erhabenheit ist, der Widerspruch nicht im Objekt selbst ver-<br />

80


einigt, sondern nur bis zu einer Höhe gesteigert ist, bei welcher er in<br />

der Anschauung unwillkürlich sich aufhebt, welches dann ebensoviel<br />

ist, als ob er im Objekt aufgehoben wäre. 31 Es läßt sich auch sehr<br />

leicht zeigen, daß die Erhabenheit auf demselben Widerspruch beruht,<br />

auf welchem auch die Schönheit beruht, indem immer, wenn ein<br />

Objekt erhaben genannt wird, durch die bewußtlose Tätigkeit eine<br />

Größe aufgenommen wird, welche in die bewußte aufzunehmen unmöglich<br />

ist, wodurch denn das Ich mit sich selbst in einen Streit versetzt<br />

wird, welcher nur in einer ästhetischen Anschauung enden<br />

kann, welche beide Tätigkeiten in unerwartete Harmonie setzt, nur<br />

daß die Anschauung, welche hier nicht im Künstler, sondern im anschauenden<br />

Subjekt selbst liegt, völlig unwillkürlich ist, indem das<br />

Erhabene (ganz anders als das bloß Abenteuerliche, was der Einbildungskraft<br />

gleichfalls einen Widerspruch vorhält, welchen aber aufzulösen<br />

nicht der Mühe wert ist) alle Kräfte des Gemüts in Bewegung<br />

setzt, um den die ganze intellektuelle Existenz bedrohenden Widerspruch<br />

aufzulösen.<br />

Nachdem nun die Charaktere des Kunstwerks abgeleitet sind, so ist<br />

zugleich auch der Unterschied desselben von allen andern Produkten<br />

ins Licht gesetzt.<br />

Denn vom organischen Naturprodukt unterscheidet sich das Kunstprodukt<br />

hauptsächlich dadurch, [a) daß das organische Wesen noch<br />

ungetrennt darstellt, was die ästhetische Produktion nach der Trennung,<br />

aber vereinigt darstellt; b)] daß die organische Produktion nicht<br />

vom Bewußtsein, also auch nicht von dem unendlichen<br />

/296/<br />

Widerspruch ausgeht, welcher Bedingung der ästhetischen Produktion<br />

ist. Das organische Naturprodukt wird also, [wenn Schönheit<br />

durchaus Auflösung eines unendlichen Widerstreits], auch nicht notwendig<br />

schön sein, und wenn es schön ist, so wird die Schönheit,<br />

weil ihre Bedingung in der Natur nicht als existierend gedacht werden<br />

kann, als schlechthin zufällig erscheinen, woraus sich das ganz eigentümliche<br />

Interesse an der Naturschönheit, nicht insofern sie<br />

Schönheit überhaupt, sondern insofern sie bestimmt Naturschönheit<br />

ist, erklären läßt. Es erhellt daraus von selbst, was von der Nachahmung<br />

der Natur als Prinzip der Kunst zu halten sei, da, weit entfernt,<br />

daß die bloß zufällig schöne Natur der Kunst die Regel gebe, vielmehr,<br />

was die Kunst in ihrer Vollkommenheit hervorbringt, Prinzip<br />

und Norm für die Beurteilung der Naturschönheit ist.<br />

Wodurch sich das ästhetische Produkt vom gemeinen Kunstprodukt<br />

unterscheide, ist leicht zu beurteilen, da alle ästhetische Hervorbringung<br />

in ihrem Prinzip eine absolut freie ist, indem der Künstler zu<br />

31 Statt des letzten Passus im Handexemplar: Denn ob es gleich erhabene<br />

Kunstwerke gibt, und die Erhabenheit der Schönheit entgegengesetzt zu<br />

werden pflegt, so ist kein wahrer, objektiver Gegensatz zwischen Schönheit<br />

und Erhabenheit; das wahrhaft und absolut Schöne ist immer auch<br />

erhaben, das Erhabene (wenn dies wahrhaft) ist auch schön.<br />

81


derselben zwar durch einen Widerspruch, aber nur durch einen solchen,<br />

der in dem Höchsten seiner eignen Natur liegt, getrieben werden<br />

kann, anstatt daß jede andere Hervorbringung durch einen Widerspruch<br />

veranlaßt wird, der außer dem eigentlich Produzierenden<br />

liegt, und also auch jede einen Zweck außer sich hat. 32 Aus jener<br />

Unabhängigkeit von äußern Zwecken entspringt jene Heiligkeit und<br />

Reinheit der Kunst, welche so weit geht, daß sie nicht etwa nur die<br />

Verwandtschaft mit allem, was bloß Sinnenvergnügen ist, welches<br />

von der Kunst zu verlangen der eigentliche Charakter der Barbarei<br />

ist, oder mit dem Nützlichen, welches von der Kunst zu fordern nur<br />

einem Zeitalter möglich ist, das die höchsten Efforts des menschlichen<br />

Geistes in ökonomische Erfindungen setzt31, sondern selbst<br />

die Verwandtschaft mit allem, was zur Moralität gehört, ausschlägt,<br />

ja selbst die Wissenschaft, welche in Ansehung ihrer Uneigennützigkeit<br />

am nächsten an die Kunst grenzt, bloß darum, weil sie immer auf<br />

einen Zweck außer sich<br />

/297/<br />

geht, und zuletzt selbst nur als Mittel für das Höchste (die Kunst) dienen<br />

muß, weit unter sich zurückläßt.<br />

Was insbesondere das Verhältnis der Kunst zur Wissenschaft betrifft,<br />

so sind sie beide in ihrer Tendenz so sehr entgegengesetzt, daß,<br />

wenn die Wissenschaft je ihre ganze Aufgabe gelöst hätte, wie sie<br />

die Kunst immer gelöst hat, beide in Eines zusammenfallen und<br />

übergehen müßten, welches der Beweis völlig entgegengesetzter<br />

Richtungen ist. Denn obgleich die Wissenschaft in ihrer höchsten<br />

Funktion mit der Kunst eine und dieselbe Aufgabe hat, so ist doch<br />

diese Aufgabe, wegen der Art sie zu lösen, für die Wissenschaft eine<br />

unendliche, so, daß man sagen kann, die Kunst sei das Vorbild der<br />

Wissenschaft, und wo die Kunst sei, soll die Wissenschaft erst hinkommen.<br />

Es läßt sich eben daraus auch erklären, warum und inwiefern<br />

es in Wissenschaften kein Genie gibt, nicht etwa, als ob es unmöglich<br />

wäre, daß eine wissenschaftliche Aufgabe genialisch gelöst<br />

werde, sondern weil dieselbe Aufgabe, deren Auflösung durch Genie<br />

gefunden werden kann, auch mechanisch auflösbar ist, dergleichen<br />

z.B. das Newtonische Gravitationssystem ist, welches eine genialische<br />

Erfin dung sein konnte, und in seinem ersten Erfinder Kepler<br />

wirklich war, aber ebensogut auch eine ganz szientifische Erfindung<br />

sein konnte, was es auch durch Newton geworden ist. Nur das, was<br />

die Kunst hervorbringt, ist allein und nur durch Genie möglich, weil in<br />

jeder Aufgabe, welche die Kunst aufgelöst hat, ein unendlicher Widerspruch<br />

vereinigt ist. Was die Wissenschaft hervorbringt, kann<br />

durch Genie hervorgebracht sein, aber es ist nicht notwendig dadurch<br />

hervorgebracht. Es ist und bleibt daher in Wissenschaften problematisch,<br />

d.h. man kann wohl immer bestimmt sagen, wo es nicht ist,<br />

aber nie, wo es ist. Es gibt nur wenige Merkmale, aus welchen in<br />

Wissenschaften sich auf Genie schließen läßt; (daß man darauf<br />

32 (absoluten Übergang ins Objektive).<br />

82


schließen muß, zeigt schon eine ganz eigne Bewandtnis der Sache).<br />

Es ist z.B. sicherlich da nicht, wo ein Ganzes, dergleichen ein System<br />

ist, teilweise, und gleichsam durch Zusammensetzung, entsteht. Man<br />

müßte also umgekehrt Genie da voraussetzen, wo offenbar die Idee<br />

des Ganzen den einzelnen Teilen vorangegangen ist. Denn da die<br />

Idee des Ganzen doch<br />

/298/<br />

nicht deutlich werden kann, als dadurch, daß sie in den einzelnen<br />

Teilen sich entwickelt, und doch hinwiederum die einzelnen Teile nur<br />

durch die Idee des Ganzen möglich sind, so scheint hier ein Widerspruch<br />

zu sein, der nur durch einen Akt des Genies, d.h. durch ein<br />

unerwartetes Zusammentreffen der bewußt losen mit der bewußten<br />

Tätigkeit, möglich ist. Ein anderer Vermutungsgrund des Genies in<br />

Wissenschaften wäre, wenn einer Dinge sagt und Dinge behauptet,<br />

deren Sinn er, entweder der Zeit nach, in der er gelebt hat, oder seinen<br />

sonstigen Äußerungen nach, unmöglich ganz durchsehen konnte,<br />

wo er also etwas scheinbar mit Bewußtsein aussprach, was er<br />

doch nur bewußtlos aussprechen konnte. Allein daß auch diese Vermutungsgründe<br />

höchst trüglich sein können, ließe sich sehr leicht auf<br />

verschiedene Art beweisen.<br />

Das Genie ist dadurch von allem anderen, was bloß Talent oder Geschicklichkeit<br />

ist, abgesondert, daß durch dasselbe ein Widerspruch<br />

aufgelöst wird, der absolut und sonst durch nichts anderes auflösbar<br />

ist. In allem, auch dem gemeinsten und alltäglichsten Produzieren<br />

wirkt mit der bewußten Tätigkeit eine bewußtlose zusammen; aber<br />

nur ein Produzieren, dessen Bedingung ein unendlicher Gegensatz<br />

beider Tätigkeiten war, ist ein ästhetisches und nur durch Genie mögliches.<br />

83


Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung<br />

In: Werke in zehn Bänden, Zürich: Diogenes, 1977, S.445-469<br />

Kapitel 31. 33 Vom Genie<br />

/445/<br />

Die überwiegende Fähigkeit zu der in den beiden vorhergegangenen<br />

Kapiteln geschilderten Erkenntnißweise, aus welcher alle ächten<br />

Werke der Künste, der Poesie und selbst der Philosophie entspringen,<br />

ist es eigentlich, die man mit dem Namen des Genies bezeichnet.<br />

Da dieselbe demnach zu ihrem Gegenstande die (Platonischen)<br />

Ideen hat, diese aber nicht in abstracto, sondern nur anschaulich<br />

aufgefaßt werden; so muß das Wesen des Genies in der Vollkommenheit<br />

und Energie der anschauenden Erkenntniß liegen. Dem entsprechend<br />

hören wir als Werke des Genies am entschiedensten solche<br />

bezeichnen, welche unmittelbar von der Anschauung ausgehn<br />

und an die Anschauung sich wenden, also die der bildenden Künste,<br />

und nächstdem die der Poesie, welche ihre Anschauungen durch die<br />

Phantasie vermittelt. – Auch macht sich schon hier<br />

/446/<br />

die Verschiedenheit des Genies vom bloßen Talent bemerkbar, als<br />

welches ein Vorzug ist, der mehr in der größern Gewandtheit und<br />

Schärfe der diskursiven, als der intuitiven Erkenntniß liegt. Der damit<br />

Begabte denkt rascher und richtiger als die Uebrigen; das Genie hingegen<br />

schaut eine andere Welt an, als sie Alle, wiewohl nur indem es<br />

in die auch ihnen vorliegende tiefer hineinschaut, weil sie in seinem<br />

Kopfe sich objektiver, mithin reiner und deutlicher darstellt.<br />

Der Intellekt ist, seiner Bestimmung nach, bloß das Medium der Motive:<br />

demzufolge faßt er ursprünglich an den Dingen nichts weiter auf,<br />

als ihre Beziehungen zum Willen, die direkten, die indirekten, die<br />

möglichen. Bei den Thieren, wo es fast ganz bei den direkten bleibt,<br />

ist eben darum die Sache am augenfälligsten: was auf ihren Willen<br />

keinen Bezug hat, ist für sie nicht da. Deshalb sehn wir bisweilen mit<br />

Verwunderung, daß selbst kluge Thiere etwas an sich Auffallendes<br />

gar nicht bemerken, z.B. über augenfällige Veränderungen an unserer<br />

Person oder Umgebung kein Befremden äußern. Beim Normalmenschen<br />

kommen nun zwar die indirekten, ja die möglichen Beziehungen<br />

zum Willen hinzu, deren Summe den Inbegriff der nützlichen<br />

Kenntnisse ausmacht; aber in den Beziehungen bleibt auch hier die<br />

Erkenntniß stecken. Daher eben kommt es im normalen Kopfe nicht<br />

33 Dieses Kapitel bezieht sich auf § 29 des ersten Bandes.<br />

84


zu einem ganz rein objektiven Bilde der Dinge; weil seine Anschauungskraft,<br />

sobald sie nicht vom Willen angespornt und in Bewegung<br />

gesetzt wird, sofort ermattet und unthätig wird, indem sie nicht Energie<br />

genug hat, um aus eigener Elasticität und zwecklos die Welt rein<br />

objektiv aufzufassen. Wo hingegen dies geschieht, wo die vorstellende<br />

Kraft des Gehirns einen solchen Ueberschuß hat, daß ein reines,<br />

deutliches, objektives Bild der Außenwelt sich zwecklos darstellt, als<br />

welches für die Absichten des Willens unnütz, in den höhern Graden<br />

sogar störend ist, und selbst ihnen schädlich werden kann; – da ist<br />

schon wenigstens die Anlage zu jener Abnormität vorhanden, die der<br />

Name des Genies bezeichnet, welcher andeutet, daß hier ein dem<br />

Willen, d.i. dem eigentlichen Ich, Fremdes, gleichsam ein von außen<br />

hinzukommender Genius, thätig zu werden scheint. Aber ohne Bild<br />

zu reden: das Genie besteht darin, daß die erkennende Fähigkeit<br />

bedeutend stärkere Entwickelung erhalten hat, als der Dienst des<br />

Willens, zu welchem allein sie ursprünglich entstanden ist, erfordert.<br />

/447/<br />

Daher könnte, der Strenge nach, die Physiologie einen solchen Ueberschuß<br />

der Gehirnthätigkeit und mit ihr des Gehirns selbst, gewissermaaßen<br />

den monstris per excessum beizählen, welche sie bekanntlich<br />

den monstris per defectum und denen per situm mutatum<br />

nebenordnet. Das Genie besteht also in einem abnormen Uebermaaß<br />

des Intellekts, welches seine Benutzung nur dadurch finden<br />

kann, daß es auf das Allgemeine des Daseyns verwendet wird; wodurch<br />

es alsdann dem Dienste des ganzen Menschengeschlechts<br />

obliegt, wie der normale Intellekt dem des Einzelnen. Um die Sache<br />

recht faßlich zu machen, könnte man sagen: wenn der Normalmensch<br />

aus 2/3 Wille und 1/3 Intellekt besteht; so hat hingegen das<br />

Genie 2/3 Intellekt und 1/3 Wille. Dies ließe sich dann noch durch ein<br />

chemisches Gleichniß erläutern: die Basis und die Säure eines Mittelsalzes<br />

unterscheiden sich dadurch, daß in jeder von Beiden das<br />

Radikal zum Oxygen das umgekehrte Verhältniß, von dem im andern,<br />

hat. Die Basis nämlich, oder das Alkali, ist dies dadurch, daß in<br />

ihr das Radikal überwiegend ist gegen das Oxygen, und die Säure ist<br />

dies dadurch, daß in ihr das Oxygen das Ueberwiegende ist. Eben so<br />

nun verhalten sich, in Hinsicht auf Willen und Intellekt, Normalmensch<br />

und Genie. Daraus entspringt zwischen ihnen ein durchgreifender<br />

Unterschied, der schon in ihrem ganzen Wesen, Thun und<br />

Treiben sichtbar ist, recht eigentlich aber in ihren Leistungen an den<br />

Tag tritt. Noch könnte man als Unterschied hinzufügen, daß, während<br />

jener totale Gegensatz zwischen den chemischen Stoffen die stärkste<br />

Wahlverwandtschaft und Anziehung zu einander begründet, beim<br />

Menschengeschlecht eher das Gegentheil sich einzufinden pflegt.<br />

Die zunächst liegende Aeußerung, welche ein solcher Ueberschuß<br />

der Erkenntnißkraft hervorruft, zeigt sich meistentheils in der ursprünglichsten<br />

und grundwesentlichsten, d.i. der anschauenden Erkenntniß,<br />

und veranlaßt die Wiederholung derselben in einem Bilde:<br />

so entsteht der Maler und der Bildhauer. Bei diesen ist demnach der<br />

Weg zwischen der genialen Auffassung und der künstlerischen Produktion<br />

der kürzeste: daher ist die Form, in welcher hier das Genie<br />

85


und seine Thätigkeit sich darstellt, die einfachste und seine Beschreibung<br />

am leichtesten. Dennoch ist eben hier die Quelle nachgewiesen,<br />

aus<br />

/448/<br />

welcher alle ächten Produktionen, in jeder Kunst, auch in der Poesie,<br />

ja, in der Philosophie, ihren Ursprung nehmen; wiewohl dabei der<br />

Hergang nicht so einfach ist.<br />

Man erinnere sich hier des im ersten Buche erhaltenen Ergebnisses,<br />

daß alle Anschauung intellektual ist und nicht bloß sensual. Wenn<br />

man nun die hier gegebene Auseinandersetzung dazu bringt und<br />

zugleich auch billig berücksichtigt, daß die Philosophie des vorigen<br />

Jahrhunderts das anschauende Erkenntnißvermögen mit dem Namen<br />

der »untern Seelenkräfte« bezeichnete; so wird man, daß Adelung,<br />

welcher die Sprache seiner Zeit reden mußte, das Genie in »eine<br />

merkliche Stärke der untern Seelenkräfte« setzte, doch nicht so<br />

grundabsurd, noch des bittern Hohnes würdig finden, womit Jean<br />

Paul, in seiner Vorschule der Aesthetik, es anführt. So große Vorzüge<br />

das eben erwähnte Werk dieses bewunderungswürdigen Mannes<br />

auch hat; so muß ich doch bemerken, daß überall, wo eine theoretische<br />

Erörterung und überhaupt Belehrung der Zweck ist, die beständig<br />

witzelnde und in lauter Gleichnissen einherschreitende Darstellung<br />

nicht die angemessene seyn kann.<br />

Die Anschauung nun aber ist es, welcher zunächst das eigentliche<br />

und wahre Wesen der Dinge, wenn auch noch bedingterweise, sich<br />

aufschließt und offenbart. Alle Begriffe, alles Gedachte, sind ja nur<br />

Abstraktionen, mithin Theilvorstellungen aus jener, und bloß durch<br />

Wegdenken entstanden. Alle tiefe Erkenntniß, sogar die eigentliche<br />

Weisheit, wurzelt in der anschaulichen Auffassung der Dinge; wie wir<br />

dies in den Ergänzungen zum ersten Buch ausführlich betrachtet haben.<br />

Eine anschauliche Auffassung ist allemal der Zeugungsproceß<br />

gewesen, in welchem jedes ächte Kunstwerk, jeder unsterbliche Gedanke,<br />

den Lebensfunken erhielt. Alles Urdenken geschieht in Bildern.<br />

Aus Begriffen hingegen entspringen die Werke des bloßen Talents,<br />

die bloß vernünftigen Gedanken, die Nachahmungen und<br />

überhaupt alles auf das gegenwärtige Bedürfniß und die Zeitgenossenschaft<br />

allein Berechnete.<br />

Wäre nun aber unsere Anschauung stets an die reale Gegenwart der<br />

Dinge gebunden; so würde ihr Stoff gänzlich unter der Herrschaft des<br />

Zufalls stehn, welcher die Dinge selten zur rechten Zeit herbeibringt,<br />

selten zweckmäßig ordnet und meistens sie in sehr mangelhaften<br />

Exemplaren uns vorführt. Deshalb bedarf<br />

/449/<br />

es der Phantasie, um alle bedeutungsvollen Bilder des Lebens zu<br />

vervollständigen, zu ordnen, auszumalen, festzuhalten und beliebig<br />

zu wiederho len, je nachdem es die Zwecke einer tief eindringenden<br />

Erkenntniß und des bedeutungsvollen Werkes, dadurch sie mit-<br />

86


getheilt werden soll, erfordern. Hierauf beruht der hohe Werth der<br />

Phantasie, als welche ein dem Genie unentbehrliches Werkzeug ist.<br />

Denn nur vermöge derselben kann dieses, je nach den Erfordernissen<br />

des Zusammenhanges seines Bildens, Dichtens, oder Denkens,<br />

jeden Gegenstand oder Vorgang sich in einem lebhaften Bilde vergegenwärtigen<br />

und so stets frische Nahrung aus der Urquelle aller Erkenntniß,<br />

dem Anschaulichen, schöpfen. Der Phantasiebegabte vermag<br />

gleichsam Geister zu citiren, die ihm, zur rechten Zeit, die<br />

Wahrheiten offenbaren, welche die nackte Wirklichkeit der Dinge nur<br />

schwach, nur selten und dann meistens zur Unzeit darlegt. Zu ihm<br />

verhält sich daher der Phantasielose, wie zum freibeweglichen, ja<br />

geflügelten Thiere die an ihren Felsen gekittete Muschel, welche abwarten<br />

muß, was der Zufall ihr zuführt. Denn ein Solcher kennt keine<br />

andere, als die wirkliche Sinnesanschauung: bis sie kommt nagt er<br />

an Begriffen und Abstraktionen, welche doch nur Schaalen und Hülsen,<br />

nicht der Kern der Erkenntniß sind. Er wird nie etwas Großes<br />

leisten; es wäre denn im Rechnen und der Mathematik. – Die Werke<br />

der bildenden Künste und der Poesie, imgleichen die Leistungen der<br />

Mimik, können auch angesehn werden als Mittel, Denen, die keine<br />

Phantasie haben, diesen Mangel möglichst zu ersetzen, Denen aber,<br />

die damit begabt sind, den Gebrauch derselben zu erleichtern.<br />

Obgleich demnach die eigenthümliche und wesentliche Erkenntnißweise<br />

des Genies die anschauende ist; so machen den eigentlichen<br />

Gegenstand derselben doch keineswegs die einzelnen Dinge aus,<br />

sondern die in diesen sich aussprechenden (Platonischen) Ideen, wie<br />

deren Auffassung im 29. Kapitel analysirt worden. Im Einzelnen stets<br />

das Allgemeine zu sehn, ist gerade der Grundzug des Genies; während<br />

der Normalmensch im Einzelnen auch nur das Einzelne als solches<br />

erkennt, da es nur als solches der Wirklichkeit angehört, welche<br />

allein für ihn Interesse, d.h. Beziehungen zu seinem Willen hat. Der<br />

Grad, in welchem Jeder im einzelnen Dinge nur dieses, oder aber<br />

schon ein mehr oder minder Allgemeines, bis zum Allgemeinsten<br />

/450/<br />

der Gattung hinauf, nicht etwan denkt, sondern geradezu erblickt, ist<br />

der Maaßstab seiner Annäherung zum Genie. Diesem entsprechend<br />

ist auch nur das Wesen der Dinge überhaupt, das Allgemeine in ihnen,<br />

das Ganze, der eigentliche Gegenstand des Genies: die Untersuchung<br />

der einzelnen Phänomene ist das Feld der Talente, in den<br />

Realwissenschaften, deren Gegenstand eigentlich immer nur die Beziehungen<br />

der Dinge zu einander sind.<br />

Was im vorhergegangenen Kapitel ausführlich ge zeigt worden, daß<br />

nämlich die Auffassung der Ideen dadurch bedingt ist, daß das Erkennende<br />

das reine Subjekt der Erkenntniß sei, d.h. daß der Wille<br />

gänzlich aus dem Bewußtseyn verschwinde, bleibt uns hier gegenwärtig.<br />

– Die Freude, welche wir an manchen, die Landschaft uns vor<br />

Augen bringenden Liedern Goethes, oder an den Naturschilderungen<br />

Jean Pauls haben, beruht darauf, daß wir dadurch der Objektivität<br />

jener Geister, d.h. der Reinheit theilhaft werden, mit welcher in ihnen<br />

die Welt als Vorstellung sich von der Welt als Wille gesondert und<br />

87


gleichsam ganz davon abgelöst hatte. – Daraus, daß die Erkenntnißweise<br />

des Genies wesentlich die von allem Wollen und seinen Beziehungen<br />

gereinigte ist, folgt auch, daß die Werke desselben nicht aus<br />

Absicht oder Willkür hervorgehn, sondern es dabei geleitet ist von<br />

einer instinktartigen Nothwendigkeit. – Was man das Regewerden<br />

des Genius, die Stunde der Weihe, den Augenblick der Begeisterung<br />

nennt, ist nichts Anderes, als das Freiwerden des Intellekts, wann<br />

dieser, seines Dienstes unter dem Willen einstweilen enthoben, jetzt<br />

nicht in Unthätigkeit oder Abspannung versinkt, sondern, auf eine<br />

kurze Weile, ganz allein, aus freien Stücken, thätig ist. Dann ist er<br />

von der größten Reinheit und wird zum klaren Spiegel der Welt:<br />

denn, von seinem Ursprung, dem Willen, völlig abgetrennt, ist er jetzt<br />

die in einem Bewußtseyn koncentrirte Welt als Vorstellung selbst. In<br />

solchen Augenblicken wird gleichsam die Seele unsterblicher Werke<br />

erzeugt. Hingegen ist bei allem absichtlichen Nachdenken der Intellekt<br />

nicht frei, da ja der Wille ihn leitet und sein Thema ihm vorschreibt.<br />

Der Stämpel der Gewöhnlichkeit, der Ausdruck von Vulgarität, welcher<br />

den allermeisten Gesichtern aufgedrückt ist, besteht eigentlich<br />

darin, daß die strenge Unterordnung ihres Erkennens unter ihr Wollen,<br />

die feste Kette, welche Beide zusammenschließt,<br />

/451/<br />

und die daraus folgende Unmöglichkeit, die Dinge anders als in Beziehung<br />

auf den Willen und seine Zwecke aufzufassen, darin sichtbar<br />

ist. Hingegen liegt der Ausdruck des Genies, welcher die augenfällige<br />

Familienähnlichkeit aller Hochbegabten ausmacht, darin, daß man<br />

das Losgesprochenseyn, die Manumission des Intellekts vom Dienste<br />

des Willens, das Vorherrschen des Erkennens über das Wollen, deutlich<br />

darauf liest: und weil alle Pein aus dem Wollen hervorgeht, das<br />

Erkennen hingegen an und für sich schmerzlos und heiter ist; so<br />

giebt dies ihren hohen Stirnen und ihrem klaren, schauenden Blick,<br />

als welche dem Dienste des Willens und seiner Noth nicht unterthan<br />

sind, jenen Anstrich großer, gleichsam überirdischer Heiterkeit, welcher<br />

zu Zeiten durchbricht und sehr wohl mit der Melancholie der<br />

übrigen Gesichtszüge, besonders des Mundes, zusammenbesteht, in<br />

dieser Verbin dung aber treffend bezeichnet werden kann durch das<br />

Motto des Jordanus Brunus: In tristitia hilaris, in hilaritate tristis.<br />

Der Wille, welcher die Wurzel des Intellekts ist, widersetzt sich jeder<br />

auf irgend etwas Anderes als seine Zwecke gerichteten Thätigkeit<br />

desselben. Daher ist der Intellekt einer rein objektiven und tiefen Auffassung<br />

der Außenwelt nur dann fähig, wann er sich von dieser seiner<br />

Wurzel wenigstens einstweilen abgelöst hat. So lange er derselben<br />

noch verbunden bleibt, ist er aus eigenen Mitteln gar keiner Thätigkeit<br />

fähig, sondern schläft in Dumpfheit, so oft der Wille (das Interesse)<br />

ihn nicht weckt und in Bewegung setzt. Geschieht dies jedoch,<br />

so ist er zwar sehr tauglich, dem Interesse des Willens gemäß, die<br />

Relationen der Dinge zu erkennen, wie dies der kluge Kopf thut, der<br />

immer auch ein aufgeweckter, d.h. vom Wollen lebhaft erregter Kopf<br />

seyn muß; aber er ist eben deshalb nicht fähig, das rein objektive<br />

88


Wesen der Dinge zu erfassen. Denn das Wollen und die Zwecke machen<br />

ihn so einseitig, daß er an den Dingen nur das sieht, was sich<br />

darauf bezieht, das Uebrige aber theils verschwindet, theils verfälscht<br />

ins Bewußtseyn tritt. So wird z.B. ein in Angst und Eile Reisender den<br />

Rhein mit seinen Ufern nur als einen Queerstrich, die Brücke darüber<br />

nur als einen diesen schneidenden Strich sehn. Im Kopfe des von<br />

seinen Zwecken erfüll ten Menschen sieht die Welt aus, wie eine<br />

schöne Gegend auf einem Schlachtfeldplan aussieht. Freilich sind<br />

dies Extreme,<br />

/452/<br />

der Deutlichkeit wegen genommen: allein auch jede nur geringe Erregung<br />

des Willens wird eine geringe, jedoch stets jenen analoge<br />

Verfälschung der Erkenntniß zur Folge haben. In ihrer wahren Farbe<br />

und Gestalt, in ihrer ganzen und richtigen Bedeutung kann die Welt<br />

erst dann hervortreten, wann der Intellekt, des Wollens ledig, frei über<br />

den Objekten schwebt und ohne vom Willen angetrieben zu seyn,<br />

dennoch energisch thätig ist. Allerdings ist dies der Natur und Bestimmung<br />

des Intellekts entgegen, also gewissermaaßen widernatürlich,<br />

daher eben überaus selten: aber gerade hierin liegt das Wesen<br />

des Genies, als bei welchem allein jener Zustand in hohem Grade<br />

und anhaltend Statt findet, während er bei den Uebrigen nur annäherungsund<br />

ausnahmsweise eintritt. – In dem hier dargelegten Sinne<br />

nehme ich es, wenn Jean Paul (»Vorschule der Aesthetik«, § 12) das<br />

Wesen des Genies in die Besonnenheit setzt. Nämlich der Normalmensch<br />

ist in den Strudel und Tumult des Lebens, dem er durch seinen<br />

Willen angehört, eingesenkt: sein Intellekt ist erfüllt von den Dingen<br />

und den Vorgängen des Lebens; aber diese Dinge und das Leben<br />

selbst, in objektiver Bedeutung, wird er gar nicht gewahr; wie der<br />

Kaufmann auf der Amsterdammer Börse vollkommen vernimmt was<br />

sein Nachbar sagt, aber das dem Rauschen des Meeres ähnliche<br />

Gesumme der ganzen Börse, darüber der entfernte Beobachter erstaunt,<br />

gar nicht hört. Dem Genie hingegen, dessen Intellekt vom<br />

Willen, also von der Person, abgelöst ist, bedeckt das diese Betreffende<br />

nicht die Welt und die Dinge selbst; sondern es wird ihrer deutlich<br />

inne, es nimmt sie, an und für sich selbst, in objektiver Anschauung,<br />

wahr: in diesem Sinne ist es besonnen.<br />

Diese Besonnenheit ist es, welche den Maler befähigt, die Natur, die<br />

er vor Augen hat, treu auf der Leinwand wiederzugeben, und den<br />

Dichter, die anschauliche Gegenwart, mittelst abstrakter Begriffe,<br />

genau wieder hervorzurufen, indem er sie ausspricht und so zum<br />

deutlichen Bewußtseyn bringt; imgleichen Alles, was die Uebrigen<br />

bloß fühlen, in Worten auszudrücken. – Das Thier lebt ohne alle Besonnenheit.<br />

Bewußtseyn hat es, d.h. es erkennt sich und sein Wohl<br />

und Wehe, dazu auch die Gegenstände, welche solche veranlassen.<br />

Aber seine Erkenntniß bleibt stets subjektiv, wird nie objektiv: alles<br />

darin Vorkommende scheint sich ihm von selbst zu verstehn und<br />

kann ihm daher nie weder zum Vorwurf (Objekt der Darstellung),<br />

noch zum<br />

89


453/<br />

Problem (Objekt der Meditation) werden. Sein Bewußtseyn ist also<br />

ganz immanent. Zwar nicht von gleicher, aber doch von verwandter<br />

Beschaffenheit ist das Bewußtseyn des gemeinen Menschenschlages,<br />

indem auch seine Wahrnehmung der Dinge und der Welt überwiegend<br />

subjektiv und vorherrschend immanent bleibt. Es nimmt die<br />

Dinge in der Welt wahr, aber nicht die Welt; sein eigenes Thun und<br />

Leiden, aber nicht sich. Wie nun, in unendlichen Abstufungen, die<br />

Deutlichkeit des Bewußtseyns sich steigert, tritt mehr und mehr die<br />

Besonnenheit ein, und dadurch kommt es allmälig dahin, daß bisweilen,<br />

wenn auch selten und dann wieder in höchst verschiedenen<br />

Graden der Deutlichkeit, es wie ein Blitz durch den Kopf fährt, mit<br />

»was ist das Alles?« oder auch mit »wie ist es eigentlich beschaffen?«<br />

Die erstere Frage wird, wenn sie große Deutlichkeit und anhaltende<br />

Gegenwart erlangt, den Philosophen, und die andere, eben so,<br />

den Künstler oder Dichter machen. Dieserhalb also hat der hohe Beruf<br />

dieser Beiden seine Wurzel in der Besonnenheit, die zunächst aus<br />

der Deutlichkeit entspringt, mit welcher sie der Welt und ihrer selbst<br />

inne werden und dadurch zur Besinnung darüber kommen. Der ganze<br />

Hergang aber entspringt daraus, daß der Intellekt, durch sein Uebergewicht,<br />

sich vom Willen, dem er ursprünglich dienstbar ist, zu<br />

Zeiten losmacht.<br />

Die hier dargelegten Betrachtungen über das Genie schließen sich<br />

ergänzend an die im 22. Kapitel enthaltene Darstellung des in der<br />

ganzen Reihe der Wesen wahrnehmbaren, immer weitern Auseinandertretens<br />

des Willens und des Intellekts. Dieses eben erreicht im<br />

Genie seinen höchsten Grad, als wo es bis zur völligen Ablösung des<br />

Intellekts von seiner Wurzel, dem Willen, geht, so daß der Intellekt<br />

hier völlig frei wird, wodurch allererst die Welt als Vorstellung zur vollkommenen<br />

Objektivation gelangt. –<br />

Jetzt noch einige die Individualität des Genies betreffende Bemerkungen.<br />

– Schon Aristoteles hat, nach Cicero (Tusc., I, 33), bemerkt,<br />

omnes ingeniosos melancholicos esse; welches sich, ohne Zweifel,<br />

auf die Stelle in des Aristoteles Problemata, 30, I, bezieht. Auch Goethe<br />

sagt:<br />

Meine Dichtergluth war sehr gering,<br />

So lang ich dem Guten entgegenging:<br />

/454/<br />

Dagegen brannte sie lichterloh,<br />

Wann ich vor drohendem Uebel floh. –<br />

Zart Gedicht, wie Regenbogen,<br />

Wird nur auf dunkeln Grund gezogen:<br />

Darum behagt dem Dichtergenie<br />

90


Das Element der Melancholie. Dies ist daraus zu erklären, daß, da<br />

der Wille seine ursprüngliche Herrschaft über den Intellekt stets wieder<br />

geltend macht, dieser, unter ungünstigen persönlichen Verhältnissen,<br />

sich leichter derselben entzieht; weil er von widerwärtigen<br />

Umständen sich gern ab wendet, gewissermaaßen um sich zu zerstreuen,<br />

und nun mit desto größerer Energie sich auf die fremde Außenwelt<br />

richtet, also leichter rein objektiv wird. Günstige persönliche<br />

Verhältnisse wirken umgekehrt. Im Ganzen und Allgemeinen jedoch<br />

beruht die dem Genie beigegebene Melancholie darauf, daß der Wille<br />

zum Leben, von je hellerem Intellekt er sich beleuchtet findet, desto<br />

deutlicher das Elend seines Zustandes wahrnimmt. – Die so häufig<br />

bemerkte trübe Stimmung hochbegabter Geister hat ihr Sinnbild am<br />

Montblanc, dessen Gipfel meistens bewölkt ist; aber wann bisweilen,<br />

zumal früh Morgens, der Wolkenschleier reißt und nun der Berg vom<br />

Sonnenlichte roth, aus seiner Himmelshöhe über den Wolken, auf<br />

Chamouni herabsieht; dann ist es ein Anblick, bei welchem Jedem<br />

das Herz im tiefsten Grunde aufgeht. So zeigt auch das meistens<br />

melancholische Genie zwischendurch die schon oben geschilderte,<br />

nur ihm mögliche, aus der vollkommensten Objektivität des Geistes<br />

entspringende, eigenthümliche Heiterkeit, die wie ein Lichtglanz auf<br />

seiner hohen Stirne schwebt: in tristitia hilaris, in hilaritate tristis. –<br />

Alle Pfuscher sind es, im letzten Grunde, dadurch, daß ihr Intellekt,<br />

dem Willen noch zu fest verbunden, nur unter dessen Anspornung in<br />

Thätigkeit geräth, und daher eben ganz in dessen Dienste bleibt. Sie<br />

sind demzufolge keiner andern, als persönlicher Zwecke fähig. Diesen<br />

gemäß schaffen sie schlechte Gemälde, geistlose Gedichte,<br />

seichte, absurde, sehr oft auch unredliche Philosopheme, wann es<br />

nämlich gilt, durch fromme Unredlichkeit, sich hohen Vorgesetzten zu<br />

empfehlen. All ihr Thun und Denken ist also persönlich. Daher gelingt<br />

es ihnen<br />

/455/<br />

höchstens, sich das Aeußere, Zufällige und Beliebige fremder, ächter<br />

Werke als Manier anzueignen, wo sie dann, statt des Kerns, die<br />

Schaale fassen, jedoch vermeinen, Alles erreicht, ja, jene übertroffen<br />

zu haben. Wird dennoch das Mißlingen offenbar; so hofft Mancher,<br />

es durch seinen guten Willen am Ende doch zu erreichen. Aber gerade<br />

dieser gute Wille macht es unmöglich; weil derselbe doch nur auf<br />

persönliche Zwecke hinausläuft: bei solchen aber kann es weder mit<br />

Kunst, noch Poesie, noch Philosophie je Ernst werden. Auf Jene paßt<br />

daher ganz eigentlich die Redensart: sie stehn sich selbst im Lichte.<br />

Ihnen ahndet es nicht, daß allein der von der Herrschaft des Willens<br />

und allen seinen Projekten losgerissene und dadurch frei thätige Intellekt,<br />

weil nur er den wahren Ernst verleiht, zu ächten Produktionen<br />

befähigt: und das ist gut für sie; sonst sprängen sie ins Wasser. – Der<br />

gute Wille ist in der Moral Alles; aber in der Kunst ist er nichts: da gilt,<br />

wie schon das Wort andeutet, allein das Können. – Alles kommt zuletzt<br />

darauf an, wo der eigentliche Ernst des Menschen liegt. Bei fast<br />

Allen liegt er ausschließlich im eigenen Wohl und dem der Ihrigen;<br />

91


daher sie dies und nichts Anderes zu fördern im Stande sind; weil<br />

eben kein Vorsatz, keine willkürliche und absichtliche Anstrengung,<br />

den wahren, tiefen, eigentlichen Ernst verleiht, oder ersetzt, oder richtiger<br />

verlegt. Denn er bleibt stets da, wo die Natur ihn hingelegt hat:<br />

ohne ihn aber kann Alles nur halb betrieben werden. Daher sorgen,<br />

aus dem selben Grunde, geniale Individuen oft schlecht für ihre eigene<br />

Wohlfahrt. Wie ein bleiernes Anhängsel einen Körper immer wieder<br />

in die Lage zurückbringt, die sein durch dasselbe determinirter<br />

Schwerpunkt erfordert; so zieht der wahre Ernst des Menschen die<br />

Kraft und Aufmerksamkeit seines Intellekts immer dahin zurück, wo<br />

er liegt: alles Andere treibt der Mensch ohne wahren Ernst. Daher<br />

sind allein die höchst seltenen, abnormen Menschen, deren wahrer<br />

Ernst nicht im Persönlichen und Praktischen, sondern im Objektiven<br />

und Theoretischen liegt, im Stande, das Wesentliche der Dinge und<br />

der Welt, also die höchsten Wahrheiten, aufzufassen und in irgend<br />

einer Art und Weise wiederzugeben. Denn ein solcher außerhalb des<br />

Individui, in das Objektive fallender Ernst desselben ist etwas der<br />

menschlichen Natur Fremdes, etwas Unnatürliches, eigentlich Uebernatürliches:<br />

jedoch allein durch ihn ist ein Mensch groß, und<br />

/456/<br />

demgemäß wird alsdann sein Schaffen einem von ihm verschiedenen<br />

Genius zugeschrieben, der ihn in Besitz nehme. Einem solchen Menschen<br />

ist sein Bilden, Dichten oder Denken Zweck, den Uebrigen ist<br />

es Mittel. Diese suchen dabei ihre Sache, und wissen, in der Regel,<br />

sie wohl zu fördern, da sie sich den Zeitgenossen anschmiegen, bereit,<br />

den Bedürfnissen und Launen derselben zu dienen: daher leben<br />

sie meistens in glücklichen Umständen; Jener oft in sehr elenden.<br />

Denn sein persönliches Wohl opfert er dem objektiven Zweck: er<br />

kann eben nicht anders; weil dort sein Ernst liegt. Sie halten es umgekehrt:<br />

darum sind sie klein; er aber ist groß. Demgemäß ist sein<br />

Werk für alle Zeiten, aber die Anerkennung desselben fängt meistens<br />

erst bei der Nachwelt an: sie leben und sterben mit ihrer Zeit. Groß<br />

überhaupt ist nur Der, welcher bei seinem Wirken, dieses sei nun ein<br />

praktisches, oder ein theoretisches, nicht seine Sache sucht; sondern<br />

allein einen objektiven Zweck verfolgt: er ist es aber selbst dann<br />

noch, wann, im Praktischen, dieser Zweck ein mißverstandener, und<br />

sogar wenn er, in Folge davon, ein Verbrechen seyn sollte. Daß er<br />

nicht sich und seine Sache sucht, dies macht ihn, unter allen Umständen,<br />

groß. Klein hingegen ist alles auf persönliche Zwecke gerichtete<br />

Treiben; weil der dadurch in Thätigkeit Versetzte sich nur in<br />

seiner eigenen, verschwindend kleinen Person erkennt und findet.<br />

Hingegen wer groß ist, erkennt sich in Allem und daher im Ganzen:<br />

er lebt nicht, wie Jener, allein im Mikrokosmos, sondern noch mehr<br />

im Makrokosmos. Darum eben ist das Ganze ihm angelegen, und er<br />

sucht es zu erfassen, um es darzustellen, oder um es zu erklären,<br />

oder um praktisch darauf zu wirken. Denn ihm ist es nicht fremd; er<br />

fühlt daß es ihn angeht. Wegen dieser Ausdehnung seiner Sphäre<br />

nennt man ihn groß. Demnach gebührt nur dem wahren Helden, in<br />

irgend einem Sinn, und dem Genie jenes erhabene Prädikat: es besagt,<br />

daß sie, der menschlichen Natur entgegen, nicht ihre eigene<br />

92


Sache gesucht, nicht für sich, sondern für Alle gelebt haben. – Wie<br />

nun offenbar die Allermeisten stets klein seyn müssen und niemals<br />

groß seyn können; so ist doch das Umgekehrte nicht möglich, daß<br />

nämlich Einer durchaus, d.h. stets und jeden Augenblick, groß sei:<br />

/457/<br />

Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht,<br />

Und die Gewohnheit nennt er seine Amme.<br />

Jeder große Mann nämlich muß dennoch oft nur das Individuum<br />

seyn, nur sich im Auge haben, und das heißt klein seyn. Hierauf beruht<br />

die sehr richtige Bemerkung, daß kein Held es vor seinem Kammerdiener<br />

bleibt; nicht aber darauf, daß der Kammerdiener den Helden<br />

nicht zu schätzen verstehe; – welches Goethe, in den »Wahlverwandtschaften«<br />

(Bd. 2, Kap. 5), als Einfall der Ottilie auftischt. –<br />

Das Genie ist sein eigener Lohn: denn das Beste was Einer ist, muß<br />

er nothwendig für sich selbst seyn. »Wer mit einem Talente, zu einem<br />

Talente geboren ist, findet in demselben sein schönstes Daseyn«,<br />

sagt Goethe. Wenn wir zu einem großen Mann der Vorzeit hinaufblicken,<br />

denken wir nicht: »Wie glücklich ist er, von uns Allen noch<br />

jetzt bewundert zu werden«; sondern: »Wie glücklich muß er gewesen<br />

seyn im unmittelbaren Genuß eines Geistes, an dessen zurückgelassenen<br />

Spuren Jahrhunderte sich erquicken.« Nicht im Ruhme,<br />

sondern in Dem, wodurch man ihn erlangt, liegt der Werth, und in der<br />

Zeugung unsterblicher Kinder der Genuß. Daher sind Die, welche die<br />

Nichtigkeit des Nachruhmes daraus zu beweisen suchen, daß wer<br />

ihn erlangt, nichts davon erfährt, dem Klügling zu vergleichen, der<br />

einem Manne, welcher auf einen Haufen Austerschaalen im Hofe<br />

seines Nachbarn neidische Blicke würfe, sehr weise die gänzliche<br />

Unbrauchbarkeit derselben demonstriren wollte.<br />

Der gegebenen Darstellung des Wesens des Genies zufolge ist dasselbe<br />

insofern naturwidrig, als es darin besteht, daß der Intellekt,<br />

dessen eigentliche Bestimmung der Dienst des Willens ist, sich von<br />

diesem Dienste emancipirt, um auf eigene Hand thätig zu seyn.<br />

Demnach ist das Genie ein seiner Bestimmung untreu gewordener<br />

Intellekt. Hierauf beruhen die demselben beigegebenen Nachtheile,<br />

zu deren Betrachtung wir jetzt den Weg uns dadurch bahnen, daß wir<br />

das Genie mit dem weniger entschiedenen Ueberwiegen des Intellekts<br />

vergleichen.<br />

Der Intellekt des Normalmenschen, streng an den Dienst seines Willens<br />

gebunden, mithin eigentlich bloß mit der Aufnahme der Motive<br />

beschäftigt, läßt sich ansehn als der Komplex von<br />

/458/<br />

Drahtfäden, womit jede dieser Puppen auf dem Welttheater in Bewegung<br />

gesetzt wird. Hieraus entspringt der trockene, gesetzte Ernst<br />

93


der meisten Leute, der nur noch von dem der Thiere übertroffen wird,<br />

als welche niemals lachen. Dagegen könnte man das Genie, mit seinem<br />

entfesselten Intellekt, einem unter den großen Drahtpuppen des<br />

berühmten Mailändischen Puppentheaters mitspielenden, lebendigen<br />

Menschen vergleichen, der unter ihnen der Einzige wäre, welcher<br />

Alles wahrnähme und daher gern sich von der Bühne auf eine Weile<br />

losmachte, um aus den Logen das Schauspiel zu genießen; – das ist<br />

die geniale Besonnenheit. – Aber selbst der überaus verständige und<br />

vernünftige Mann, den man beinahe weise nennen könnte, ist vom<br />

Genie gar sehr und zwar dadurch verschieden, daß sein Intellekt eine<br />

praktische Richtung behält, auf die Wahl der allerbesten Zwecke und<br />

Mittel bedacht ist, daher im Dienste des Willens bleibt und demnach<br />

recht eigentlich naturgemäß beschäftigt ist. Der feste, praktische Lebensernst,<br />

welchen die Römer als gravitas bezeichneten, setzt voraus,<br />

daß der Intellekt nicht den Dienst des Willens verlasse, um hinauszuschweifen<br />

zu Dem, was diesen nicht angeht: darum läßt er<br />

nicht jenes Auseinandertreten des Intellekts und des Willens zu, welches<br />

Bedingung des Genies ist. Der kluge, ja der eminente Kopf, der<br />

zu großen Leistungen im Praktischen Geeignete, ist es gerade dadurch,<br />

daß die Objekte seinen Willen lebhaft erregen und zum rastlosen<br />

Nachforschen ihrer Verhältnisse und Beziehungen anspornen.<br />

Auch sein Intellekt ist also mit dem Willen fest verwachsen. Vor dem<br />

genialen Kopf hingegen schwebt, in seiner objektiven Auffassung, die<br />

Erscheinung der Welt als ein ihm Fremdes, ein Gegenstand der Kontemplation,<br />

der sein Wollen aus dem Bewußtseyn verdrängt. Um diesen<br />

Punkt dreht sich der Unterschied zwischen der Befähigung zu<br />

Thaten und der zu Werken. Die letztere verlangt Objektivität und Tiefe<br />

der Erkenntniß, welche gänzliche Sonderung des Intellekts vom<br />

Willen zur Voraussetzung hat: die erstere hingegen verlangt Anwendung<br />

der Erkenntniß, Geistesgegenwart und Entschlossenheit, welche<br />

erfordert, daß der Intellekt unausgesetzt den Dienst des Willens<br />

besorge. Wo das Band zwischen Intellekt und Wille gelöst ist, wird<br />

der von seiner natürlichen Bestimmung abgewichene Intellekt den<br />

Dienst des Willens vernachlässigen: er wird z.B. selbst in der Noth<br />

des Augenblicks noch seine Emancipation<br />

/459/<br />

geltend machen und etwan die Umgebung, von welcher dem Individuo<br />

gegenwärtige Gefahr droht, ihrem malerischen Eindruck nach<br />

aufzufassen nicht umhin können. Der Intellekt des vernünftigen und<br />

verständigen Mannes hingegen ist stets auf seinem Posten, ist auf<br />

die Umstände und deren Erfordernisse gerichtet: ein solcher wird<br />

daher in allen Fällen das der Sache Angemessene beschließen und<br />

ausführen, folglich keineswegs in jene Excentricitäten, persönliche<br />

Fehltritte, ja, Thorheiten verfallen, denen das Genie darum ausgesetzt<br />

ist, daß sein Intellekt nicht ausschließlich der Führer und Wächter<br />

seines Willens bleibt, sondern, bald mehr bald weniger, vom rein<br />

Objektiven in Anspruch genommen wird. Den Gegensatz, in welchem<br />

die beiden hier abstrakt dargestellten, gänzlich verschiedenen Arten<br />

der Befähigung zu einander stehn, hat Goethe uns im Widerspiel des<br />

Tasso und Antonio veranschaulicht. Die oft bemerkte Verwandtschaft<br />

94


des Genies mit dem Wahnsinn beruht eben hauptsächlich auf jener,<br />

dem Genie wesentlichen, dennoch aber naturwidrigen Sonderung<br />

des Intellekts vom Willen. Diese aber selbst ist keineswegs Dem zuzuschreiben,<br />

daß das Genie von geringerer Intensität des Willens<br />

begleitet sei; da es vielmehr durch einen heftigen und leidenschaftlichen<br />

Charakter bedingt ist: sondern sie ist daraus zu erklären, daß<br />

der praktisch Ausgezeichnete, der Mann der Thaten, bloß das ganze<br />

und volle Maaß des für einen energischen Willen erforderten Intellekts<br />

hat, während den meisten Menschen sogar dieses abgeht; das<br />

Genie aber in einem völlig abnormen, wirklichen Uebermaaß von<br />

Intellekt besteht, dergleichen zum Dienste keines Willens erfordert ist.<br />

Dieserhalb eben sind die Männer der ächten Werke tausend Mal seltener,<br />

als die Männer der Thaten. Jenes abnorme Uebermaaß des<br />

Intellekts eben ist es, vermöge dessen dieser das entschiedene Uebergewicht<br />

erhält, sich vom Willen losmacht und nun, seines Ursprungs<br />

vergessend, aus eigener Kraft und Elasticität frei thätig ist;<br />

woraus die Schöpfungen des Genies hervorgehn.<br />

Eben dieses nun ferner, daß das Genie im Wirken des freien, d.h.<br />

vom Dienste des Willens emancipirten Intellekts besteht, hat zur Folge,<br />

daß die Produktionen desselben keinen nützlichen Zwecken dienen.<br />

Es werde musicirt, oder philosophirt, gemalt, oder gedichtet; –<br />

ein Werk des Genies ist kein Ding zum Nutzen. Unnütz zu seyn, gehört<br />

zum Charakter der Werke des<br />

/460/<br />

Genies: es ist ihr Adelsbrief. Alle übrigen Menschenwerke sind da zur<br />

Erhaltung, oder Erleichterung unserer Existenz; bloß die hier in Rede<br />

stehenden nicht: sie allein sind ihrer selbst wegen da, und sind, in<br />

diesem Sinn, als die Blüthe, oder der reine Er trag des Daseyns anzusehn.<br />

Deshalb geht beim Genuß derselben uns das Herz auf: denn<br />

wir tauchen dabei aus dem schweren Erdenäther der Bedürftigkeit<br />

auf. – Diesem analog sehn wir, auch außerdem, das Schöne selten<br />

mit dem Nützlichen vereint. Die hohen und schönen Bäume tragen<br />

kein Obst: die Obstbäume sind kleine, häßliche Krüppel. Die gefüllte<br />

Gartenrose ist nicht fruchtbar, sondern die kleine, wilde, fast geruchlose<br />

ist es. Die schönsten Gebäude sind nicht die nützlichen: ein<br />

Tempel ist kein Wohnhaus. Ein Mensch von hohen, seltenen Geistesgaben,<br />

genöthigt einem bloß nützlichen Geschäft, dem der Gewöhnlichste<br />

gewachsen wäre, obzuliegen, gleicht einer köstlichen,<br />

mit schönster Malerei geschmückten Vase, die als Kochtopf verbraucht<br />

wird; und die nützlichen Leute mit den Leuten von Genie vergleichen,<br />

ist wie Bausteine mit Diamanten vergleichen.<br />

Der bloß praktische Mensch also gebraucht seinen Intellekt zu Dem,<br />

wozu ihn die Natur bestimmte, nämlich zum Auffassen der Beziehungen<br />

der Dinge, theils zu einander, theils zum Willen des erkennenden<br />

Individuums. Das Genie hingegen gebraucht ihn, der Bestimmung<br />

desselben entgegen, zum Auffassen des objektiven Wesens der Dinge.<br />

Sein Kopf gehört daher nicht ihm, sondern der Welt an, zu deren<br />

Erleuchtung in irgend einem Sinne er beitragen wird. Hieraus müssen<br />

dem damit begünstigten Individuo vielfältige Nachtheile erwachsen.<br />

95


Denn sein Intellekt wird überhaupt die Fehler zeigen, die bei jedem<br />

Werkzeug, welches zu Dem, wozu es nicht gemacht ist, gebraucht<br />

wird, nicht auszubleiben pflegen. Zunächst wird er gleichsam der<br />

Diener zweier Herren seyn, indem er, bei jeder Gelegenheit, sich von<br />

dem seiner Bestimmung entsprechenden Dienste losmacht, um seinen<br />

eigenen Zwecken nachzugehn, wodurch er den Willen oft sehr<br />

zur Unzeit im Stich läßt und hienach das so begabte Individuum für<br />

das Leben mehr oder weniger unbrauchbar wird, ja, in seinem Betragen<br />

bisweilen an den Wahnsinn erinnert. Sodann wird es, vermöge<br />

seiner gesteigerten Erkenntnißkraft, in den Dingen mehr das Allgemeine,<br />

als das Einzelne sehn; während der Dienst des Willens<br />

hauptsächlich die Erkenntniß des Einzelnen erfordert. Aber wann nun<br />

/461/<br />

wieder gelegentlich jene ganze, abnorm erhöhte Erkenntnißkraft sich<br />

plötzlich, mit aller ihrer Energie, auf die Angelegenheiten und Miseren<br />

des Willens richtet; so wird sie diese leicht zu lebhaft auffassen, Alles<br />

in zu grellen Farben, zu hellem Lichte, und ins Ungeheure vergrößert<br />

erblicken, wodurch das Individuum auf lauter Extreme verfällt. Dies<br />

noch näher zu erklären, diene Folgendes. Alle große theoretische<br />

Leistungen, worin es auch sei, werden dadurch zu Stande gebracht,<br />

daß ihr Urheber alle Kräfte seines Geistes auf Einen Punkt richtet, in<br />

welchen er sie zusammen schießen läßt und koncentrirt, so stark,<br />

fest und ausschließlich, daß die ganze übrige Welt ihm jetzt verschwindet<br />

und sein Gegenstand ihm alle Realität ausfüllt. Eben diese<br />

große und gewaltsame Koncentration, die zu den Privilegien des Genies<br />

gehört, tritt nun für dasselbe bisweilen auch bei den Gegenständen<br />

der Wirklichkeit und den Angelegenheiten des täglichen Lebens<br />

ein, welche alsdann, unter einen solchen Fokus gebracht, eine so<br />

monströse Vergrößerung erhalten, daß sie sich darstellen wie der im<br />

Sonnenmikroskop die Statur des Elephanten annehmende Floh.<br />

Hieraus entsteht es, daß hochbegabte Individuen bisweilen über<br />

Kleinigkeiten in heftige Affekte der verschiedensten Art gerathen, die<br />

den Andern unbegreiflich sind, als welche sie in Trauer, Freude, Sorge,<br />

Furcht, Zorn u.s.w. versetzt sehn, durch Dinge, bei welchen ein<br />

Alltagsmensch ganz gelassen bliebe. Darum also fehlt dem Genie die<br />

Nüchternheit, als welche gerade darin besteht, daß man in den Dingen<br />

nichts weiter sieht, als was ihnen, besonders in Hinsicht auf unsere<br />

möglichen Zwecke, wirklich zukommt: daher kann kein nüchterner<br />

Mensch ein Genie seyn. Zu den angegebenen Nachthellen gesellt<br />

sich nun noch die übergroße Sensibilität, welche ein abnorm<br />

erhöhtes Nervenund Cerebral-Leben mit sich bringt, und zwar im<br />

Verein mit der das Genie ebenfalls bedingenden Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit<br />

des Wollens, die sich physisch als Energie des<br />

Herzschlages darstellt. Aus allem Diesen entspringt sehr leicht jene<br />

Ueberspanntheit der Stimmung, jene Heftigkeit der Affekte, jener<br />

schnelle Wechsel der Laune, unter vorherrschender Melancholie, die<br />

Goethe uns im Tasso vor Augen gebracht hat. Welche Vernünftigkeit,<br />

ruhige Fassung, abgeschlossene Uebersicht, völlige Sicherheit und<br />

Gleichmäßigkeit des Betragens zeigt doch der wohlausgestattete<br />

96


Normalmensch, im Vergleich mit der bald träumerischen Versunkenheit,<br />

/462/<br />

bald leidenschaftlichen Aufregung des Genialen, dessen innere<br />

Quaal der Mutterschooß unsterblicher Werke ist. – Zu diesem Allen<br />

kommt noch, daß das Genie wesentlich einsam lebt. Es ist zu selten,<br />

als daß es leicht auf seines Gleichen treffen könnte, und zu verschieden<br />

von den Uebrigen, um ihr Geselle zu seyn. Bei ihnen ist das Wollen,<br />

bei ihm das Erkennen das Vorwaltende: daher sind ihre Freuden<br />

nicht seine, seine nicht ihre. Sie sind bloß moralische Wesen und<br />

haben bloß persönliche Verhältnisse: er ist zugleich ein reiner Intellekt,<br />

der als solcher der ganzen Menschheit angehört. Der Gedankengang<br />

des von seinem mütterlichen Boden, dem Willen, abgelösten<br />

und nur periodisch zu ihm zurückkehrenden Intellekts wird sich<br />

von dem des normalen, auf seinem Stamme haftenden, bald durchweg<br />

unterscheiden. Daher, und wegen der Ungleichheit des Schritts,<br />

ist Jener nicht zum gemeinschaftlichen Denken, d.h. zur Konversation<br />

mit den Andern geeignet: sie werden an ihm und seiner drückenden<br />

Ueberlegenheit so wenig Freude haben, wie er an ihnen. Sie<br />

werden daher sich behaglicher mit ihres Gleichen fühlen, und er wird<br />

die Unterhaltung mit seines Gleichen, obschon sie in der Regel nur<br />

durch ihre nachgelassenen Werke möglich ist, vorziehn. Sehr richtig<br />

sagt daher Chamfort: Il y a peu de vices qui empêchent un homme<br />

d'avoir beaucoup d'amis, autant que peuvent le faire de trop grandes<br />

qualités. Das glücklichste Loos, was dem Genie werden kann, ist<br />

Entbindung vom Thun und Lassen, als welches nicht sein Element<br />

ist, und freie Muße zu seinem Schaffen. – Aus diesem Allen ergiebt<br />

sich, daß wenn gleich das Genie den damit Begabten in den Stunden,<br />

wo er, ihm hingegeben, ungehindert im Genuß desselben<br />

schwelgt, hoch beglücken mag; dasselbe dennoch keineswegs geeignet<br />

ist, ihm einen glücklichen Lebenslauf zu bereiten, vielmehr das<br />

Gegentheil. Dies bestätigt auch die in den Biographien niedergelegte<br />

Erfahrung. Dazu kommt noch ein Mißverhältniß nach außen, indem<br />

das Genie, in seinem Treiben und Leisten selbst, meistens mit seiner<br />

Zeit im Widerspruch und Kampfe steht. Die bloßen Talentmänner<br />

kommen stets zu rechter Zeit: denn, wie sie vom Geiste ihrer Zeit<br />

angeregt und vom Bedürfniß derselben hervorgerufen werden; so<br />

sind sie auch ge rade nur fähig diesem zu genügen. Sie greifen daher<br />

ein in den<br />

/463/<br />

fortschreitenden Bildungsgang ihrer Zeitgenossen, oder in die<br />

schrittweise Förderung einer speciellen Wissenschaft: dafür wird ihnen<br />

Lohn und Beifall. Der nächsten Generation jedoch sind ihre Werke<br />

nicht mehr genießbar: sie müssen durch andere ersetzt werden,<br />

die dann auch nicht ausbleiben. Das Genie hingegen trifft in seine<br />

Zeit, wie ein Komet in die Planetenbahnen, deren wohlgeregelter und<br />

übersehbarer Ordnung sein völlig excentrischer Lauf fremd ist. Demnach<br />

kann es nicht eingreifen in den vorgefundenen, regelmäßigen<br />

97


Bildungsgang der Zeit, sondern wirft seine Werke weit hinaus in die<br />

vorliegende Bahn (wie der sich dem Tode weihende Imperator seinen<br />

Speer unter die Feinde), auf welcher die Zeit solche erst einzuholen<br />

hat. Sein Verhältniß zu den während dessen kulminirenden Talentmännern<br />

könnte es in den Worten des Evangelisten ausdrücken: O<br />

kairos ho emos oupô parestin; ho de kairos ho hymeteros pantote<br />

estin hetoimos (Joh. 7, 6) 34 . – Das Talent vermag zu leisten was die<br />

Leistungsfähigkeit, jedoch nicht die Apprehensionsfähigkeit der Uebrigen<br />

überschreitet: daher findet es sogleich seine Schätzer. Hingegen<br />

geht die Leistung des Genies nicht nur über die Leistungs-, sondern<br />

auch über die Apprehensionsfähigkeit der Andern hinaus: daher<br />

werden Diese seiner nicht unmittelbar inne. Das Talent gleicht dem<br />

Schüt zen, der ein Ziel trifft, welches die Uebrigen nicht erreichen<br />

können; das Genie dem, der eines trifft, bis zu welchem sie nicht ein<br />

Mal zu sehn vermögen: daher sie nur mittelbar, also spät, Kunde davon<br />

erhalten, und sogar diese nur auf Treu und Glauben annehmen.<br />

Demgemäß sagt Goethe im Lehrbrief: »Die Nachahmung ist uns angeboren;<br />

das Nachzuahmende wird nicht leicht erkannt. Selten wird<br />

das Treffliche gefunden, seltner geschätzt«. Und Chamfort sagt: Il en<br />

est de la valeur des hommes comme de celle des diamans, qui, à<br />

une certaine mesure de grosseur, de pureté, de perfection, ont un<br />

prix fixe et marqué, mais qui, par-delà cette mesure, restent sans<br />

prix, et ne trouvent point d'acheteurs. Auch schon Bako von Verulam<br />

hat<br />

/464/<br />

es ausgesprochen: Infimarum virtutum, apud vulgus, laus est, mediarum<br />

admiratio, supremarum sensus nullus (De augm. sc., L. VI, c. 3).<br />

Ja, möchte vielleicht Einer entgegnen, apud vulgus! – Dem muß ich<br />

jedoch zu Hülfe kommen mit Machiavelli's Versicherung: Nel mondo<br />

non è se non volgo 35 ; wie denn auch Thilo (über den Ruhm) bemerkt,<br />

daß zum großen Haufen gewöhnlich Einer mehr gehört, als Jeder<br />

glaubt. – Eine Folge dieser späten Anerkennung der Werke des Genies<br />

ist, daß sie selten von ihren Zeitgenossen und demnach in der<br />

Frische des Kolorits, welche die Gleichzeitigkeit und Gegenwart verleiht,<br />

genossen werden, sondern, gleich den Feigen und Datteln, viel<br />

mehr im trockenen, als im frischen Zustande. –<br />

Wenn wir nun endlich noch das Genie von der somatischen Seite<br />

betrachten; so finden wir es durch mehrere anatomische und physiologische<br />

Eigenschaften bedingt, welche einzeln selten vollkommen<br />

vorhanden, noch seltener vollständig beisammen, dennoch alle unerläßlich<br />

erfordert sind; so daß daraus erklärlich wird, warum das Genie<br />

nur als eine völlig vereinzelte, fast portentose Ausnahme vorkommt.<br />

Die Grundbedingung ist ein abnormes Ueberwiegen der Sensibilität<br />

über die Irritabilität und Reproduktionskraft, und zwar, was die Sache<br />

34 „Meine Zeit ist noch nicht gekommen, für euch aber ist immer die rechte<br />

Zeit.“<br />

35 Es giebt nichts Anderes auf der Welt, als Vulgus.<br />

98


erschwert, auf einem männlichen Körper. (Weiber können bedeutendes<br />

Talent, aber kein Genie haben: denn sie bleiben stets subjektiv.)<br />

Imgleichen muß das Cerebralsystem vom Gangliensystem durch<br />

vollkommene Isolation rein geschieden seyn, so daß es mit diesem in<br />

vollkommenem Gegensatz stehe, wodurch das Gehirn sein Parasitenleben<br />

auf dem Organismus recht entschieden, abgesondert, kräftig<br />

und unabhängig führt. Freilich wird es dadurch leicht feindlich auf<br />

den übrigen Organismus wirken und, durch sein erhöhtes Leben und<br />

rastlose Thätigkeit, ihn frühzeitig aufreiben, wenn nicht auch er selbst<br />

von energischer Lebenskraft und wohl konstituirt ist: auch dieses<br />

Letztere also gehört zu den Bedingungen. Ja, sogar ein guter Magen<br />

gehört dazu, wegen des speciellen und engen Konsensus dieses<br />

Theiles mit dem Gehirn. Hauptsächlich aber muß das Gehirn von<br />

ungewöhnlicher<br />

/465/<br />

Entwickelung und Größe, besonders breit und hoch seyn: hingegen<br />

wird die Tiefendimension zurückstehn, und das große Gehirn im<br />

Verhältniß gegen das kleine abnorm überwiegen. Auf die Gestalt<br />

desselben, im Ganzen und in den Theilen, kommt ohne Zweifel sehr<br />

viel an: allein dies genau zu bestimmen, reichen unsere Kenntnisse<br />

noch nicht aus; obwohl wir die edle, hohe Intelligenz verkündende<br />

Form eines Schädels leicht erkennen. Die Textur der Gehirnmasse<br />

muß von der äußersten Feinheit und Vollendung seyn und aus der<br />

reinsten, ausgeschiedensten, zartesten und erregbarsten Nervensubstanz<br />

bestehn: gewiß hat auch das quantitative Verhältniß der<br />

weißen zur grauen Substanz entschiedenen Einfluß, den wir aber<br />

ebenfalls noch nicht anzugeben vermögen. Inzwischen besagt der<br />

Obduktionsbericht der Leiche Byron's 36 , daß bei ihm die weiße Substanz<br />

in ungewöhnlich starkem Verhältniß zur grauen stand; desgleichen,<br />

daß sein Gehirn 6 Pfund gewogen hat. Cuvier's Gehirn hat 5<br />

Pfund gewogen: das normale Gewicht ist 3 Pfund. – Im Gegensatz<br />

des überwiegenden Gehirns müssen Rückenmark und Nerven ungewöhnlich<br />

dünn seyn. Ein schön gewölbter, hoher und breiter Schädel,<br />

von dünner Knochenmasse, muß das Gehirn schützen, ohne es irgend<br />

einzuengen. Diese ganze Beschaffenheit des Gehirns und<br />

Nervensystems ist das Erbtheil von der Mutter; worauf wir im folgenden<br />

Buche zurückkommen werden. Dieselbe ist aber, um das Phänomen<br />

des Genies hervorzubringen, durchaus unzureichend, wenn<br />

nicht, als Erbtheil vom Vater, ein lebhaftes, leidenschaftliches Temperament<br />

hinzukommt, sich somatisch darstellend als ungewöhnliche<br />

Energie des Herzens und folglich des Blutumlaufs, zumal nach dem<br />

Kopfe hin. Denn hiedurch wird zunächst jene dem Gehirn eigene<br />

Turgescenz vermehrt, vermöge deren es gegen seine Wände drückt;<br />

daher es aus jeder durch Verletzung entstandenen Oeffnung in diesen<br />

hervorquillt: zweitens erhält durch die gehörige Kraft des Herzens<br />

das Gehirn diejenige innere, von seiner beständigen Hebung und<br />

Senkung bei jedem Athemzuge noch verschiedene Bewegung, wel-<br />

36 In Medwin's Conversations of L. Byron, p. 333.<br />

99


che in einer Erschütterung seiner ganzen Masse bei jedem Pulsschlage<br />

der vier Cerebral-Arterien besteht und<br />

/466/<br />

deren Energie seiner hier vermehrten Quantität entsprechen muß,<br />

wie denn diese Bewegung überhaupt eine unerläßliche Bedingung<br />

seiner Thätigkeit ist. Dieser ist eben daher auch eine kleine Statur<br />

und besonders ein kurzer Hals günstig, weil, auf dem kürzern Wege,<br />

das Blut mit mehr Energie zum Gehirn gelangt: deshalb sind die großen<br />

Geister selten von großem Körper. Jedoch ist jene Kürze des<br />

Weges nicht unerläßlich: z.B. Goethe war von mehr als mitt lerer Höhe.<br />

Wenn nun aber die ganze den Blutumlauf betreffende und daher<br />

vom Vater kommende Bedingung fehlt; so wird die von der Mutter<br />

stammende günstige Beschaffenheit des Gehirns höchstens ein Talent,<br />

einen feinen Verstand, den das alsdann eintretende Phlegma<br />

unterstützt, hervorbringen; aber ein phlegmatisches Genie ist unmöglich.<br />

Aus dieser vom Vater kommenden Bedingung des Genies erklären<br />

sich viele der oben geschilderten Temperamentsfehler desselben.<br />

Ist hingegen diese Bedingung ohne die erstere, also bei gewöhnlich<br />

oder gar schlecht konstituirtem Gehirn vorhanden; so giebt<br />

sie Lebhaftigkeit ohne Geist, Hitze ohne Licht, liefert Tollköpfe, Menschen<br />

von unerträglicher Unruhe und Petulanz. Daß von zwei Brüdern<br />

nur der eine Genie hat, und dann meistens der ältere, wie es<br />

z.B. Kants Fall war, ist zunächst daraus erklärlich, daß nur bei seiner<br />

Zeugung der Vater im Alter der Kraft und Leidenschaftlichkeit war;<br />

wiewohl auch die andere, von der Mutter stammende Bedingung<br />

durch ungünstige Umstände verkümmert werden kann.<br />

Noch habe ich hier eine besondere Bemerkung hinzuzufügen über<br />

den kindlichen Charakter des Genies, d.h. über eine gewisse Aehnlichkeit,<br />

welche zwischen dem Genie und dem Kindesalter Statt findet.<br />

– In der Kindheit nämlich ist, wie beim Genie, das Cerebralund<br />

Nervensystem entschieden überwiegend: denn seine Entwickelung<br />

eilt der des übrigen Organismus weit voraus; so daß bereits mit dem<br />

siebenten Jahre das Gehirn seine volle Ausdehnung und Masse erlangt<br />

hat. Schon Bichat sagt daher: Dans l'enfance les système nerveux,<br />

comparé au musculaire, est proportionnellement plus considérable<br />

que dans tous les âges suivans, tandis que, par la suite, la<br />

pluspart des autres systèmes prédominent sur celuici. On sait que,<br />

pour bien voir les nerfs, on choisit toujours les enfans<br />

/467/<br />

(De la vie et de la mort, Art. 8, § 6). Am spätesten hingegen fängt die<br />

Entwickelung des Genitalsystems an, und erst beim Eintritt des Mannesalters<br />

sind Irritabilität, Reproduktion und Genitalfunktion in voller<br />

Kraft, wo sie dann, in der Regel, das Uebergewicht über die Gehirnfunktion<br />

haben. Hieraus ist es erklärlich, daß die Kinder, im Allgemeinen,<br />

so klug, vernünftig, wißbegierig und gelehrig, ja, im Ganzen, zu<br />

aller theoretischen Beschäftigung aufgelegter und tauglicher, als die<br />

Erwachsenen, sind: sie haben nämlich in Folge jenes Entwickelungs-<br />

100


ganges mehr Intellekt als Willen, d.h. als Neigung, Begierde, Leidenschaft.<br />

Denn Intellekt und Gehirn sind Eins, und eben so ist das Genitalsystem<br />

Eins mit der heftigsten aller Begierden: daher ich dasselbe<br />

den Brennpunkt des Willens genannt habe. Eben weil die heillose<br />

Thätigkeit dieses Systems noch schlummert, während die des Gehirns<br />

schon volle Regsam keit hat, ist die Kindheit die Zeit der Unschuld<br />

und des Glückes, das Paradies des Lebens, das verlorene<br />

Eden, auf welches wir, unsern ganzen übrigen Lebensweg hindurch,<br />

sehnsüchtig zurückblicken. Die Basis jenes Glückes aber ist, daß in<br />

der Kindheit unser ganzes Daseyn viel mehr im Erkennen, als im<br />

Wollen liegt; welcher Zustand zudem noch von außen durch die Neuheit<br />

aller Gegenstände unterstützt wird. Daher liegt die Welt, im Morgenglanze<br />

des Lebens, so frisch, so zauberisch schimmernd, so anziehend<br />

vor uns. Die kleinen Begierden, schwankenden Neigungen<br />

und geringfügigen Sorgen der Kindheit sind gegen jenes Vorwalten<br />

der erkennenden Thätigkeit nur ein schwaches Gegengewicht. Der<br />

unschuldige und klare Blick der Kinder, an dem wir uns erquicken,<br />

und der bisweilen, in einzelnen, den erhabenen, kontemplativen Ausdruck,<br />

mit welchem Raphael seine Engelsköpfe verherrlicht hat, erreicht,<br />

ist aus dem Gesagten erklärlich. Demnach entwickeln die Geisteskräfte<br />

sich viel früher, als die Bedürfnisse, welchen zu dienen sie<br />

bestimmt sind: und hierin verfährt die Natur, wie überall, sehr zweckmäßig.<br />

Denn in dieser Zeit der vorwaltenden Intelligenz sammelt der<br />

Mensch einen großen Vorrath von Erkenntnissen, für künftige, ihm<br />

zur Zeit noch fremde Bedürfnisse. Daher ist sein Intellekt jetzt unablässig<br />

thätig, faßt begierig alle Erscheinungen auf, brütet darüber und<br />

speichert sie sorgfältig auf, für<br />

/468/<br />

die kommende Zeit, – der Biene gleich, die sehr viel mehr Honig<br />

sammelt, als sie verzehren kann, im Vorgefühl künftiger Bedürfnisse.<br />

Gewiß ist was der Mensch bis zum Eintritt der Pubertät an Einsicht<br />

und Kenntniß erwirbt, im Ganzen genommen, mehr, als Alles was er<br />

nachher lernt, würde er auch noch so gelehrt: denn es ist die Grundlage<br />

aller menschlichen Erkenntnisse. – Bis zur selben Zeit waltet im<br />

kindlichen Leibe die Plasticität vor, deren Kräfte späterhin, nachdem<br />

sie ihr Werk vollendet hat, durch eine Metastase, sich auf das Generationssystem<br />

werfen, wodurch mit der Pubertät der Geschlechtstrieb<br />

eintritt und jetzt allmälig der Wille das Uebergewicht erhält. Dann folgt<br />

auf die vorwaltend theoretische, lernbegierige Kindheit das unruhige,<br />

bald stürmische, bald schwermüthige Jünglingsalter, welches nachher<br />

in das heftige und ernste Mannesalter übergeht. Gerade weil im<br />

Kinde jener unheilschwangere Trieb fehlt, ist das Wollen desselben<br />

so gemäßigt und dem Erkennen untergeordnet, woraus jener Charakter<br />

von Unschuld, Intelligenz und Vernünftigkeit entsteht, welcher<br />

dem Kindesalter eigenthümlich ist. – Worauf nun die Aehnlichkeit des<br />

Kindesalters mit dem Genie beruhe, brauche ich kaum noch auszusprechen:<br />

im Ueberschuß der Erkenntnißkräfte über die Bedürfnisse<br />

des Willens, und im daraus entspringenden Vorwalten der bloß erkennenden<br />

Thätigkeit. Wirklich ist jedes Kind gewissermaaßen ein<br />

Genie, und jedes Genie gewissermaaßen ein Kind. Die Verwandt-<br />

101


schaft Beider zeigt sich zunächst in der Naivetät und erhabenen Einfalt,<br />

welche ein Grundzug des ächten Genies ist: sie tritt auch außerdem<br />

in manchen Zügen an den Tag; so daß eine gewisse Kindlichkeit<br />

allerdings zum Charakter des Genies gehört. In Riemers Mittheilungen<br />

über Goethe wird (Bd. I, S. 184) erwähnt, daß Herder und Andere<br />

Goethen tadelnd nachsagten, er sei ewig ein großes Kind: gewiß<br />

haben sie es mit Recht gesagt, nur nicht mit Recht getadelt. Auch<br />

von Mozart hat es geheißen, er sei zeitlebens ein Kind geblieben.<br />

(Nissens Biographie Mozarts: S. 2 und 529.) Schlichtegrolls Nekrolog<br />

(von 1791, Bd. II, S. 109) sagt von ihm: »Er wurde früh in seiner<br />

Kunst ein Mann; in allen übrigen Verhältnissen aber blieb er beständig<br />

ein Kind.« Jedes Genie ist schon darum ein großes Kind, weil es<br />

in die Welt hineinschaut als in ein Fremdes, ein Schauspiel, daher mit<br />

rein objektivem Interesse. Demgemäß hat es, so wenig wie das Kind,<br />

jene trockene Ernsthaftigkeit<br />

/469/<br />

der Gewöhnlichen, als welche, keines andern als des subjektiven<br />

Interesses fähig, in den Dingen immer bloß Motive für ihr Thun sehn.<br />

Wer nicht zeitlebens gewissermaaßen ein großes Kind bleibt, sondern<br />

ein ernsthafter, nüchterner, durchweg gesetzter und vernünftiger<br />

Mann wird, kann ein sehr nützlicher und tüchtiger Bürger dieser Welt<br />

seyn; nur nimmermehr ein Genie. In der That ist das Genie es dadurch,<br />

daß jenes, dem Kindesalter natürliche, Ueberwiegen des sensibeln<br />

Systems und der erkennenden Thätigkeit sich bei ihm, abnormerweise,<br />

das ganze Leben hindurch erhält, also hier ein perennirendes<br />

wird. Eine Spur davon zieht sich freilich auch bei manchen<br />

gewöhnlichen Menschen noch bis ins Jünglingsalter hinüber; daher<br />

z.B. an manchen Studenten noch ein rein geistiges Streben und eine<br />

geniale Excentricität unverkennbar ist. Allein die Natur kehrt in ihr<br />

Gleis zurück: sie verpuppen sich und erstehn, im Mannesalter, als<br />

eingefleischte Philister, über die man erschrickt, wann man sie in<br />

spätern Jahren wieder antrifft. – Auf dem ganzen hier dargelegten<br />

Hergang beruht auch Goethes schöne Bemerkung: »Kinder halten<br />

nicht was sie versprechen; junge Leute sehr selten, und wenn sie<br />

Wort halten, hält es ihnen die Welt nicht.« (Wahlverwandtschaften,<br />

Th. I, Kap. 10.) Die Welt nämlich, welche die Kronen, die sie für das<br />

Verdienst hoch emporhielt, nachher Denen aufsetzt, welche Werkzeuge<br />

ihrer niedrigen Absichten werden, oder aber sie zu betrügen<br />

verstehn. – Dem Gesagtengemäß giebt es, wie eine bloße Jugendschönheit,<br />

dief ast Jeder ein Mal besitzt (beauté du diable), auch eine<br />

bloße Jugend-Intellektualität, ein gewisses geistiges, zum Auffassen,<br />

Verstehn, Lernen geneigtes und geeignetes Wesen, welches Jeder in<br />

der Kindheit, Einige noch in der Jugend haben, das aber danach sich<br />

verliert, eben wie jene Schönheit. Nur bei höchst Wenigen, den Auserwählten,<br />

dauert das Eine, wie das Andere, das ganze Leben hindurch<br />

fort; so daß selbst im höhern Alter noch eine Spur davon sichtbar<br />

bleibt: dies sind die wahrhaft schönen, und die wahrhaft genialen<br />

Menschen.<br />

102


Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie<br />

für das Leben<br />

In: Werke in drei Bänden, Bd.1, München: <strong>Hans</strong>er 1954. S.252-258<br />

/252/<br />

7<br />

Der historische Sinn, wenn er ungebändigt waltet und alle seine Konsequenzen<br />

zieht, entwurzelt die Zukunft, weil er die Illusionen zerstört<br />

und den bestehenden Dingen ihre Atmosphäre nimmt, in der sie allein<br />

leben können. Die historische Gerechtigkeit, selbst wenn sie<br />

wirklich und in reiner Gesinnung geübt wird, ist deshalb eine schreckliche<br />

Tugend, weil sie immer das Lebendige untergräbt und zu Fall<br />

bringt: ihr Richten ist immer ein Vernichten. Wenn hinter dem historischen<br />

Triebe kein Bautrieb wirkt, wenn nicht zerstört und aufgeräumt<br />

wird, damit eine bereits in der Hoffnung lebendige Zukunft auf dem<br />

befreiten Boden ihr Haus baue, wenn die Gerechtigkeit allein waltet,<br />

dann wird der schaffende Instinkt entkräftet und entmutigt. Eine Religion<br />

zum Beispiel, die in historisches Wissen, unter dem Walten der<br />

rei nen Gerechtigkeit, umgesetzt werden soll, eine Religion, die durch<br />

und durch wissenschaftlich erkannt werden soll, ist am Ende dieses<br />

Weges zugleich vernichtet. Der Grund liegt darin, daß bei der historischen<br />

Nachrechnung jedesmal so viel Falsches, Rohes, Unmenschliches,<br />

Absurdes, Gewaltsames zutage tritt, daß die pietätvolle Illusions-Stimmung,<br />

in der alles, was leben will, allein leben kann, notwendig<br />

zerstiebt: nur in Liebe aber, nur umschattet von der Illusion<br />

der Liebe, schafft der Mensch, nämlich nur im unbedingten Glauben<br />

an das Vollkommne und Rechte. Jedem, den man zwingt, nicht mehr<br />

unbedingt zu lieben, hat man die Wurzeln seiner Kraft abgeschnitten:<br />

er muß verdorren, nämlich unehrlich werden. In solchen Wirkungen<br />

ist der Historie die Kunst entgegengesetzt: und nur wenn die Historie<br />

es erträgt, zum Kunstwerk umgebildet, also reines Kunstgebilde zu<br />

werden, kann sie vielleicht Instinkte erhalten oder sogar wecken. Eine<br />

solche Geschichtsschreibung würde aber durchaus dem analytischen<br />

und unkünstlerischen Zuge unserer Zeit widersprechen, ja von ihr als<br />

Fälschung empfunden werden. Historie aber, die nur zerstört, ohne<br />

daß ein innrer Bautrieb sie führt, macht auf die Dauer ihre Werkzeuge<br />

blasiert und unnatürlich: denn solche Menschen zerstören Illusionen,<br />

und »wer die Illusion in sich und anderen zerstört, den straft die Natur<br />

als der strengste Tyrann«. Eine gute Zeit lang zwar kann man sich<br />

wohl mit der Historie völlig harmlos und unbedachtsam beschäftigen,<br />

/253/<br />

als ob es eine Beschäftigung so gut wie jede andre wäre; insbesondere<br />

scheint die neuere Theologie sich rein aus Harmlosigkeit mit der<br />

Geschichte eingelassen zu haben und jetzt noch will sie es kaum<br />

103


merken, daß sie damit, wahrscheinlich sehr wider Willen, im Dienste<br />

des Voltaireschen écrasez steht. Vermute niemand dahinter neue<br />

kräftige Bau-Instinkte; man müßte denn den sogenannten Protestanten-Verein<br />

als Mutterschoß einer neuen Religion und etwa den Juristen<br />

Holtzendorf (den Herausgeber und Vorredner der noch viel sogenannteren<br />

Protestanten-Bibel) als Johannes am Flusse Jordan<br />

gelten lassen. Einige Zeit hilft vielleicht die in älteren Köpfen noch<br />

qualmende Hegelsche Philosophie zur Propagation jener Harmlosigkeit,<br />

etwa dadurch, daß man die »Idee des Christentums« von ihren<br />

mannigfach unvollkommenen »Erscheinungsformen« unterscheidet<br />

und sich vorredet, es sei wohl gar die »Liebhaberei der Idee«, sich in<br />

immer reineren Formen zu offenbaren, zuletzt nämlich als die gewiß<br />

allerreinste, durchsichtigste, ja kaum sichtbare Form im Hirne des<br />

jetzigen theologus liberalis vulgaris. Hört man aber diese allerreinlichsten<br />

Christentümer sich über die früheren unreinlichen Christentümer<br />

aussprechen, so hat der nichtbeteiligte Zuhörer oft den Eindruck,<br />

es sei gar nicht vom Christentume die Rede, sondern von –<br />

nun woran sollen wir denken? wenn wir das Christentum von dem<br />

»größten Theologen des Jahrhunderts« als die Religion bezeichnet<br />

finden, die es verstattet, »sich in alle wirklichen und noch einige andere<br />

bloß mögliche Religionen hineinzuempfinden«, und wenn die<br />

»wahre Kirche« die sein soll, welche »zur fließenden Masse wird, wo<br />

es keine Umrisse gibt, wo jeder Teil sich bald hier, bald dort befindet<br />

und alles sich friedlich untereinander mengt«. – Nochmals, woran<br />

sollen wir denken?<br />

Was man am Christentume lernen kann, daß es unter der Wirkung<br />

einer historisierenden Behandlung blasiert und unnatürlich geworden<br />

ist, bis endlich eine vollkommen historische, das heißt gerechte Behandlung<br />

es in reines Wissen um das Christentum auflöst und dadurch<br />

vernichtet, das kann man an allem, was Leben hat, studieren:<br />

daß es aufhört zu leben, wenn es zu Ende seziert ist und schmerzlich<br />

und krankhaft lebt, wenn man anfängt, an ihm die historischen Sezierübungen<br />

zu machen. Es gibt Menschen, die an eine umwälzende<br />

und reformierende Heilkraft der deutschen Musik unter Deutschen<br />

glauben: sie<br />

/254/<br />

empfinden es mit Zorn und halten es für ein Unrecht, begangen am<br />

Lebendigsten unsrer Kultur, wenn solche Männer wie Mozart und<br />

Beethoven bereits jetzt mit dem ganzen gelehrten Wust des Biographischen<br />

überschüttet und mit dem Foltersystem historischer Kritik<br />

zu Antworten auf tausend zudringliche Fragen gezwungen werden.<br />

Wird nicht dadurch das in seinen lebendigen Wirkungen noch gar<br />

nicht Erschöpfte zur Unzeit abgetan oder mindestens gelähmt, daß<br />

man die Neubegierde auf zahllose Mikrologien des Lebens und der<br />

Werke richtet und Erkenntnis-Probleme dort sucht, wo man lernen<br />

sollte zu leben und alle Probleme zu vergessen? Versetzt nur ein<br />

paar solcher modernen Biographen in Gedanken an die Geburtsstätte<br />

des Christentums oder der Lutherschen Reformation; ihre nüchterne<br />

pragmatisierende Neubegier hätte gerade ausgereicht, um jede<br />

geisterhafte actio in distans unmöglich zu machen: wie das elendeste<br />

104


Tier die Entstehung der mächtigsten Eiche verhindern kann, dadurch,<br />

daß es die Eichel verschluckt. Alles Lebendige braucht um sich eine<br />

Atmosphäre, einen geheimnisvollen Dunstkreis; wenn man ihm diese<br />

Hülle nimmt, wenn man eine Religion, eine Kunst, ein Genie verurteilt,<br />

als Gestirn ohne Atmosphäre zu kreisen: so soll man sich über<br />

das schnelle Verdorren, Hart- und Unfruchtbarwerden nicht mehr<br />

wundern. So ist es nun einmal bei allen großen Dingen,<br />

»die nie ohn' ein'gen Wahn gelingen«,<br />

wie <strong>Hans</strong> Sachs in den Meistersingern sagt.<br />

Aber selbst jedes Volk, ja jeder Mensch, der reif werden will, braucht<br />

einen solchen umhüllenden Wahn, eine solche schützende und<br />

umschleiernde Wolke; jetzt aber haßt man das Reifwerden überhaupt,<br />

weil man die Historie mehr als das Leben ehrt. Ja man triumphiert<br />

darüber, daß jetzt »die Wissenschaft anfange, über das Leben<br />

zu herrschen«: möglich, daß man das erreicht; aber gewiß ist ein<br />

derartig beherrschtes Leben nicht viel wert, weil es viel weniger Leben<br />

ist und viel weniger Leben für die Zukunft verbürgt als das ehemals<br />

nicht durch das Wissen, sondern durch Instinkte und kräftige<br />

Wahnbilder beherrschte Leben. Aber es soll auch gar nicht, wie gesagt,<br />

das Zeitalter der fertig und reif gewordenen, der harmonischen<br />

Persönlichkeiten sein, sondern das der gemeinsamen möglichst<br />

nutzbaren Arbeit. Das<br />

/255/<br />

heißt eben doch nur: die Menschen sollen zu den Zwecken der Zeit<br />

abgerichtet werden, um so zeitig als möglich mit Hand anzulegen: sie<br />

sollen in der Fabrik der allgemeinen Utilitäten arbeiten, bevor sie reif<br />

sind, ja damit sie gar nicht mehr reif werden – weil dies ein Luxus<br />

wäre, der »dem Arbeitsmarkte« eine Menge von Kraft entziehen würde.<br />

Man blendet einige Vögel, damit sie schöner singen: ich glaube<br />

nicht, daß die jetzigen Menschen schöner singen als ihre Großväter,<br />

aber das weiß ich, daß man sie zeitig blendet. Das Mittel aber, das<br />

verruchte Mittel, das man anwendet, um sie zu blenden, ist allzu helles,<br />

allzu plötzliches, allzu wechselndes Licht. Der junge Mensch<br />

wird durch alle Jahrtausende gepeitscht: Jünglinge, die nichts von<br />

einem Kriege, einer diplomatischen Aktion, einer Handelspolitik<br />

verstehen, werden der Einführung in die politische Geschichte für<br />

würdig befunden. So aber, wie der junge Mensch durch die<br />

Geschichte läuft, so laufen wir Modernen durch die Kunstkammern,<br />

so hören wir Konzerte. Man fühlt wohl, das klingt anders als jenes,<br />

das wirkt anders als jenes: dies Gefühl der Befremdung immer mehr<br />

zu verlieren, über nichts mehr übermäßig zu erstaunen, endlich alles<br />

sich gefallen zu lassen – das nennt man dann wohl den historischen<br />

Sinn, die historische Bildung. Ohne Beschönigung des Ausdrucks<br />

gesprochen: die Masse des Einströmenden ist so groß, das<br />

Befremdende, Barbarische und Gewaltsame dringt so übermächtig,<br />

»zu scheußlichen Klumpen geballt«, auf die jugendliche Seele ein,<br />

daß sie sich nur mit einem vorsätzlichen Stumpfsinn zu retten weiß.<br />

Wo ein feineres und stärkeres Bewußtsein zugrunde lag, stellt sich<br />

wohl auch eine andre Empfindung ein: Ekel. Der junge Mensch ist so<br />

heimatlos geworden und zweifelt an allen Sitten und Begriffen. Jetzt<br />

105


und zweifelt an allen Sitten und Begriffen. Jetzt weiß er es: in allen<br />

Zeiten war es anders, es kommt nicht darauf an, wie du bist. In<br />

schwermütiger Gefühllosigkeit läßt er Meinung auf Meinung an sich<br />

vorübergehn und begreift das Wort und die Stimmung Höl derlins<br />

beim Lesen des Laertius Diogenes über Leben und Lehren griechischer<br />

Philosophen: »ich habe auch hier wieder erfahren, was mir<br />

schon manchmal begegnet ist, daß mir nämlich das Vorübergehende<br />

und Abwechselnde der menschlichen Gedanken und Systeme fast<br />

tragischer aufgefallen ist als die Schicksale, die man gewöhnlich allein<br />

die wirklichen nennt.« Nein, ein solches überschwemmendes,<br />

betäubendes und gewaltsames Historisieren ist<br />

/256/<br />

gewiß nicht für die Jugend nötig, wie die Alten zeigen, ja im höchsten<br />

Grade gefährlich, wie die Neueren zeigen. Nun betrachte man aber<br />

gar den historischen Studenten, den Erben einer allzufrühen, fast im<br />

Knabenalter schon sichtbar gewordenen Blasiertheit. Jetzt ist ihm die<br />

»Methode« zu eigner Arbeit, der rechte Griff und der vornehme Ton<br />

nach des Meisters Manier zu eigen geworden; ein ganz isoliertes<br />

Kapitelchen der Vergangenheit ist seinem Scharfsinn und der erlernten<br />

Methode zum Opfer gefallen; er hat bereits produziert, ja mit stolzerem<br />

Worte, er hat »geschaffen«, er ist nun Diener der Wahrheit<br />

durch die Tat und Herr im historischen Weltbereiche geworden. War<br />

er schon als Knabe »fertig«, so ist er nun bereits überfertig: man<br />

braucht an ihm nur zu schütteln, so fällt einem die Weisheit mit Geprassel<br />

in den Schoß; doch die Weisheit ist faul und jeder Apfel hat<br />

seinen Wurm. Glaubt es mir: wenn die Menschen in der wissenschaftlichen<br />

Fabrik arbeiten und nutzbar werden sollen, bevor sie reif<br />

sind, so ist in kurzem die Wissenschaft ebenso ruiniert wie die allzuzeitig<br />

in dieser Fabrik verwendeten Sklaven. Ich bedaure, daß man<br />

schon nötig hat, sich des sprachlichen Jargons der Sklavenhalter und<br />

Arbeitgeber zur Bezeichnung solcher Verhältnisse zu bedienen, die<br />

an sich frei von Utilitäten, enthoben der Lebensnot gedacht werden<br />

sollten; aber unwillkürlich drängen sich die Worte »Fabrik«, »Arbeitsmarkt«,<br />

»Angebot«, »Nutzbarmachung« – und wie all die Hilfszeitwörter<br />

des Egoismus lauten – auf die Lippen, wenn man die jüngste<br />

Generation der Gelehrten schildern will. Die gediegene Mittelmäßigkeit<br />

wird immer mittelmäßiger, die Wissenschaft im ökonomischen<br />

Sinne immer nutzbarer. Eigentlich sind die allerneuesten Gelehrten<br />

nur in einem Punkte weise, darin freilich weiser als alle Menschen der<br />

Vergangenheit, in allen übrigen Punkten nur unendlich anders – vorsichtig<br />

gesprochen – als alle Gelehrten alten Schlags. Trotzdem fordern<br />

sie Ehren und Vorteile für sich ein, als ob der Staat und die öffentliche<br />

Meinung verpflichtet wären, die neuen Münzen für ebenso<br />

voll zu nehmen wie die alten. Die Kärrner haben unter sich einen Arbeitsvertrag<br />

gemacht und das Genie als überflüssig dekretiert – dadurch,<br />

daß jeder Kärrner zum Genie umgestempelt wird; wahrscheinlich<br />

wird es eine spätere Zeit ihren Bauten ansehen, daß sie zu<br />

sammengekarrt, nicht zusammengebaut sind. Denen, die unermüdlich<br />

den modernen Schlacht- und<br />

106


257/<br />

Opferruf »Teilung der Arbeit! In Reih und Glied!« im Munde führen, ist<br />

einmal klärlich und rund zu sagen: wollt ihr die Wissenschaft möglichst<br />

schnell fördern, so werdet ihr sie euch möglichst schnell vernichten;<br />

wie euch die Henne zugrunde geht, die ihr künstlich zum<br />

allzuschnellen Eierlegen zwingt. Gut, die Wissenschaft ist in den letzten<br />

Jahrzehnten erstaunlich schnell gefördert worden: aber seht euch<br />

nun auch die Gelehrten, die erschöpften Hennen an. Es sind wahrhaftig<br />

keine »harmonischen« Naturen; nur gackern können sie mehr<br />

als je, weil sie öfter Eier legen: freilich sind auch die Eier immer kleiner<br />

(obzwar die Bücher immer dicker) geworden. Als letztes und natürliches<br />

Resultat ergibt sich das allgemein beliebte »Popularisieren«<br />

(nebst »Feminisieren« und »Infantisieren«) der Wissenschaft, das<br />

heißt das berüchtigte Zuschneiden des Rocks der Wissenschaft auf<br />

den Leib des »gemischten Publikums«: um uns hier einmal für eine<br />

schneidermäßige Tätigkeit auch eines schneidermäßigen Deutsches<br />

zu befleißigen. Goethe sah darin einen Mißbrauch und verlangte, daß<br />

die Wissenschaften nur durch eine erhöhte Praxis auf die äußere<br />

Welt wirken sollten. Den älteren Gelehrten-Generationen dünkte<br />

überdies ein solcher Mißbrauch aus guten Gründen schwer und lästig:<br />

ebenfalls aus guten Grün den fällt er den jüngeren Gelehrten<br />

leicht, weil sie selbst, von einem ganz kleinen Wissens-Winkel abgesehn,<br />

sehr gemischtes Publikum sind und dessen Bedürfnisse in sich<br />

tragen. Sie brauchen sich nur einmal bequem hinzusetzen, so gelingt<br />

es ihnen, auch ihr kleines Studienbereich jener gemischt-populären<br />

Bedürfnis-Neubegier aufzuschließen. Für diesen Bequemlichkeitsakt<br />

prätendiert man hinterdrein den Namen »bescheidene Herablassung<br />

des Gelehrten zu seinem Volke«: während im Grunde der Gelehrte<br />

nur zu sich, soweit er nicht Gelehrter, sondern Pöbel ist, herabstieg.<br />

Schafft euch den Begriff eines »Volkes«: den könnt ihr nie edel und<br />

hoch genug denken. Dächtet ihr groß vom Volke, so wäret ihr auch<br />

barmherzig gegen dasselbe und hütetet euch wohl, euer historisches<br />

Scheidewasser ihm als Lebens- und Labetrank anzubieten. Aber ihr<br />

denkt im tiefsten Grunde von ihm gering, weil ihr vor seiner Zukunft<br />

keine wahre und sicher gegründete Achtung haben dürft, und ihr<br />

handelt als praktische Pessimisten, ich meine als Menschen, welche<br />

die Ahnung eines Unterganges leitet und die dadurch gegen das<br />

fremde, ja gegen das eigne Wohl gleichgültig<br />

/258/<br />

und läßlich werden. Wenn uns nur die Scholle noch trägt! Und wenn<br />

sie uns nicht mehr trägt, dann soll es auch recht sein: – so empfinden<br />

sie und leben eine ironische Existenz.<br />

107


Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches<br />

In: Werke in drei Bänden, Bd.I, München: <strong>Hans</strong>er 1954, S.545-562<br />

/545/<br />

Viertes Hauptstück: Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller<br />

145<br />

Das Vollkommene soll nicht geworden sein. – Wir sind gewöhnt, bei<br />

allem Vollkommenen die Frage nach dem Werden zu unterlassen:<br />

sondern uns des Gegenwärtigen zu freuen, wie als ob es auf einen<br />

Zauberschlag aus dem Boden aufgestiegen sei. Wahrscheinlich stehen<br />

wir hier noch unter der Nachwirkung einer uralten mythologischen<br />

Empfindung. Es ist uns beinahe noch so zumute (zum Beispiel<br />

in einem griechischen Tempel wie der von Pästum), als ob eines<br />

Morgens ein Gott spielend aus solchen ungeheuren Lasten sein<br />

Wohnhaus gebaut habe: andere Male, als ob eine Seele urplötzlich in<br />

einen Stein hineingezaubert sei und nun durch ihn reden wolle. Der<br />

Künstler weiß, daß sein Werk nur voll wirkt, wenn es den Glauben an<br />

eine Improvisation, an eine wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung<br />

erregt; und so hilft er wohl dieser Illusion nach und führt jene<br />

Elemente der begeisterten Unruhe, der blind greifenden Unordnung,<br />

des aufhorchenden Träumens beim Beginn der Schöpfung in die<br />

Kunst ein, als Trugmittel, um die Seele des Schauers oder Hörers so<br />

zu stimmen, daß sie an das plötzliche Hervorspringen des Vollkommenen<br />

glaubt. – Die Wissenschaft der Kunst hat dieser Illusion, wie<br />

es sich von selbst versteht, auf das bestimmteste zu widersprechen<br />

und die Fehlschlüsse und Verwöhnungen des Intellekts aufzuzeigen,<br />

vermöge welcher er dem Künstler in das Netz läuft.<br />

146<br />

Der Wahrheitssinn des Künstlers. – Der Künstler hat in Hinsicht auf<br />

das Erkennen der Wahrheiten eine schwächere Moralität als der<br />

Denker; er will sich die glänzenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens<br />

durchaus nicht nehmen lassen und wehrt sich gegen nüchterne,<br />

schlichte Methoden und Resultate. Scheinbar kämpft er für die höhere<br />

Würde und Bedeutung des Menschen; in Wahrheit will er die für<br />

seine Kunst<br />

/546/<br />

wirkungsvollsten Voraussetzungen nicht aufgeben, also das Phantastische,<br />

Mythische, Unsichere, Extreme, den Sinn für das Symbolische,<br />

die Überschätzung der Person, den Glauben an etwas Wunderartiges<br />

im Genius: er hält also die Fortdauer seiner Art des Schaf-<br />

108


fens für wichtiger als die wissenschaftliche Hingebung an das Wahre<br />

in jeder Gestalt, erscheine diese auch noch so schlicht.<br />

147<br />

Die Kunst als Totenbeschwörerin. – Die Kunst versieht nebenbei die<br />

Aufgabe, zu konservieren, auch wohl erloschene, verblichene Vorstellungen<br />

ein wenig wieder aufzufärben; sie flicht, wenn sie diese<br />

Aufgabe löst, ein Band um verschiedene Zeitalter und macht deren<br />

Geister wiederkehren. Zwar ist es nur ein Scheinleben wie über Gräbern,<br />

welches hierdurch entsteht, oder wie die Wiederkehr geliebter<br />

Toten im Traume; aber wenigstens auf Augenblicke wird die alte<br />

Empfindung noch einmal rege und das Herz klopft nach einem sonst<br />

vergessenen Takte. Nun muß man wegen dieses allgemeinen Nutzens<br />

der Kunst dem Künstler selber es nachsehen, wenn er nicht in<br />

den vordersten Reihen der Aufklärung und der fortschreitenden Vermännlichung<br />

der Menschheit steht: er ist zeitlebens ein Kind oder ein<br />

Jüngling geblieben und auf dem Standpunkt zurückgehalten, auf welchem<br />

er von seinem Kunsttriebe überfallen wurde; Empfindungen der<br />

ersten Lebensstufen stehen aber zugestandenermaßen denen früherer<br />

Zeitläufte näher als denen des gegenwärtigen Jahrhunderts. Unwillkürlich<br />

wird es zu seiner Aufgabe, die Menschheit zu verkindlichen;<br />

dies ist sein Ruhm und seine Begrenztheit.<br />

148<br />

Dichter als Erleichterer des Lebens. – Die Dichter, insofern auch sie<br />

das Leben der Menschen erleichtern wollen, wenden den Blick entweder<br />

von der mühseligen Gegenwart ab oder verhelfen der Gegenwart<br />

durch ein Licht, das sie von der Vergangenheit herstrahlen machen,<br />

zu neuen Farben. Um dies zu können, müssen sie selbst in<br />

manchen Hinsichten rückwärts gewendete Wesen sein: so daß man<br />

sie als Brücken zu ganz fernen Zeiten und Vorstellungen, zu absterbenden<br />

oder abgestorbenen<br />

/547/<br />

Religionen und Kulturen gebrauchen kann. Sie sind eigentlich immer<br />

und notwendig Epigonen. Es ist freilich von ihren Mitteln zur Erleichterung<br />

des Lebens einiges Ungünstige zu sagen: sie beschwichtigen<br />

und heilen nur vorläufig, nur für den Augenblick; sie halten sogar die<br />

Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung ihrer Zustände zu<br />

arbeiten, indem sie gerade die Leidenschaft der Unbefriedigten, welche<br />

zur Tat drängen, aufheben und palliativisch entladen.<br />

149<br />

Der langsame Pfeil der Schönheit. – Die edelste Art der Schönheit ist<br />

die, welche nicht auf einmal hinreißt, welche nicht stürmische und<br />

berauschende Angriffe macht (eine solche erweckt leicht Ekel), sondern<br />

jene langsam einsickernde, welche man fast unbemerkt mit sich<br />

109


fortträgt und die einem im Traum einmal wiederbegegnet, endlich<br />

aber, nachdem sie lange mit Bescheidenheit an unserm Herzen gelegen,<br />

von uns ganz Besitz nimmt, unser Auge mit Tränen, unser<br />

Herz mit Sehnsucht füllt. – Wonach sehnen wir uns beim Anblick der<br />

Schönheit? Darnach, schön zu sein: wir wähnen, es müsse viel Glück<br />

damit verbunden sein. – Aber das ist ein Irrtum.<br />

150<br />

Beseelung der Kunst. – Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen<br />

nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter<br />

Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt<br />

selber tiefer, seelenvoller, so daß sie Erhebung und Begeisterung<br />

mitzuteilen vermag, was sie vordem noch nicht konnte. Der zum<br />

Strome angewachsene Reichtum des religiösen Gefühls bricht immer<br />

wieder aus und will sich neue Reiche erobern: aber die wachsende<br />

Aufklärung hat die Dogmen der Religion erschüttert und ein gründliches<br />

Mißtrauen eingeflößt: so wirft sich das Gefühl, durch die Aufklärung<br />

aus der religiösen Sphäre hinausgedrängt, in die Kunst; in einzelnen<br />

Fällen auch auf das politische Leben, ja selbst direkt auf die<br />

Wissenschaft. Überall, wo man an menschlichen Bestrebungen eine<br />

höhere düstere Färbung wahrnimmt, darf man vermuten, daß Geistergrauen,<br />

Weihrauchduft und Kirchenschatten daran hängengeblieben<br />

sind.<br />

/548/<br />

151<br />

Wodurch das Metrum verschönert. – Das Metrum legt Flor über die<br />

Realität; es veranlaßt einige Künstlichkeit des Geredes und Unreinheit<br />

des Denkens; durch den Schatten, den es auf den Gedanken<br />

wirft, verdeckt es bald, bald hebt es hervor. Wie Schatten nötig ist,<br />

um zu verschönern, so ist das »Dumpfe« nötig, um zu verdeutlichen.<br />

– Die Kunst macht den Anblick des Lebens erträglich, dadurch daß<br />

sie den Flor des unreinen Denkens über dasselbe legt.<br />

152<br />

Kunst der häßlichen Seele. – Man zieht der Kunst viel zu enge<br />

Schranken, wenn man verlangt, daß nur die geordnete, sittlich im<br />

Gleichgewicht schwebende Seele sich in ihr aussprechen dürfe. Wie<br />

in den bildenden Künsten so auch gibt es in der Musik und Dichtung<br />

eine Kunst der häßlichen Seele, neben der Kunst der schönen Seele;<br />

und die mächtigsten Wirkungen der Kunst das Seelen-Brechen, Steine-Bewegen<br />

und Tiere-Vermenschlichen ist vielleicht gerade jener<br />

Kunst am meisten gelungen.<br />

153<br />

110


Die Kunst macht dem Denker das Herz schwer. – Wie stark das metaphysische<br />

Bedürfnis ist, und wie sich noch zuletzt die Natur den<br />

Abschied von ihm schwer macht, kann man daraus entnehmen, daß<br />

noch im Freigeiste, wenn er sich alles Metaphysischen entschlagen<br />

hat, die höchsten Wirkungen der Kunst leicht ein Miterklingen der<br />

lange verstummten, ja zerrissenen metaphysischen Saite hervorbringen,<br />

sei es zum Beispiel, daß er bei einer Stelle der neunten Sinfonie<br />

Beethovens sich über der Erde in einem Ster nendome schweben<br />

fühlt, mit dem Traume der Unsterblichkeit im Herzen: alle Sterne<br />

scheinen um ihn zu flimmern und die Erde immer tiefer hinabzusinken.<br />

– Wird er sich dieses Zustandes bewußt, so fühlt er wohl einen<br />

tiefen Stich im Herzen und seufzt nach dem Menschen, welcher ihm<br />

die verlorene Geliebte, nenne man sie nun Religion oder Metaphysik,<br />

zurückführe. In solchen Augenblicken wird sein intellektualer Charakter<br />

auf die Probe gestellt.<br />

/549/<br />

154<br />

Mit dem Leben spielen. – Die Leichtigkeit und Leichtfertigkeit der homerischen<br />

Phantasie war nötig, um das übermäßig leidenschaftliche<br />

Gemüt und den überscharfen Verstand der Griechen zu beschwichtigen<br />

und zeitweilig aufzuheben. Spricht bei ihnen der Verstand: wie<br />

herbe und grausam erscheint dann das Leben! Sie täuschen sich<br />

nicht, aber sie umspielen absichtlich das Leben mit Lügen. Simonides<br />

riet seinen Landsleuten, das Leben wie ein Spiel zu nehmen; der<br />

Ernst war ihnen als Schmerz allzubekannt (das Elend der Menschen<br />

ist ja das Thema, über welches die Götter so gern singen hören), und<br />

sie wußten, daß einzig durch die Kunst selbst das Elend zum Genusse<br />

werden könne. Zur Strafe für diese Einsicht waren sie aber von<br />

der Lust zu fabulieren so geplagt, daß es ihnen im Alltagsleben<br />

schwer wurde, sich von Lug und Trug freizuhalten, wie alles Poetenvolk<br />

eine solche Lust an der Lüge hat und obendrein noch die Unschuld<br />

dabei. Die benachbarten Völker fanden das wohl mitunter zum<br />

Verzweifeln.<br />

155<br />

Glaube an Inspiration. – Die Künstler haben ein Interesse daran, daß<br />

man an die plötzlichen Eingebungen, die sogenannten Inspirationen<br />

glaubt; als ob die Idee des Kunstwerks, der Dichtung, der Grundgedanke<br />

einer Philosophie wie ein Gnadenschein vom Himmel herableuchte.<br />

In Wahrheit produziert die Phantasie des guten Künstlers<br />

oder Denkers fortwährend, Gutes, Mittelmäßiges und Schlechtes,<br />

aber seine Urteilskraft, höchst geschärft und geübt, verwirft, wählt<br />

aus, knüpft zusammen; wie man jetzt aus den Notizbüchern Beethovens<br />

ersieht, daß er die herrlichsten Melodien allmählich zusammengetragen<br />

und aus vielfachen Ansätzen gewissermaßen ausgelesen<br />

hat. Wer weniger streng scheidet und sich der nachbildenden Erinnerung<br />

gern überläßt, der wird unter Umständen ein großer Improvisator<br />

werden können; aber die künstlerische Improvisation steht tief im<br />

111


Verhältnis zum ernst und mühevoll erlesenen Kunstgedanken. Alle<br />

Großen waren große Arbeiter, unermüdlich nicht nur im Erfinden,<br />

sondern auch im Verwerfen, Sichten, Umgestalten, Ordnen.<br />

/550/<br />

156<br />

Nochmals die Inspiration. – Wenn sich die Produktionskraft eine Zeitlang<br />

angestaut hat und am Ausfließen durch ein Hemmnis gehindert<br />

worden ist, dann gibt es endlich einen so plötzlichen Erguß, als ob<br />

eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes innres Arbeiten,<br />

also ein Wunder sich vollziehe. Dies macht die bekannte Täuschung<br />

aus, an deren Fortbestehen, wie gesagt, das Interesse aller<br />

Künstler ein wenig zu sehr hängt. Das Kapital hat sich eben nur angehäuft,<br />

es ist nicht auf einmal vom Himmel gefallen. Es gibt übrigens<br />

auch anderwärts solche scheinbare Inspiration, zum Beispiel im Bereiche<br />

der Güte, der Tugend, des Lasters.<br />

157<br />

Die Leiden des Genius und ihr Wert. – Der künstlerische Genius will<br />

Freude machen, aber wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so<br />

fehlen ihm leicht die Genießenden; er bietet Speisen, aber man will<br />

sie nicht. Das gibt ihm ein unter Umständen lächerlichrührendes Pathos;<br />

denn im Grunde hat er kein Recht, die Menschen zum Vergnügen<br />

zu zwingen. Seine Pfeife tönt, aber niemand will tanzen: kann<br />

das tragisch sein? – Vielleicht doch. Zuletzt hat er als Kompensation<br />

für diese Entbehrung mehr Vergnügen beim Schaffen, als die übrigen<br />

Menschen bei allen andern Gattungen der Tätigkeit haben. Man empfindet<br />

seine Leiden übertrieben, weil der Ton seiner Klage lauter, sein<br />

Mund beberedter ist; und mitunter sind seine Leiden wirklich sehr<br />

groß, aber nur deshalb, weil sein Ehrgeiz, sein Neid so groß ist. Der<br />

wissende Genius, wie Kepler und Spinoza, ist für gewöhnlich nicht so<br />

begehrlich und macht von seinen wirklich größeren Leiden und Entbehrungen<br />

kein solches Aufheben. Er darf mit größerer Sicherheit auf<br />

die Nachwelt rechnen und sich der Gegenwart entschlagen; während<br />

ein Künstler, der dies tut, immer ein verzweifeltes Spiel spielt, bei<br />

dem ihm wehe ums Herz werden muß. In ganz seltenen Fällen –<br />

dann, wenn im selben Indivi duum der Genius des Könnens und des<br />

Erkennens und der moralische Genius sich verschmelzen – kommt<br />

zu den erwähnten Schmerzen noch die Gattung von Schmerzen hinzu,<br />

welche als die absonderlichsten Ausnahmen in der Welt zu nehmen<br />

sind: die außer- und<br />

/551/<br />

überpersönlichen, einem Volke, der Menschheit, der gesamten Kultur,<br />

allem leidenden Dasein zugewandten Empfindungen: welche<br />

ihren Wert durch die Verbindung mit besonders schwierigen und entlegenen<br />

Erkenntnissen erlangen (Mitleid an sich ist wenig wert). –<br />

Aber welchen Maßstab, welche Goldwage gibt es für deren Echtheit?<br />

112


Ist es nicht fast geboten, mißtrauisch gegen alle zu sein, welche von<br />

Empfindungen dieser Art bei sich reden?<br />

158<br />

Verhängnis der Größe. – Jeder großen Erscheinung folgt die Entartung<br />

nach, namentlich im Bereiche der Kunst. Das Vorbild des Großen<br />

reizt die eitleren Naturen zum äußerlichen Nachmachen oder<br />

zum Überbieten; dazu haben alle großen Begabungen das Verhängnisvolle<br />

an sich, viele schwächere Kräfte und Keime zu erdrücken<br />

und um sich herum gleichsam die Natur zu veröden. Der glücklichste<br />

Fall in der Entwicklung einer Kunst ist der, daß mehrere Genies sich<br />

gegenseitig in Schranken halten; bei diesem Kampfe wird gewöhnlich<br />

den schwächeren und zarteren Naturen auch Luft und Licht gegönnt.<br />

159<br />

Die Kunst dem Künstler gefährlich. – Wenn die Kunst ein Individuum<br />

gewaltig ergreift, dann zieht es dasselbe zu Anschauungen solcher<br />

Zeiten zurück, wo die Kunst am kräftigsten blühte, sie wirkt dann zurückbildend.<br />

Der Künstler kommt immer mehr in eine Verehrung der<br />

plötzlichen Erregungen, glaubt an Götter und Dämonen, durchseelt<br />

die Natur, haßt die Wissenschaft, wird wechselnd in seinen Stimmungen<br />

wie die Menschen des Altertums und begehrt einen Umsturz<br />

aller Verhältnisse, welche der Kunst nicht günstig sind, und zwar dies<br />

mit der Heftigkeit und Unbilligkeit eines Kindes. An sich ist nun der<br />

Künstler schon ein zurückbleibendes Wesen, weil er beim Spiel stehen<br />

bleibt, welches zur Jugend und Kindheit gehört: dazu kommt<br />

noch, daß er allmählich in andere Zeiten zurückgebildet wird. So entsteht<br />

zuletzt ein heftiger Antagonismus zwischen ihm und den gleichaltrigen<br />

Menschen seiner Periode und ein trübes Ende; so wie,<br />

/552/<br />

nach den Erzählungen der Alten, Homer und Äschylus in Melancholie<br />

zuletzt lebten und star ben.<br />

160<br />

Geschaffene Menschen. – Wenn man sagt, der Dramatiker (und der<br />

Künstler überhaupt) schaffe wirklich Charaktere, so ist dies eine<br />

schöne Täuschung und Übertreibung, in deren Dasein und Verbreitung<br />

die Kunst einen ihrer ungewollten, gleichsam überschüssigen<br />

Triumphe feiert. In der Tat verstehen wir von einen wirklichen lebendigen<br />

Menschen nicht viel und generalisieren sehr oberflächlich,<br />

wenn wir ihm diesen und jenen Charakter zuschreiben: dieser unserer<br />

sehr unvollkommenen Stellung zum Menschen entspricht nun der<br />

Dichter, indem er ebenso oberflächliche Entwürfe zu Menschen<br />

macht (in diesem Sinne »schafft«), als unsere Erkenntnis der Menschen<br />

oberflächlich ist. Es ist viel Blendwerk bei diesen geschaffenen<br />

Charakteren der Künstler; es sind durchaus keine leibhaftigen Natur-<br />

113


produkte, sondern ähnlich wie die gemalten Menschen ein wenig allzu<br />

dünn, sie vertragen den Anblick aus der Nähe nicht. Gar wenn<br />

man sagt, der Charakter des gewöhnlichen lebendigen Menschen<br />

widerspreche sich häufig, der vom Dramatiker geschaffene sei das<br />

Urbild, welches der Natur vorgeschwebt habe, so ist dies ganz falsch.<br />

Ein wirklicher Mensch ist etwas ganz und gar Notwendiges (selbst in<br />

jenen sogenannten Widersprüchen), aber wir erkennen diese Notwendigkeit<br />

nicht immer. Der erdichtete Mensch, das Phantasma, will<br />

etwas Notwendiges bedeuten, doch nur vor solchen, welche auch<br />

einen wirklichen Menschen nur in einer rohen, unnatürlichen Simplifikation<br />

verstehen: so daß ein paar starke, oft wiederholte Züge, mit<br />

sehr viel Licht darauf und sehr viel Schatten und Halbdunkel herum,<br />

ihren Ansprüchen vollständig genügen. Sie sind also leicht bereit, das<br />

Phantasma als wirklichen, notwendigen Menschen zu behandeln,<br />

weil sie gewöhnt sind, beim wirklichen Menschen ein Phantasma,<br />

einen Schattenriß, eine willkürliche Abbreviatur für das Ganze zu<br />

nehmen. – Daß gar der Maler und der Bildhauer die »Idee« des Menschen<br />

ausdrücke, ist eitel Phantasterei und Sinnentrug: man wird<br />

vom Auge tyrannisiert, wenn man so etwas sagt, da dieses vom<br />

menschlichen Leibe selbst nur die Oberfläche, die Haut sieht; der<br />

innere Leib gehört aber ebensosehr zur Idee. Die bildende Kunst will<br />

/553/<br />

Charaktere auf der Haut sichtbar werden lassen; die redende Kunst<br />

nimmt das Wort zu demselben Zwecke, sie bildet den Charakter im<br />

Laute ab. Die Kunst geht von der natürlichen Unwissenheit des Menschen<br />

über sein Inneres (in Leib und Charakter) aus: sie ist nicht für<br />

Physiker und Philosophen da.<br />

161<br />

Selbstüberschätzung im Glauben an Künstler und Philosophen. – Wir<br />

alle meinen, es sei die Güte eines Kunstwerks, eines Künstlers bewiesen,<br />

wenn er uns ergreift, erschüttert. Aber da müßte doch erst<br />

unsere eigene Güte in Urteil und Empfindung bewiesen sein: was<br />

nicht der Fall ist. Wer hat mehr im Reiche der bildenden Kunst ergriffen<br />

und entzückt als Bernini, wer mächtiger gewirkt als jener nachdemosthenische<br />

Rhetor, welcher den asianischen Stil einführte und<br />

durch zwei Jahrhunderte zur Herrschaft brachte? Diese Herrschaft<br />

über ganze Jahrhunderte beweist nichts für die Güte und dauernde<br />

Gültigkeit eines Stils; deshalb soll man nicht zu sicher in seinem guten<br />

Glauben an irgendeinen Künstler sein: ein solcher ist ja nicht nur<br />

der Glaube an die Wahrhaftigkeit unserer Empfindung, sondern auch<br />

an die Unfehlbarkeit unseres Urteils, während Urteil oder Empfindung<br />

oder beides selber zu grob oder zu fein geartet, überspannt oder roh<br />

sein können. Auch die Segnungen und Beseligungen einer Philosophie,<br />

einer Religion beweisen für ihre Wahrheit nichts: ebensowenig<br />

als das Glück, welches der Irrsinnige von seiner fixen Idee her genießt,<br />

etwas für die Vernünftigkeit dieser Idee be weist.<br />

114


162<br />

Kultus des Genius aus Eitelkeit. – Weil wir gut von uns denken, aber<br />

doch durchaus nicht von uns erwarten, daß wir je den Entwurf eines<br />

Raffaelischen Gemäldes oder eine solche Szene wie die eines Shakespeareschen<br />

Dramas machen könnten, reden wir uns ein, das<br />

Vermögen dazu sei ganz übermäßig wunderbar, ein ganz seltner<br />

Zufall, oder, wenn wir noch religiös empfinden, eine Begnadigung von<br />

oben. So fördert unsere Eitelkeit, unsere Selbstliebe den Kultus des<br />

Genius: denn nur wenn dieser ganz fern von uns gedacht ist, als ein<br />

miraculum, verletzt er nicht (selbst Goethe, der Neidlose, nannte<br />

Shakespeare seinen<br />

/554/<br />

Stern der fernsten Höhe; wobei man sich jenes Verses erinnern mag:<br />

»die Sterne, die begehrt man nicht«). Aber von jenen Einflüsterungen<br />

unserer Eitelkeit abgesehen, so erscheint die Tätigkeit des Genies<br />

durchaus nicht als etwas Grundverschiedenes von der Tätigkeit des<br />

mechanischen Erfinders, des astronomischen oder historischen Gelehrten,<br />

des Meisters der Taktik. Alle diese Tätigkeiten erklären sich,<br />

wenn man sich Menschen vergegenwärtigt, deren Denken in einer<br />

Richtung tätig ist, die alles als Stoff benützen, die immer ihrem inneren<br />

Leben und dem anderer mit Eifer zusehen, die überall Vorbilder,<br />

Anreizungen erblicken, die in der Kombination ihrer Mittel nicht müde<br />

werden. Das Genie tut auch nichts, als daß es erst Steine setzen,<br />

dann bauen lernt, daß es immer nach Stoff sucht und immer an ihm<br />

herumformt. Jede Tätigkeit des Menschen ist zum Verwundern kompliziert,<br />

nicht nur die des Genies; aber keine ist ein »Wunder«. – Woher<br />

nun der Glaube, daß es allein beim Künstler, Redner und Philosophen<br />

Genie gebe? daß nur sie »Intuition« haben? (womit man ihnen<br />

eine Art von Wunder-Augenglas zuschreibt, mit dem sie direkt<br />

ins »Wesen« sehen!) Die Menschen sprechen ersichtlich dort allein<br />

von Genius, wo ihnen die Wirkungen des großen Intellekts am angenehmsten<br />

sind und sie wiederum nicht Neid empfinden wollen. Jemanden<br />

»göttlich« nennen heißt: »hier brauchen wir nicht zu wetteifern«.<br />

Sodann: alles Fertige, Vollkommene wird angestaunt, alles<br />

Werdende unterschätzt. Nun kann niemand beim Werk des Künstlers<br />

zusehen, wie es geworden ist; das ist sein Vorteil, denn überall, wo<br />

man das Werden sehen kann, wird man etwas abgekühlt. Die vollendete<br />

Kunst der Darstellung weist alles Denken an das Werden ab; es<br />

tyrannisiert als gegenwärtige Vollkommenheit. Deshalb gelten die<br />

Künstler der Darstellung vornehmlich als genial, nicht aber die wissenschaftlichen<br />

Menschen. In Wahr heit ist jene Schätzung und diese<br />

Unterschätzung nur eine Kinderei der Vernunft.<br />

163<br />

Der Ernst des Handwerks. – Redet nur nicht von Begabung, angeborenen<br />

Talenten! Es sind große Männer aller Art zu nennen, welche<br />

wenig begabt waren. Aber sie bekamen Größe, wurden »Genies«<br />

115


(wie man sagt), durch Eigenschaften, von deren Mangel niemand<br />

gern redet,<br />

/555/<br />

der sich ihrer bewußt ist: sie hatten alle jenen tüchtigen Handwerker-<br />

Ernst, welcher erst lernt, die Teile vollkommen zu bilden, bis er es<br />

wagt, ein großes Ganzes zu machen; sie gaben sich Zeit dazu, weil<br />

sie mehr Lust am Gutmachen des Kleinen, Nebensächlichen hatten<br />

als an dem Effekte eines blendenden Ganzen. Das Rezept zum Beispiel,<br />

wie einer ein guter Novellist werden kann, ist leicht zu geben,<br />

aber die Ausführung setzt Eigenschaften voraus, über die man hinwegzusehen<br />

pflegt, wenn man sagt »ich habe nicht genug Talent«.<br />

Man mache nur hundert und mehr Entwürfe zu Novellen, keinen länger<br />

als zwei Seiten, doch von solcher Deutlichkeit, daß jedes Wort<br />

darin notwendig ist; man schreibe täglich Anekdoten nieder, bis man<br />

es lernt, ihre prägnanteste, wirkungsvollste Form zu finden; man sei<br />

unermüdlich im Sammeln und Ausmalen menschlicher Typen und<br />

Charaktere; man erzähle vor allem so oft es möglich ist und höre erzählen,<br />

mit scharfem Auge und Ohr für die Wirkung auf die anderen<br />

Anwesenden, man reise wie ein Landschaftsmaler und Kostümzeichner;<br />

man exzerpiere sich aus einzelnen Wissenschaften alles das,<br />

was künstlerische Wirkungen macht, wenn es gut dargestellt wird,<br />

man denke endlich über die Motive der menschlichen Handlungen<br />

nach, verschmähe keinen Fingerzeig der Belehrung hierüber und sei<br />

ein Sammler von dergleichen Dingen bei Tag und Nacht. In dieser<br />

mannigfachen Übung lasse man einige zehn Jahre vorübergehen:<br />

was dann aber in der Werkstätte geschaffen wird, darf auch hinaus in<br />

das Licht der Straße. – Wie machen es aber die meisten? Sie fangen<br />

nicht mit dem Teile, sondern mit dem Ganzen an. Sie tun vielleicht<br />

einmal einen guten Griff, erregen Aufmerksamkeit und tun von da an<br />

immer schlechtere Griffe, aus guten, natürlichen Gründen. – Mitunter,<br />

wenn Vernunft und Charakter fehlen, um einen solchen künstlerischen<br />

Lebensplan zu gestalten, übernimmt das Schicksal und die Not<br />

die Stelle derselben und führt den zukünftigen Meister schrittweise<br />

durch alle Bedingungen seines Handwerks.<br />

164<br />

Gefahr und Gewinn im Kultus des Genius. – Der Glaube an große,<br />

überlegene, fruchtbare Geister ist nicht notwendig, aber sehr häufig<br />

noch mit jenem ganzoder halbreligiösen Aberglauben verbunden,<br />

/556/<br />

daß jene Geister übermenschlichen Ursprungs seien und gewisse<br />

wunderbare Vermögen besäßen, vermittelst deren sie ihrer Erkenntnisse<br />

auf ganz anderem Wege teilhaftig würden als die übrigen Menschen.<br />

Man schreibt ihnen wohl einen unmittelbaren Blick in das Wesen<br />

der Welt, gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung,<br />

zu und glaubt, daß sie ohne die Mühsal und Strenge der Wissen-<br />

116


schaft, vermöge dieses wunderbaren Seherblickes, etwas Endgültiges<br />

und Entscheidendes über Mensch und Welt mitteilen könnten. So<br />

lange das Wunder im Bereiche der Erkenntnis noch Gläubige findet,<br />

kann man vielleicht zugeben, daß dabei für die Gläubigen selber ein<br />

Nutzen herauskomme, insofern diese durch ihre unbedingte Unterordnung<br />

unter die großen Geister, ihrem eigenen Geiste für die Zeit<br />

der Entwicklung die beste Disziplin und Schule verschaffen. Dagegen<br />

ist mindestens fraglich, ob der Aberglaube vom Genie, von seinen<br />

Vorrechten und Sondervermögen für das Genie selber von Nutzen<br />

sei, wenn er in ihm sich einwurzelt. Es ist jedenfalls ein gefährliches<br />

Anzeichen, wenn den Menschen jener Schauder vor sich selbst überfällt,<br />

sei es nun jener berühmte Cäsaren-Schauder oder der hier in<br />

Betracht kommende Genie-Schauder; wenn der Opferduft, welchen<br />

man billigerweise allein einem Gotte bringt, dem Genie ins Gehirn<br />

dringt, so daß er zu schwanken und sich für etwas Übermenschliches<br />

zu halten beginnt. Die langsamen Folgen sind: das Gefühl der Unverantwortlichkeit,<br />

der exzeptionellen Rechte, der Glaube, schon<br />

durch seinen Umgang zu begnadigen, wahnsinnige Wut bei dem<br />

Versuche, ihn mit anderen zu vergleichen oder gar ihn niedriger zu<br />

taxieren und das Verfehlte seines Werkes ins Licht zu setzen. Dadurch,<br />

daß er aufhört, Kritik gegen sich selbst zu üben, fällt zuletzt<br />

aus seinem Gefieder eine der Schwungfedern nach der anderen aus:<br />

jener Aberglaube gräbt die Wurzeln seiner Kraft an und macht ihn<br />

vielleicht gar zum Heuchler, nachdem seine Kraft von ihm gewichen<br />

ist. Für große Geister selbst ist es also wahrscheinlich nützlicher,<br />

wenn sie über ihre Kraft und deren Herkunft zur Einsicht kommen,<br />

wenn sie also begreifen, welche rein menschlichen Eigenschaften in<br />

ihnen zusammengeflossen sind, welche Glücksumstände hinzutraten:<br />

also einmal anhaltende Energie, entschlossene Hinwendung zu<br />

einzelnen Zielen, großer persönlicher Mut, sodann das Glück einer<br />

Erziehung, welche die besten Lehrer, Vorbilder, Methoden frühzeitig<br />

darbot. Freilich,<br />

/557/<br />

wenn ihr Ziel ist, die größtmögliche Wirkung zu machen, so hat die<br />

Unklarheit über sich selbst und jene Beigabe eines halben Wahnsinns<br />

immer viel getan; denn bewundert und beneidet hat man zu<br />

allen Zeiten gerade jene Kraft an ihnen, vermöge deren sie die Menschen<br />

willenlos machen und zum Wahne fortreißen, daß übernatürliche<br />

Führer vor ihnen her gingen. Ja, es erhebt und begeistert die<br />

Menschen, jemanden im Besitz übernatürlicher Kräfte zu glauben:<br />

insofern hat der Wahnsinn, wie Plato sagt, die größten Segnungen<br />

über die Menschen gebracht. – In einzelnen seltenen Fällen mag<br />

dieses Stück Wahnsinn wohl auch das Mittel gewesen sein, durch<br />

welches eine solche nach allen Seiten hin exzessive Natur fest zusammengehalten<br />

wurde: auch im Leben der Individuen haben die<br />

Wahnvorstellungen häufig den Wert von Heilmitteln, welche an sich<br />

Gifte sind; doch zeigt sich endlich, bei jedem »Genie«, das an seine<br />

Göttlichkeit glaubt, das Gift in dem Grade, als das »Genie« alt wird:<br />

man möge sich zum Beispiel Napoleons erinnern, dessen Wesen<br />

sicherlich gerade durch seinen Glauben an sich und seinen Stern und<br />

117


durch die aus ihm fließende Verachtung der Menschen zu der mächtigen<br />

Einheit zusammenwuchs, welche ihn aus allen modernen Menschen<br />

heraushebt, bis endlich aber dieser selbe Glaube in einen fast<br />

wahnsinnigen Fatalismus über ging, ihn seines Schnell- und Scharfblicks<br />

beraubte und die Ursache seines Unterganges wurde.<br />

165<br />

Das Genie und das Nichtige. – Gerade die originellen, aus sich<br />

schöpfenden Köpfe unter den Künstlern können unter Umständen<br />

das ganz Leere und Schale hervorbringen, während die abhängigeren<br />

Naturen, die sogenannten Talente, voller Erinnerungen an alles<br />

mögliche Gute stecken und auch im Zustand der Schwäche etwas<br />

Leidliches produzieren. Sind die Originellen aber von sich selber verlassen,<br />

so gibt die Erinnerung ihnen keine Hilfe: sie werden leer.<br />

166<br />

Das Publikum. – Von der Tragödie begehrt das Volk eigentlich nicht<br />

mehr, als recht gerührt zu werden, um sich einmal ausweinen zu<br />

können;<br />

/558/<br />

der Artist dagegen, der die neue Tragödie sieht, hat seine Freude an<br />

den geistreichen technischen Erfindungen und Kunstgriffen, an der<br />

Handhabung und Verteilung des Stoffes, an der neuen Wendung<br />

alter Motive, alter Gedanken. – Seine Stellung ist die ästhetische<br />

Stellung zum Kunstwerk, die des Schaffenden; die erstbeschriebene,<br />

mit alleiniger Rücksicht auf den Stoff, die des Volkes. Von dem Menschen<br />

dazwischen ist nicht zu reden, er ist weder Volk noch Artist<br />

und weiß nicht, was er will: so ist auch seine Freude unklar und gering.<br />

167<br />

Artistische Erziehung des Publikums. – Wenn dasselbe Motiv nicht<br />

hundertfältig durch verschiedene Meister behandelt wird, lernt das<br />

Publikum nicht über das Interesse des Stoffes hinauskommen; aber<br />

zuletzt wird es selbst die Nuancen, die zarten, neuen Erfindungen in<br />

der Behandlung dieses Motivs fassen und genießen, wenn es also<br />

das Motiv längst aus zahlreichen Bearbeitungen kennt und dabei<br />

keinen Reiz der Neuheit, der Spannung mehr empfindet.<br />

168<br />

Künstler und sein Gefolge müssen Schritt halten. – Der Fortgang von<br />

einer Stufe des Stils zur andern muß so langsam sein, daß nicht nur<br />

die Künstler, sondern auch die Zuhörer und Zuschauer diesen Fortgang<br />

mitmachen und genau wissen, was vorgeht. Sonst entsteht auf<br />

einmal jene große Kluft zwischen dem Künstler, der auf abgelegener<br />

118


Höhe seine Werke schafft, und dem Publikum, welches nicht mehr zu<br />

jener Höhe hinaufkann und endlich mißmutig wieder tiefer hinabsteigt.<br />

Denn wenn der Künstler sein Publikum nicht mehr hebt, so<br />

sinkt es schnell abwärts, und zwar stürzt es um so tiefer und gefährlicher,<br />

je höher es ein Genius getragen hat, dem Adler vergleichbar,<br />

aus dessen Fängen die in die Wolken hinaufgetragene Schildkröte zu<br />

ihrem Unheil hinabfällt.<br />

169<br />

Herkunft des Komischen. – Wenn man erwägt, daß der Mensch<br />

manche hunderttausend Jahre lang ein im höchsten Grade der<br />

Furcht zugängliches<br />

/559/<br />

Tier war, und daß alles Plötzliche, Unerwartete ihn kampfbereit, vielleicht<br />

todesbereit sein hieß, ja daß selbst später, in sozialen Verhältnissen,<br />

alle Sicherheit auf dem Erwarteten, auf dem Herkommen in<br />

Meinung und Tätigkeit beruhte, so darf man sich nicht wundern, daß<br />

bei allem Plötzlichen, Unerwarteten, in Wort und Tat, wenn es ohne<br />

Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen wird, ins<br />

Gegenteil der Furcht übergeht: das vor Angst zitternde zusammengekrümmte<br />

Wesen schnellt empor, entfaltet sich weit – der Mensch<br />

lacht. Diesen Übergang aus momentaner Angst in kurzdauernden<br />

Übermut nennt man das Komische. Dagegen geht im Phänomen des<br />

Tragischen der Mensch schnell aus großem, dauerndem Übermut in<br />

große Angst über; da aber unter Sterblichen der große dauernde<br />

Übermut viel seltener als der Anlaß zur Angst ist, so gibt es viel mehr<br />

des Komischen als des Tragischen in der Welt; man lacht viel öfter,<br />

als daß man erschüttert ist.<br />

170<br />

Künstler-Ehrgeiz. – Die griechischen Künstler, zum Beispiel die Tragiker,<br />

dichteten, um zu siegen; ihre ganze Kunst ist nicht ohne Wettkampf<br />

zu denken: die hesiodische gute Eris, der Ehrgeiz, gab ihrem<br />

Genius die Flügel. Nun verlangte dieser Ehrgeiz vor allem, daß ihr<br />

Werk die höchste Vortrefflichkeit vor ihren eigenen Augen erhalte, so<br />

wie sie also die Vortrefflichkeit verstanden, ohne Rücksicht auf einen<br />

herrschenden Geschmack und die allgemeine Meinung über das Vortreffliche<br />

an einem Kunstwerk; und so blieben Äschylus und Euripides<br />

lange Zeit ohne Erfolg, bis sie sich endlich Kunstrichter erzogen hatten,<br />

welche ihr Werk nach den Maßstäben würdigten, welche sie selber<br />

anlegten. Somit erstreben sie den Sieg über Nebenbuhler nach<br />

ihrer eigenen Schätzung, vor ihrem eigenen Richterstuhl, sie wollen<br />

wirklich vortrefflicher sein; dann fordern sie von außen her Zustimmung<br />

zu dieser eignen Schätzung, Bestätigung ihres Urteils. Ehre<br />

erstreben heißt hier »sich überlegen machen und wünschen, daß es<br />

auch öffentlich so erscheine«. Fehlt das erstere und wird das zweite<br />

119


trotzdem begehrt, so spricht man von Eitelkeit. Fehlt das letztere und<br />

wird es nicht vermißt, so redet man von Stolz.<br />

171<br />

Das Notwendige am Kunstwerk. – Die, welche so viel von dem Notwendigen<br />

an einem Kunstwerke reden, übertreiben, wenn sie Künstler<br />

sind, in majorem artis gloriam, oder wenn sie Laien sind, aus Unkenntnis.<br />

Die Formen eines Kunstwerks, welche seine Gedanken<br />

zum Reden bringen, also seine Art zu sprechen sind, haben immer<br />

etwas Läßliches, wie alle Art Sprache. Der Bildhauer kann viele kleine<br />

Züge hinzutun oder weglassen: ebenso der Darsteller, sei es ein<br />

Schauspieler oder, in betreff der Musik, ein Virtuos oder Dirigent.<br />

Diese vielen kleinen Züge und Ausfeilungen machen ihm heut Vergnügen,<br />

morgen nicht, sie sind mehr des Künstlers als der Kunst wegen<br />

da, denn auch er bedarf, bei der Strenge und Selbstbezwingung,<br />

welche die Darstellung des Hauptgedankens von ihm fordert, gelegentlich<br />

des Zuckerbrots und der Spielsachen, um nicht mürrisch zu<br />

werden.<br />

172<br />

Den Meister vergessen machen. – Der Klavierspieler, der das Werk<br />

eines Meisters zum Vortrag bringt, wird am besten gespielt haben,<br />

wenn er den Meister vergessen ließ und wenn es so erschien, als ob<br />

er eine Geschichte seines Lebens erzähle oder jetzt eben etwas erlebe.<br />

Freilich: wenn er nichts Bedeutendes ist, wird jedermann seine<br />

Geschwätzigkeit verwünschen, mit der er uns aus seinem Leben erzählt.<br />

Also muß er verstehen, die Phantasie des Hörers für sich einzunehmen.<br />

Daraus wiederum erklären sich alle Schwächen und<br />

Narrheiten des »Virtuosentums«.<br />

173<br />

Corriger la fortune. – Es gibt schlimme Zufälligkeiten im Leben großer<br />

Künstler, welche zum Beispiel den Maler zwingen, sein bedeutendstes<br />

Bild nur als flüchtigen Gedanken zu skizzieren oder zum Beispiel<br />

Beethoven zwangen, uns in manchen großen Sonaten (wie in der<br />

großen B-dur) nur den ungenügenden Klavierauszug einer Sinfonie<br />

zu hinterlassen. Hier soll der späterkommende Künstler das Leben<br />

der Großen nachträglich zu korrigieren suchen: was zum Beispiel<br />

der tun<br />

/561/<br />

würde, welcher, als ein Meister aller Orchesterwirkungen, uns jene,<br />

dem Klavier-Scheintode verfallene Sinfonie zum Leben erweckte.<br />

174<br />

120


Verkleinern. – Manche Dinge, Ereignisse oder Personen, vertragen<br />

es nicht, im kleinen Maßstabe behandelt zu werden. Man kann die<br />

Laokoon-Gruppe nicht zu einer Nippesfigur verkleinern; sie hat Größe<br />

notwendig. Aber viel seltener ist es, daß etwas von Natur Kleines die<br />

Vergrößerung verträgt; weshalb es Biographen immer noch eher gelingen<br />

wird, einen großen Mann klein darzustellen, als einen kleinen<br />

groß.<br />

175<br />

Sinnlichkeit in der Kunst der Gegenwart. – Die Künstler verrechnen<br />

sich jetzt häufig, wenn sie auf eine sinnliche Wirkung ihrer Kunstwerke<br />

hinarbeiten; denn ihre Zuschauer oder Zuhörer haben nicht mehr<br />

ihre vollen Sinne und geraten, ganz wider die Absicht des Künstlers,<br />

durch sein Kunstwerk in eine »Heiligkeit« der Empfindung, welche<br />

der Langweiligkeit nahe verwandt ist. – Ihre Sinnlichkeit fängt vielleicht<br />

dort an, wo die des Künstlers gerade aufhört, sie begegnen<br />

sich also höchstens an einem Punkte.<br />

176<br />

Shakespeare als Moralist. – Shakespeare hat über die Leidenschaften<br />

viel nachgedacht und wohl von seinem Temperamente her zu<br />

vielen einen sehr nahen Zugang gehabt (Dramatiker sind im allgemeinen<br />

ziemlich böse Menschen). Aber er vermochte nicht, wie Montaigne,<br />

darüber zu reden, sondern legte die Beobachtungen über die<br />

Passionen den passionierten Figuren in den Mund: was zwar wider<br />

die Natur ist, aber seine Dramen so gedankenvoll macht, daß sie alle<br />

anderen leer erscheinen lassen und leicht einen allgemeinen Widerwillen<br />

gegen sie erwecken. – Die Sentenzen Schillers (welchen fast<br />

immer falsche oder unbedeutende Einfälle zugrunde liegen) sind<br />

eben Theatersentenzen und wirken als solche sehr stark: während<br />

die Sentenzen Shakespeares seinem Vorbilde Montaigne Ehre machen<br />

und ganz ernsthafte Gedanken<br />

/562/<br />

in geschliffener Form enthalten, deshalb aber für die Augen des<br />

Theaterpublikums zu fern und zu fein, also unwirksam sind.<br />

121


Friedrich Nietzsche: Aus dem Nachlaß der 80er Jahre<br />

In: Werke in drei Bänden, Bd.III, München: <strong>Hans</strong>er 1954, S.715-717<br />

/715/<br />

Es sind die Ausnahme-Zustände, die den Künstler bedingen: alle, die<br />

mit krankhaften Erscheinungen tief verwandt und verwachsen sind:<br />

so daß es nicht möglich scheint, Künstler zu sein und nicht krank zu<br />

sein.<br />

Die physiologischen Zustände, welche im Künstler gleichsam zur<br />

»Person« gezüchtet sind und die an sich in irgendwelchem Grade<br />

dem Menschen überhaupt anhaften:<br />

/716/<br />

1. der Rausch: das erhöhte Machtgefühl; die innere Nötigung, aus<br />

den Dingen einen Reflex der eignen Fülle und Vollkommenheit zu<br />

machen;<br />

2. die extreme Schärfe gewisser Sinne: so daß sie eine ganz andre<br />

Zeichensprache verstehn – und schaffen, – dieselbe, die mit manchen<br />

Nervenkrankheiten verbunden erscheint –; die extreme Beweglichkeit,<br />

aus der eine extreme Mitteilsamkeit wird; das Redenwollen<br />

alles dessen, was Zeichen zu geben weiß –; ein Bedürfnis, sich<br />

gleichsam loszuwerden durch Zeichen und Gebärden; Fähigkeit, von<br />

sich durch hundert Sprachmittel zu reden – ein explosiver Zustand.<br />

Man muß sich diesen Zustand zunächst als Zwang und Drang denken,<br />

durch alle Art Muskelarbeit und Beweglichkeit die Exuberanz der<br />

inneren Spannung loszuwerden: sodann als unfreiwillige Koordination<br />

dieser Bewegung zu den inneren Vorgängen (Bildern, Gedanken,<br />

Begierden), – als eine Art Automatismus des ganzen Muskelsystems<br />

unter dem Impuls von innen wirkender starker Reize –; Unfähigkeit,<br />

die Reaktion zu verhindern; der Hemmungsapparat gleichsam ausgehängt.<br />

Jede innere Bewegung (Gefühl, Gedanke, Affekt) ist begleitet<br />

von Vaskular-Veränderungen und folglich von Veränderungen der<br />

Farbe, der Temperatur, der Sekretion. Die suggestive Kraft der Musik,<br />

ihre »suggestion mentale«; –<br />

3. das Nachmachen-müssen: eine extreme Irritabilität, bei der sich<br />

ein gegebenes Vorbild kontagiös mitteilt – ein Zustand wird nach Zeichen<br />

schon erraten und dargestellt... Ein Bild, innerlich auftauchend,<br />

wirkt schon als Bewegung der Glieder –, eine gewisse Willens-<br />

Aushängung ... (Schopenhauer!!!!) Eine Art Taubsein, Blindsein nach<br />

außen hin – das Reich der zugelassenen Reize ist scharf umgrenzt.<br />

Dies unterscheidet den Künstler vom Laien (dem künstlerisch Empfänglichen):<br />

letzterer hat im Aufnehmen seinen Höhepunkt von Reizbarkeit;<br />

ersterer im Geben, – dergestalt, daß ein Antagonismus die-<br />

122


ser beiden Begabungen nicht nur natürlich, sondern wünschenswert<br />

ist. Jeder dieser Zustände hat eine umgekehrte Optik – vom Künstler<br />

verlangen daß er sich die Optik des Zuhörers (Kritikers) einübe, heißt<br />

verlangen, daß er sich und seine schöpferische Kraft verarme... Es ist<br />

hier wie bei der Differenz der Geschlechter: man soll vom Künstler,<br />

der gibt, nicht verlangen, daß er Weib wird – daß er »empfängt«.<br />

/717/<br />

Unsre Ästhetik war insofern bisher eine Weibs-Ästhetik, als nur die<br />

Empfänglichen für Kunst ihre Erfahrungen »was ist schön«? formuliert<br />

haben. In der ganzen Philosophie bis heute fehlt der Künstler...<br />

Das ist, wie das Vorhergehende andeutete, ein notwendiger Fehler:<br />

denn der Künstler, der anfinge, sich zu begreifen, würde sich damit<br />

vergreifen, – er hat nicht zurückzusehen, er hat überhaupt nicht zu<br />

sehen, er hat zu geben. – Es ehrt einen Künstler, der Kritik unfähig zu<br />

sein – andernfalls ist er halb und halb, ist er »modern«. [811] Unsre<br />

Religion, Moral und Philosophie sind décadence-Formen des Menschen.<br />

– Die Gegenbewegung: die Kunst.<br />

123


Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren<br />

In: Studienausgabe Bd.X, Frankfurt/M.: Fischer 1969, S.171-179<br />

/171/<br />

Uns Laien hat es immer mächtig gereizt zu wissen, woher diese<br />

merkwürdige Persönlichkeit, der Dichter, seine Stoffe nimmt — etwa<br />

im Sinne der Frage, die jener Kardinal an den Ariosto richtete 37, —<br />

und wie er es zustande bringt, uns mit ihnen so zu ergreifen, Erregungen<br />

in uns her-vorzurufen, deren wir uns vielleicht nicht einmal für<br />

fähig gehalten hätten. Unser Interesse hiefür wird nur gesteigert<br />

durch den Umstand, daß der Dichter selbst, wenn wir ihn befragen,<br />

uns keine oder keine befriedigende Auskunft gibt, und wird gar nicht<br />

gestört durch unser Wissen, daß die beste Einsicht in die Bedingungen<br />

der dichterischen Stoffwahl und in das Wesen der poetischen<br />

Gestaltungskunst nichts dazu beitragen würde, uns selbst zu Dichtern<br />

zu machen.<br />

Wenn wir wenigstens bei uns oder bei unsersgleichen eine dem Dichten<br />

irgendwie verwandte Tätigkeit auffinden könnten! Die Untersuchung<br />

derselben ließe uns hoffen, eine erste Aufklärung über das<br />

Schaffen des Dichters zu gewinnen. Und wirklich, dafür ist Aussicht<br />

vorhanden — die Dichter selbst lieben es ja, den Abstand zwischen<br />

ihrer Eigenart und allgemein menschlichem Wesen zu verringern; sie<br />

versichern uns so häufig, daß in jedem Menschen ein Dichter stecke<br />

und daß der letzte Dichter erst mit dem letzten Menschen sterben<br />

werde.<br />

Sollten wir die ersten Spuren dichterischer Betätigung nicht schon<br />

beim Kinde suchen? Die liebste und intensivste Beschäftigung des<br />

Kindes ist das Spiel. Vielleicht dürfen wir sagen: Jedes spielende<br />

Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt<br />

erschafft oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue,<br />

ihm gefällige Ordnung versetzt. Es wäre dann unrecht zu meinen, es<br />

nähme diese Welt nicht ernst; im Gegenteil, es nimmt sein Spiel sehr<br />

ernst, es verwendet große Affektbeträge darauf. Der Gegensatz zu<br />

Spiel ist nicht Ernst, sondern — Wirklichkeit. Das Kind unterscheidet<br />

seine Spielwelt sehr wohl, trotz aller Affektbesetzung, von der Wirklichkeit<br />

und lehnt seine imaginierten Objekte und Verhältnisse gerne<br />

an greifbare und sichtbare Dinge der<br />

/172/<br />

37 [Kardinal Ippolito d'Este war Ariosts erster Gönner; ihm hatte der Dichter<br />

seinen Orlando Furioso gewidmet, bekam aber als einzige Anerkennung<br />

nur die Frage zu hören: »Woher nimmst du bloß die vielen Geschichten,<br />

Lodovico?»]<br />

124


wirklichen Welt an. Nichts anderes als diese Anlehnung unterscheidet<br />

das »Spielen« des Kindes noch vom »Phantasieren «.<br />

Der Dichter tut nun dasselbe wie das spielende Kind; er erschafft<br />

eine Phantasiewelt, die er sehr ernst nimmt, d. h. mit großen Affektbeträgen<br />

ausstattet, während er sie von der Wirklichkeit scharf sondert.<br />

Und die Sprache hat diese Verwandtschaft von Kinderspiel und<br />

poetischem Schaffen festgehalten, indem sie solche Veranstaltungen<br />

des Dichters, welche der Anlehnung an greifbare Objekte bedürfen,<br />

welche der Darstellung fähig sind, als Spiele: Lustspiel, Trauerspiel,<br />

und die Person, welche sie darstellt, als Schauspieler bezeichnet.<br />

Aus der Unwirklichkeit der dichterischen Welt ergeben sich aber sehr<br />

wichtige Folgen für die künstlerische Technik, denn vieles, was als<br />

real nicht Genuß bereiten könnte, kann dies doch im Spiele der<br />

Phantasie, viele an sich eigentlich peinliche Erregungen können für<br />

den Hörer und Zuschauer des Dichters zur Quelle der Lust werden.<br />

Verweilen wir einer anderen Beziehung wegen noch einen Augenblick<br />

bei dem Gegensatze von Wirklichkeit und Spiel! Wenn das Kind<br />

herangewachsen ist und aufgehört hat zu spielen, wenn es sich<br />

durch Jahrzehnte seelisch bemüht hat, die Wirklichkeiten des Lebens<br />

mit dem erforderlichen Ernste zu erfassen, so kann es eines Tages in<br />

eine seelische Disposition geraten, welche den Gegensatz zwischen<br />

Spiel und Wirklichkeit wieder aufhebt. Der Erwachsene kann sich<br />

darauf besinnen, mit welchem hohen Ernst er einst seine Kinderspiele<br />

betrieb, und indem er nun seine vorgeblich ernsten Beschäftigungen<br />

jenen Kinderspielen gleichstellt, wirft er die allzu schwere Bedrückung<br />

durch das Leben ab und erringt sich den hohen Lustgewinn<br />

des Humors 38 .<br />

Der Heranwachsende hört also auf zu spielen, er verzichtet scheinbar<br />

auf den Lustgewinn, den er aus dem Spiele bezog. Aber wer das<br />

Seelenleben des Menschen kennt, der weiß, daß ihm kaum etwas<br />

anderes so schwer wird wie der Verzicht auf einmal gekannte Lust.<br />

Eigentlich können wir auf nichts verzichten, wir vertauschen nur eines<br />

mit dem andern; was ein Verzicht zu sein scheint, ist in Wirklichkeit<br />

eine Ersatz- oder Surrogatbildung. So gibt auch der Heranwachsende,<br />

wenn er aufhört zu spielen, nichts anderes auf als die Anlehnung<br />

an reale Objekte; anstatt zu spielen, phantasiert er jetzt. Er baut sich<br />

Luftschlösser, schafft das, was man Tagträume nennt. Ich glaube,<br />

daß die meisten Menschen zu Zeiten ihres Lebens Phantasien bilden.<br />

Es ist das eine Tatsache, die<br />

/173/<br />

man lange Zeit übersehen und deren Bedeutung man darum nicht<br />

genug gewürdigt hat.<br />

Das Phantasieren der Menschen ist weniger leicht zu beobachten als<br />

das Spielen der Kinder. Das Kind spielt zwar auch allein oder es bildet<br />

38 [S. Abschnitt 7, Kapitel VII, in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten<br />

(Freud, 1905 c, Studienausgabe, Bd. 4, 5.212—19).]<br />

125


mit anderen Kindern ein geschlossenes psychisches System zum<br />

Zwecke des Spieles, aber wenn es auch den Erwachsenen nichts<br />

vorspielt, so verbirgt es doch sein Spielen nicht vor ihnen. Der Erwachsene<br />

aber schämt sich seiner Phantasien und versteckt sie vor anderen,<br />

er hegt sie als seine eigensten Intimitäten, er würde in der Regel<br />

lieber seine Vergehungen eingestehen als seine Phantasien mitteilen.<br />

Es mag vorkommen, daß er sich darum für den einzigen hält, der solche<br />

Phantasien bildet, und von der allgemeinen Verbreitung ganz ähnlicher<br />

Schöpfungen bei anderen nichts ahnt. Dies verschiedene Verhalten des<br />

Spielenden und des Phantasierenden findet seine gute Begründung in<br />

den Motiven der beiden einander doch fortsetzenden Tätigkeiten.<br />

Das Spielen des Kindes wurde von Wünschen dirigiert, eigentlich von<br />

dem einen Wunsche, der das Kind erziehen hilft, vom Wunsche: groß<br />

und erwachsen zu sein. Es spielt immer »groß sein«, imitiert im Spiele,<br />

was ihm vom Leben der Großen bekannt geworden ist. Es hat nun<br />

keinen Grund, diesen Wunsch zu verbergen. Anders der Erwachsene;<br />

dieser weiß einerseits, daß man von ihm erwartet, nicht mehr zu<br />

spielen oder zu phantasieren, sondern in der wirklichen Welt zu handeln,<br />

und anderseits sind unter den seine Phantasien erzeugenden Wünschen<br />

manche, die es überhaupt zu verbergen nottut; darum schämt er<br />

sich seines Phantasierens als kindisch und als unerlaubt.<br />

Sie werden fragen, woher man denn über das Phantasieren der Menschen<br />

so genau Bescheid wisse, wenn es von ihnen mit soviel Geheimtun<br />

verhüllt wird. Nun, es gibt eine Gattung von Menschen, denen zwar<br />

nicht ein Gott, aber eine strenge Göttin – die Notwendigkeit – den Auftrag<br />

erteilt hat zu sagen, was sie leiden und woran sie sich erfreuen. Es<br />

sind dies die Nervösen, die dem Arzte, von dem sie Herstellung durch<br />

psychische Behandlung erwarten, auch ihre Phantasien eingestehen<br />

müssen; aus dieser Quelle stammt unsere beste Kenntnis, und wir sind<br />

dann zu der wohl begründeten Vermutung gelangt, daß unsere Kranken<br />

uns nichts anderes mitteilen, als was wir auch von den Gesunden<br />

erfahren könnten.<br />

Gehen wir daran, einige der Charaktere des Phantasierens kennenzulernen.<br />

Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte.<br />

Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien,<br />

/174/<br />

und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur<br />

der unbefriedigenden Wirklichkeit. Die treibenden Wünsche sind verschieden<br />

je nach Geschlecht, Charakter und Lebensverhältnissen der<br />

phantasierenden Persönlichkeit; sie lassen sich aber ohne Zwang<br />

nach zwei Hauptrichtungen gruppieren. Es sind entweder ehrgeizige<br />

Wünsche, welche der Erhöhung der Persönlichkeit dienen, oder erotische.<br />

Beim jungen Weibe herrschen die erotischen Wünsche fast<br />

ausschließend, denn sein Ehrgeiz wird in der Regel vom Liebesstreben<br />

aufgezehrt; beim jungen Manne sind neben den erotischen die<br />

eigensüchtigen und ehrgeizigen Wünsche vordringlich genug. Doch<br />

wollen wir nicht den Gegensatz beider Richtungen, sondern vielmehr<br />

deren häufige Vereinigung betonen; wie in vielen Altarbildern in einer<br />

Ecke das Bildnis des Stifters sichtbar ist, so können wir an den mei-<br />

126


sten ehrgeizigen Phantasien in irgendeinem Winkel die Dame entdecken,<br />

für die der Phantast all diese Heldentaten vollführt, der er<br />

alle Erfolge zu Füßen legt. Sie sehen, hier liegen genug starke Motive<br />

zum Verbergen vor; dem wohlerzogenen Weibe wird ja überhaupt nur<br />

ein Minimum von erotischer Bedürftigkeit zugebilligt, und der junge<br />

Mann soll das Übermaß von Selbstgefühl, welches er aus der Verwöhnung<br />

der Kindheit mitbringt, zum Zwecke der Einordnung in die<br />

an ähnlich anspruchsvollen Individuen so reiche Gesellschaft unterdrücken<br />

lernen.<br />

Die Produkte dieser phantasierenden Tätigkeit, die einzelnen Phantasien,<br />

Luftschlösser oder Tagträume dürfen wir uns nicht als starr<br />

und unveränderlich vorstellen. Sie schmiegen sich vielmehr den wechselnden<br />

Lebenseindrücken an, verändern sich mit jeder Schwankung<br />

der Lebenslage, empfangen von jedem wirksamen neuen Eindrucke<br />

eine sogenannte »Zeitmarke«. Das Verhältnis der Phantasie zur Zeit<br />

ist überhaupt sehr bedeutsam. Man darf sagen: eine Phantasie<br />

schwebt gleichsam zwischen drei Zeiten, den drei Zeitmomenten unseres<br />

Vorstellen. Die seelische Arbeit knüpft an einen aktuellen Eindruck,<br />

einen Anlaß in der Gegenwart an, der imstande war, einen der<br />

großen Wünsche der Person zu wecken, greift von da aus auf die<br />

Erinnerung eines früheren, meist infantilen, Erlebnisses zurück, in<br />

dem jener Wunsch erfüllt war, und schafft nun eine auf die Zukunft<br />

bezogene Situation, welche sich als die Erfüllung jenes Wunsches<br />

darstellt, eben den Tagtraum oder die Phantasie, die nun die Spuren<br />

ihrer Herkunft vom Anlasse und von der Erinnerung an sich trägt.<br />

Also Vergangenes, Gegenwärtiges, Zukünftiges wie an der Schnur<br />

des durchlaufenden Wunsches aneinandergereiht.<br />

/175/<br />

Das banalste Beispiel mag Ihnen meine Aufstellung erläutern. Nehmen<br />

Sie den Fall eines armen und verwaisten Jünglings an, welchem<br />

Sie die Adresse eines Arbeitgebers genannt haben, bei dem er vielleicht<br />

eine Anstellung finden kann. Auf dem Wege dahin mag er sich<br />

in einem Tagtraum ergehen, wie er angemessen aus seiner Situation<br />

entspringt. Der Inhalt dieser Phantasie wird etwa sein, daß er dort<br />

angenommen wird, seinem neuen Chef gefällt, sich im Geschäfte unentbehrlich<br />

macht, in die Familie des Herrn gezogen wird, das reizende<br />

Töchterchen des Hauses heiratet und dann selbst als Mitbesitzer<br />

wie später als Nachfolger das Geschäft leitet. Und dabei hat sich der<br />

Träumer ersetzt, was er in der glücklichen Kindheit besessen: das<br />

schützende Haus, die liebenden Eltern und die ersten Objekte seiner<br />

zärtlichen Neigung. Sie sehen an solchem Beispiele, wie der Wunsch<br />

einen Anlaß der Gegenwart benützt, um sich nach dem Muster der<br />

Vergangenheit ein Zukunftsbild zu entwerfen.<br />

Es wäre noch vielerlei über die Phantasien zu sagen; ich will mich<br />

aber auf die knappsten Andeutungen beschränken. Das Überwuchern<br />

und Übermächtigwerden der Phantasien stellt die Bedingungen<br />

für den Verfall in Neurose oder Psychose her; die Phantasien sind<br />

auch die nächsten seelischen Vorstufen der Leidenssymptome, über<br />

127


welche unsere Kranken klagen. Hier zweigt ein breiter Seitenweg zur<br />

Pathologie ab.<br />

Nicht übergehen kann ich aber die Beziehung der Phantasien zum<br />

Traume. Auch unsere nächtlichen Träume sind nichts anderes als<br />

solche Phantasien, wie wir durch die Deutung der Träume evident<br />

machen können 39 . Die Sprache hat in ihrer unübertrefflichen Weisheit<br />

die Frage nach dem Wesen der Träume längst entschieden, indem sie<br />

die luftigen Schöpfungen Phantasierender auch »Tagträume« nennen<br />

ließ. Wenn trotz dieses Fingerzeiges der Sinn unserer Träume uns zumeist<br />

undeutlich bleibt, so rührt dies von dem einen Umstande her,<br />

daß nächtlicherweise auch solche Wünsche in uns rege werden, deren<br />

wir uns schämen und die wir vor uns selbst verbergen müssen, die<br />

eben darum verdrängt, ins Unbewußte geschoben wurden. Solchen verdrängten<br />

Wünschen und ihren Abkömmlingen kann nun kein anderer als<br />

ein arg entstellter Ausdruck gegönnt werden. Nachdem die Aufklärung<br />

der Traumentstellung der wissenschaftlichen Arbeit gelungen war, fiel<br />

es nicht mehr schwer zu erkennen, daß die nächtlichen Träume ebensolche<br />

Wunscherfüllungen sind wie die Tagträume, die uns allen so<br />

wohlbekannten Phantasien.<br />

Soviel von den Phantasien, und nun zum Dichter! Dürfen wir wirklich<br />

/176/<br />

den Versuch machen, den Dichter mit dem »Träumer am hellichten<br />

Tag«, seine Schöpfungen mit Tagträumen zu vergleichen? Da drängt<br />

sich wohl eine erste Unterscheidung auf; wir müssen die Dichter, die<br />

fertige Stoffe übernehmen wie die alten Epiker und Tragiker, sondern<br />

von jenen, die ihre Stoffe frei zu schaffen scheinen. Halten wir uns an<br />

die letzteren und suchen wir für unsere Vergleichung nicht gerade<br />

jene Dichter aus, die von der Kritik am höchsten geschätzt werden,<br />

sondern die anspruchsloseren Erzähler von Romanen, Novellen und<br />

Geschichten, die dafür die zahlreichsten und eifrigsten Leser und<br />

Leserinnen finden. An den Schöpfungen dieser Erzähler muß uns vor<br />

allem ein Zug auffällig werden; sie alle haben einen Helden, der im<br />

Mittelpunkt des Interesses steht, für den der Dichter unsere Sympathie<br />

mit allen Mitteln zu gewinnen sucht und den er wie mit einer besonderen<br />

Vorsehung zu beschützen scheint. Wenn ich am Ende eines<br />

Romankapitels den Helden bewußtlos, aus schweren Wunden<br />

blutend verlassen habe, so bin ich sicher, ihn zu Beginn des nächsten<br />

in sorgsamster Pflege und auf dem Wege der Herstellung zu<br />

finden, und wenn der erste Band mit dem Untergange des Schiffes im<br />

Seesturme geendigt hat, auf dem unser Held sich befand, so bin ich<br />

sicher, zu Anfang des zweiten Bandes von seiner wunderbaren Rettung<br />

zu lesen, ohne die der Roman ja keinen Fortgang hätte. Das<br />

Gefühl der Sicherheit, mit dem ich den Helden durch seine gefährlichen<br />

Schicksale begleite, ist das nämliche, mit dem ein wirklicher<br />

Held sich ins Wasser stürzt, um einen Ertrinkenden zu retten, oder<br />

sich dem feindlichen Feuer aussetzt, um eine Batterie zu stürmen,<br />

39 Vgl. des Verfassers Traumdeutung (1900 a)<br />

128


jenes eigentliche Heldengefühl, dem einer unserer besten Dichter<br />

den köstlichen Ausdruck geschenkt hat: »Es kann dir nix g'schehen.«<br />

(Anzengruber.) 40 Ich meine aber, an diesem verräterischen Merkmal<br />

der Unverletzlichkeit erkennt man ohne Mühe – Seine Majestät das<br />

Ich, den Helden aller Tagträume wie aller Romane 41 .<br />

Noch andere typische Züge dieser egozentrischen Erzählungen deuten<br />

auf die gleiche Verwandtschaft hin. Wenn sich stets alle Frauen<br />

des Romans in den Helden verlieben, so ist das kaum als Wirklichkeitsschilderung<br />

aufzufassen, aber leicht als notwendiger Bestand<br />

des Tagtraumes zu verstehen. Ebenso wenn die anderen Personen<br />

des Romans sich scharf in gute und böse scheiden, unter Verzicht<br />

auf die in der Realität<br />

/177/<br />

zu beobachtende Buntheit menschlicher Charaktere; die »guten«<br />

sind eben die Helfer, die »bösen« aber die Feinde und Konkurrenten<br />

des zum Helden gewordenen Ichs.<br />

Wir verkennen nun keineswegs, daß sehr viele dichterische Schöpfungen<br />

sich von dem Vorbilde des naiven Tagtraumes weit entfernt<br />

halten, aber ich kann doch die Vermutung nicht unterdrücken, daß<br />

auch die extremsten Abweichungen durch eine lückenlose Reihe von<br />

Obergängen mit diesem Modelle in Beziehung gesetzt werden könnten.<br />

Noch in vielen der sogenannten psychologischen Romane ist mir<br />

aufgefallen, daß nur eine Person, wiederum der Held, von innen geschildert<br />

wird; in ihrer Seele sitzt gleichsam der Dichter und schaut<br />

die anderen Personen von außen an. Der psychologische Roman<br />

verdankt im ganzen wohl seine Besonderheit der Neigung des modernen<br />

Dichters, sein Ich durch Selbstbeobachtung in Partial-Ichs zu<br />

zerspalten und demzufolge die Konfliktströmungen seines Seelenlebens<br />

in mehreren Helden zu personifizieren. In einem ganz besonderen<br />

Gegensatze zum Typus des Tagtraumes scheinen die Romane zu<br />

stehen, die man als »exzentrische« bezeichnen könnte, in denen die<br />

als Held eingeführte Person die geringste tätige Rolle spielt, vielmehr<br />

wie ein Zuschauer die Taten und Leiden der anderen an sich vorüberziehen<br />

sieht. Solcher Art sind mehrere der späteren Romane<br />

Zolas. Doch muß ich bemerken, daß die psychologische Analyse nicht<br />

dichtender, in manchen Stücken von der sogenannten Norm abweichender<br />

Individuen uns analoge Variationen der Tagträume kennengelehrt<br />

hat, in denen sich das Ich mit der Rolle des Zuschauers bescheidet.<br />

40 [Worte des Steinklopferhans in dem Lustspiel des Wiener Schriftstellers<br />

und Dramatikers Ludwig Anzengruber (1839-89). Es ist eines der Lieblingszitate<br />

Freuds, das er z. B. auch in >Zeitgemäßes über Krieg und<br />

Tod< (1915 b; Studienausgabe, Bd. 9, S . 56) anführt.]<br />

41 [Vgl. >Zur Einführung des Narzißmus< (1914c), Studienausgabe, B;d. 3,<br />

S. 57f.]<br />

129


Wenn unsere Gleichstellung des Dichters mit dem Tagträumer, der<br />

poetischen Schöpfung mit dem Tagtraum, wertvoll werden soll, so<br />

muß sie sich vor allem in irgendeiner Art fruchtbar erweisen. Versuchen<br />

wir etwa, unseren vorhin aufgestellten Satz von der Beziehung<br />

der Phantasie zu den drei Zeiten und zum durchlaufenden Wunsche<br />

auf die Werke der Dichter anzuwenden und die Beziehungen zwischen<br />

dem Leben des Dichters und seinen Schöpfungen mit dessen<br />

Hilfe zu studieren. Man hat in der Regel nicht gewußt, mit welchen<br />

Erwartungsvorstellungen man an dieses Problem herangehen soll;<br />

häufig hat man sich diese Beziehung viel zu einfach vorgestellt. Von<br />

der an den Phantasien gewonnenen Einsicht her müßten wir folgenden<br />

Sachverhalt erwarten: Ein starkes aktuelles Erlebnis weckt im<br />

Dichter die Erinnerung an ein früheres, meist der Kindheit angehöriges<br />

Erlebnis auf, von welchem nun der Wunsch ausgeht, der sich in<br />

der Dichtung seine Erfüllung schafft; die<br />

/178/<br />

Dichtung selbst läßt sowohl Elemente des frischen Anlasses als auch<br />

der alten Erinnerung erkennen 42 .<br />

Erschrecken Sie nicht über die Kompliziertheit dieser Formel; ich vermute,<br />

daß sie sich in Wirklichkeit als ein zu dürftig es Schema erweisen<br />

wird, aber eine erste Annäherung an den realen Sachverhalt<br />

könnte doch in ihr enthalten sein, und nach einigen Versuchen, die<br />

ich unternommen habe, sollte ich meinen, daß eine solche Betrachtungsweise<br />

dichterischer Produktionen nicht unfruchtbar ausfallen<br />

kann. Sie vergessen nicht, daß die vielleicht befremdende Betonung<br />

der Kindheitserinnerung im Leben des Dichters sich in letzter Linie<br />

von der Voraussetzung ableitet, daß die Dichtung wie der Tagtraum<br />

Fortsetzung und Ersatz des einstigen kindlichen Spielens ist.<br />

Versäumen wir nicht, auf jene Klasse von Dichtungen zurückzugreifen,<br />

in denen wir nicht freie Schöpfungen, sondern Bearbeitungen<br />

fertiger und bekannter Stoffe erblicken müssen [S. 176]. Auch dabei<br />

verbleibt dem Dichter ein Stück Selbständigkeit, das sich in der Auswahl<br />

des Stoffes und in der oft weitgehenden Abänderung desselben<br />

äußern darf. Soweit die Stoffe aber gegeben sind, entstammen sie<br />

dem Volksschatze an Mythen, Sagen und Märchen. Die Untersuchung<br />

dieser völkerpsychologischen Bildungen ist nun keineswegs<br />

abgeschlossen, aber es ist z. B. von den Mythen durchaus wahrscheinlich,<br />

daß sie den entstellten Überresten von Wunschphantasien<br />

ganzer Nationen, den Säkularträumen der jungen Menschheit,<br />

entsprechen.<br />

Sie werden sagen, daß ich Ihnen von den Phantasien weit mehr erzählt<br />

habe als vom Dichter, den ich doch im Titel meines Vortrages<br />

vorangestellt. Ich weiß das und versuche es durch den Hinweis auf<br />

den heutigen Stand unserer Erkenntnis zu entschuldigen. Ich konnte<br />

42 [Eine ähnliche Auffassung hatte Freud schon 1898 in einem Brief an<br />

Fließ (vom 7. Juli) vertreten, und zwar mit Bezug auf die Novelle von C_<br />

F. Meyer >Die Hochzeit des Möndhs< (Freud 1950 a, Brief 92).]<br />

130


Ihnen nur Anregungen und Aufforderungen bringen, die von dem<br />

Studium der Phantasien her auf das Problem der dichterischen Stoffwahl<br />

übergreifen. Das andere Problem, mit welchen Mitteln der<br />

Dichter bei uns die Affektwirkungen erziele, die er durch seine Schöpfungen<br />

hervorruft, haben wir überhaupt noch nicht berührt. Ich möchte<br />

Ihnen wenigstens noch zeigen, welcher Weg von unseren Erörterungen<br />

über die Phantasien zu den Problemen der poetischen Effekte<br />

führt.<br />

Sie erinnern sich, wir sagten [S. 173], daß der Tagträumer seine<br />

Phantasien vor anderen sorgfältig verbirgt, weil er Gründe verspürt,<br />

sich<br />

/179/<br />

ihrer zu schämen. Ich füge nun hinzu, selbst wenn er sie uns mitteilen<br />

würde, könnte er uns durch solche Enthüllung keine Lust bereiten.<br />

Wir werden von solchen Phantasien, wenn wir sie erfahren, abgestoßen<br />

oder bleiben höchstens kühl gegen sie. Wenn aber der Dichter<br />

uns seine Spiele vorspielt oder uns das erzählt, was wir für seine persönlichen<br />

Tagträume zu erklären geneigt sind, so empfinden wir hohe,<br />

wahrscheinlich aus vielen Quellen zusammenfließende Lust. Wie<br />

der Dichter das zustande bringt, das ist sein eigenstes Geheimnis; in<br />

der Technik der Überwindung jener Abstoßung, die gewiß mit den<br />

Schranken zu tun hat, welche sich zwischen jedem einzelnen Ich und<br />

den anderen erheben, liegt die eigentliche Ars poetica. Zweierlei Mittel<br />

dieser Technik können wir er-raten: Der Dichter mildert den Charakter<br />

des egoistischen Tagtraumes durch Abänderungen und Verhüllungen<br />

und besticht uns durch rein formalen, d. h. ästhetischen Lustgewinn,<br />

den er uns in der Darstellung seiner Phantasien bietet. Man nennt<br />

einen solchen Lustgewinn, der uns geboten wird, um mit ihm die Entbindung<br />

größerer Lust aus tiefer reichenden psychischen Quellen zu<br />

ermöglichen, eine Verlockungsprämie oder eine Vorlust 43 . Ich bin der<br />

Meinung, daß alle ästhetische Lust, die uns der Dichter verschafft,<br />

den Charakter solcher Vorlust trägt und daß der eigentliche Genuß<br />

des Dichtwerkes aus der Befreiung von Spannungen in unserer Seele<br />

hervorgeht. Vielleicht trägt es sogar zu diesem Erfolge nicht wenig<br />

bei, daß uns der Dichter in den Stand setzt, unsere eigenen Phantasien<br />

nunmehr ohne jeden Vorwurf und ohne Schämen zu genießen.<br />

Hier stünden wir nun am Eingange neuer, interessanter und verwickelter<br />

Untersuchungen, aber, wenigstens für diesmal, am Ende unserer<br />

Erörterungen.<br />

43 [Diese Theorie der »Vorlust« und der »Verlockungsprämie« hatte Freud<br />

mit Bezug auf den Witz in den letzten Absätzen von Kapitel IV seines<br />

Buches Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905c; Studienausgabe,<br />

Bd. 4, S. 129f.) entwickelt. Eine Bemerkung darüber findet<br />

sich auch in dem Essay >Psychopathische Personen auf der Bühne< (im<br />

vorliegenden Band, S. 168).]<br />

131


Georges Bataille: Die Souveränität in Kunst und Literatur<br />

In: Die psychologische Struktur des Faschismus – Die Souveränität,<br />

München: Matthes & Seitz, 1978, S.73-86<br />

/73/<br />

1. Von der Notwendigkeit der Menschen, zunächst ihr subjektives<br />

Leben zu verobjektivieren<br />

Die vorhergehenden Analysen haben klar gezeigt, wie unerhört<br />

schwer es den Menschen fällt, ein subjektives, souveränes Leben zu<br />

führen, und doch ist das ihre Bestimmung, dasjenige, wodurch sie<br />

sich von den Tieren unterscheiden. Ihr unmittelbares Verhalten ist<br />

Tätigkeit (Arbeit), von der sie ein Resultat erwarten: ihre Tätigkeit<br />

ordnet sie unter, ordnet ihre gegenwärtige Zeit dem Arbeitsergebnis,<br />

das sie erwarten, unter. Diese Tätigkeit ist notwendig, aber indem die<br />

Menschen sich damit abfinden, müssen sie gleichzeitig sich das Ergebnis<br />

in greifbarer Form vergegenwärtigen. Das ist der Sinn der<br />

seltsamen und universellen Institution der Souveränität, die bislang<br />

aus dem Bedürfnis nach Ordnung, nach Autorität erklärt wurde. Indessen<br />

ist diese Institution in ihrer Komplexität, ihrer verrückten Verschwendung,<br />

mit ihrer zur Schau gestellten Pracht und ihren unergründlichen<br />

Exzessen auf die Funktion der bloßen Koordinierung<br />

nicht zu reduzieren. Es läßt sich schließlich nicht leugnen, daß sie<br />

von jeher dem universellen Bedürfnis entsprach, von dem die Rede<br />

ist: nämlich unablässig und ohne Aufschub das angestrebte Resultat<br />

vor Augen zu haben.<br />

Noch heute, wenn die Menge sich in den Straßen drängt, um die königliche<br />

Familie vorüberfahren zu sehen, ist, was sie eigentlich erblicken<br />

möchte, ein Wunschbild ihrer selbst. Aber die Ansprüche unserer<br />

zivilisierten Massen sind primitiv, verglichen mit denen der versammelten<br />

Wilden. Sie sind ebensoweit entfernt voneinander wie die<br />

oberflächlich Gläubigen entfernt sind von den wirklich Frommen, die<br />

die Religion bis zum Mystizismus treiben. Diese Differenz ist nicht<br />

bloß auf Müdigkeit zurückzuführen, auf das Fehlen aller inneren Anfechtung,<br />

wie sie für den heutigen Menschen charakteristisch zu sein<br />

scheinen. Vielmehr haben wir es hier mit den letzten Zuckungen der<br />

traditionellen Souveränität zu tun. Was wir auf den Straßen Londons<br />

sehen können, ist eine Verfallserscheinung. Gewiß, die industrialisierte<br />

Menschheit ist im tiefsten desorientiert, doch sucht sie anderswo,<br />

was der ägyptische Mensch in der Kontemplation des lebenden oder<br />

toten Pha-<br />

132


74/<br />

raonen suchte. Es geht um die Subjektivität des Seins, deren Tiefe<br />

schwindelerregend ist.<br />

Nur entleerte Pracht übt heute noch eine flüchtige Faszination aus.<br />

Die Suche nach der Subjektivität hat sich zunächst in Richtung auf<br />

die Religion verlagert. Doch dann haben die offiziellen Religionen ihre<br />

einstmals ausschließliche Anziehungskraft verloren. Die Kunst und<br />

die Literatur haben dann jene Dimension, das subjektive Leben und<br />

den Tod des Menschen, ausdrücken wollen und haben oftmals die<br />

Kraft gehabt, sie auszudrücken.<br />

Grundsätzlich entgleitet uns dieses Leben. Es macht das menschliche,<br />

dem tierischen entgegengesetzte Leben aus. Aber die Aufmerksamkeit<br />

kann sich deutlich nur auf die Objekte der Arbeitswelt<br />

richten oder zumindest auf Dinge, die ihnen in einer Hinsicht gleichen.<br />

Unser inneres Leben entgleitet uns, sofern wir es nicht auf der<br />

Ebene aller übrigen Gegenstände objektiv vor uns s hinstellen können.<br />

So hat die Menge sich seit Urzeiten spektakuläre Individuen<br />

erwählt, die ihr stellvertretend vorlebten, was sie selbst unmittelbar<br />

nicht leben konnte, sondern nur im Blick auf diese souveränen Individuen<br />

(in gleicher Weise wurde der Tod nur im Schauspiel des Opfers<br />

erfahren und gewürdigt). Aus den gleichen Gründen erfahren wir heute<br />

die Intensität des inneren Lebens nur vermittels der Betrachtung<br />

von Dingen, wie z. B. von Kunstwerken, die für uns letztlich die Rolle<br />

spielen, die einst die Könige spielten.<br />

2. Der Auftrag der »sakralen« Kunst und Literatur, die Souveränität<br />

zu verobjektivieren<br />

In der archaischen, ganz von der Souveränität beherrschten Gesellschaft<br />

konnten der Künstler und Schriftsteller durch das Kunstwerk<br />

allein keine Souveränität erlangen. Literatur und Kunst waren<br />

der souveränen Realität nachgeordnet, deren Wahrheit sie zur Schau<br />

stellten. Die Kunst war insbesondere Ausdruck der Subjektivität der<br />

souveränen Personen, die nicht arbeiteten und grundsätzlich keine<br />

Tätigkeit ausüben konnten, die sie irgendwelchen Zwecken untergeordnet<br />

hätte. Noch die griechische Tragödie, die ausdrücklich die<br />

Subjektivität der Menschen zum Gegenstand hat, thematisiert immer<br />

die Subjektivität traditionell souveräner Personen; so hielt die antike<br />

Demokratie an den traditionellen<br />

/75/<br />

Werten fest, denen sie in der Person des Königs längst abgeschworen<br />

hatte. Vor der Entstehung einer profanen Kunst, in der ar-<br />

133


chaischen Gesellschaft, mag die Situation der Künstler und Schriftsteller<br />

sehr vielfältig gewesen sein; auf jeden Fall aber standen sie im<br />

Dienste der archaischen Souveränität, die wir als eine wirkliche verstehen<br />

müssen, denn die Subjektivität war an etwas, eine Institution<br />

(an eine gegebene objektive Realität) gebunden. Es bedurfte dieses<br />

Dienstes, weil der Souverän außerstande war, selbst, mit eigenen<br />

Mitteln, diese Subjektivität auszudrücken, die, da sie die verobjektivierte<br />

Subjektivität aller war, allen mitgeteilt werden mußte: dies Prinzip<br />

galt gleichermaßen für die Könige, für die Priester und die Priesterkollegien.<br />

Die Würdenträger konnten reden, aber sie konnten sich<br />

ebensogut der Stimme eines anderen bedienen. Standen sie nicht<br />

ihrerseits im Dienste einer souveränen Wirklichkeit, einer Institution,<br />

die über ihre Person hinausging und die sie nur vorübergehend inkarnierten?<br />

In diesem sakralen System konnten Widersprüche auftreten,<br />

ein Einzelmensch konnte sich sagen, daß er über die Köpfe derer<br />

hinweg, die die Souveränität zu inkarnieren behaupteten, der<br />

wahren, von ihren Inkarnationen unabhängigen Souveränität diente.<br />

Aber damit wurde nichts an dem Prinzip geändert. Schriftsteller und<br />

Künstler dienten auf jeden Fall einer von der eigenen Subjektivität<br />

unabhängigen, wirklichen Souveränität, auch wenn sie affektiv mit<br />

jener eins waren.<br />

3. Profane Kunst und Literatur<br />

Mit dem Niedergang der sakralen Welt und der Entfaltung der profanen<br />

Gesellschaft schien es so, daß auch Literatur und Kunst profane<br />

Formen annahmen. Aber war dies vorgeblich Profane je etwas anderes<br />

als eine heruntergekommene Form des Sakralen? In all ihrer imposanten<br />

Vielheit vermögen die profane Kunst und Literatur doch nur<br />

einen Ersatz jener Emotionen zu evozieren, die man zuvor im Heiligtum,<br />

in dem sich das Göttliche offenbarte, erfuhr.<br />

Es ist schwierig, in wenigen Worten zu beschreiben, was die profane<br />

Kunst auszudrücken vermag. Das einzig allgemeine Merkmal ist ihre<br />

äußerste Vielfalt.<br />

Lächerlichkeit und Konfusion lösen sie unablässig auf. Und doch<br />

/76/<br />

hört sie nicht auf, die ursprüngliche Funktion der Kunst zu erfüllen,<br />

Ausdruck der Subjektivität zu sein, jener Subjektivität, die von Anbeginn<br />

sich als der Zweck aller Gegenstände setzte.<br />

Das ist der entscheidende Punkt: das Sakrale und das Profane unterscheiden<br />

sich durch ihre formale Diskontinuität, so daß sie deutlich<br />

in Gegensatz zueinander stehen. Wenn wir hingegen sakrale und<br />

profane Kunst gegeneinander abgrenzen wollen, so fehlt diese Diskontinuität.<br />

* Manchmal grenzt die profane Kunst an die sakrale und<br />

* Ebensowenig gibt es eine Diskontinuität im Verhältnis von profaner zu<br />

134


es ist schwierig, sie zu unterscheiden; eine deutliche Differenz, eine<br />

Schwelle wird nirgendwo in der kontinuierlichen Vielheit der verschiedenen<br />

Formen profaner Kunst sichtbar. Selbst wenn man sich leicht<br />

darüber täuschen mag: das Genie ist völlig verschieden vom Talent;<br />

aber wie keine Schwelle die Prosa von der Poesie trennt, so is t auch<br />

die Kunst der Lust nicht deutlich unterschieden von der Kunst, in der<br />

sich Angst manifestiert. Die Einteilungen eines Lehrbuchs, das nacheinander<br />

die dramatische und die lyrische Poesie, den Roman, das<br />

Tagebuch oder den Essay abhandelt, sind ganz willkürlich. Die profane<br />

und sich selbst als solche begreifende Kunst mag sogar, sooft<br />

es ihr gefällt und so gut sie kann, die Subjektivität der souveränen<br />

Formen ausdrücken, die lange Zeit die Gesellschaft beherrschten.<br />

Und doch unterscheidet sie sich von der sakralen Kunst darin, daß<br />

sie dem Ausdruck dieser bestimmten Subjektivität den Ausdruck einer<br />

menschlichen Subjektivität hin zufügt, einer Subjektivität, die von<br />

diesen herrschenden Formen unabhängig ist.<br />

4. Das Band zwischen profaner Kunst und Erotik<br />

Die profane Kunst drückt insbesondere die Subjektivität der Erotik<br />

aus (die, wenn sie im Rahmen der sakralen Kunst auftritt, anstößig<br />

wirkt und fassungslose Kommentare hervorruft). Grundsätzlich ist die<br />

Erotik an die profane Welt gebunden, weil sie nicht Gegenstand der<br />

öffentlichen Kommunikation sein kann, die in der Gesellschaft Ausdruck<br />

des Sakralen ist. Noch als literarische wendet die Kommunikation<br />

erotischer Subjektivität sich vertraulich an den Leser als intime<br />

Möglichkeit, fern der Menge. Sie<br />

/77/<br />

erheischt nicht die Bewunderung, nicht den Respekt aller, sondern<br />

sucht jene geheime Ansteckung, die niemals überheblich, niemals<br />

öffentlich ist und nur ans Schweigen appelliert.<br />

5. Das Elend des Künstlers und die für ihn unerreichbare Souveränität<br />

Was wir in der Zerstreutheit der profanen Welt jedoch verlieren, ist<br />

die Fähigkeit, den heiligen Schrecken mitzuteilen, der in den Bereich<br />

des Religiösen gehört. Das ist ein Verlust, selbst wenn zum Ausgleich<br />

etwas anderes, Gleichwertiges zutage träte. Die Stärke der<br />

sakralen Kunst lag in der Wiederholung: die heftigsten Erschütterungen<br />

als Folge heftiger Schocks wiederholten sich auf die<br />

immer gleiche Weise: erst ganz allmählich trat Ermüdung ein. Die<br />

souveräner Kunst, von der ich später sprechen werde.<br />

135


profane Kunst hat zweifellos die Kraft der Erneuerung, doch wird das<br />

Künstliche an der Kunst spürbar, sobald der Ausdruck die unbewegliche,<br />

durch Jahrhunderte geheiligte Form verläßt. Man sieht nur noch<br />

einen servilen Künstler, der ganz damit beschäftigt ist, die wirksamsten<br />

Mittel zu finden. Die menschliche Subjektivität ist nicht mehr<br />

sichtbar. Es ist nur noch die Subjektivität eines beliebigen Menschen,<br />

der sich in der Welt der Dinge zu schaffen macht und dem diese Geschäftigkeit<br />

eine Existenz auf dem Niveau der geknechteten Menge<br />

gewährt. Nicht einmal sein Genie enthebt den Künstler der Notwendigkeit,<br />

sich armselig seinen Weg zu bahnen, oft sogar durch Intrigen,<br />

Rivalitäten und Schmeichelei. Auch ist er nicht frei von dem auf<br />

einem Irrtum beruhenden Größenwahn, der die ruhige Einfachheit,<br />

Privileg jener königlichen Personen, denen mühelos das Glück Majestät<br />

verlieh, durch hochtrabendes Geschwätz wettzumachen sucht.<br />

Und doch hat der Künstler durch den Ausdruck — und zwar meist<br />

ohne es zu wissen — selbst Zugang zur souveränen Subjektivität.<br />

Was den Künstler lange Zeit vom souveränen Selbstbewußtsein<br />

fernhielt, war seine Redlichkeit. Der Künstler verfertigte das Kunstwerk.<br />

Wer wußte besser als er, welcher Geschicklichkeit, welcher<br />

Arbeit und, wenn man will, welchen Bluffs es bedarf, um auch nur<br />

irgend etwas auszudrücken. Sofern sie ist, ist die Subjektivität souverän,<br />

und sie ist, sofern sie mitgeteilt wird. Aber seine Redlichkeit hinderte<br />

den Künstler, sich seiner Situation bewußt zu werden. Seine<br />

Redlichkeit und das Gefühl, sich einer Majestäts-<br />

/78/<br />

beleidigung schuldig zu machen, hinderten ihn, sich eine Souveränität<br />

anzueignen, die bislang ausschließlich einer Institution zustand.<br />

Die sakrale Kunst war zunächst für den Künstler Ausdruck<br />

fremder, nicht der eigenen Subjektivität. Die profane Kunst verdankte<br />

ihr Ansehen der Tatsache, daß sie diese bescheidene Haltung beibehielt.<br />

Wenn sie sich auch in der Regel der Affirmation der herrschenden<br />

Souveränität enthielt, so beschränkte sie sich doch nach<br />

Möglichkeit auf den Ausdruck fremder Subjektivität. Diese Art Kunst<br />

diente vor allem dem Ausdruck von Personen, die sich nicht als souverän<br />

wußten und deren flüchtige, aber notwendigerweise souveräne<br />

Subjektivität nicht bemerkt worden wäre, hätte man sie im Zusammenhang<br />

mit einer beschränkten Realität dargestellt, mit einem alltäglichen<br />

Geschehen im Laden oder im Büro. Die Darstellung von<br />

Personen in der Kunst verlangt der Konvention entsprechend das<br />

Weglassen von äußeren Merkmalen, aber diese Art billiger Souveränität,<br />

wie man sie durch Aussparen der banalen Momente erlangt,<br />

erzeugt noch kein klares Bewußtsein von der souveränen Situation<br />

überhaupt. Die so gezeichneten Personen werden vielleicht nicht<br />

gerade in einer unbedeutenden Haltung festgehalten, aber doch in<br />

ihrer Unfähigkeit, die Totalität des Seins auf sich zu nehmen.. Das<br />

Gleitende, das der profanen Kunst eigentümlich ist, hat die Konsequenz,<br />

daß, wenn es trotz allem dem Künstler gelingt, seine Subjektivität<br />

auszudrücken, diese immer nur als aufblitzende Subjektivität, die<br />

136


eliebigen Wesen geliehen wird, erscheinen kann: ihre Subjektivität<br />

ist sich selbst nicht darüber im klaren, wieviel sie bedeutet, nämlich<br />

alles.<br />

In der Epoche der Kunst, von der ich spreche (wobei die romantische<br />

Kunst vielleicht eine Ausnahme bildet, aber ihr haftet noch die Ungeschicklichkeit<br />

an, die über die eigene Kühnheit erstaunt ist und sie<br />

eitel hervorkehrt), verharrte der Künstler im Schoß der gedemütigten<br />

Gesellschaft und stand wie jedermann im Banne der traditionellen<br />

souveränen Welt. Er stand nicht mehr im Dienste der Inkarnationen<br />

dieser Welt wie sein Vorgänger in der Epoche der sakralen Kunst<br />

(man denke etwa an die anonymen Bildner des Mittelalters), nichtsdestoweniger<br />

war er wie jedermann auf der Suche nach jener Würde,<br />

die die Nähe zu den Großen und zum Thron verlieh. Die Vorstellung,<br />

die er sich von seiner eigenen Subjektivität machte, hatte nichts von<br />

Souveränität: die Redlichkeit, an die er sich hielt, ließ das nicht zu.<br />

Seine Stellung bei Hofe und nicht sein Eigenwert gaben ihm das Anrecht<br />

auf<br />

/79/<br />

Teilhabe am Glanz der Hoheit, die er mit jener gespielten Bescheidenheit<br />

ersehnte, die der Kern der Bescheidenheit ist. Er nahm<br />

mit der Rolle des Dekorateurs vorlieb, und die Kunst war bloßes Ornament.<br />

6. Die souveräne Kunst<br />

Die Souveräne ihrerseits bemerkten diesen Irrtum des Künstlers über<br />

sich selbst, doch ohne dem sonderliche Beachtung zu schenken. Sie<br />

gewannen die Künstler für ihren Hof, und es blieb nicht aus, daß sie<br />

ein Kunstwerk in dem Glanz wahrnahmen, der ihre Souveränität<br />

ausmachte. Ohne den Effekt der Kunst hätten die Souveräne den<br />

Glanz ihrer Subjektivität nicht mitteilen können. Denn der Glanz des<br />

Königs war reiner Schein, und der Schein fiel unter die Zuständigkeit<br />

der ihn umgebenden Architekten, Maler, Musiker, Literaten. In dem<br />

Maße nämlich, als diese Künstler die Fähigkeit hatten, der strahlenden<br />

Subjektivität in Zeichen Ausdruck zu verleihen, überstrahlte der<br />

König alle anderen. Er gewann sie also für seine Intimität, denn die<br />

Kunst näherte sie in seinen Augen seinem eigenen Wesen an. Der<br />

Künstler selbst konnte nicht weniger unaufmerksam sein als der König.<br />

Er sah die Hoheit nicht in sich selbst, sondern in seinen Werken<br />

oder in der königlichen Erscheinung. Niemals war die Rede von der<br />

eigentlichen Subjektivität des Menschen, die dem Künstler insofern<br />

zukam, als er die Macht hatte, sie mitzuteilen, und die sich nur zufällig,<br />

nicht absolut, wie die Gottes oder des Königs, von der aller anderen<br />

Menschen unterschied. Die souveräne Subjektivität blieb ans Universelle,<br />

an die Totalität, die der König seiner Funktion gemäß beanspruchen<br />

konnte, und an die Macht gebunden, die er dank der ihm<br />

137


von den anderen zugeschriebenen subjektiven Souveränität zu haben<br />

glaubte. So war dem Künstler der Weg versperrt zu einer souveränen<br />

Subjektivität, die mit seiner Einzigartigkeit und der ihm als Person<br />

eigenen magischen Kraft eins gewesen wäre. Die religiöse Dimension<br />

des Göttlichen und die Möglichkeit einer intimen Partizipation<br />

an ihr (und zwar des Künstlers, nicht aber seiner Werke) vollendeten<br />

diese Trennung.<br />

Gelegentlich überkam einige wenige Künstler die Ahnung von einem<br />

Möglichen, das ihnen eigen wäre. Aber sie vermochten seine Bedeutung<br />

erst zu fassen, als das Gebäude des Feudalismus heftig<br />

/80/<br />

erschüttert war. Bis dahin hielt Gott, umgeben von seinen I leill gen,<br />

den Priestern und den Mächtigen, sie im Gefühl einer Subjektivität<br />

fest, die der ihren überlegen war, zumindest in dem Sinne, daß ihre<br />

Subjektivität sich von dieser anderen paralysieren ließ.<br />

Erst spät breitete die Einsamkeit sich vor dem Blick des Menschen<br />

aus, und das Kunstwerk — die Macht des Ausdrucks — öffnete ihm<br />

den Reichtum der Subjektivität. Um ihn waren nicht mehr die selbstbesessenen<br />

Schatten, Ausgeburten des Gefühls einer die Menge<br />

überragenden Größe, deren letztes, delirierendes Beispiel Ludwig<br />

XIV. ist. In einer ungeheuren Erregung der Geister hatte selbst die<br />

Gottesidee ihre unbestrittene Macht des Schauders verloren, die Gottesidee,<br />

die, solange sie existierte, über Unzulänglichkeiten der Menschen<br />

hinweggeholfen hatte (über ihren Knechtsgeist, ihre Bereitschaft,<br />

sich zu Dingen nivellieren zu lassen und gleichzeitig etwas<br />

Besseres sein zu wollen als der Nächste). Nichts blieb als die untergründige,<br />

ungreifbare Subjektivität, die sich immer dann entzog,<br />

wenn man sie den Dingen gleichmachen wollte: Könige und Gott waren<br />

offenbar nur ihre abgelebte verbrauchte Form, abgegriffen durch<br />

die fortgesetzte Anstrengung, sie zu fassen. Auf dem Grunde dieser<br />

Einsamkeit verlor endlich das Problem der Kunst den Charakter des<br />

Lächerlichen oder es erschien noch lächerlicher, aber nur weil diese<br />

vollendete Lächerlichkeit von nun an das Gegenteil des unglücklichen,<br />

erniedrigten Lächerlichen war; nur weil das grenzenlos Lächerliche<br />

dem souveränen Künstler endlich die vom Respekt des Anderen<br />

befreite Kunst und die von keinem Verbot eingeschränkte Souveränität<br />

ermöglichte. Übrig ist nur das Bewußtsein einer unerträglichen<br />

Tragödie, die man angstvoll flieht und gleichwohl herbeisehnt.<br />

7. Das Elend des »L'art pour Part« und die äußerste Möglichkeit<br />

Die ärmliche Idee des »L'art pour Part« hat indessen noch unlängst<br />

gezeigt, wie schwierig es ist, die Einfachheit des Problems zu sehen,<br />

das die Kunst der Existenz stellt. Die Formel des »L'art pour Part«<br />

besagte, daß die Kunst keinem ihr fremden Zweck dienen könne,<br />

aber diese Formel hat wenig Sinn, solange die Kunst in der unbedeu-<br />

138


tenden Stellung verharrt, die sie in der Gesellschaft hat. Das »L'art<br />

pour Part« entsprach der Sehnsucht nach der Feudalge-<br />

/81/<br />

sellschaft, als diejenigen, in deren Dienst die Künstler standen und<br />

von denen sie total abhingen, ihrerseits der institutionellen Souveränität<br />

dienten. Es ging immer noch um ornamentale Kunst, diesmal<br />

für Dilettanten, die sich von der Gesamtgesellschaft gelöst hatten.<br />

Die Protagonisten des »L'art pour Part« wollten sich lediglich den<br />

Interessen einer Gesellschaft entziehen, die sich andere Ziele als das<br />

der Souveränität gesetzt hatte, Interessen, die im ganzen genommen<br />

von den Grundzielen der sowjetischen Gesellschaft nicht zu unterscheiden<br />

waren. Die Formel hätte nur dann wirklich sinnvoll sein<br />

können, wenn die Kunst unmittelbar das Erbe der Souveränität angetreten<br />

hätte, also das Erbe alles dessen, was einstmals an der universellen<br />

Gestalt Gottes wie an den Gestalten der Götter und Könige<br />

authentisch souverän gewesen ist. Sie hätte ihren Anspruch auf dieses<br />

Erbe geltend machen müssen mit einem Elan, der ihrem Charakter<br />

des Grenzenlosen entspricht, aber ohne jemals diskursiv zu werden,<br />

sondern schweigend, in der souveränen Bewegung totaler Indifferenz.<br />

Wenn die Kunst Erbin der Souveränität der Könige und Gottes ist, so<br />

weil die Souveränität niemals etwas anderes enthielt als die allgemeine<br />

Subjektivität (es sei denn jene Macht über die Dinge, sowohl<br />

im sozialen Spiel wie in den magischen Praktiken, die ihr ebenfalls,<br />

zu Unrecht, zugeschrieben wurde). Aber die Menschen haben das an<br />

ihrer eigenen Subjektivität Beunruhigende und Erschütternde zunächst<br />

an Anderen wahrgenommen (seien diese Anderen nun das<br />

höchste Wesen oder ihresgleichen). Und bis heute kann niemand der<br />

überwältigenden Wahrheit des Ich ins Auge sehen ohne das geliebte<br />

Wesen. Wir können die Abwesenheit des Ich nicht ertragen, aber<br />

ebensowenig seine konkrete Gegenwart, denn es ist in unseren Augen<br />

zwar die Subjektivität, vorausgesetzt jedoch, daß seine mögliche<br />

Existenzform als Ding — beschränktes Objekt — vernichtet ist. Aber<br />

was uns heute die Liebe offenbart Ist gefährlicher, als was Gott uns<br />

einst hätte offenbaren können und hat gegen sich seine Unerträglichkeit:<br />

wir können das geliebte Wesen von den Banden nicht lösen, die<br />

es an den Zufall ketten, so daß wir unaufhörlich von der Täuschung<br />

in Atem gehalten werden bis hin zum Leiden: wir leben jenseits der<br />

Liebe, zurückgeworfen auf den verzweifelten Ausdruck einer Subjektivität,<br />

die uns mit dem unbestimmten Nebenmenschen, dem Leier,<br />

gemein ist, und, was noch befremdlicher ist: wir können ein Gefühl<br />

dieser Subjektivität nicht haben, ohne es demjenigen,<br />

/82/<br />

an den Literatur sich wendet, mitzuteilen. Auf diese Art souverän zu<br />

sein, ist zweifellos eine Weise, im Unerträglichen zu ersticken: Es<br />

erinnert an die Leere nach einer Ejakulation, an die Ekstase und ihren<br />

Schrei: »ich sterbe, weil ich nicht sterben kann!« Hier geht es<br />

139


nicht mehr um Dilettantismus: die souveräne Kunst ist die äußerste<br />

Möglichkeit.<br />

8. Das Beispiel »Zarathustra«<br />

Die Situation des Künstlers, der die ihm zukommende Würde entdeckt,<br />

ist dennoch lächerlich. Das Kunstwerk kann das, was die Sensibilität<br />

ihm eingibt, nicht ausdrücken, ohne es zu entstellen, so daß<br />

der Künstler die Offenbarung in Ohnmacht empfängt. Das traditionelle<br />

Kunstwerk lädt dazu ein, der Subjektivität, die sich anbietet und die<br />

doch nur eine Verweigerung der wirklichen Ordnung ist, irgendeine<br />

wirkliche Form zu geben.<br />

Ich will versuchen am Beispiel Zarathustra diesen Gedanken zu präzisieren.<br />

Ohne die vorangegangenen Betrachtungen wäre es mir<br />

nicht möglich gewesen, die Schwäche Zarathustras aufzuzeigen. Ist<br />

Zarathustra nicht der auf einen Anderen projizierte Ausdruck von<br />

Nietzsches eigener Subjektivität? Nietzsche plagiiert die sakrale Literatur;<br />

er läßt eine Person auftreten, die in der sakralen Welt anerkannt<br />

ist oder zumindest anerkannt werden möchte. Aber Zarathustra<br />

bleibt in der Tradition der profanen Literatur, ist ein Stück objektiver<br />

Literatur, Ausdruck einer fiktiven Subjektivität. Wir müssen uns fragen,<br />

ob es möglich war, die Existenz einer sakralen Person zu fingieren,<br />

ohne die Gesetze einer der Willkür des Fiktiven fremden Welt zu<br />

verletzen: die Mythologie hat sich immer als Wirklichkeit gesetzt.<br />

Aber da dieses Buch weder sakral noch profan ist, so erfüllt es auch<br />

nicht die Anforderungen der souveränen Kunst. Es genügt ihnen<br />

nicht, weil es die tiefe Subjektivität des Autors unter abgelebten Formen<br />

verbirgt. Dies Buch ist Fiktion der sakralen Wirklichkeit, obwohl<br />

es der unmittelbare Ausdruck der souveränen Subjektivität ist: diese<br />

widersprüchliche Vielheit setzt einen merkwürdigen Prozeß der Verschiebung<br />

in Gang. Begünstigt durch die profane Freiheit hat Nietzsche,<br />

da er sich das Kostüm einer anerkannten (oder nach Anerkennung<br />

strebenden) sakralen Wesenheit lieh, virtuell die Funktion einer<br />

solchen, an die Wirklichkeit der Macht geknüpf-<br />

/83/<br />

ten Wesenheit angenommen. Aber die souveräne Subjektivität, die<br />

ich meine, kann sich, da sie ihr Bewußtsein und ihre Existenz dem<br />

literarischen Ausdruck verdankt, nicht Funktionen anmaßen, die allein<br />

wirklichen und anerkannten Wesenheiten zukommen. Die wirkliche<br />

Souveränität Zarathustras, der in der Welt zu handeln sich bemüht,<br />

ist nur leere Fiktion der profanen Kunst, während die Bewegung des<br />

Denkens zutiefst Ausdruck der souveränen Kunst ist. Aber die souveräne<br />

Kunst verdient ihren Namen nur, wenn sie sich fern hält von den<br />

Funktionen und der Macht der wirklichen Souveränität, oder sie sogar<br />

negiert. Die souveräne Kunst ist Verweigerung der Macht: sie impliziert<br />

den Verzicht auf die politische Macht, indem sie den Dingen<br />

selbst die Verantwortung für die Leitung der Dinge überläßt. Im Zarathustra<br />

können wir heute nur noch das Leiden Nietzsches sehen, den<br />

140


das Gefühl seiner souveränen Subjektivität zu verwirren, zu ersticken<br />

drohte, der verzweifelt versuchte, einen Ausweg zu finden und mit<br />

Hilfe der Fiktion in die Ödnis floh. * »Ecce Homo« hingegen, so sehr<br />

der Text nach Gide Nietzsches Eifersucht zum Ausdruck bringt, seinen<br />

Anspruch, Jesus an Souveränität gleich zu sein, ist nichtsdestoweniger<br />

eine Absage an die unbestimmte Anmaßung des Zarathustra.<br />

Nietzsche konnte sich dem Leiden der Souveränität nicht entziehen,<br />

und unter dem Schock einer großen Leidenschaft erhob er<br />

sich über eine hoffnungslose Sehnsucht nach archaischen Formen;<br />

er wurde reif zu jenem Verzicht auf die souveräne Kunst, der ihn sagen<br />

ließ, er wolle lieber ein Narr als ein Heiliger sein.<br />

9. Wo die Souveränität auf die Subordination verzichtet<br />

»Ich bin nichts«, oder »Ich bin lächerlich«: diese Parodie der Selbstbehauptung<br />

ist das letzte Wort der souveränen Subjektivität, die frei<br />

geworden ist von der Herrschaft, die sie über die Dinge «Oben wollte<br />

oder sollte.<br />

In dieser Welt ist die Lage des souveränen Künstlers die aller-<br />

/84/<br />

alltäglichste; sie bedeutet Entbehrungen, zumindest aber Verzicht auf<br />

alle Privilegien. Ob er nun über geringfügige Mittel irgend-welcher Art<br />

verfügt oder nicht, Entbehrung ist sein Los. Das Allerweltsschicksal<br />

ist das allein ihm angemessene. Das bedeutet nun nicht, daß der<br />

»Mann mit dem Allerweltsschicksal« und der souveräne Künstler<br />

identisch wären, sondern zeigt nur die herunter-gekommene Existenz<br />

des souveränen Künstlers. Oft wurde auch der profane Künstler dahin<br />

gebracht, sozial abzusteigen, aber es geschah nicht aus innerer<br />

Notwendigkeit; die Souveränität der Kunst hingegen fordert die unauffällige<br />

Deklassierung aller, die sie leben. Sie setzt die Verweigerung<br />

des allgemeinen Strebens nach dem Rang voraus, die Verweigerung<br />

oder besser: eine Bewegung, die sich durch Schweigen entzieht.<br />

Die souveräne Kunst nämlich bezeichnet genau den Zugang zu<br />

einer souveränen Subjektivität, die vom Rang unabhängig ist, die<br />

einen anderen Weg als das Streben nach dem Rang geht. Das besagt<br />

keineswegs, daß ihr grundsätzlich der Sinn für Verhaltensweisen<br />

abgeht, die den Menschen über sich selbst und die Tiere erheben,<br />

aber es besagt, daß diese Verhaltensweisen gänzlich aufgelöst und<br />

* Unter diesem Vorbehalt bleibt Zarathustra eines der bedeutendsten Bücher.<br />

Was ich darüber sage, dient dazu, es kennenzulernen, und nicht,<br />

es abzulehnen. Daß ein solches Buch zugleich diese Ungeheuerlichkeit,<br />

dieser ohnmächtige Irrtum sein kann, würde vielleicht den Gipfel markieren,<br />

wenn nur der Gipfel bezeichnet werden könnte, wenn er nicht wankte.<br />

141


grundsätzlich in Frage gestellt werden. Zumindest kann die souveräne<br />

Subjektivität sich niemals mehr auf solche Verhaltensweisen einlassen.<br />

Sie führt sogar zu folgendem Paradox: wer unter den heutigen<br />

Bedingungen souverän sein will, kann sich niemals dem Anderen<br />

überlegen glauben, es sei denn dieser Andere glaubte sich ihm überlegen.<br />

Einzig der Glaube an eine objektive Überlegenheit schafft also<br />

eine tatsächliche Unterlegenheit, eben aufgrund der modernen Unfähigkeit,<br />

die Objektivität der Macht von der souveränen Subjektivität zu<br />

trennen: unterlegen ist allein der Glaube an eine von Dingen sich<br />

herleitende Überlegenheit.<br />

10. Die Souveränität auf der Stufe des Verzichts<br />

Von nun an_ bleiben also nur zwei Möglichkeiten, die dem entsprechen,<br />

was seit je das Streben nach dem Rang war: der Wunsch nach<br />

objektiver, von der subjektiven Souveränität abgetrennter Macht und<br />

das Bemühen um die souveräne Kunst. So ist von beiden Seiten her<br />

die Weigerung, sich subordinieren zu lassen, gebunden an die Weigerung,<br />

andere sich zu subordinieren.<br />

Jedoch von seiten der Macht, gemeint ist die Sowjetmacht,<br />

/85/<br />

führt die Verweigerung der Unterordnung von Menschen unter Menschen<br />

zu ihrer Unterordnung unter die Dinge. Insofern entspricht der<br />

Marxismus genau der Formel von der » Verwaltung der Sachen«.<br />

Aber die Dinge können sich in uns nur den Teil unterwerfen, der ihnen<br />

zukommt, den Teil der Dinge, d. h. die Arbeit. Über die notwendige,<br />

auf Objekte und ihre Handhabung bezogene Arbeit hinaus ist<br />

der Mensch nicht Ding, sondern Subjektivität, die seinen souveränen<br />

Teil ausmacht. Es ist schwierig, das Verhältnis dieser entgegengesetzten<br />

Teile genau zu bestimmen, der eine objektiv, der andere subjektiv,<br />

aber in dem einen ist der gegenwärtige Moment dem späteren<br />

Resultat untergeordnet, in dem anderen ist er souverän.<br />

Das Gleichgewicht ist verschoben zugunsten des ersten in einer<br />

Phase der Akkumulation. Aber jenseits der intensiven Akkumulation,<br />

wenn die Menschheit für sich selbst arbeitet, nicht in erster Linie für<br />

die zukünftige Menschheit, verschiebt sich das Gleichgewicht notwendig<br />

in die entgegengesetzte Richtung. Notwendigerweise dient<br />

der objektive Teil, die Arbeit, dem subjektiven Teil, der schwieriger zu<br />

definieren (zu fassen) ist, den aber die souveräne Kunst artikulieren<br />

kann.<br />

Die intensive Akkumulation (die Dienstbarmachung einer Generation<br />

für die nächste) kann unvermeidlich sein. In diesem Fall kann es eine<br />

Subordination der Kunst unter die Interessen der Produktion geben<br />

(vor allem der Entwicklung der Produktivkräfte). Das ist eine totale<br />

Negation der Dimension der Souveränität. Zumindest scheinbar,<br />

denn der vorübergehende Verzicht auf die Souveränität ist in Wirklichkeit<br />

die Bestätigung der untergründigen Souveränität; diese Be-<br />

142


stätigung kann nur untergründig sein, weil in dieser unvermeidlichen<br />

Bewegung die Subjektivität den. Menschen entgleitet, weil die<br />

Menschheit wesentlich Produktionsgemeinschaft wird und nicht jene<br />

Daseinsberechtigung für die Produkte, die nur in dem Maß greifbar<br />

wird, wie sie jene Subjektivität ihres Wesens erfaßt, die die Kunst<br />

manifestiert.<br />

Die Erfahrung, die unter diesen Bedingungen gemacht wird, kann mit<br />

Feindseligkeit betrachtet werden. Aber dennoch sollten wir ihre Lehre<br />

nicht mißverstehen. Letzten Endes können wir nicht leugnen, daß es<br />

vorteilhaft für den grundlegenden Wert der Kunst war, einer so strengen<br />

Probe unterzogen zu werden, aus der sie gleichsam wie durch<br />

das Feuer geläutert hervorgeht. Ich fühle mich keineswegs an systematisch<br />

strenge Kunstformen gebunden:<br />

/86/<br />

Ich stelle mir im Gegenteil Auflockerungen, unvermeidliche Entlastungen<br />

vor. über die unmittelbaren Reaktionen hinaus, die notwendig<br />

immer unbedeutend sind, verlangt diese Probe doch die Reduktion<br />

der Kunst auf das, was am wenigsten in Verdacht steht, bloße<br />

Zerstreuung ermüdeter Geister zu sein: auf ihren Ernst.<br />

Nur durch die grenzenlose Negation hindurch definieren sich die<br />

Möglichkeiten, die standhalten.<br />

Endlich entsteht an der Spitze ein Vakuum.<br />

Durch Macht ist Souveränität nicht mehr zu erwerben. Erst in der<br />

Einsamkeit, wie die Kontemplation in der Kunst sie erschließt, aber<br />

strenger noch, erst wenn man in einem Gefühl des Verlorenseins auf<br />

die Einfachheit des Unvermeidlichen zurückgeworfen ist, tritt ein äußerster<br />

Wert hervor, ähnlich der Schönheit, die in dem Augenblick, da<br />

der Tod droht, das vergängliche Leben noch einmal umgibt. Es geht<br />

weniger um Werke, in denen diese Schönheit Gestalt annehmen<br />

könnte; vielmehr geht es um eine Kraft, die besitzen muß, wer von ihr<br />

nicht einen Augenblick getrennt sein möchte. Und weiter: vorausgesetzt,<br />

daß die Wenigen, die das angeht, das Bewußtsein dieser Kraft<br />

haben, werden Chaos und Dissonanzen, vom Ausmaß einer Welt,<br />

nicht aufhören, den Durst zu löschen, an dem die Menschheit ewig<br />

leiden wird.<br />

143


Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie<br />

Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970, S.244-260<br />

/244/<br />

Beherrscht wird die neuere Ästhetik von der Kontroverse über deren<br />

subjektive oder objektive Gestalt. Die Termini sind dabei äquivok.<br />

Gedacht wird einmal an den Ausgang von den subjektiven Reaktionen<br />

auf Kunstwerke, im Gegensatz zur intentio recta auf jene hin, die,<br />

nach einem gängigen Schema der Erkenntniskritik, vorkritisch sei.<br />

Weiter können die beiden Begriffe sich auf den Vorrang des objektiven<br />

oder subjektiven Moments in den Kunstwerken selber beziehen,<br />

etwa nach dem Modus der geisteswissenschaftlichen Unterscheidung<br />

von Klassischem und Romantischem. Schließlich wird nach der Objektivität<br />

des ästhetischen Geschmacksurteils gefragt. Die Bedeutungen<br />

sind zu distinguieren. Hegels Ästhetik war, wo die erste in Rede<br />

steht, objektiv gerichtet, während sie unterm Aspekt der zweiten Subjektivität<br />

entschiedener vielleicht hervorhob als seine Vorgänger, bei<br />

denen der Anteil des Subjekts auf die Wirkung auf einen sei es auch<br />

idealen oder transzendentalen Betrachter limitiert war. Die Subjekt-<br />

Objekt-Dialektik trägt bei Hegel in der Sache sich zu. Zu denken ist<br />

auch ans Verhältnis von Subjekt und Objekt im Kunstwerk, soweit es<br />

mit Gegenständen zu tun hat. Es ändert sich geschichtlich, lebt jedoch<br />

nach auch in den ungegenständlichen Gebilden, die zum Gegenstand<br />

Stellung beziehen, indem sie ihn<br />

/245/<br />

tabuieren. Dennoch war der Ansatz der Kritik der Urteilskraft einer<br />

objektiven Ästhetik nicht nur feind. Sie hatte ihre Gewalt daran, daß<br />

sie, wie durchweg Kants Theorien, in den vom Generalstabsplan des<br />

Systems vorgezeichneten Positionen nicht sich häuslich einrichtete.<br />

Insofern nach seiner Lehre Ästhetik durchs subjektive Geschmacksurteil<br />

überhaupt konstituiert wird, wird es notwendig nicht nur zum<br />

Konstituens der objektiven Gebilde, sondern führt als solches objektive<br />

Nötigung mit sich, wie wenig auch diese auf allgemeine Begriffe<br />

zu bringen sei. Kant stand eine subjektiv vermittelte, doch objektive<br />

Ästhetik vor Augen. Der Kantische Begriff der Urteilskraft gilt, in subjektiv<br />

gerichteter Rückfrage, dem Zentrum objektiver Ästhetik, der<br />

Qualität, gut und schlecht, wahr und falsch im Kunstwerk. Die subjektive<br />

Rückfrage aber ist ästhetisch mehr als die epistemologische intentio<br />

obliqua, weil die Objektivität des Kunstwerks qualitativ anders,<br />

144


spezifischer durchs Subjekt vermittelt ist als die von Erkenntnis sonst.<br />

Fast ist es tautologisch, daß die Entscheidung, ob ein Kunstwerk eines<br />

sei, an dem Urteil darüber hängt, und der Mechanismus solcher<br />

Urteile — weit mehr eigentlich als die Urteilskraft als >Vermögen< —<br />

bildet das Thema des Werks. »Die Definition des Geschmacks, welche<br />

hier zum Grunde gelegt wird, ist: daß er das Vermögen der Beurteilung<br />

des Schönen sei. Was aber dazu erfordert wird, um einen<br />

Gegenstand schön zu nennen, das muß die Analyse der Urteile des<br />

Geschmacks entdecken.« 44 Der Kanon des Werks ist die objektive<br />

Gültigkeit des Geschmacksurteils, die nicht garantiert und gleichwohl<br />

stringent sei. Präludiert wird die Situation aller nominalistischen<br />

Kunst. Kant möchte, analog zur Vernunftkritik, ästhetische Objektivität<br />

aus dem Subjekt begründen, nicht jene durch dieses ersetzen.<br />

Implizit ist ihm das Einheitsmoment des Objektiven und Subjektiven<br />

die Vernunft, ein subjektives Vermögen und gleichwohl, kraft seiner<br />

Attribute von Notwendigkeit und Allgemeinheit, Urbild aller Objektivität.<br />

Auch die Ästhetik steht bei Kant unterm Primat der diskursiven<br />

Logik: »Die Momente, worauf diese Urteilskraft in ihrer Reflexion Acht<br />

hat, habe ich nach Anleitung der logischen Funktionen zu urteilen<br />

aufgesucht (denn im Geschmacksurteile<br />

/246/<br />

ist immer noch eine Beziehung auf den Verstand enthalten). Die der<br />

Qualität habe ich zuerst in Betrachtung gezogen, weil das ästhetische<br />

Urteil über das Schöne auf diese zuerst Rücksicht nimmt. 45 Die stärkste<br />

Stütze subjektiver Ästhetik, der Begriff des ästhetischen Gefühls,<br />

folgt aus der Objektivität, nicht umgekehrt. Es sagt, daß etwas so sei;<br />

Kant würde es, als >Geschmack


Begriff und sinkt unter das Apriori von Kunst herab. In der Kunst sind<br />

relative Werturteile, Berufung auf Billigkeit, Geltenlassen von halb<br />

Gelungenem, alle Excusen des gesunden Menschenverstands, auch<br />

der Humanität, schief: ihre Nachsicht schadet dem Kunstwerk, indem<br />

sie stillschweigend seinen Wahrheitsanspruch kassiert. Solange die<br />

Grenze der Kunst gegen die Realität nicht verwaschen ist, frevelt an<br />

jener die unabdingbar aus der Realität transplantierte Toleranz für<br />

schlechte Gebilde.<br />

Mit Grund sagen, warum ein Kunstwerk schön, warum es wahr,<br />

stirmmig, legitimiert sei, hieße aber selbst dann nicht, auf seine<br />

/247/<br />

allgemeinen Begriffe es abzuziehen, wenn diese Operation, wie Kant<br />

es ersehnt und bestreitet, möglich wäre. In jedem Kunstwerk, nicht<br />

erst in der Aporie der reflektierenden Urteilskraft, schürzt sich der<br />

Knoten von Allgemeinem und Besonderem. Kants Einsicht nähert<br />

sich dem mit der Bestimmung des Schönen als dessen, »was ohne<br />

Begriff allgemein gefällt«. 46 Solche Allgemeinheit ist, trotz Kants verzweifelter<br />

Anstrengung, von Notwendigkeit nicht zu sondern; daß<br />

etwas >allgemein gefällt< ist äquivalent dem Urteil, daß es einem<br />

jeden gefallen müsse, sonst einzig eine empirische Konstatierung.<br />

Allgemeinheit und implizite Notwendigkeit bleiben jedoch unabdingbar<br />

Begriffe, und deren Kantische Einheit, das Gefallen, ist dem<br />

Kunstwerk äußerlich. Die Forderung der Subsumtion unter eine<br />

Merkmaleinheit vergeht sich gegen jene Idee des Begreifens von<br />

innen her, die durch den Zweckbegriff in beiden Teilen der Kritik der<br />

Urteilskraft das klassifikatorische, der Erkenntnis des Gegenstands<br />

von innen nachdrücklich absagende Verfahren der >theoretischen


248/<br />

mente ins Intelligible gespannt, so büßt die Kantische Lehre ihren<br />

Inhalt ein . Kunstwerke sind, keineswegs bloß der abstrakten Möglichkeit<br />

nach, denkbar, die seinen Momenten des Geschmacksurteils<br />

genügen und trotzdem nicht zureichen. Andere – wohl die neue<br />

Kunst insgesamt – widerstreiten jenen Momenten, gefallen keineswegs<br />

allgemein, ohne daß sie dadurch objektiv disqualifiziert wären.<br />

Kant erreicht die Objektivität tier Ästhetik, auf die er aus ist, wie die<br />

der Ethik durch allgemeinbegriffliche Formalisierung. Diese ist dem<br />

ästhetischen Phänomen, als dem konstitutiv Besonderen, entgegen.<br />

An keinem Kunstwerk ist wesentlich, was ein jegliches, seinem reinen<br />

Begriff nach, sein muß. Die Formalisierung, Akt subjektiver Vernunft,<br />

drängt die Kunst in eben jenen bloß: subjektiven Bereich, schließlich<br />

in die Zufälligkeit zurück, der Kant sie entreißen möchte und der<br />

Kunst selbst wider-streitet. Subjektive und objektive Ästhetik, als Gegenpole,<br />

stehen einer dialektischen gleichermaßen zur Kritik: jene,<br />

weil sie entweder abstrakt-transzendental oder kontingent je nach<br />

dem einzelmenschlichen Geschmack ist – diese, weil sie die objektive<br />

Vermitteltheit von Kunst durchs Subjekt werk ennt. Im Gebilde ist<br />

Subjekt weder der Betrachter noch der Sch Opfer noch absoluter<br />

Geist, viel mehr der an die Sache gebundene, von ihr präformiert,<br />

seinerseits durchs Objekt vermittelt.<br />

Fürs Kunstwerk, und darum für die Theorie, sind Subjekt und Objekt<br />

dessen eigene Momente, dialektisch darin, daß woraus auch immer<br />

es sich zusammensetzt: Material, Ausdruck, Form, je gedoppelt beides<br />

sind. Die Materialien sind von der Hand derer geprägt, von denen<br />

das Kunstwerk sie empfing; Ausdruck, im Werk objektiviert und objektiv<br />

an sich, dringt als subjektive Regung ein; Form muß nach den<br />

Necessitäten des Objekts subjektiv gezeitigt werden, wofern sie nicht<br />

zum Geformten mechanisch sich verhalten soll. Was, analog zu der<br />

Konstruktion eines Gegebenen in der Erkenntnistheorie, so objektiv<br />

undurchdringlich den Künstlern entgegentritt wie vielfach ihr Material,<br />

ist zugleich sedimentiertes Subjekt; das dem Anschein nach Subjektivste,<br />

der Ausdruck, objektiv auch derart, daß das Kunstwerk daran<br />

sich abarbeitet, ihn sich einverleibt; schließlich ein subjektives Verhalten,<br />

in dem Objektivität sich abdrückt. Die Reziprozität von Subjekt<br />

und Objekt im Werk aber, die keine Iden-<br />

/249/<br />

tität sein kann, hält sich in prekärer Balance. Der subjektive Prozeß<br />

der Hervorbringung ist nach seiner privaten Seite gleichgültig. Er hat<br />

aber auch eine objektive, als Bedingung dafür, daß die immanente<br />

Gesetzlichkeit sich realisiere. Als Arbeit, nicht als Mitteilung gelangt<br />

das Subjekt in der Kunst zu dem Seinen. Das Kunstwerk muß die<br />

Balance ambitionieren, ohne ihrer ganz mächtig zu sein: ein Aspekt<br />

des ästhetischen Scheincharakters. Der einzelne Künstler fungiert als<br />

Vollzugsorgan auch jener Balance. Im Produktionsprozeß sieht er<br />

einer Aufgabe sich gegenüber, von der es schwer fällt zu sagen, ob<br />

er auch nur diese sich stellte; der Marmorblock, in dem eine Skulptur,<br />

die Klaviertasten, in denen eine Komposition darauf warten, entbun-<br />

147


den zu werden, sind für jene Aufgabe wahrscheinlich mehr als Metaphern.<br />

Die Aufgaben tragen ihre objektive Lösung in sich, wenigstens<br />

innerhalb einiger Variationsbreite, obwohl sie nicht die Eindeutigkeit<br />

von Gleichungen besitzen. Die Tathandlung des Künstlers ist das<br />

Minimale, zwischen dem Problem zu vermitteln, dem er sich gegenüber<br />

sieht und das selber bereits vorgezeichnet ist, und der Lösung,<br />

die ebenso potentiell in dem Material steckt. Hat man das Werkzeug<br />

einen verlängerten Arm genannt, so könnte man den Künstler verlängertes<br />

Werkzeug nennen, eines des Übergangs vοn der Potentialität<br />

zur Aktualität.<br />

Der Sprachcharakter der Kunst führt auf die Reflexion, was aus der<br />

Kunst rede; das eigentlich, der Hervorbringende nicht und nicht der<br />

Empfangende, ist ihr Subjekt. Überdeckt wird das vom Ich der Lyrik,<br />

das für Jahrhunderte sich einbekannte und den Schein der Selbstverständlichkeit<br />

der poetischen Subjektivität zeitigte. Aber sie ist keineswegs<br />

mit dem Ich, das aus dem Gedicht redet, identisch. Nicht<br />

bloß des dichterischen Fiktionscharakters der Lyrik und der Musik<br />

wegen, wo der subjektive Ausdruck mit Zuständen des Komponisten<br />

kaum je unmittelbar zusammenfällt. Weit darüber hinaus ist prinzipiell<br />

das grammatische Ich des Gedichts von dem durchs Gebilde latent<br />

redenden erst gesetzt, das empirische Funktion des geistigen, nicht<br />

umgekehrt. Der Anteil des empirischen ist nicht, wie der Topos der<br />

Echtheit es möchte, der Ort von Authentizität. Offen, ob das latente<br />

Ich, das redende, in den Gattungen der Kunst das gleiche sei, und ob<br />

es sich verändert; es dürfte mit den Materialien der Künste qua-<br />

/250/<br />

litativ variieren; deren Subsumtion unter den fragwürdigen Oberbegriff<br />

der Kunst täuscht darüber. Jedenfalls ist es sachimmanent, konstituiert<br />

sich im Gebilde, durch den Akt von dessen Sprache ; der real<br />

Hervorbringende ist im Verhältnis zum Gebilde eiai Moment der Realität<br />

wie andere. Nicht einmal in der faktischen Produktion der Kunstwerke<br />

entscheidet die Privatperson. Implizit erfordert das Kunstwerk<br />

Arbeitsteilung, und das Individuum fungiert vorweg arbeitsteilig darin.<br />

Indem die Produktion ihrer Materie sich überantwortet, resultiert sie<br />

inmitten äußerster Individuation in einem Allgemeinen. Die Kraft solcher<br />

Entäußerung des privaten Ichs an die Sache ist das kollektive<br />

Wesen in jenem; es konstituiert den Sprachcharakter der Werke. Die<br />

Arbeit am Kunstwerk ist gesellschaftlich durchs Individuum hindurch,<br />

ohne daß es dabei der Gesellschaft sich bewußt sein müßte; vielleicht<br />

desto mehr, je weniger es das ist. Das je eingreifende einzelmenschliche<br />

Subjekt ist kaum mehr als ein Grenzwert, ein Minimales,<br />

dessen das Kunstwerk bedarf, um sich zu kristallisieren. Die Verselbständigung<br />

des Kunstwerks dem Künstler gegenüber ist keine Ausgeburt<br />

des Größenwahns von l'art pour l'art, sondern der einfachste<br />

Ausdruck seiner Beschaffenheit als eines gesellschaftlichen Verhältnisses,<br />

das in sich das Gesetz seiner eigenen Vergegenständlichung<br />

trägt: nur als Dinge werden die Kunstwerke zur Antithesis des dinghaften<br />

Unwesens. Dem ist gemäß der zentrale Sachverhalt, daß aus<br />

den Kunstwerken, auch den sogenannten individuellen, ein Wir<br />

spricht und kein Ich, und zwar desto reiner, je weniger es äußerlich<br />

148


einem Wir und dessen Idiom sich adaptiert. Auch darin prägt die Musik<br />

gewisse Charaktere des Künstlerischen extrem aus, ohne daß ihr<br />

übrigens deshalb ein Vorrang gebührte. Sie sagt unmittelbar, gleichgültig<br />

was ihre Intention sei, Wir. Noch die protokollähnlichen Gebilde<br />

ihrer expressionistischen Phase verzeichnen Erfahrungen von Verbindlichkeīt,<br />

und ihre eigene, ihre Gestaltungskraft haftet daran, ob<br />

sie wirklich aus ihnen sprechen. An der abendländischen Musik ließe<br />

siele dartun, wie sehr ihr wichtigster Fund, die harmonische Tiefendimension<br />

samt aller Kontrapunktik und Polyphonie, das aus dem<br />

chorischen Ritual in die Sache eingedrungene Wir ist. Es läßt seine<br />

Buchstäblichkeit ein, verwandelt sich zum immanenten Agens, und<br />

bewahrt doch<br />

/251/<br />

den redenden Charakter. Dichtungen sind durch ihre unmittelbare<br />

Teilhabe an der kommunikativen Sprache, von der keine ganz loskommt,<br />

auf ein Wir bezogen; ihrer eigenen Sprachlichkeit zuliebe<br />

müssen sie sich abmühen, jener ihnen auswendigen, mitteilenden<br />

ledig zu werden. Aber dieser Prozeß ist nicht, wie er erscheint und<br />

sich selber dünkt, einer der puren Subjektivierung. Durch ihn<br />

schmiegt das Subjekt der kollektiven Erfahrung um so inniger sich an,<br />

je spröder es sich gegen ihren sprachlich vergegenständlichten Ausdruck<br />

macht. Bildende Kunst dürfte durch das Wie der Apperzeption<br />

reden. Ihr Wir ist geradeswegs das Sensorium seinem geschichtlichen<br />

Stande nach, bis es die Relation zur Gegenständlichkeit, die<br />

sich veränderte, vermöge der Ausbildung seiner Formensprache zerbricht.<br />

Was Bilder sagen ist ein Seht einmal; sie haben ihr kollektives<br />

Subjekt an dem, worauf sie deuten, es geht nach außen, nicht wie bei<br />

der Musik nach innen. In der Steigerung ihres Sprachcharakters ist<br />

die Geschichte der Kunst, die ihrer fortschreitenden Individualisierung<br />

gleichgesetzt wird, ebenso deren Gegenteil. Daß dies Wir jedoch<br />

nicht gesellschaftlich eindeutig, kaum eines bestimmter Klassen oder<br />

sozialer Positionen ist, das mag daher rühren, daß es Kunst emphatischen<br />

Anspruchs bis heute nur als bürgerliche gegeben hat; nach<br />

Trotzkis These kann nach dieser keine proletarische vorgestellt werden,<br />

einzig eine sozialistische. Das ästhetische Wir ist gesamtgesellschaftlich<br />

im Horizont einiger Unbestimmtheit, freilich auch so bestimmt<br />

wie die herrschenden Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse<br />

einer Epoche. Während Kunst dazu versucht ist,<br />

eine nichtexistente Gesamtgesellschaft, deren nichtexistentes Subjekt<br />

zu antezipieren, und darin nicht bloß Ideologie, haftet ihr zugleich<br />

der Makel von dessen Nichtexistenz an. Dennoch bleiben die Antagonismen<br />

der Gesellschaft in ihr erhalten. Wahr Ist Kunst, soweit<br />

das aus ihr Redende und sie selber zwiespältig, unversöhnt ist, aber<br />

diese Wahrheit wird ihr zuteil, wenn sie das Gespaltene synthesiert<br />

und dadurch erst in seiner Unversöhnlichkeit bestimmt. Paradox hat<br />

sie das Unversöhnte zu bezeugen und gleichwohl tendenziell zu versöhnen;<br />

möglich ist das nur ihrer nicht-diskursiven Sprache. In jenem<br />

Prozeß allein konkretisiert sich ihr Wir. Was aber aus ihr redet, ist<br />

wahrhaft ihr Subjekt insofern, als es aus ihr redet und nicht von ihr<br />

darge-<br />

149


252/<br />

stellt wird. Der Titel des unvergleichlichen letzten Stücks aus Schumanns<br />

Kinderszenen, eines der frühesten Modelle expressionistischer<br />

Musik: »Der Dichter spricht«, notiert das Bewußtsein davon.<br />

Abbilden aber läßt das ästhetische Subjekt wahrscheinlich darum<br />

sich nicht, weil es, gesellschaftlich vermittelt, so wenig empirisch<br />

ist wie nur das transzendentale der Philosophie. »Die Objektivation<br />

des Kunstwerks geht auf Kosten der Abbildung von Lebendigem.<br />

Leben gewinnen die Kunstwerke erst, wo sie auf Menschenähnlichkeit<br />

verzichten. >Der Ausdruck eines unverfälschten Gefühls ist immer<br />

banal. Je unverfälschter um so banaler. Um es nicht zu sein,<br />

muß man sich anstrengen-


Künstler haben es schwer nicht nur wegen ihres nach wie vor ungewissen<br />

Schicksals in der Welt, sondern weil sie der ästhetischen<br />

Wahrheit, der sie nachhängen, zwangshaft durch die eigene Anstrengung<br />

zuwider handeln. Soweit geschichtlich-real Subjekt und<br />

Objekt auseinandergetreten sind, ist Kunst möglich nur als durchs<br />

Subjekt hindurch gegangene. Denn Mimesis ans vom Subjekt nicht<br />

Hergerichtete ist nirgends anders als im Subjekt als Lebendigem.<br />

Das setzt sich fort in der Objektivation von Kunst durch ihren immanenten<br />

Vollzug, der des geschichtlichen Subjekts bedarf. Hofft das<br />

Kunstwerk durch seine Objektivation auf die dem Subjekt verborgene<br />

Wahrheit, so darum, weil das Subjekt selber nicht das Letzte ist. Das<br />

Verhältnis der Objektivität des Kunstwerks zum Vorrang des Objekts<br />

ist gebrochen. Sie zeugt für diesen im Stande des universalen Banns,<br />

der dem An sich Refugium gewährt nur noch im Subjekt, während<br />

seine Art Objektivität der vom Subjekt gewirkte Schein ist, Kritik an<br />

der Objektivität. Von solcher Objektwelt läßt sie nur die membra disiecto<br />

ein; einzig als demontierte wird jene dem Formgesetz kommensurabel.<br />

Subjektivität, notwendige Bedingung des Kunstwerks, ist aber nicht<br />

als solche die ästhetische Qualität. Sie wird es erst durch Objektivation;<br />

insofern ist Subjektivität im Kunstwerk sich selbst entäußert und<br />

verborgen. Das verkennt Riegls Begriff des Kunstwollens. Gleichwohl<br />

trifft er ein für immanente Kritik Wesentliches: daß über den Rang<br />

von Kunstwerken nicht ein ihnen Äußerliches befindet. Sie – nicht<br />

freilich ihre Autoren – sind ihr eigenes Maß, nach der Wagnerschen<br />

Formel ihre selbstgesetzte Regel. Die Frage nach, deren eigener<br />

Legitimation ist nicht jenseits von ihrer Erfüllung. Kein Kunstwerk ist<br />

nur, was es will,<br />

/254/<br />

/254/<br />

aber keines ist mehr, ohne daß es etwas will. Das kommt der Spontaneität<br />

recht nahe, obwohl gerade sie auch Unwillkürliches involviert.<br />

Sie manifestiert sich vorab in der Konzeption des Werks, seiner aus<br />

ihm selbst ersichtlichen Anlage. Auch sie ist keine abschlußhafte Kategorie:<br />

vielfach verändert sie die Selbstrealisierung der Werke. Fast<br />

ist es das Siegel von Objektivation, daß unter dem Druck immanenter<br />

Logik die Konzeption sich verschiebt. Dies ichfremde, dem vorgeblichen<br />

Kunstwollen konträre Moment ist den Künstlern, wie den Theoretikern,<br />

zuweilen schreckhaft, bekannt; Nietzsche hat von demselben<br />

Sachverhalt am Ende von »Jenseits von Gut und Böse« gesprochen.<br />

Das Mo-ment des Ichfremden unterm Zwang der Sache ist<br />

wohl das Signum dessen, was mit dem Terminus genial gemeint war.<br />

Der Geniebegriff wäre, wenn irgend etwas an ihm zu halten ist, von<br />

jener plumpen Gleichsetzung mit dem kreativen Subjekt loszureißen,<br />

die aus eitel Überschwang das Kunstwerk ins Dokument seines Urhebers<br />

verzaubert und damit verkleinert. Die Objektivität der Werke,<br />

den Menschen in der Tauschgesellschaft ein Stachel, weil sie von<br />

Kunst, irrend, erwarten, sie mildere die Entfremdung, wird ιn den<br />

Menschen, der hinter dem Werk stehe, zurückübersetzt; meist ist er<br />

nur die Charaktermaske derer, die das Werk als Konsumartikel verkaufen<br />

wollen. Will man den Geniebegriff nicht einfach als romanti-<br />

151


schen Überrest abschaffen, so ist er auf seine geschichtsphilosophische<br />

Objektivität zu bringen. Die Divergenz von Subjekt und Individuum,<br />

präformiert im Kantischen Antipsychologismus, aktenkundig<br />

bei Fichte, affiziert auch die Kunst. Der Charakter des Authentischen,<br />

Verpflichtenden und die Freiheit des emanzipierten Einzelnen entfernen<br />

sich von einander. Der Geniebegriff ist ein Versuch, beides<br />

durch einen Zauberschlag zusammenzubringen, dem Einzelnen im<br />

Sondergebiet Kunst unmittelbar das Vermögen zum übergreifend<br />

Authentischen zu attestieren. Der Erfahrungsgehalt solcher Mystifikation<br />

ist, daß tatsächlich in der Kunst Authentizität, das universale<br />

Moment, anders als durchs principium individuatk nis nicht mehr<br />

möglich ist, so wie umgekehrt die allgemeine bürgerliche Freiheit die<br />

zum Besonderen, zur Individuation sein sollte. Nur wird von der Genie-Ästhetik<br />

dies Verhältnis blindlings, undialektisch in jenes Individuum<br />

verlegt, das da zugleich<br />

/255/<br />

Subjekt sein soll; der intellectus archetypus, ιn der Erkenntnistheorie<br />

ausdrücklich Idee, wird im Geniebegriff wie eine Tatsache der Kunst<br />

behandelt. Genie soll das Individuum sein, dessen Spontaneität mit<br />

der Tathandlung des absoluten Subjekts koinzidiert. Soviel ist richtig<br />

daran, wie die Individuation der Kunstwerke, vermittelt durch Spontaneität,<br />

das an ihnen ist, wodurch sie sich objektivieren. Falsch aber<br />

ist der Geniebegriff, weil Gebilde keine Geschöpfe sind und Menschen<br />

keine Schöpfer. Das bedingt die Unwahrheit der Genie-<br />

Ästhetik, welche das Moment des endlichen Machens, der téchne an<br />

den Kunstwerken zugunsten ihrer absoluten Ursprünglichkeit, quasi<br />

ihrer natura naturans unterschlägt und damit die Ideologie vom<br />

Kunstwerk als einem Organischen und Unbewußten in die Welt setzt,<br />

die dann zum trüben Strom des Irrationalismus sich verbreitert. Von<br />

Anbeginn lenkt die Akzentverschiebung der Genie-Ästhetik auf den<br />

Einzelnen, wie sehr sie auch der schlechten Allgemeinheit opponiert,<br />

auch von der Gesellschaft ab, indem sie den Einzelnen verabsolutiert.<br />

Trotz allen Mißbrauchs aber erinnert der Geniebegriff daran,<br />

daß das Subjekt im Kunstwerk nicht durchaus auf die Objektivation<br />

zu reduzieren ist. In der Kritik der Urteilskraft war der Geniebegriff die<br />

Zufluchtsstätte alles dessen, was der Hedonismus der Kantischen<br />

Ästhetik sonst entzog. Nur hat er Genialität, mit unübersehbarer Folge,<br />

einzig dem Subjekt reserviert, gleichgültig gegen die Ichfremdheit<br />

gerade dieses Moments, die später im Kontrast des Genies zur wissenschaftlichen<br />

und philosophischen Rationalität ideologisch ausgebeutet<br />

wurde. Die bei Kant beginnende Fetischisierung des Geniebegriffs<br />

als der abgetrennten, nach Hegels Sprache abstrakten Subjektivität,<br />

hat schon in Schillers Votivtafeln kraß elitäre Züge angenommen.<br />

Er wird potentiell zum Feind der Kunstwerke; mit einem Seitenblick<br />

auf Goethe soll der Mensch hinter jenen wesentlicher sein als<br />

sie selbst. Im Geniebegriff wird mit idealistischer Hybris die Idee des<br />

Schöpfertums vom transzendentalen Subjekt an das empirische, den<br />

produktiven Künstler zediert. Das behagt dem bürgerlichen Vulgärbewußtsein,<br />

ebenso wegen des Arbeitsethos ιn der Glorifizierung<br />

reinen Schöpfertums des Menschen ohne Rücksicht auf den Zweck,<br />

152


wie weil dem Betrachter die Bemühung um die Sache abgenommen<br />

wird: man speist ihn mit der Persön-<br />

/256/<br />

lichkeit, am Ende der Kitschbiographik der Künstler ab. Die Produzenten<br />

bedeutender Kunstwerke sind keine Halbgötter, sondern fehlbare,<br />

oft neurotische und beschädigte Menschen. Ästhetische Gesinnung<br />

aber, die mit dem Genie tabula rasa macht, artet zur öden und<br />

schulmeisterlichen Handwerkerei, zum Nachpinseln von Schablonen<br />

aus. Das Wahrheitsmoment am Geniebegriff ist in der Sache zu suchen,<br />

dem Offenen, nicht in Wiederholung Gefangenen. Übrigens<br />

war der Geniebegriff, als er im späteren achtzehnten Jahrhundert in<br />

Schwang kam, noch keineswegs charismatisch; nach der Idee jener<br />

Periode sollte jeder Genie sein können, wofern er unkonventionell als<br />

Natur sich äußerte. Genie war Haltung, >genialisch Treiben


Wegen des Moments des nicht schon Dagewesenen war das Geniale<br />

mit dem Begriff der Originalität verkoppelt: >Originalgenie


aus dem Nichts hervorzubringen. Ihr vulgärer Begriff, der absoluter<br />

Erfindung, ist das genaue Korrelat zum neuzeitlichen Wissenschaftsideal<br />

als der strikten Reproduktion eines bereits Vorhandenen; an<br />

dieser Stelle hat die bürgerliche Arbeitsteilung einen Graben gezogen,<br />

der ebenso die Kunst von jeglicher Vermittlung zur Realität<br />

trennt wie die Erkenntnis von allem, was jene Realität irgend transzendiert.<br />

Bedeutenden Kunstwerken war jener Phantasiebegriff wohl<br />

nie wesentlich; die Erfindung etwa von Phantasiewesen in aller neueren<br />

bildenden Kunst subaltern, der angeflogene musikalische Einfall,<br />

als Moment nicht zu leugnen, so lange kraftlos, wie er nicht durch<br />

das, was aus ihm wird, sein pures Vorhandensein überflügelt. Ist in<br />

den Kunstwerken alles und noch das Sublimste an das Daseiende<br />

gekettet, dem sie sich entgegenstemmen, so kann Phantasie nicht<br />

das billige Vermögen sein, dem Daseienden zu entfliehen, indem sie<br />

ein Nichtdaseiendes setzt, als ob es existierte.<br />

/259/<br />

Vielmehr rückt Phantasie, was immer die Kunstwerke an Daseiendem<br />

absorbieren, in Konstellationen, durch welche sie zum Anderen<br />

des Daseins werden, sei es auch allein durch dessen bestimmte Negation.<br />

Sucht man, wie die Erkenntnistheorie es taufte, in phantasierender<br />

Fiktion irgendein schlechterdings nichtseiendes Objekt sich<br />

vorzustellen, so wird man nichts zuwege bringen, was nicht in seinen<br />

Elementen und selbst in Momenten seines Zusammenhangs reduktibel<br />

wäre auf irgendwelches Seiende. Nur im Bann totaler Empirie<br />

erscheint, was dieser qualitativ sich entgegensetzt, doch wiederum<br />

als nichts anderes denn ein Daseiendes zweiter Ordnung nach dem<br />

Modell der ersten. Einzig durchs Seiende hindurch transzendiert<br />

Kunst zum Nichtseienden; sonst wird sie hilflose Projektion dessen,<br />

was ohnehin ist. Demgemäß ist Phantasie in den Kunstwerken keineswegs<br />

auf die jähe Vision beschränkt. So wenig Spontaneität von<br />

ihr wegzudenken ist, so wenig ist sie, der creatio ex nihilo das Nächste,<br />

das Ein und Alles der Kunstwerke. Der Phantasie mag primär im<br />

Kunstwerk ein Konkretes aufblitzen, zumal bei<br />

den Künstlern, deren Produktionsprozeß von unten nach oben führt.<br />

Ebenso jedoch wirkt Phantasie in einer Dimension, die dem Vorurteil<br />

für abstrakt gilt, im quasi leeren Umriß, der dann durch die >Arbeit


ma in seiner primären Form, rückwirkend gleichsam, aus ihm abgeleitet<br />

wurde. Keine geringere Phantasie-<br />

/260/<br />

leistung, daß in den späteren Partien der weiträumigen Durchführung<br />

des ersten Satzes der Eroica, als wäre nun keine Zeit mehr zur differenzierenden<br />

Arbeit, zu lapidar harmonischen Perioden übergegangen<br />

wird. Mit dem steigenden Vorrang der Konstruktion mußte die<br />

Substantialität des Einzeleinfalls sich mindern. Wie sehr Arbeit und<br />

Phantasie ineinander sind – ihre Divergenz ist stets Index des Mißlingens<br />

–, dafür spricht die Erfahrung der Künstler, daß Phantasie sich<br />

kommandieren läßt. Sie empfinden die Willkür zum Unwillkürlichen<br />

als das, was vom Dilettantismus sie abhebt. Auch subjektiv- sind ästhetisch<br />

wie in der Erkenntnis Unmittelbarkeit und Mittelbares ihrerseits<br />

durch einander vermittelt. Kunst ist, nicht genetisch, aber ihrer<br />

Beschaffenheit nach, das drastischeste Argument gegen die erkenntnistheoretische<br />

Trennung von Sinnlichkeit und Verstand. Reflexion ist<br />

zur Phantasieleistung überaus fähig: das bestimmte Bewußtsein dessen,<br />

was ein Kunstwerk an einer Stelle braucht, zieht es herbei. Daß<br />

Bewußtsein töte, ist in der Kunst, die der Kronzeuge dafür sein soll,<br />

ein so albernes Cliché wie allerorten. Noch das Auflösende der Reflexion,<br />

ihr kritisches Moment, wird als Selbstbesinnung des Kunstwerks<br />

fruchtbar, die das Unzulängliche, Ungeformte, Unstimmige<br />

ausscheidet oder modifiziert. Umgekehrt hat die Kategorie des ästhetisch<br />

Dummen ihr fundamentum in re, den Mangel von Werken an<br />

immanenter Reflexion, etwa der auf den Stumpfsinn unfiltrierter Wiederholungen.<br />

Schlecht an den Kunstwerken ist Reflexion, die von<br />

außen sie steuert, ihnen Gewalt antut, aber wohin sie von sich aus<br />

wollen, dem ist subjektiv anders als durch Reflexion gar nicht zu folgen,<br />

und die Kraft dazu ist spontan. Involviert ein jegliches Kunstwerk<br />

einen – wahrscheinlich aporetischen – Problemzusammenhang, so<br />

entflösse daraus nicht die schlechteste Definition von Phantasie. Als<br />

Vermögen, im Kunstwerk Ansätze und Lösungen zu erfinden, darf sie<br />

das Differential von Freiheit inmitten der Determination heißen.<br />

156


Michel Foucault: Was ist ein Autor?<br />

In: Schriften zur Literatur, Frankfurt/M./Berlin/Wien:Ullstein 1979, S.7-<br />

31<br />

/7/<br />

Französische Gesellschaft für Philosophie Sitzung vom Samstag,<br />

den 22. Februar 1969<br />

Michel Foucault, Professor am Centre Universitaire Expérimental in<br />

Vincennes, möchte vor den Mitgliedern der Französischen Gesellschaft<br />

für Philosophie folgende Argumente entwickeln:<br />

»Wen kümmert's, wer spricht?« In dieser Gleichgültigkeit äußert sich<br />

das wohl grundlegendste ethische Prinzip zeitgenössischen Schreibens.<br />

Das Zurücktreten des Autors ist für die Kritik zu einem mittlerweile<br />

alltäglichen Thema geworden. Wesentlich ist jedoch nicht, einmal<br />

mehr sein Verschwinden festzustellen, sondern als — ebenso<br />

gleichgültige wie zwingende — Leerstellen die Orte aus-findig zu machen,<br />

an denen er seine Funktion ausübt.<br />

1. Autorname: man kann ihn nicht wie eine festgelegte Beschreibung<br />

behandeln; aber man kann ihn ebensowenig wie einen gewöhnlichen<br />

Eigennamen behandeln.<br />

2. Aneignungsverhältnis: der Autor ist genau genommen weder der<br />

Eigentümer seiner Texte, noch ist er verantwortlich dafür; er ist weder<br />

ihr Produzent noch ihr Erfinder. Wie ist der »speech act« beschaffen,<br />

der es erlaubt, von einem Werk zu sprechen?<br />

3. Zuschreibungsverhältnis: der Autor ist sicherlich derjenige, dem<br />

man das Geschriebene oder Gesagte zuschreiben kann. Aber die<br />

Zuschreibung — selbst wenn es sich um einen bekannten Autor handelt<br />

— ist das Ergebnis komplizierter kritischer Operationen. Unsicherheiten<br />

des »Opus«.<br />

4. Position des Autors: Position des Autors im Buch (Verwendung<br />

von Einschüben; Funktionen von Vorwörtern; Trugbilder vom Schreiber,<br />

Vortragenden, Vertrauten, Memoirenschreiber. Position des Autors<br />

in den verschiedenen Diskurs-Typen (im philosophischen Diskurs<br />

zum Beispiel). Position des Autors in einem diskursiven Feld<br />

(Was ist das, der Begründer eines Fachs? Was kann die »Rückkehr<br />

zu ...« als entscheidendes Moment für die Transformation eines Redefeldes<br />

bedeuten?).<br />

/8/<br />

Sitzungsbericht<br />

Die Sitzung wird um 16.25 Uhr im Collège de France, Saal 6 unter<br />

dem Vorsitz von Jean Wahl eröffnet.<br />

157


Jean Wahl. — Wir freuen uns, heute Michel Foucault bei uns zu haben.<br />

Wir waren etwas ungeduldig, bis er kam, und etwas beunruhigt<br />

über seine Verspätung, aber er ist da. Ich stelle ihn Ihnen nicht vor,<br />

das ist der »richtige« Michel Foucault, der von Les Mots et les Choses,<br />

der mit der Doktorarbeit über den Wahnsinn. Ich erteile ihm sofort<br />

das Wort.<br />

Michel Foucault. — Ich glaube — ohne übrigens ganz sicher zu sein<br />

—, daß es Tradition ist, dieser Gesellschaft für Philosophie das Ergebnis<br />

schon fertiger Arbeiten mitzubringen, um sie ihrer Prüfung und<br />

Kritik vorzulegen. Leider ist das, was ich Ihnen heute mitbringe, viel<br />

zu unbedeutend, so fürchte ich, um Ihre Aufmerksamkeit zu verdienen:<br />

einen Plan möchte ich Ihnen vorlegen, den Versuch einer Analyse,<br />

deren große Linien ich selbst noch kaum sehe; es schien mir<br />

jedoch, daß, bemühte ich mich, diese Linien vor Ihnen nachzuzeichnen,<br />

und bäte ich Sie, sie zu beurteilen und zu berichtigen, ich als<br />

»guter Neurotiker« auf der Suche nach einem doppelten Vorteil sei:<br />

zunächst dem, die Ergebnisse einer noch nicht existierenden Arbeit<br />

vor der Strenge Ihrer Einwände zu bewahren, und dem, im Augenblick<br />

ihrer Entstehung ihr nicht nur Ihre Patenschaft, sondern auch<br />

Ihre Anregungen zugute kommen zu lassen.<br />

Und ich möchte Sie noch um etwas anderes bitten; seien Sie mir<br />

nicht böse, daß ich, wenn ich Sie gleich Ihre Fragen werde stellen<br />

hören, noch immer und vor allem hier das Fehlen einer Stimme spüre.<br />

die mir bislang unerläßlich war; Sie werden sicher verstehen, daß<br />

ich gleich fast zwangsläufig auf meinen ersten Lehrer 48 zu hören versuche.<br />

Schließlich habe ich über meinen ersten Arbeitsplan zunächst<br />

mit ihm besprochen. Ganz sichere hätte ich seiner Unterstützung<br />

auch für diesen Entwurf bedurft und seiner neuerlichen Hilfe in meiner<br />

Unsicherheit. Doch da ja schließlich die Abwesenheit der erste<br />

Ort des Diskurses ist, gestatten Sie mir bitte, daß ich mich heute<br />

Abend in erster Linie an ihn wende.<br />

/9/<br />

Das Thema, das ich mir vorgenommen habe: »Was ist ein Autor?«<br />

muß ich wohl vor Ihnen etwas rechtfertigen.<br />

Wenn ich mich dazu entschlossen habe, diese vielleicht ein wenig<br />

sonderbare Frage zu behandeln, so geschieht dies zunächst, weil ich<br />

da und dort Kritik üben wollte an dem, was mir früher einmal beim<br />

Schreiben unterlaufen ist. Und ich wollte auf eine Reihe von Unvorsichtigkeiten<br />

zurückkommen, die ich begangen habe. In Les Mots<br />

et les Choses habe ich versucht, Wortmassen zu untersuchen, in gewisser<br />

Weise Diskursschichten, die nicht nach den üblichen Einheiten<br />

Buch, Werk, Autor gegliedert sind. Ich sprach allgemein von der »Naturgeschichte«<br />

oder der »Analyse des Reichtums« oder von »politischer<br />

Ökonomie«, jedoch nicht von Werken und Schriftstellern. Aller-<br />

48 Jean Hyppolite.<br />

158


dings habe ich durch den ganzen Text hindurch naiv, und das heißt<br />

barbarisch, Autorennamen verwendet. Ich habe von Buffon, Cuvier,<br />

Ricardo, usw. gesprochen und habe diese Namen in sehr peinlicher<br />

Mehrdeutigkeit stehen lassen. Deshalb konnten gerechterweise zwei<br />

Haupteinwände vorgebracht werden, die in der Tat auch vorgebracht<br />

wurden. Die einen haben mir gesagt: Sie beschreiben weder Buffon<br />

noch sein Gesamtwerk, wie es sich gehört, und das, was Sie über<br />

Marx sagen, ist lächerlich wenig verglichen mit dem Marxschen Denken.<br />

Diese Einwände waren zwar begründet, aber ich glaube nicht,<br />

daß sie ganz das trafen, was ich gemacht hatte; denn mein Problem<br />

war nicht, Buffon oder Marx zu beschreiben oder wiederzugeben,<br />

was sie gesagt hatten oder hatten sagen wollen: ich versuchte einfach,<br />

die Regeln zu finden, mit denen sie eine bestimmte Zahl von<br />

Begriffen oder theoretischen Einheiten gebildet hatten. Und noch<br />

einen anderen Einwand hat man vorgebracht: Sie gründen<br />

ungeheuerliche Familien, Sie bringen so offensichtlich gegensätzliche<br />

Namen wie Buffon und Linné zusammen, Sie stellen Cuvier neben<br />

Darwin, und das entgegen aller sichtbaren Familienbande und<br />

natürlicher Ähnlichkeiten. Auch hier würde ich sagen, scheint der<br />

Einwand nicht ganz zutreffend, denn ich habe niemals versucht,<br />

einen Stammbaum geistiger Individualitäten zu schaffen, ich habe<br />

kein intellektuelles Daguerreotyp des Gelehrten oder Naturforschers<br />

im 17. und 18. Jahrhundert machen wollen; ich habe keine Familie<br />

gründen wollen, keine heilige und auch keine perverse, sondern ich<br />

habe einfach — und viel bescheidener — nach den Funktionsbedingungen<br />

bestimmter diskursiver Praktiken gesucht.<br />

/10/<br />

Warum haben Sie dann, werden Sie mir sagen, in Les Mots et les<br />

Choses Autornamen verwendet? Man hätte sich entweder ihrer überhaupt<br />

nicht bedienen oder die Art und Weise definieren sollen, in der<br />

Sie sie gebrauchen. Dieser Einwand ist, glaube ich, völlig richtig: ich<br />

habe versucht, seine Implikationen und Konsequenzen in einem<br />

Text 49 zu ermessen, der bald erscheinen wird; ich versuche dort, für<br />

große diskursive Einheiten ein Statut zu finden, für das, was wir Naturgeschichte<br />

oder polirische Ökonomie nennen; ich habe mich gefragt,<br />

mit welchen Methoden und welchen Instrumenten man sie finden,<br />

gliedern, analysieren und beschreiben kann. Das ist der erste<br />

Teil einer Arbeit, die ich vor einigen Jahren begonnen und jetzt abgeschlossen<br />

habe.<br />

Aber eine andere Frage stellt sich: die nach dem Autor – und darüber<br />

möchte ich mich jetzt mit Ihnen unterhalten. Der Begriff Autor ist der<br />

Angelpunkt für die Individualisierung in der Geistes-, Ideen- und Literaturgeschichte,<br />

auch in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte.<br />

Selbst wenn man heute die Geschichte eines Begriffs,<br />

einer literarischen Gattung oder eines bestimmten Philosophietyps<br />

nachzeichnet, glaube ich, betrachtet man diese Einheiten wohl als<br />

49 »L ' Archéologie du savoir«.<br />

159


elativ schwache, zweitrangige und überlagerte Ordnungsprinzipien<br />

verglichen mit der ersten, soliden und grundlegenden Einheit: Autor<br />

und Werk.<br />

Zumindest für den Vortrag heute Abend möchte ich die historischsoziologische<br />

Analyse der Autor-Person beiseitelassen. Wie sich der<br />

Autor in einer Kultur wie der unseren individualisiert hat, welchen Status<br />

man ihm zugewiesen hat, seit wann man sich zum Beispiel daran<br />

gemacht hat, Authentizitäts- und Zuschreibungsuntersuchungen anzustellen,<br />

in welches Wertsystem der Autor eingeordnet wurde, von<br />

welchem Zeitpunkt an man begonnen hat, nicht mehr das Leben von<br />

Helden, sondern das von Autoren zu erzählen, wie sich die Grundkategorie<br />

der Kritik »Mensch und Werk« herausgebildet hat – all das<br />

wäre sicher wert, untersucht zu werden. Für den Moment möchte ich<br />

nur den Bezug Text-Autor ins Auge fassen, die Art, in der der Text<br />

auf jene Figur verweist, die ihm, wenigstens dem Anschein nach,<br />

äußerlich ist und ihm vorausgeht.<br />

Die Formulierung des Themas, von dem ich ausgehen möchte,<br />

• .<br />

/11/<br />

übernehme ich von Beckett: »Wen kümmert's, wer spricht, hat jemand<br />

gesagt, wen kümmert's, wer spricht.« In dieser Gleichgültigkeit<br />

muß men wohl eines der ethischen Grundprinzipien heurigen Schreibens<br />

erkennen. Ich sage »ethisch«, denn diese Gleichgültigkeit<br />

kennzeichnet nicht eigentlich die Art, wie man spricht oder schreibt;<br />

sie ist eher eine Art immanenter Regel, die immer wieder aufgegriffen<br />

wird und deren man sich doch nie ganz bedient, ein Prinzip, das das<br />

Schreiben nicht als Ergebnis kennzeichnet, sondern es als Praxis<br />

beherrscht. Diese Regel ist so bekannt, daß man sie nicht noch lange<br />

analysieren muß; es soll hier damit getan sein, sie dutch zwei ihrer<br />

großen Themen zu spezifizieren. Zunächst läßt sich sagen, daß sich<br />

das Schreiben heute vom Thema Ausdruck befreit hat: es ist auf sich<br />

selbst bezogen, und doch wird es nicht für eine Form von Innerlichkeit<br />

gehalten; es identifiziert sich mit seiner eigenen entfalteten Äußerlichkeit.<br />

Dies besagt, daß das Schreiben ein Zeichenspiel ist, das<br />

sich weniger nach seinem bedeuteten Inhalt als nach dem Wesen<br />

des Bedeutenden richtet; dies besagt aber ebenso, daß man mit dieser<br />

Schreibregularität immer wieder von seinen Grenzen her experimentiert;<br />

immer übertritt und kehrt es diese Regularität um, die es<br />

anerkennt und mit der es spielt. Das Schreiben entwickelt sich wie<br />

ein Spiel, das zwangsläufig seine Regeln überschreitet und so nach<br />

außen tritt. Im Schreiben geht es nicht um die Bekundung oder um<br />

die Lobpreisung des Schreibens als Geste, es handelt sich nicht darum,<br />

einen Stoff im Sprechen festzumachen; in Frage steht die Öffnung<br />

eines Raumes, in dem das schreibende Subjekt immer wieder<br />

verschwindet.<br />

Das zweite Thema ist noch vertrauter; es ist die Verwandtschaft des<br />

Schreibens mit dem Tod. Diese Verbindung kehrt ein jahrtausendealtes<br />

Thema um; die Erzählung oder das Epos der Griechen<br />

160


s.<br />

war dazu bestimmt, die Unsterblichkeit des Helden zu verewigen, und<br />

wenn der Held zustimmte, jung zu sterben, so geschah dies, damit<br />

sein geweihtes und durch den Tod erhöhtes Leben in die Unsterblichkeit<br />

eingehen konnte; die Erzählung löste den hingenommenen<br />

Tod ein. In anderer Weise hatte auch die arabische Erzählung – ich<br />

denke an Tausendundeine Nacht – das Nichtsterben zur Motivation,<br />

zum Thema und zum Vorwand: man sprach, man erzählte bis zum<br />

Morgengrauen, um dem Tod auszuweichen, um die Frist hinauszuschieben,<br />

die dem Erzähler den Mund schließen sollte. Die<br />

/12/<br />

Erzählungen Scheherazades sind die verbissene Kehrseite des<br />

Mords, sie sind die nächtelange Bemühung, den Tod aus dem Bezirk<br />

des Lebens fernzuhalten. Dieses Thema: Erzählen und Schreiben,<br />

um den Tod abzuwenden, hat in unserer Kultur eine Metamorphose<br />

erfahren; das Schreiben ist heute an das Opfer gebunden, selbst an<br />

das Opfer des Lebens; an das freiwillige Auslöschen, das in den Büchern<br />

nicht dargestellt werden soll, da es im Leben des Schriftstellers<br />

selbst sich vollzieht. Das Werk, das die Aufgabe hatte, unsterblich zu<br />

machen, hat das Recht erhalten, zu töten, seinen Autor umzubringen.<br />

Denken Sie an Flaubert, Proust, Kafka. Aber da ist noch etwas anderes<br />

: die t Beziehung des Schreibens zum Tod äußert sich auch in der<br />

Verwischung der individuellen Züge des schreibenden Subjekts. Mit<br />

Hilfe all der Hindernisse, die das schreibende Subjekt zwischen sich<br />

und dem errichtet, was es schreibt, lenkt es alle Zeichen von seiner<br />

eigenen Individualität ab; das Kennzeichen des Schriftstellers ist nur<br />

noch die Einmaligkeit seiner Abwesenheit; er muß die Rolle des Toten<br />

im Schreib-Spiel übernehmen. All das ist bekannt; und schon seit<br />

geraumer Zeit haben Kritik und Philosophie von diesem Verschwinden<br />

oder diesem Tod des Autors Kenntnis genommen.<br />

Ich bin jedoch nicht sicher, ob man auch rigoros alle notwendigen<br />

Konsequenzen aus dieser Feststellung gezogen und ob man das Ereignis<br />

in seiner Tragweite ganz erkannt hat. Genauer gesagt, es<br />

scheint mir, daß eine Reihe von Begriffen, die heute das Privileg des<br />

Autors ersetzen sollen, es eigentlich blockieren und das umgehen,<br />

was im Grunde ausgeräumt sein sollte. Ich nehme einfach zwei von<br />

diesen Begriffen heraus, die meiner Meinung nach heute ganz besonders<br />

wichtig sind.<br />

Zunächst der Begriff Werk. Man sagt ja (und das ist eine weitere sehr<br />

bekannte These), daß das Besondere der Kritik nicht darin bestehe,<br />

die Beziehungen zwischen Werk und Autor aufzudecken oder mit<br />

Hilfe der Texte, Denken oder Erfahrung zu rekonstruieren; die Kritik<br />

soll νielmehr das Werk in seiner Struktur analysieren, in seinem Bau,<br />

in seiner inneren Form und im Wechselspiel seiner inneren Beziehungen.<br />

Nun muß man aber gleich eine Frage stellen: »Was ist ein<br />

Werk?« was ist das für eine komische Einheit, die man mit dem Namen<br />

Werk bezeichnet? aus welchen Elementen besteht sie? Ist ein<br />

Werk nicht das, was der geschrieben hat, der Autor ist?<br />

161


13/<br />

Man sieht Schwierigkeiten auftauchen. Wenn nicht ein Individuum<br />

Autor wäre, könnte man dann sagen, daß das, was es geschrieben<br />

oder gesagt hat, das, was es in seinen Papieren hinterlassen hat,<br />

das, was man aus seinen Äußerungen anführen kann, »Werk« genannt<br />

werden könnte? Wäre also Sade kein Autor, was wären dann<br />

seine Papiere? Papierrollen, auf denen er während seiner Gefängnistage<br />

endlos seine Wahnvorstellungen entrollte.<br />

Aber nehmen wir an, daß man es mit einem Autor zu tun hat: ist alles,<br />

was er geschrieben hat, alles, was er hinterlassen hat, Teil seines<br />

Werks? Ein zugleich theoretisches und technisches Problem.<br />

Wenn man zum Beispiel an die Veröffentlichung der Werke Nietzsches<br />

geht, wo soll man Halt machen? Man soll alles veröffentlichen,<br />

ganz sicher, aber was heißt denn dieses »alles«? Alles, was Nietzsche<br />

selbst veröffentlicht hat, einverstanden. Seine Werkentwürfe?<br />

Zweifellos. Aphorismusprojekte? ja. Aber wenn man in einem Notizbuch<br />

voller Aphorismen einen Bezug, einen Hinweis auf ein Rendezvous<br />

oder eine Adresse oder eine Wäschereirechnung findet: Werk<br />

oder nicht Werk? Aber warum nicht? Und so weiter ad infinitum. Wie<br />

kann man aus den Millionen Spuren, die jemand nach seinem Tod<br />

hinterläßt, ein Werk bestimmen? Die Werktheorie existiert nicht und<br />

denen, die naiv beginnen, ein Werk herauszugeben, fehlt eine solche<br />

Theorie, so daß ihre empirische Arbeit deshalb sehr rasch ins Stocken<br />

gerät. Und man könnte fortfahren: Kann man sagen, daß Tausendundeine<br />

Nacht ein Werk ist? und die Stromaten von Clemens<br />

von Alexandrien oder die Vitae des Diogenes Laertes? Man sieht, wie<br />

es um den Werkbegriff herum vor Fragen wimmelt. Deshalb ist es<br />

nicht genug, wenn man sagt: verzichten wir auf den Werkbegriff, verzichten<br />

wir auf den Autor, untersuchen wir nur das Werk in sich<br />

selbst. Das Wort »Werk« und die Einheit, die es bezeichnet, sind<br />

wahrscheinlich genauso problematisch wie die Individualität des Autors.<br />

Ich glaube, noch ein anderer Begriff blockiert die Feststellung vom<br />

Verschwinden des Autors und hält das Denken in gewisser Weise am<br />

Rande dieses Verlöschen fest; listenreich sichert er noch immer das<br />

Fortleben des Autors. Es handelt sich um den Begriff Schreiben.<br />

Streng genommen müßte er nicht nur die Bezugnahme auf den Autor<br />

überflüssig machen können, sondern seiner ja neuen Abwesenheit<br />

das ents p rechende Statut zuweisen. In dem Statut, das augen-<br />

/14/<br />

blicklich für den Begriff Schreiben gilt, geht es denn auch nicht um die<br />

Geste des Schreibens, auch nicht um die Kennzeichnung (Symptom<br />

oder Zeichen) dessen, was jemand hätte sagen wollen; man bemüht<br />

sich be achtenswert tiefgründig, die Bedingungen des Textes<br />

schlechthin zu durchdenken, zugleich die des Raumes, in dem er<br />

sich verliert, und der Zeit, in der er sich entfaltet.<br />

162


Ich frage mich, ob dieser Begriff, wenn er wie manchmal auf seinen<br />

landläufigen Gebrauch reduziert ist, nicht die empirischen Charakterzüge<br />

des Autors in eine transzendentale Anonymität überträgt. Es<br />

kann geschehen, daß man sich damit zufrieden gibt, die offensichtlichsten<br />

Kennzeichen des empirischen Autors zu verwischen und<br />

spielt dabei, parallel oder gegeneinander, zwei Charakterisierungsarten<br />

aus: die kritische und die religiöse. Wenn man nämlich dem<br />

Schreiben ein ursprüngliches Statut zuweist, so ist das wohl nur eine<br />

Art, einerseits die theologische Behauptung vom geheiligten Charakter<br />

des Geschriebenen und andererseits die kritische Behauptung<br />

seines schöpferischen Charakters ins Transzendentale rückzuübersetzen.<br />

Wenn man zugesteht, daß das Schreiben durch den geschichtlichen<br />

Ablauf, der es erst möglich macht, in gewisser Weise<br />

dem Vergessen und der Unterdrückung anheimgestellt ist, heißt das<br />

dann nicht, das religiöse Prinzip vom verborgenen Sinn (mit der Notwendigkeit,<br />

ihn zu interpretieren) und das kritische Prinzip impliziter<br />

Bedeutungen, stillschweigender Determinationen und dunkler Inhalte<br />

(mit der Notwendigkeit, sie zu kommentieren) in transzendentalen<br />

Begriffen darstellen? Schließlich, wenn man das Schreiben als. Abwesenheit<br />

begreift, heißt das dann nicht einfach, In transzendentalen<br />

Worten das religiöse Prinzip der zugleich unwandelbaren und nie<br />

erfüllten Tradition und das ästhetische Prinzip vom Überleben des<br />

Werks, von seinem Fortbestand über den Tod hinaus, von seinem<br />

rätselhaften Überschuß im Verhältnis zum Autor wiederholen?<br />

Ich meine also, daß ein solcher Gebrauch des Begriffs Schreiben<br />

Gefahr läuft, die Privilegien des Autors im Schutz des a priori zu bewahren:<br />

er läßt im grauen Licht von Neutralisierungen die Vorstellungen<br />

fortbestehen, die ein bestimmtes Autorbild geschaffen beben.<br />

Da. Verschwinden des Autors, ein Ereignis, das seit Mallarmé anhält,<br />

wird einer transzendentalen Blockierung unterworfen. Gibt es<br />

nicht eine augenblicklich wichtige Trennungslinie zwischen denen,<br />

/15/<br />

die immer noch glauben, die Brüche des Heute in der historischtranszendentalen<br />

Tradition des 19. Jahrhunderts begreifen zu können,<br />

und denen, die sich davon endgültig zu befreien suchen?<br />

Als Leeraussage zu wiederholen, daß der Autor verschwunden ist,<br />

reicht aber offenbar nicht aus. Ebenso reicht es nicht aus, endlos zu<br />

wiederholen, daß Gott und Mensch eines gemeinsamen Todes gestorben<br />

sind. Was man tun müßte, wäre, den durch das Verschwinden<br />

des Autors freigewordenen Raum ausfindig zu machen, der Verteilung<br />

der Lücken und Risse nachzugehen und die freien Stellen und<br />

Funktionen, die dieses Verschwinden sichtbar macht, auszu -<br />

kundschaften.<br />

Ich möchte Ihnen zunächst in wenigen Worten eine Vorstellung von<br />

den Problemen geben, die mit dem Gebrauch des Autornamens verbunden<br />

sind. Was ist ein Autorname? Und wie funktioniert er? Ich bin<br />

163


weit davon entfernt, Ihnen eine Lösung anbieten zu können, sondern<br />

ich will nur auf einige der Schwierigkeiten hinweisen, die er auf wirft.<br />

Der Autorname ist ein Eigenname; er stellt die gleichen Probleme wie<br />

dieser. (Ich beziehe mich unter anderem auf die Untersuchungen von<br />

Searle.) Es ist offenbar nicht möglich, aus dem Eigennamen einfach<br />

einen Verweis zu machen. Der Eigenname (und der Autor ebenso)<br />

haben nicht nur hinweisende Funktionen. Er ist mehr<br />

als ein Hinweis, eine Geste, ein Fingerzeig; in gewisser Weise ist er<br />

das Äquivalent für eine Beschreibung. Sagt man »Aristoteles«, so<br />

verwendet man ein Wort, das Äquivalent für eine Beschreibung<br />

eine Reihe von Beschreibungen ist, etwa von der Art: »Der<br />

Autor der Analytischen Schriften« oder der »Begründer der Ontologie«,<br />

usw. Aber dabei kann man es nicht bewenden lassen; ein<br />

Eigenname hat Licht nur einfach eine Bedeutung; wenn man entdeckt,<br />

daß Rimbaud nicht La Chasse spirituelle geschrieben hat, so<br />

kann man doch nicht verlangen, daß etwa dieser Eigenname oder<br />

dieser Autorname seine Bedeutung geändert hätte. Der Eigenname<br />

und der Autorname liegen zwischen den beiden Polen der Beschreibung<br />

und der Bezeichnung; sie haben ganz sicher eine gewisse Verbindung<br />

zu dem, was sie benennen, aber weder ganz im Sinne der<br />

Bezeichnung noch ganz im Sinne der Beschreibung: es ist eine ganz<br />

besondere Verbindung. Jedoch — und hier tauchen die eigentlichen<br />

/16/<br />

Schwierigkeiten des Autornamens auf – die Verbindung des Eigennamens<br />

mit dem benannten Individuum und die Verbindung des Autornamens<br />

mit dem, was er benennt, sind nicht isomorph und funktionieren<br />

nicht in gleicher Weise. Hier einige der Unterschiede.<br />

Wenn ich zum Beispiel merke, daß Pierre Dupont keine blauen Augen<br />

hat oder nicht in Paris geboren ist oder nicht Arzt ist, usw., so<br />

bleibt es doch dabei, daß dieser Name, Pierre Dupont, sich immer<br />

noch auf die gleiche Person bezieht; der Bezeichnungsbezug ändert<br />

sich nicht um so viel. Im Gegensatz dazu sind die Probleme, die der<br />

Autorname aufwirft, wesentlich komplizierter: wenn ich entdecke, daß<br />

Shakespeare nicht in dem Haus geboren wurde, das man heute als<br />

Shakespearehaus besucht, so ist das eine Modifizierung, die das<br />

Funktionieren des Autornamens nicht ungünstig beeinflußt; aber<br />

wenn man bewiese, daß Shakespeare nicht die Sonette geschrieben<br />

hat, die man für die seinen hält, so wäre das eine Veränderung anderer<br />

Art: sie zieht das Funktionieren des Autornamens in Mitleidenschaft.<br />

Und wenn man bewiese, daß Shakespeare das Organon<br />

von Bacon geschrieben hat, einfach weil der Autor der Werke<br />

Bacons und der Shakespeares der gleiche ist, so wäre das ein dritter<br />

Typ von Veränderung, der das Funktionieren des Autornamens gänzlich<br />

modifizierte. Der Autorname ist also nicht unbedingt ein Eigenname<br />

wie alle anderen.<br />

164


Ganz andere Fakten signalisieren die paradoxe Einmaligkeit des Autornamens.<br />

Es ist keineswegs gleich, ob ich sage, daß es Pierre Dupont<br />

nicht gibt oder ob ich sage, daß es Homer oder Hermes Trismegistos<br />

nicht gab; im einen Fall will man sagen, daß niemand den Namen<br />

Pierre Dupont trägt; im anderen, daß mehrere mit dem gleichen<br />

Namen verwechselt wurden oder daß der wirkliche Autor keinen der<br />

Züge trägt, die man herkömmlicherweise mit Homer oder mit Hermes<br />

verbindet. Es ist auch nicht gleich, ob ich sage, daß Pierre Dupont<br />

nicht der wirkliche Name von X ist sondern Jacques Durand, oder ob<br />

ich sage, daß Stendhal Henri Beyle hieß. Man könnte sich auch Gedanken<br />

machen über Sinn und Wirkung eines Satzes wie »Bourbaki<br />

ist der und der, usw.« und »Victor Eremita, Climacus, Anticlimacus,<br />

Frater Taciturnus, Constantin Constantius ist Kierkegaard«.<br />

Die Unterschiede liegen vielleicht in folgendem: ein Autorname ist<br />

nicht einfach ein Element in einem Diskurs (der Subjekt oder<br />

/17/<br />

Ergänzung sein kann, die von einem Pronomen ersetzt werden kann,<br />

usw.); er hat bezogen auf den Diskurs eine bestimmte Rolle: er besitzt<br />

klassifikatorische Funktion; mit einem solchen Namen kann man<br />

eine gewisse Zahl von Texten gruppieren, sie abgrenzen, einige ausschließen,<br />

sie anderen gegenüberstellen. Außerdem bewirkt er eine<br />

Inbezugsetzung der Texte zueinander. Hermes Trismegistos gab es<br />

nicht, Hyppokrates auch nicht – so wie man sagen könnte, daß es<br />

Balzac gibt –, aber daß mehrere Texte unter dem gleichen Namen<br />

laufen, weist darauf hin, daß man zwischen ihnen ein Homogenitäts-<br />

oder Filiations- oder ein Beglaubigungsverhältnis der einen durch die<br />

anderen herstellte oder auch ein Verhältnis gegenseitiger Erklärung<br />

und gleichzeitiger Verwendung. Schließlich hat der Autorname die<br />

Funktion, eine bestimmte Seinsweise des Diskurses zu kennzeichnen.<br />

Hat ein Diskurs einen Autornamen, kann man sagen, »das da ist<br />

von dem da geschrieben worden« oder »ein gewisser ist der Autor<br />

von...«, so besagt dies, daß dieser Diskurs nicht aus alltäglichen,<br />

gleichgültigen Worten besteht, nicht aus Worten, die vergehen, vobeitreiben,<br />

vorüberziehen, nicht aus unmittelbar konsumierbaren Worten,<br />

sondern aus Worten, die in bestimmter Weise rezipiert werden<br />

und in einer gegebenen Kultur ein bestimmtes Statut erhalten müssen.<br />

Man könnte schließlich auf die Idee kommen, daß der Autorname<br />

nicht wie der Eigenname vom Inneren eines Diskurses zum realen,<br />

äußeren Individuum geht, sondern daß er in gewisser Weise an die<br />

Grenze der Texte drängt, daß er sie zuschneidet, ihren Kanten folgt,<br />

daß er ihre Seinsweise offenbart oder wenigstens daß er sie kennzeichnet.<br />

Er macht das Ereignis eines gewissen Diskurses sichtbar,<br />

und er bezieht sich auf das Statut dieses Diskurses in einer Gesellschaft<br />

und in einer Kultur. Der Autorname hat seinen Ort nicht im<br />

Personenstand der Menschen, nicht in der Werkfiktion, sondern in<br />

dem Bruch, der eine bestimmte Gruppe von Diskursen und ihre einmalige<br />

Seinsweise hervorbringt. Folglich könnte man sagen, daß es<br />

165


in einer Kultur wie der unseren eine bestimmte Anzahl von Diskursen<br />

gibt, die die Funktion »Autor« haben, während andere sie nicht haben.<br />

Ein Privatbrief kann einen Schreiber haben, er hat aber keinen<br />

Autor; ein Vertrag kann wohl einen Bürgen haben, aber keinen Autor.<br />

Ein anonymer Text, den man an einer Hauswand liest, wird einen<br />

Verfasser haben, aber keinen Autor. Die Funktion<br />

/18/<br />

Autor ist also charakteristisch für Existenz-, Verbreitungs- und Funktionsweise<br />

bestimmter Diskurse in einer Gesellschaft.<br />

Wir sollten jetzt die Funktion »Autor« untersuchen. Wie bestimmt sich<br />

in unserer Kultur ein Diskurs, der Träger der Funktion Autor ist? Worin<br />

unterscheidet er sich von anderen Diskursen? Betrachtet man nur<br />

den Autor eines Buches °der eines Textes, so glaube ich, daß man<br />

ihn an vier verschiedenen Merkmalen erkennen kann.<br />

Zunächst sind sie Aneignungsobjekte; die Eigentumsform, auf der sie<br />

beruhen, ist recht eigenartig; sie ist inzwischen seit einer Reihe von<br />

Jahren rechtlich fixiert. Angemerkt werden muß, daß dieses Eigentum<br />

später kam als das, was man widerrechtliche Aneignung nennen<br />

könnte. Texte, Bücher, Reden haben wirkliche Autoren (die sich von<br />

mythischen Personen und von den großen geheiligten und heiligenden<br />

Figuren unterscheiden) in dem Maße, wie der Autor bestraft werden<br />

oder die Reden Gesetze übertreten konnten. Die Rede war am<br />

Ursprung unserer Kultur (und wohl such in anderen) kein Produkt,<br />

keine Sache, kein Gut; sie war wesentlich ein Akt – ein Akt, der seinen<br />

Platz hatte in der Bipolarität des Heiligen und Profanen, des Erlaubten<br />

und Verbotenen, des Religiösen und Blasphemischen. Historisch<br />

gesehen war sie eine gefahrenreiche Tat, bevor sie zu einem<br />

Gut im Einzugsbereich des Eigentums wurde. Und als man Eigentumsverhältnisse<br />

für Texte schuf, als man Gesetze erließ über Autorenrechte,<br />

über die Beziehungen zwischen Autor und Verleger, über<br />

Wiedergaberechte, usw. – das heißt zwischen Ende des 18. und Anfang<br />

des 19. Jahrhunderts – wurde aus der Möglichkeit der Übertretung,<br />

die dem Schreibakt eigen war, immer mehr ein der Literatur<br />

eigener Imperativ. So als ob der Autor, seitdem er in das Eigentumssystem<br />

unserer Gesellschaft aufgenommen wurde, den so erreichten<br />

Status kompensierte durch die Rückkehr zur altern Bipolarität der<br />

Rede, durch systematische Übertretung, durch die Wiederherstellung<br />

der Gefahr beim Schreiben, dem man andererseits ja den Vorteil des<br />

Eigentums garantierte.<br />

Andererseits gilt die Funktion Autor nicht überall und nicht ständig für<br />

alle Diskurse. In unserer Kultur haben nicht immer die gleichen Texte<br />

einer Zuschreibung bedurft. Es gab eine Zeit, in der die Texte, die wir<br />

heute »literarisch« nennen (Berichte, Erzählungen,<br />

166


19/<br />

Epen, Tragödien, Komödien) aufgenommen, verbreitet und gewertet<br />

wurden, ohne daß sich die Autorfrage stellte; ihre Anonymität machte<br />

keine Schwierigkeit, ihr echtes oder vermutetes Alter war für sie Garantie<br />

genug. Im Gegensatz dazu wurden die Texte, die wir heute<br />

wissenschaftlich nennen, über die Kosmologie und den Himmel, die<br />

Medizin und die Krankheiten, die Naturwissenschaften oder die Geographie<br />

im Mittelalter nur akzeptiert und hatten nur dann Wahrheitswert,<br />

wenn sie durch den Namen des Autors gekennzeichnet waren.<br />

»Hyppokrates sagte«, »Plinius erzählt« waren nicht nur die Formeln<br />

eines Autoritätsverweises, sondern die Indizien für Diskurse, die als<br />

bewiesen angenommen werden sollten. Zu einer Umkehrung kam es<br />

im 17. oder im 18. Jahrhundert; man begann wissenschaftliche Texte<br />

um ihrer selbst willen zu akzeptieren, in der Anonymität einer feststehenden<br />

oder immer neu beweisbaren Wahrheit; ihre Zugehörigkeit zu<br />

einem systematischen Ganzen sicherte sie ab, nicht der Rückverweis<br />

auf die Person, die sie geschaffen hatte. Die Funktion Autor verwischt<br />

sich, der Name des Erfinders dient höchstens noch dazu, einem<br />

Theorem, einem Satz, einem bemerkenswerten Effekt, einer Eigenschaft,<br />

einem Körper, einer Menge von Elementen, einem Krankheitssyndrom<br />

einen Namen zu geben. Aber »literarische« Diskurse<br />

können nur noch rezipiert werden, wenn sie mit der Funktion Autor<br />

versehen sind: jeden Poesie- oder Fiktionstext befragt man danach,<br />

woher er kommt, wer ihn geschrieben hat, zu welchem Zeitpunkt,<br />

unter welchen Umständen oder nach welchem Entwurf. Die Bedeutung,<br />

die man ihm zugesteht, und der Status oder der Wert, den man<br />

ihm beimißt, hängen davon ab wie man diese Fragen beantwortet.<br />

Und wenn infolge eines Mißgeschicks oder des ausdrücklichen Autorwillens<br />

uns der Text anonym erreicht, spielt man sofort das Spiel<br />

der Autorsuche. Literarische Anonymität ist uns unerträglich; wir akzeptieren<br />

sie nur als Rätsel. Die Funktion Autor hat heutzutage ihren<br />

vollen Spielraum in den literarischen Werken. (Natürlich müßte man<br />

all dies nuancieren: Die Kritik hat seit einiger Zeit damit begonnen,<br />

die Werke nach ihrer Gattung oder ihrem Typ zu behandeln, nach<br />

vorkommenden rekurrenten Elementen, nach den Variationen um<br />

eine Invarianz herum, die nichts mehr mit dem individuellen Schöpfer<br />

zu tun hat.) Ebenso, wenn der Verweis auf einen Namen in der Mathematik<br />

kaum mehr als eine Art ist, Theoreme oder Satzgruppen zu<br />

be-<br />

/20/<br />

nennen, so spielt in der Biologie und in der Medizin die Angabe des<br />

Autors und des Zeitpunkts seiner Arbeit eine recht andere Rolle: es<br />

ist nämlich nicht nur eine Art, die Quelle anzugeben, sondern ein<br />

»Glaubwürdigkeits«-Indiz zu erbringen bezogen auf die Techniken<br />

und Untersuchungsgegenstände, die man zu einem bestimmten Zeitpunkt<br />

und in einem bestimmten Laboratorium benutzte.<br />

Drittes Merkmal der Funktion Autor. Sie bildet sich nicht so spontan,<br />

wie man einen Diskurs einem Autor zuschreibt. Sie ist das Ergebnis<br />

einer komplizierten Operation, die ein gewisses Vernunftwesen kon-<br />

167


struiert, das man Autor nennt. Zwar versucht man, diesem Vernunftwesen<br />

einen realistischen Status zu geben: im Individuum soll<br />

es einen »tiefen« Drang geben, schöpferische Kraft, einen »Entwurf«,<br />

und das soll der Ursprungsort des Schreibens sein, tatsächlich aber<br />

ist das, was man an einem Individuum als Autor bezeichnet (oder<br />

das, was aus einem Individuum einen Autor macht) nur die mehr bis<br />

minder psychologisierende Projektion der Behandlung, die man Texten<br />

angedeihen läßt, der Annäherungen, die man vornimmt, der<br />

Merkmale, die man für erheblich hält, der Kontinuitäten, die man zuläßt,<br />

oder der Ausschlüsse, die man macht.<br />

All diese Operationen variieren je nach den Epochen und den Diskurs-Typen.<br />

Man konstruiert einen »philosophischen Autor« nicht wie<br />

einen »Dichter«; man konstruierte den Autor eines Romanwerkes im<br />

18. Jahrhundert nicht wie einen heutzutage. Dennoch kann man über<br />

verschiedene Epochen hinweg eine gewisse Invarianz in den Regeln<br />

der Autor-Konstruktion finden.<br />

Es scheint mir zum Beispiel, daß die Art, wie die Literaturkritik lange<br />

Zeit den Autor bestimmte – oder besser noch die Form Autor, die<br />

man ausgehend von Texten und Diskursen konstruierte – recht gradlinig<br />

abgeleitet ist von der Art, wie die christliche Tradition Texte beglaubigte<br />

(oder verwarf), über die sie verfügte. Mit anderen Worten,<br />

um den Autor im Werk »aufzufinden«, verwendet die moderne Kritik<br />

Schemata, die der christlichen Exegese sehr nahe stehen, wenn diese<br />

den Wert eines Textes durch die Heiligkeit des Autors beweisen<br />

wollte. In De Vitis illustribus erklärt der heilige Hieronymus, daß die<br />

Gleichlautung des Namens nicht ausreicht, um rechtmäßig die Autoren<br />

mehrerer Werke zu identifizieren: verschiedene Individuen könnten<br />

den gleichen Namen tragen, oder einer hätte widerrechtlich den<br />

Nachnamen eines anderen annehmen<br />

/21/<br />

können. Der Name ist als individuelle Kennzeichnung nicht genug,<br />

wenn man sich der Texttradition zuwendet. Wie soll man also mehrere<br />

Texte einunddemselben Autor zuschreiben? Wie die Funktion<br />

Autor ausspielen, um zu erfahren, ob man es mit einem oder mit<br />

mehreren Individuen zu tun hat? Der heilige Hieronymus führt vier<br />

Kriterien an: wenn unter mehreren Büchern, die man einem Autor<br />

zuschreibt, eines schlechter als die anderen ist, so muß man es aus<br />

dem Katalog seiner Werke streichen (der Autor wird demnach als<br />

bestimmtes konstantes Wertniveau definiert), auch wenn bestimmte<br />

Texte der Meinung der anderen Werke eines Autors widersprechen<br />

(dann wird der Autor als Feld eines begrifflichen und theoretischen<br />

Zusammenhangs definiert); auch die Werke müssen ausgeschlossen<br />

werden, die in einem anderen Stil geschrieben sind, mit Worten und<br />

Wendungen, die man gewöhnlich nicht bei diesem Autor findet (das<br />

ist der Autor als stilistische Einheit), schließlich müssen die Texte als<br />

falsch angesehen werden, die sich auf Ereignisse und Personen beziehen,<br />

die erst nach dem Tod des Autors kommen (dann ist der Autor<br />

ein bestimmter geschichtlicher Augenblick und Schnittpunkt einer<br />

168


Reihe von Ereignissen). Nun definiert die moderne Literaturkritik,<br />

selbst wenn sie keine Beglaubigungssorgen hat (was der Regelfall<br />

ist) den Autor kaum anders: Autor ist derjenige, durch den gewisse<br />

Ereignisse in einem Werk ebenso wie deren Transformationen erklärt<br />

werden können, deren Deformationen, deren verschiedene Modifikationen<br />

(und dies durch die Autorbiographie, die Suche nach der individuellen<br />

Sichtweise, die Analyse seiner sozialen Zugehörigkeit oder<br />

seiner Klassenlage, die Entdeckung seines Grundentwurfs). Der Autor<br />

ist ebenso das Prinzip einer gewissen Einheit des Schreibens, da<br />

alle Unterschiede mindestens durch Entwicklung, Reifung oder Einfluß<br />

reduziert werden. Mit Hilfe des Autors kann man auch Widersprüche<br />

lösen, die sich in einer Reihe von Texten finden mögen: es<br />

muß da – in einer gewissen Schicht seines Denkens oder seines<br />

Wünschens, seines Bewußtseins oder seines Unterbewußtseins –<br />

einen Punkt geben, von dem her sich die Widersprüche lösen, an<br />

dem sich die unvereinbaren Elemente endlich verketten lassen oder<br />

sich um einen riefen und ursprünglichen Widerspruch gruppieren.<br />

Schließlich ist der Autor ein bestimmter Brennpunkt des Ausdrucks,<br />

der sich in mehr oder minder vollendeter Form genauso und im gleichen<br />

Wert in den Werken, den Skizzen,<br />

22/<br />

den Briefen und den Fragmenten offenbart. Die vier Authentizitätskriterien<br />

des heiligen Hieronymus (Kriterien, die dem heutigen Exegeten<br />

recht ungenügend erscheinen) bestimmen die vier Modalitäten,<br />

aufgrund deren die moderne Kritik die Funktion Autor ausspielt.<br />

Aber die Funktion Autor ist nicht einfach eine Rekonstruktion aus<br />

zweiter Hand, die von einem gegebenen Text wie von einer trägen<br />

Masse ausgeht. Der Text trägt in sich immer eine Reihe von Zeichen,<br />

die auf den Autor verweisen. Diese Zeichen sind den Grammatikern<br />

wohlbekannt: es sind die Personalpronomen, die Adverbien der Zeit<br />

und des Ortes, die Verbkonjugation. Es muß jedoch darauf hingewiesen<br />

werden, daß diese Elemente in den Diskursen mit Autor-Funktion<br />

nicht genauso wirken wie in denen ohne. In denen ohne die Funktion<br />

Autor verweisen solche »Einschübe« auf den realen Sprecher und<br />

die räumlich-zeitlichen Koordinaten seines Diskurses (obgleich es<br />

gewisse Abweichungen gibt: so zum Beispiel, wenn man einen Diskurs<br />

in der ersten Person wiedergibt). In den Diskursen mit Autor-<br />

Funktion ist ihre Rolle schwieriger und veränderlicher. Es ist bekannt,<br />

daß in einem Roman, der so aussieht wie der Bericht eines Erzählers,<br />

das Personalpronomen in der ersten Person, das Präsens Indikativ,<br />

die Zeichen für die Ortsbestimmung nie genau auf einen<br />

Schriftsteller verweisen, weder auf den Augenblick, in dem er<br />

schreibt, noch auf die Schreibgeste; sondern auf ein alter ego, dessen<br />

Distanz zum Schriftsteller verschieden groß sein und im selben<br />

Werk auch variieren kann. Es wäre also ebenso falsch, wollte man<br />

den Autor beim wirklichen Schriftsteller oder auch beim fiktionalen<br />

Sprecher suchen; die Funktion Autor vollzieht sich gerade in diesem<br />

Bruch – in dieser Trennung und dieser Distanz. Vielleicht wird jemand<br />

169


sagen, daß das nur eine Eigenheit des romanhaften oder des poetischen<br />

Diskurses sei: eines Spiels, bei dem nur »Quasi-Diskurse«<br />

eingesetzt werden. Alle Diskurse mit der Funktion Autor haben diese<br />

Ego-Pluralität. Das Ego, das im Vorwort eines mathematischen Traktats<br />

spricht – und auf die Umstände der Abfassung hinweist – ist weder<br />

in seiner Position noch in seiner Funktion identisch mit demjenigen,<br />

der im Unterricht von einem Beweis spricht und sich in der Form<br />

eines »ich schließe daraus« oder »ich nehme an« ausdrückt: in dem<br />

einen Fall verweist das »ich« auf ein Individuum ohne Äquivalent, das<br />

an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte<br />

Arbeit getan<br />

/23/<br />

hat; im zweiten Fall bezeichnet das »ich« einen Plan und einen Moment<br />

des Beweises, den jedes Individuum nachvollziehen kann, vorausgesetzt<br />

es hat das gleiche Zeichensystem anerkannt, das gleiche<br />

Axiomsspiel, die gleiche Menge von vorherigen Beweisen. Man könnte<br />

aber auch im gleichen Traktat noch ein drittes Ich ausfindig machen;<br />

denjenigen, der spricht, um über den Sinn der Arbeit, die<br />

Schwierigkeiten, die Ergebnisse, die sich noch stellenden Probleme<br />

zu reden; dieses Ego findet seinen Platz im Bereich schon bestehender<br />

oder noch entstehender mathematischer Texte. Die Funktion Autor<br />

wird nicht durch eines dieser Egos (das erste) gewährleistet auf<br />

Kosten der beiden anderen, die dann ja nichts weiter wären als dessen<br />

fiktive Verdoppelung. Im Gegenteil muß gesagt werden, daß in<br />

solchen Diskursen die Funktion Autor die Zersplitterung dieser drei<br />

simultanen Egos bewirkt.<br />

Die Analyse könnte wohl noch andere charakteristische Züge der<br />

Funktiοn Autor herausfinden. Ich aber werde mich heute an die vier<br />

halten, die ich aufgezählt habe, weil sie mir zugleich die sichtbarsten<br />

und die wichtigsten scheinen. Ich will sie so zusammenfassen: die<br />

Funktion Autor ist an das Rechts- und Staatssystem gebunden, das<br />

die Gesamtheit der Diskurse einschließt, determiniert, ausdrückt; de<br />

wirkt nicht einheitlich und gleichmäßig auf alle Diskurse zu allen Zeiten<br />

und in allen Kulturformen; sie läßt sich nicht dadurch definieren,<br />

daß man spontan einen Diskurs einem Produzenten zu-. schreibt,<br />

sondern dazu sind eine Reihe spezifischer und komplizierter Operationen<br />

nötig; sie verweist nicht einfach auf ein reales Individuum, sie<br />

kann gleichzeitig mehreren Egos in mehreren Subjekt-Stellungen<br />

Raum geben, die von verschiedenen Gruppen von Individuen besetzt<br />

werden können.<br />

Ich bin mir im klaren darüber, daß ich bisher mein Thema ungerechtfertigt<br />

eng gefaßt habe. Sicherlich hätte man darüber sprechen<br />

sollen, was die Funktion Autor in der Malerei, in der Musik, in der<br />

Technik usw. ist. Einmal angenommen jedoch, man hielte sich an die<br />

Welt der Diskurse, wie ich es heute abend tun möchte, so glaube ich<br />

doch, dem Begriff »Autor« eine viel zu enge Bedeutung gegeben su<br />

haben. Ich habe mich auf den Autor eines Buchtexts oder eines<br />

170


Werks beschränkt, dessen Produktion man ihm rechtmäßig zuschreiben<br />

kann. Nun ist aber leicht einzusehen, daß man im Ordnungs-<br />

24/<br />

bereich des Diskurses Autor von weit mehr als einem Buch sein kann<br />

— Autor einer Theorie, einer Tradition, eines Fachs, in denen dann<br />

andere Bücher und andere Autoren ihrerseits Platz finden können.<br />

Mit einem Wort würde ich sagen, daß diese Autoren sich in einer<br />

»transdiskursiven« Position befinden.<br />

Es handelt sich um eine konstante Erscheinung, — die sicherlich so<br />

alt ist wie unsere Kultur. Homer und Aristoteles, die Kirchenväter haben<br />

diese Rolle gespielt; aber auch die ersten Mathematiker und die,<br />

die am Anfang der hyppokrarischen Tradition stehen. Es scheint mir<br />

aber, daß man im Laufe des 19. Jahrhunderts in Europa recht eigenartige<br />

Autortypen hat in Erscheinung treten sehen, die man nicht mit<br />

den »großen« literarischen Autoren, nicht mit den Autoren kanonischer<br />

Texte der Religion und auch nicht mit den Begründern von<br />

Wissenschaften verwechseln sollte. Nennen wir sie etwas willkürlich<br />

»Diskursivitätsbegründer«.<br />

Das Besondere an diesen Autoren ist, daß sie nicht nur die Autoren<br />

ihrer Werke, ihrer Bücher sind. Sie haben noch mehr geschaffen: die<br />

Möglichkeit und die Bildungsgesetze für andere Texte. In diesem<br />

Sinn sind sie ganz anders als zum Beispiel ein Romanautor, der im<br />

Grunde immer nur Autor seines eigenen Textes ist. Freud ist nicht<br />

einfach der Autor der Traumdeutung oder des Witzes; Marx ist nicht<br />

einfach der Autor des Manifests oder des Kapitals: sie haben eine<br />

unbegrenzte Möglichkeit zum Diskurs geschaffen. Natürlich kann<br />

man hier leicht einen Einwand machen. Es stimmt nicht, daß ein Romanautor<br />

nur der Autor seines eigenen Textes ist; in gewissem Sinn,<br />

vorausgesetzt er ist sozusagen ein bißchen »bedeutend«, lenkt und<br />

leitet er mehr als das. Um ein einfaches Beispiel zu nennen, kann<br />

man sagen, daß Ann Radcliffe nicht nur das Schloß in den Pyrenäen<br />

und einige weitere Romane geschrieben hat, sondern sie hat die<br />

Schauerromane zu Beginn des 19. Jahrhunderts ermöglicht, und in<br />

diesem Maß geht ihre Autor-Funktion über ihr Werk hinaus. Nur<br />

glaube ich, daß man auf diesen Einwand entgegnen kann: was die<br />

Diskursivitätsbegründer ermöglichen (ich wähle Marx und Freud als<br />

Beispiele, weil ich glaube, daß sie zugleich die ersten und die wichtigsten<br />

sind), was sie ermöglichen, ist etwas anderes als das, was ein<br />

Romanautor ermöglicht. Die Texte der Ann Radcliffe haben das Terrain<br />

für bestimmte Ähnlichkeiten und Analogien erschlossen, die ihr<br />

Modell oder Prinzip in ihrem Werk haben. Dieses Werk ent<br />

/25/<br />

hält charakteristische Zeichen, Figuren, Beziehungen, Strukturen, die<br />

von anderen wiederverwendet werden konnten. Sagt man, daß Ann<br />

Radcliffe den Schauerroman begründet hat, so heißt das letztlich: in<br />

171


den Schauerromanen des 19. Jahrhunderts wird man wie bei Ann<br />

Radcliffe das Thema der Heldin finden, deren Unschuld ihr zur Falle<br />

wird, das Bild des geheimen Schlosses, das die Funktion einer Gegen-Stadt<br />

hat, die Person des schwarzen, verdammten Helden, der<br />

dazu verurteilt ist, der Welt das Böse heimzuzahlen, was sie ihm antat,<br />

usw. Wenn ich hingegen von Marx oder von Freud als »Diskursiνitätsbegründern«<br />

spreche, so will ich nicht sagen, daß sie einfach<br />

eine gewisse Zahl von Analogien ermöglicht haben, sondern<br />

daß sie eine Reihe von Unterschieden ermöglicht haben (und diese<br />

ebenso vollständig). Sie haben Raum gegeben für etwas anderes als<br />

sie selbst, das jedoch zu dem gehört, was sie begründet haben. Sagt<br />

man, daß Freud die Psychoanalyse begründet hat, so heißt das nicht<br />

(so heißt das nicht einfach), daß man den Libidobegriff oder die<br />

Technik der Traumdeutung bei Abraham und Melanie Klein wiederfindet,<br />

sondern daß Freud eine Reihe von Unterschieden ermöglichte<br />

verglichen mit seinen Texten, seinen Begriffen, seinen Hypothesen,<br />

die alle aus dem psychoanalytischen Diskurs stammen.<br />

Sogleich taucht, glaube ich, eine neue Schwierigkeit oder wenigstens<br />

ein neues Problem auf: trifft das nicht letzten Endes auf jeden Wissenschaftsbegründer<br />

oder jeden Autor zu, der in einer Wissenschaft<br />

Wandlungen herbeigeführt hat, die man fruchtbar nennen kann?<br />

Schließlich hat Galilei nicht einfach die ermöglicht, die nach Ihm die<br />

von ihm formulierten Gesetze wiederholten, sondern er hat Aussagen<br />

ermöglicht, die sich sehr von dem unterscheiden, was er selbst gesagt<br />

hatte. Wenn Cuvier der Begründer der Biologie und Saussure<br />

der der Linguistik ist, so nicht deshalb, weil man beide nachgeahmt<br />

hat, nicht deshalb, weil man hier und da den Organismus- oder den<br />

Zeichenbegriff wiederaufgenommen hat, sondern weil Cuvier in gewisser<br />

Weise die Evolutionstheorie ermöglichte, die Funkt für Punkt<br />

seinen eigenen Fixierungen widersprach; und Saussure ist Begründer<br />

der Linguistik in dem Maße wie er eine generative Grammatik<br />

ermöglichte, die sich von seinen Strukturanalysen wesentlich unterscheidet.<br />

Also scheint die Begründung einer Diskursivität auf den<br />

ersten Blick zumindest von der gleichen Art zu sein wie die Begründung<br />

jeder beliebigen Wissenschaftlichkeit. Ich<br />

26/<br />

glaube jedoch, daß es da einen Unterschied, einen beachtlichen Unterschied<br />

gibt. Denn im Fall einer wissenschaftlichen Disziplin ist der<br />

Akt, der sie begründet, auf gleicher Höhe wie ihre späteren Transformationen;<br />

er gehört in gewisser Weise zu all den Modifikationen,<br />

die er ermöglicht. Diese Zugehörigkeit kann natürlich verschiedene<br />

Formen haben. Der Begründungsakt eines wissenschaftlichen Fachs<br />

kann im Zuge der Weiterentwicklung dieser Wissenschaft nur wie ein<br />

Sonderfall in einem viel allgemeineren Ganzen erscheinen, das man<br />

dann entdeckt. Er kann auch von Intuition und Empirizität beeinträchtigt<br />

scheinen; dann muß man ihn neu formalisieren und ihn einer Reihe<br />

von zusätzlichen theoretischen Operationen unterwerfen, die ihn<br />

strenger begründen, usw. Schließlich kann er wie eine vorschnelle<br />

172


Generalisierung erscheinen, die eingegrenzt und deren engerer Gültigkeitsbereich<br />

abgesteckt werden muß. Mit anderen Worten, der Begründungsakt<br />

eines wissenschaftlichen Fachs kann immer wieder in<br />

die Maschinerie der sich daraus ergebenden Transformationen hineingenommen<br />

werden.<br />

Nun glaube ich aber, daß die Begründung einer Diskursivität heterogen<br />

im Verhältnis zu ihren späteren Transformationen ist. Wenn man<br />

einen Diskursivitätstyp wie die Psychoanalyse, so wie sie von Freud<br />

begründet wurde, ausweitet, so heißt das nicht, ihr formale Allgemeinverbindlichkeit<br />

geben, die sie etwa zu Beginn nicht zugelassen<br />

habe, sondern einfach ihr eine gewisse Zahl von Anwendungsmöglichkeiten<br />

erschließen. Wenn man sie einengt, so bedeutet das eigentlich,<br />

daß man im Begründungsakt eine möglicherweise begrenzte<br />

Zahl von Sätzen und Aussagen zu isolieren sucht, denen man allein<br />

begründenden Wert zuerkennt und verglichen mit denen bestimmte<br />

von Freud angenommene Begriffe und Theorien als abgeleitet,<br />

sekundär, zusätzlich angesehen werden können.<br />

Schließlich erachtet mαn im Werk solcher Begründer gewisse Sätze<br />

nicht als falsch, man begnügt sich damit, wenn man den Begründungsakt<br />

in den Griff bekommen möchte, gewisser ich zutreffende<br />

Aussagen zu umgehen, einmal indem an sie für unwichtig, zum anderen<br />

indem man sie für »prähistorisch«_ also einem anderen Diskursivität<br />

zugehörig hält. Anders gesagt, im Unterschied zur Begründung<br />

einer Wissenschaft ist die Diskursivitätsbegründung nicht Teil ihrer<br />

späteren Transformationen, notwendigerweise scheidet sie aus oder<br />

sie überragt sie. Folge davon ist,<br />

/27/<br />

daß man die theoretische Gültigkeit in bezug auf das Werk dieser<br />

Begründer selbst definiert, während man im Fall Galilei und Newton<br />

die Gültigkeit der von ihnen aufgestellten Sätze in bezug zur Physik<br />

oder zur Kosmologie und ihrer inneren Struktur und Normativität bestimmt.<br />

Sehr schematisch formuliert heißt das: das Werk dieser Begründer<br />

steht nicht in bezug zur Wissenschaft und nicht in dem<br />

Raum, den sie umreißt, sondern die Wissenschaft oder die Diskursivität<br />

beziehen sich auf das Werk ihrer Begründer wie auf primäre<br />

Koordinaten.<br />

So wird verständlich, warum man in solchen Diskursivitäten auf die<br />

Forderung nach »einer Rückkehr zum Ursprung« als unumgänglicher<br />

Notwendigkeit stößt. Wieder muß man hier die »Rückkehr zu« unterscheiden<br />

von Erscheinungen wie der »Wiederentdeckung« und der<br />

»Reaktualisierung«, zu denen es ja in der Wissenschaft häufig<br />

kommt. Unter »Wiederentdeckung« möchte ich die Wirkungen der<br />

Analogie oder des Isomorphismus verstehen, die ausgehend von<br />

zeitgenössischen Formen des Wissens, eine Denkfigur sichtbar werden<br />

lassen, die verschwommen oder verschwunden war. So würde<br />

ich zum Beispiel sagen, daß Chomsky in seinem Buch über die cartesianische<br />

Grammatik eine gewisse Denkweise wiederentdeckt hat,<br />

173


die von Cordemoy bis Humboldt reicht: sie ist freilich erst seit der<br />

generativen Grammatik begründbar, denn diese enthält das Baugesetz;<br />

eigentlich handelt es sich hier um eine retrospektive Kodierung<br />

des historischen Blicks. Unter »Reaktualisierung« möchte ich<br />

etwas ganz anderes verstehen: die Wiedereingliederung eines Diskurses<br />

in einem Bereich der Verallgemeinerung, der Anwendung, der<br />

Transformation, die ihm neu ist. Die Geschichte der Mathematik ist<br />

da reich an Beispielen. (Ich verweise hier auf die Studie von Michel<br />

Serres über mathematische Anamnesen). Und was soll man unter<br />

»Rückkehr zu« verstehen? Ich glaube, daß man so eine Bewegung<br />

bezeichnen kann, die ihre besondere Eigenart hat und die gerade für<br />

die Diskursivitätsbegründung wichtig ist. Damit es nämlich zu einer<br />

Rückkehr kommt, muß es erst einmal Vergessen gegeben haben,<br />

nicht ein zufälliges Vergessen, nicht die Überlagerung durch Unverständnis,<br />

sondern ein wesentliches und konstitutives. Der Begründungsakt<br />

ist nämlich seinem Wesen nach so, daß er nur vergessen<br />

werden kann. Das, was ihn in Erscheinung bringt, das, was sich aus<br />

ihm herleitet, ist zugleich das, was die Abwei-<br />

/28/<br />

chung von ihm begründet und ihn maskiert. Dieses nicht zufällige<br />

Vergessen muß in genauen Operationen eingekreist werden, die man<br />

lokalisieren, analysieren und gerade durch die Rückkehr zu jenem<br />

Begründungsakt reduzieren kann. Der Riegel des Vergessens ist<br />

nicht von außen angebracht worden; er gehört zur in Frage stehenden<br />

Diskursivität; er gibt ihr sein Gesetz; die Diskursivitätsbegründung,<br />

die in Vergessenheit geriet, ist zugleich die Begründung für den<br />

Riegel und der Schlüssel, mit dem man ihn öffnen kann, so daß das<br />

Vergessen und sogar die verhinderte Rückkehr nur durch die Rückkehr<br />

aufgehoben werden können. Überdies richtet sich diese Rückkehr<br />

auf das, was in einem Text präsent ist, genauer noch, man<br />

kommt auf den Text selbst zurück, auf den Text in seiner Nacktheit<br />

und zugleich auf das, was im Text als Loch, als Abwesenheit, als<br />

Lücke markiert ist. Man kommt zurück auf eine gewisse Leere, die<br />

das Vergessen umgangen oder maskiert hat, die es mit einer falschen<br />

oder schlechten Fülle zugedeckt hat, die Rückkehr muß diese<br />

Lücke und diesen Mangel wieder aufdecken; daher rührt das ewige<br />

Spiel, das solches Rückkehren zur Diskursivitätsbegründung kennzeichnet,<br />

– ein Spiel, in dem man einerseits sagt: das war ja schon<br />

da, man brauchte nur zu lesen, alles steht da, man mußte schon<br />

blind und taub sein, um nicht zu sehen und zu hören; und umgekehrt:<br />

nein, das steht nicht in diesem und nicht in jenem Wort, kein sichtbares<br />

oder lesbares Wort sagt das, worum es jetzt geht, es handelt sich<br />

vielmehr um das, was zwischen den Zeilen (Worten) gesagt wird,<br />

durch ihren Abstand, durch ihre Zwischenräume. Daraus folgt natürlich,<br />

daß eine solche Rückkehr, die zum Text selbst gehört, ihn ständig<br />

verändert, daß die Rückkehr zum Text nicht ein geschichtlicher<br />

Zusatz ist, der zur Diskursivität hinzukommt und sie mit letztlich unwichtigen<br />

Verzierungen ausstattet; es ist eine nützliche und notwendige<br />

Transformationsarbeit an der Diskursivität selbst. Die Überprü-<br />

174


fung eines Galilei-Textes kann unsere Kenntnisse über die Geschichte<br />

der Mechanik modifizieren, aber nie die Mechanik selbst. Die<br />

Überprüfung der Texte von Freud hingegen modifiziert die Psychoanalyse<br />

und die von Marx den Marxismus. Um eine solche Rückkehr<br />

charakterisieren zu können, müssen wir noch ein letztes Merkmal<br />

angeben: sie ist auf eine Art rätselhaften Zuschnitt der Texte und des<br />

Autors aus. Weil der Text nämlich Text von einem ' Autor ist, hat er<br />

begründenden Wert<br />

/29/<br />

und weil er der Text von diesem bestimmten Autor ist, muß man auf<br />

ihn zurückkommen. Es besteht überhaupt keine Aussicht darauf, daß<br />

die Wiederentdeckung eines unbekannten Newton- oder Cantortexts<br />

die klassische Kosmologie oder die Mengenlehre, so wie sie sich<br />

entwickelt haben, verändern könnte (allerhöchstens kann diese Ausgrabung<br />

vielleicht unsere historische Kenntnis über ihre Entwicklung<br />

ändern). Im Gegensatz dazu kann das Auftauchen eines Textes wie<br />

Der Abriß von Freud – und in dem Maß wie es ein Freudtext ist –<br />

nicht etwa das historische Wissen über die Psychoanalyse, sondern<br />

ihr theoretisches Feld verändern – wenn wohl auch nur durch eine<br />

Verschiebung der Akzente und des Gravitätszentrums. Solche Formen<br />

der Rückkehr, die zur Struktur der Diskursivitätsfelder gehören,<br />

von denen ich spreche, bringen für ihren »fundamentalen« und vermittelten<br />

Autor einen Bezug ein, der nicht identisch ist mit dem Bezug,<br />

den ein beliebiger Text zu seinem unmittelbaren Autor hat.<br />

Was ich zum Thema »Diskursivitätsbegründung« skizziert habe, ist<br />

selbstverständlich sehr schematisch. Besonders die Opposition, die<br />

ich zwischen einer Diskursivitäts- und einer Wissenschaftsbegründung<br />

eingeführt habe. Es läßt sich vielleicht nicht immer leicht<br />

entscheiden, ob man hiermit oder damit zu tun hat: und nichts beweist,<br />

daß diese beiden Arten des Vorgehens einander ausschließen.<br />

Ich habe diese Unterscheidung nur aus einem Grund versucht:<br />

ich wollte zeigen, daß die Funktion Autor, die schon kompliziert<br />

genug ist, wenn man sie in einem Buch oder in einer Reihe von Texten,<br />

die eine bestimmte Signatur tragen, aufspürt, noch neue Determinationen<br />

einbringt, wenn man versucht, sie in noch größeren Einheiten<br />

zu analysieren: in Werkgruppen, in ganzen Wissenschaftsbereichen.<br />

Ich bedaure sehr, daß ich in die jetzt folgende Debatte keinen positiven<br />

Vorschlag habe einbringen können: höchstens Leitlinien für<br />

mögliche Arbeiten, Wege für eine Analyse. Aber ich muß Ihnen doch<br />

wenigstens zum Schluß noch in einigen Worten sagen, warum ich<br />

das doch wichtig finde.<br />

Würde man eine solche Analyse weiterentwickeln, so könnte sie vielleicht<br />

zu einer Typologie der Diskurse führen. Es scheint mir nämlich,<br />

zumindest bei erster Annäherung, daß eine solche Typo-<br />

175


30/<br />

logie nicht nur ausgehen dürfte von den grammatischen Merkmalen<br />

der Diskurse, ihren formalen Strukturen oder gar ihren Gegenständen;<br />

es gibt nämlich besondere diskursive Eigenschaften oder Relationen<br />

(die nicht auf die Regeln der Grammatik oder der Logik, auch<br />

nicht auf die Gesetze der Gegenstände zurückgeführt werden können)<br />

und gerade auf diese sollte man seinen Blick richten, um die<br />

großen Diskurskategorien unterscheiden zu können_ Der Bezug<br />

(oder der Nicht-Bezug) zu einem Autor und die verschiedenen Formen<br />

dieses Bezugs bilden – recht sichtbar – eines der diskursiven<br />

Merkmale.<br />

Ich glaube andererseits, daß man hier einen Einstieg in die historische<br />

Analyse der Diskurse finden könnte. Vielleicht ist es an der<br />

Zeit, Diskurse nicht mehr nur nach ihrem Ausdruckswert oder ihren<br />

formalen Transformationen zu untersuchen, sondern in ihren Existenzweisen:<br />

die Art der Verbreitung, der Wertung, der Zuschreibung,<br />

der Aneignung ist in jeder Kultur anders und wandelt sich in jeder<br />

einzelnen; die Art, wie sie sich über die gesellschaftlichen Beziehungen<br />

äußern, läßt sich meiner Meinung nach direkter durch die Funktion<br />

Autor und ihre Veränderungen entziffern als in den Themen und<br />

Begriffen, die sie verwenden.<br />

Könnte man nicht auch ausgehend von solchen Analysen den Vorrang<br />

des Stoffs neu überprüfen? Ich weiß schon, daß man bei einer<br />

werkinternen Untersuchung der Bauweise (ganz gleich, ob es sich<br />

um einen literarischen Text, ein philosophisches System oder ein<br />

wissenschaftliches Werk handelt) und dabei biographische oder psychologische<br />

Bezugspunkte ausklammert, bereits den absoluten Charakter<br />

und die begründende Rolle des Stoffs in Frage gestellt hatte.<br />

Aber vielleicht sollte man auf das zurückkommen, was da in der<br />

Schwebe ist, keinesfalls um das Thema vom ursprünglichen Stoff zu<br />

restaurieren, sondern um die Einfügungspunkte, die Funktionsweisen<br />

und die Abhängigkeiten des Stoffs zu begreifen. Die traditionelle Frage<br />

muß umgekehrt werden: man sollte nicht mehr fragen, wie kann<br />

sich die Freiheit eines Stoffs in die Kompaktheit der Dinge einfügen<br />

und ihr einen Sinn geben, wie kann er von innen die Regeln einer<br />

Sprache beleben und so seine eigenen Ziele an den Tag bringen?<br />

Man sollte vielmehr fragen: wie, aufgrund welcher Bedingungen und<br />

in welchen Formen kann so etwas wie Stoff im Diskurs erscheinen?<br />

Welche Stelle kann er in jedem einzelnen Diskurs haben,<br />

/31/<br />

welche Funktionen übernehmen, welchen Regeln gehorchen? Kurz,<br />

es geht darum, dem Stoff (oder seinem Ersatz) seine Rolle ursprünglicher<br />

Begründung zu nehmen und ihn als variable und komplexe<br />

Funktion des Diskurses zu analysieren.<br />

Der Autor – oder das, was ich als Funktion Autor zu beschreiben versuchte<br />

– ist wohl nur eine der möglichen Spezifikationen der Funktion<br />

Stoff. Mögliche oder nötige Spezifikation? Betrachtet man die Wandlungen,<br />

zu denen es im Laufe der Geschichte gekommen ist, so muß<br />

176


die Funktion Autor keineswegs konstant in ihrer Form, in ihrer Komplexität<br />

oder gar in ihrem Vorhandensein bleiben - ganz im Gegenteil.<br />

Man kann sich eine Kultur vorstellen, in der Diskurse verbreitet oder<br />

rezipiert würden, ohne daß die Funktion Autor jemals erschiene.<br />

Ganz gleich welchen Status, welche Form und welchen Wert ein Diskurs<br />

hätte und welche Behandlung man ihm angedeihen ließe, alle<br />

würden sich in der Namenlosigkeit des Gemurmels entrollen. Folgende<br />

so lange wiedergekäute Fragen würde man nicht mehr hören:<br />

»Wer hat eigentlich gesprochen? Ist das auch er und kein anderer?<br />

Mit welcher Authentizität oder welcher Originalität? Und was hat er<br />

vom Tiefsten seiner selbst in seiner Rede ausgedrückt?« Dafür wird<br />

man andere hören: »Welche Existenzbedingungen hat dieser Diskurs?<br />

Von woher kommt er? Wie kann er sich verbreiten, wer kann<br />

ihn sich aneignen? Wie sind die Stellen für mögliche Stoffe verteilt?«<br />

Und hinter all diesen Fragen würde man kaum mehr als das gleichgültige<br />

Geräusch hören: »Wen kümmert's, wer spricht?« *<br />

* Das mehrfach erwähnte Werk von Foucault Les Mots et les Choses liegt<br />

auf Deutsch unter dem Titel Die Ordnung der Dinge νοr<br />

177


<strong>Hans</strong>-<strong>Joachim</strong> <strong>Lenger</strong>: Cyberspace<br />

oder Die Zukunft des Genies 50<br />

"Zwei davon halfen mir in den Bauhaus-Sarg und traten zurück,<br />

als der Deckel sich wie das Helmvisier eines Riesen zischend<br />

herunterschob. Ich begann meine Himmelfahrt, meine Reise zu<br />

einer heimkehrenden Fremden namens Leni Hofmannstahl.<br />

Eine kurze Fahrt, die aber eine Ewigkeit zu dauern schien."<br />

William Gibson, Cyberspace, S.85<br />

Meine Damen, meine Herren,<br />

die Kommunikation, in die wir an diesen beiden Tagen einzutreten<br />

gehalten sind, ist durch die Einführung eines Gerundivums<br />

präformiert worden, das sich in einem vorbereitenden<br />

Text, der uns zuging, als "Kommunikandum" ausprägte und<br />

eine Notwendigkeit, andere könnten auch meinen: eine Nötigung,<br />

anzeigte. 51 Denn ein Communicandum ist ein Etwas, das<br />

kommuniziert werden muß. Und es gehört zur List dieser<br />

grammatischen Form, daß sie die Autorität, aus der sie das<br />

Gebot des Communicandum est ergehen läßt, vorerst im unklaren<br />

hält. Diese Form bedeutet uns: Es muß kommuniziert werden;<br />

aber eben, und dies fragt sich: von wo aus schreibt sich<br />

dieser Satz vor, und mit welcher Autorität schreibt er sich vor?<br />

Von welchem Ort ergeht jene Verpflichtung, die uns zur Kommunikation<br />

nötigt?<br />

Zwar weiß ich nicht, ob jene, die uns das Kommunikandum<br />

vorgaben, sich etwas dabei dachten; sie könnten ja auch vom<br />

Wortklang betört worden sein, den das lateinische Gerundiv mit<br />

sich führt. Doch erst recht, wenn sich die Gerundivform der<br />

Kommunikation gleichsam ohne Absicht, ohne Intention oder<br />

Kalkül ihrer Initiatoren in unsere Tagung eingeführt hätte, sprä-<br />

50 Vortrag auf dem Kommunikandum über Grundlehre, HFBK Hamburg,<br />

Dezember 1990<br />

51 GL-Kommunikandum / Briefentwurf Dresden I / Michael Lingner, S.1<br />

178


che sie umso beredter von der spezifischen Figuration einer<br />

systemischen Macht.<br />

Der Zwang zur Kommunikation nämlich scheint unter den heutigen<br />

Bedingungen technologischer Kulturen derart unabweisbar<br />

geworden zu sein, daß er sich noch einem Gespräch<br />

wie dem unseren programmatisch aufprägt und aufprägen muß:<br />

als Communicandum est. Das Communicandum ist der Imperativ,<br />

von dessen Befolgung es abhängt, ob etwas erscheinen<br />

kann oder nicht. Und das heißt: wenn etwas besteht, so besteht<br />

es allein in den Techniken und Technologien der Kommunikation.<br />

In dieser Situation zeichnet sich ab, was ich Ihnen und mir<br />

zunächst als Frage nach der Kommunikation vorzulegen gedenke;<br />

sodann aber auch in einer Meditation über jenen Rat,<br />

den uns Jean-François Lyotard erteilte, ich zitiere: "für eine Arbeit<br />

an der Nicht-Kommunizierbarkeit, der Nicht-Mitteilbarkeit zu<br />

kämpfen, nämlich für die Artikulation von möglichen neuen Sätzen.<br />

Dieser Kampf", so fuhr Lyotard dann fort, "wird hauptsächlich<br />

von den Künstlern geführt. Denn in der Kunst geht es vor<br />

allem darum, Werke hervorzubringen, in denen die das Werk<br />

als solches konstituierenden Regeln selbst noch einmal hinterfragt<br />

werden. Dazu ist keine Theorie nötig; ja ich möchte sogar<br />

sagen, es ist nötig, keine Theorie zu haben." 52<br />

Empfehlungen wie diese entlassen uns allerdings in unabsehbare<br />

Paradoxien. Sie verstoßen in eine Grundlosigkeit, in<br />

der wir uns nicht aufhalten können. Denn sie legen die Idee<br />

nahe, daß die Bewegung der Kunst nicht etwa in der Befolgung<br />

von Regeln besteht, sondern darin, die Regelhaftigkeit möglicher<br />

Regeln zu befragen und sie in Figuren einer abgründigen<br />

Frage selbst zu generieren. Sie situieren die Kunst also am Ort<br />

einer Genese, an dem es keinen Sinn mehr macht, etwa zwischen<br />

einer Aussage und ihrer Regel, und schon gar nicht, zwischen<br />

dem Rationalen und dem Irrationalen, zwischen dem<br />

Verfügbaren und dem Unverfügbaren, zwischen dem Lehrbaren<br />

und dem Genialischen zu unterscheiden. Anders gesagt, lassen<br />

diese Sätze eine Entgründung sich wiederholen, die jede Rede<br />

von einem "Grund" obsolet werden läßt - und zwar unabhängig<br />

davon, ob er sich dann in der "Grundlehre", der "Grundlage"<br />

oder der "Grundfrage" zu setzen versucht.<br />

Hier ist nicht die Zeit, das metaphorische Feld genauer zu analysieren,<br />

das durch diese Rede vom Grund eröffnet wird. Aber<br />

vielleicht ist doch der Hinweis am Platz, daß sich eine solche<br />

Analyse mit Fragen des Territoriums ebenso zu beschäftigen<br />

hätte wie mit denen einer gewissen Architektonik und eines<br />

52 Jean-François Lyotard, Regeln und Paradoxa, in: ders., Philosophie und<br />

Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin 1986, S.105<br />

179


gewissen Bauens; mit dem Problem einer Verankerung im<br />

Grund, mit Vorstellungen der Tiefe und der Höhe also, wie sie<br />

von Sätzen wie dem herausgefordert werden, daß seine Fundamente<br />

tiefer legen müsse, wer hoch hinaus wolle. 53 In jedem<br />

Fall hätte sich eine solche Analyse den Vorstellungen einer gewissen<br />

Seßhaftigkeit zuzuwenden, die sich in der Rede von<br />

einer "Grundlegung" einstellen. Und sie hätte sich schließlich<br />

der Frage zu stellen, ob die territoriale oder architektonische<br />

Metaphorik geeignet ist, die Spezifika unserer künstlerischen,<br />

philosophischen oder ästhetischen Erfahrung zu fassen.<br />

Anstatt aber diese Analyse einer Metaphorik des Grundes zu<br />

beginnen, will ich - auch dies in der Kürze der Zeit, die nur Andeutungen<br />

zuläßt - vorschlagen, die virtuellen Welten des Cyberspace,<br />

die in den Forschungslabors der "Künstlichen Intelligenz"<br />

erscheinen, als Paradigma einer solchen Erfahrung zu<br />

entziffern, für die sich im Innern des Grundes ein Ab-Grund auftut.<br />

Denn wo die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine<br />

nicht mehr in der alphanumerischen Tastatur besteht und wir<br />

auch die zweite Generation der Benutzeroberfläche - die Maus,<br />

die auf den Bildschirmen den zeigenden Finger vertrat - aus der<br />

Hand geben; wo wir uns stattdessen die Maschine anziehen<br />

und die gesamte Oberfläche des Körpers zu einer Benutzeroberfläche<br />

der dritten Generation werden lassen, um in körperloser<br />

Körperlichkeit in die multidimensionalen Welten der Programme,<br />

der zirkulierenden Daten und Informationen einzutauchen,<br />

führt sich eine Unentscheidbarkeit ein, die abgründig ist.<br />

Denn unentscheidbar ist, wo der Körper aufhört und wo die Maschine<br />

beginnt; wo die Oberfläche der Haut in die Benutzeroberfläche<br />

der Maschine übergeht; kurz: die Welt des Cyberspace<br />

läßt uns in der Aporie der Oberfläche und damit in der<br />

Aporie der Grenze versinken. Denn die Oberfläche beschreibt<br />

eine Grenze zwischen Innen und Außen, aber sie tut dies, weil<br />

sie als Oberfläche weder Innen noch Außen "ist". Weder diesseits<br />

noch jenseits situiert, tut sich an der Oberfläche ein Abgrund<br />

auf; aber man könnte ebenso sagen: der Abgrund spielt<br />

allein auf der Oberfläche, denn er "ist" nichts anderes als dieses<br />

Spiel. In gewisser Hinsicht verändert Cyberspace also auch<br />

nicht die Welt und beschreibt auch keine andere Welt; noch die<br />

Rede von "virtuellen Welten", die das technologische Universum<br />

der Körper-Benutzer-Oberfläche auftue, ist ein zu weitgehendes<br />

Zugeständnis. Vielmehr bricht unter dem Namen Cyberspace<br />

eine Deterritorialisierung in die Ordnung des Grundes<br />

53 "Schließlich gilt nicht nur für das Bauen: wer hoch hinaus will, muß seine<br />

Fundamente tiefer legen." (Fritz Seitz, Wer hoch hinaus will, muß seine<br />

Fundamente tiefer legen, in: Con-Texte. Materialien zur Lehre an den<br />

Kunsthochschulen, Hamburg 1990, S.7)<br />

180


ein, die nicht etwa Korrelat eines Territoriums oder einer Territorialisierung<br />

ist, sondern technologisches Residuum einer unvordenklichen<br />

Nomadik. Insofern zeugen der kybernetische<br />

Raum und die kybernetische Zeit auch von einer Erfahrung, die<br />

nicht mehr "Erfahrung" in jenem Sinn genannt werden kann,<br />

den uns ein bestimmter Humanismus zu bewahren suchte,<br />

wenn er sie um die Opposition von "Innen" und "Außen" gruppierte.<br />

Und wenn ich deshalb vorschlage, diesen Verlust an<br />

Erfahrung, der alle Kategorien von Sinnlichem und Intelligiblem<br />

betreffen wird, nicht etwa als verschwundenes Objekt einer Nostalgie,<br />

einer Wehmut oder einer romantischen Rückbindung,<br />

einer Re-Ligio also zu beklagen, dann deshalb, weil wir in den<br />

virtuellen Welten des Cyberspace, im technologischen Universum<br />

der Kommunikation nur von einer Frage eingeholt werden,<br />

die früher als die früheste ist und noch der Frage nach dem<br />

"Grund" vorausgeht.<br />

Denn Cyberspace macht die Kommunikation total. In jeder<br />

Kommunikation aber verlangt etwas danach, die Gemeinschaft<br />

mit Anderen zu bedenken. Und zwar, weil die Kommunikation in<br />

gewisser Hinsicht diese Gemeinschaft "ist". Aber dieses "Sein"<br />

der Gemeinschaft "besteht" nicht etwa in der Kommunikation,<br />

denn es ist kein Bestehen oder Bestand und schon gar kein<br />

Gegen-Stand. Vielmehr entzieht sich die Kommunikation jedem<br />

Versuch, ihrer habhaft zu werden, und zwar deshalb, weil sie in<br />

einer bestimmten Hinsicht weder ein "Innen" noch ein "Außen"<br />

hat. Oder, anders gesagt: bevor sich eine Gemeinschaft begründen<br />

läßt, bevor sie sich etwa in der theologischen Ordnung<br />

der Kommunion, im politischen Projekt des Kommunismus oder<br />

in der technokratischen Struktur des Communicandum begründen<br />

und zeigen kann; bevor sie ihr Innen von einem ihr Äußerlichen<br />

abzusetzen vermag; bevor sie sich also eine Form verliehen<br />

hat, der man dann etwa in systemtheoretischen Begriffen<br />

zu Leibe rücken mag, hat sich etwas zugetragen, was weder<br />

ein "Draußen" noch ein "Drinnen" kennt. Was deshalb auch<br />

nicht als Riß gedacht werden kann, in dem sich ein "Innen" einem<br />

"Außen" öffnen würde. In seinem bewunderswerten Essay<br />

über Die undarstellbare Gemeinschaft schreibt Jean-Luc Nancy,<br />

und ich denke, hier bereits kündigt sich die Frage nach der<br />

Kunst im Innern der Kommunikation oder an ihren äußersten<br />

Rändern an: "Auch der Mund, wenn er sich öffnet, ist kein Riß.<br />

Er bietet dem 'Draußen' ein 'Drinnen' dar, das ohne diese Darbietung<br />

nicht existieren würde. Die Wörter 'entspringen' nicht<br />

der Kehle (noch dem 'Geist' 'im' Kopf): sie bilden sich bei der<br />

Artikulation im Mund. Daher ist die Rede kein Mittel der Kommunikation,<br />

sondern die Kommunikation selbst bis hin zum<br />

Schweigen - sie ist das Aussetzen (wie in jenen Gesängen der<br />

Inuit-Eskimos, die ihre Stimmen im offenen Mund eines Gegenübers<br />

erklingen lassen). Der sprechende Mund überträgt nichts,<br />

181


vermittelt nichts, erwirkt kein Band; in ihm pocht - vielleicht wie<br />

im Kuß, jedoch an der Grenze - ein singulärer Ort gegen andere<br />

singuläre Orte." 54 Ein Pochen also, wie im Kuß, doch an der<br />

Grenze; weder "drinnen" noch "draußen" und schon gar nicht<br />

kommunikativ zu übertragen oder architektonisch zu begründen.<br />

Eher handelt es sich im Innern der Kommunikation um ein<br />

Ausgesetzt-Sein, um eine Exteriorität, die alles, was wir uns<br />

mitteilen mögen, aus den unabschließbaren Irrfahrten einer Mitteilbarkeit<br />

auf uns zukommen läßt, die ihrerseits ohne Grund ist.<br />

Diese Mitteilbarkeit läßt sich deshalb auch weder auf die Ordnung<br />

eines Codes noch auf ein technisches oder technologisches<br />

Apriori zurückführen, doch ist sie andererseits auch<br />

nichts außerhalb dieser Ordnungen: weder diesseits noch jenseits<br />

solcher Grenzen zu verorten, ist sie Spiel der Grenzen<br />

selbst, das ein "Innen" und "Außen" erst ermöglicht.<br />

Ich vermute, daß sich die Frage nach der Kunst in diesem Ausgesetzt-Sein<br />

ankündigen wird, in dieser Spur eines Nicht-<br />

Mitteilbaren, von dem alle Mitteilung rührt. Doch um zugleich<br />

die nötige Vorsicht walten zu lassen: was sich hier als Ausgesetzt-Sein<br />

umschreibt, als Irrfahrt oder als Grenze, die sich unaufhörlich<br />

entgrenzt, erlaubt nicht schon jenes Anschauen, das<br />

die Griechen theoría nannten. Es stellt ebenso wenig schon<br />

etwas dar, was sich einem künstlerischen Anschauen darböte.<br />

Wo diese Spur einer sich entgrenzenden Grenze in der philosophischen<br />

oder ästhetischen Tradition reflektiert wurde, da<br />

vielmehr als Entzug oder als Verschwinden; als etwas, dessen<br />

der Wille zur Präsenz nicht habhaft werden konnte.<br />

Vielleicht aber wird an diesem Punkt auch deutlicher, wohin<br />

Lyotards paradoxe Empfehlung weist, der Kampf um das Nicht-<br />

Kommunizierbare werde hauptsächlich von den Künstlern geführt,<br />

und um ihn führen zu können, sei es geradezu notwendig,<br />

keine Theorie zu haben. Es mag ebenso deutlicher werden, in<br />

welcher Weise sich im Innern der Kommunikation oder an ihrer<br />

äußersten Grenze, am undarstellbaren Ort einer Nicht-<br />

Entscheidbarkeit also, aus dem die Frage der Gemeinschaft auf<br />

sich zukommt, sich auch die Frage der Kunst situiert. Wohlgemerkt:<br />

Nicht die Frage nach der Kunst, was wiederum eine<br />

Theorie implizieren würde, sondern die Frage der Kunst.<br />

Denn in einer sehr bestimmten Weise ist diese Frage nicht<br />

einmal zu stellen, geschweige denn, daß über sie verfügt werden<br />

könnte. Im gleichen Augenblick, in dem der Begriff einsetzen<br />

wollte, ihrer habhaft zu werden und sie in das Gefüge eines<br />

Systems zu übertragen, hätte sich die Frage der Kunst schon<br />

zurückgezogen. Dies rührt aus dem, was Nancy die Undarstell-<br />

54 Jean-Luc Nancy, Die undarstellbares Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S.68<br />

182


arkeit der Gemeinschaft nennt - was sich aber auch bei Kant<br />

schon erfahren läßt, bei dem es heißt, "daß der Geschmack mit<br />

mehrerem Recht sensus communis genannt werden könne, als<br />

der gesunde Verstand; und daß die ästhetische Urteilskraft<br />

eher als die intellektuelle den Namen eines gemeinschaftlichen<br />

Sinnes führen könne, wenn man ja das Wort Sinn von einer<br />

Wirkung der bloßen Reflexion auf das Gemüt brauchen will:<br />

denn da versteht man unter Sinn das Gefühl der Lust." 55 Bevor<br />

sich jedenfalls die Frage der Kunst in den Systemphilosophien<br />

Fichtes, Schellings oder Hegels zur Totalität abschließen oder<br />

sich bei Marx zum Projekt der Gemeinschaft verdichten kann,<br />

schreibt sich in Kants Kritik der Urteilskraft unter dem Problemtitel<br />

eines "sensus communis" oder eines Gemeinsinns die Spur<br />

einer Abwesenheit, eines irreduziblen Anderswo ein, von der<br />

diese Frage der Kunst ihre unkonstruierbare Gestalt erfahren<br />

wird. Anders gesagt, bewegt sich die Kritik der Urteilskraft im<br />

Spiel einer Grenze, das eine Unentscheidbarkeit einbrechen<br />

läßt, die sich in keinem Grund territorialisieren wird. Wo Kant<br />

die Deduktion reiner ästhetischer Urteile vorbereitet oder, wie<br />

sich auch sagen ließe, die Möglichkeit ihrer Grundlegung prüft,<br />

tut sich eine Abgründigkeit möglichen Urteilens auf, die aus der<br />

Unerreichbarkeit Anderer oder der Undarstellbarkeit von Gemeinschaft<br />

rührt. 56<br />

Aber der Ort des Genies ist nun Kant zufolge derjenige, an der<br />

diese Undarstellbarkeit sich doch darstellen soll. Auch in diesem<br />

Fall läßt es die Kürze der Zeit nicht zu, die komplizierte<br />

Bewegung zu rekonstruieren, in der Kant den Geniebegriff ins<br />

Unabsehbare verschieben muß, um in dieser Verschiebung die<br />

Möglichkeit einer Darstellung des Undarstellbaren sich ereignen<br />

zu lassen. Hier muß der Hinweis genügen, daß der Geniebegriff<br />

zunächst nicht etwa die ausgezeichnete Begabung einer Person<br />

meint. Vielmehr bezeichnet er, bevor er sich auf eine Person<br />

beziehen läßt, in Kants strenger und fast strukturaler Ter-<br />

55 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Band X, Frankfurt/M.<br />

1977, A 158<br />

56 Die berühmte Stelle bei Kant lautet: "Unter dem sensus communis aber<br />

muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermögens<br />

verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart<br />

jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam<br />

an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch<br />

der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen,<br />

welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil<br />

nachteiligen Einfluß haben würde. Dieses geschieht nun dadurch, daß<br />

man sein Urteil an anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß<br />

mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem<br />

man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälliger<br />

Weise anhängen, abstrahiert...“ (A 155).<br />

183


minologie jene Grenze, die weder "Innen" noch "Außen" kennt;<br />

eine Grenze, die als Mitteilbarkeit jeder Mitteilung vorausgeht<br />

und deshalb selbst nicht mitgeteilt, sondern nur geteilt werden<br />

kann. In gewisser Hinsicht ist diese Grenze die einer Kommunikation<br />

bis hin zum Schweigen, eines Aussetzens vor aller<br />

Setzung, einer irreduziblen Nomadik vor aller Grundlegung und<br />

Seßhaftigkeit. Die Struktur einer Genese also, die den Geniebegriff<br />

ordnet und so sehr im Innern der Kommunikation oder<br />

an ihrem äußersten Rand situiert ist, daß man sagen könnte, im<br />

Geniebegriff suche sich das Rätsel zu artikulieren, daß die undarstellbare<br />

Gemeinschaft sich doch erscheinen kann.<br />

Vor aller Mimesis aber, vor aller Möglichkeit dieses Erscheinen-<br />

Lassens und Anähnelns muß sich deshalb im Geniebegriff<br />

Kants, als Voraussetzung aller Kommunikation, die nicht mitgeteilt,<br />

sondern nur geteilt werden kann, ein Begriff der Technik<br />

eingeführt haben, von dem dann derjenige der Kunst wie auch<br />

der der Natur abhängen wird; Kant schreibt: "Denn überhaupt<br />

ist die Technik der Natur, sie mag nun bloß formal oder real<br />

sein, nur ein Verhältnis der Dinge zu unserer Urteilskraft, in<br />

welcher allein die Idee einer Zweckmäßigkeit der Natur anzutreffen<br />

sein kann, und die, bloß in Beziehung auf jene, der Natur<br />

beigelegt wird." 57 Also ist die Technik der Natur nichts, was<br />

dieser Natur "an sich" zukäme, sondern nur eine Beziehung, in<br />

der wir uns aufeinander zu beziehen suchen; eine Beziehung,<br />

die sich aber auch nicht darstellen oder gar herstellen läßt, so<br />

wie man ein Produkt herstellen mag. Sondern eine Reflexionsbeziehung,<br />

die sich im technischen Spiel der Grenze präsentiert<br />

und zurückzieht. Überhaupt handelt es sich, wo Kant den Naturbegriff<br />

einführt, nicht um einen Grund oder eine "erste Natur";<br />

er meint nicht ein Erstes, dem gegenüber die Technik ein<br />

Zweites wäre. Vielmehr ist diese Natur Schauplatz einer technischen<br />

Verschiebung, an dem allein sich darstellen oder mitteilen<br />

läßt, was als Mitteilbarkeit vor aller Mitteilung undarstellbar<br />

bleiben muß. "Also", schreibt Kant deshalb, "ist die Urteilskraft<br />

eigentlich technisch; die Natur wird nur als technisch vorgestellt,<br />

so fern sie zu jenem Verfahren derselben zusammenstimmt<br />

und es notwendig macht". 58<br />

Wenn also im Ausgang von jener einzigartigen Riskanz, die die<br />

Frage der Kunst bei Kant erfahren hat, ein Blick auf unsere Situation<br />

möglich ist, dann deshalb, weil die Beziehungen von<br />

Nomadischem und Territorialem, von Entzug und Grundlegung,<br />

von Kunst, Genie, Technik und Gemeinschaft sich heute in ei-<br />

57 Immanuel Kant, Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft,<br />

ebd., S.34<br />

58 ebd. S.33<br />

184


ner einzigartigen Krise zu bewegen scheinen; aber, wie sich<br />

dann auch zeigt, in einer Krise, die nicht etwa unvermittelt eingebrochen<br />

wäre, sondern die als "Grenze" stets schon entgrenzt<br />

hat, was sich immer nur im nachhinein zu fundamentalisieren<br />

oder zu begründen suchen kann. Die Spur eines Technikbegriffs,<br />

die sich Kants Kritik einschrieb, erlaubt es nämlich,<br />

im Innern des personalen Geniebegriffs, der die Diskussion um<br />

die Kunst immer noch wie ein gespenstischer Schatten begleitet,<br />

jene technische Struktur zu entziffern, in der wir uns verhalten,<br />

ohne uns schon zueinander verhalten zu können. Eine<br />

Struktur also, die das Paradox eines "Zusammen und Noch-<br />

Nicht" wahrt, wie Blanchot sagt, ohne daß sie aber das "Noch-<br />

Nicht eines Zusammen" in Aussicht stellen würde. Aber diese<br />

technische Struktur erlaubt es eben nicht nur, die Erosion eines<br />

personalen Geniebegriffs wahrzunehmen und zu beschleunigen;<br />

eine Erosion, die im übrigen immer neu und erschreckend<br />

deutlich wird, wenn etwa göttergleich sich gebärdende Künstler<br />

auf den Monitoren der elektronischen Telekommunikation erscheinen.<br />

Diese technische Struktur erlaubt es zugleich, eine<br />

Erosion der Rede von den Grundlagen, den Grundfragen und<br />

den Grundlehren zu beschleunigen, die ihrerseits nur Residuum<br />

eines technischen Erscheinen-Lassens sein dürfte.<br />

In der Welt des Cyberspace, die "Welt" nicht genannt werden<br />

kann, sondern die Kommunikation aus der Zäsur eines Schweigens<br />

generiert, das von den Nicht-Seßhaftigkeiten der Einbildungskraft<br />

zeugt; in einer technischen Struktur also, von der<br />

Jonas Hafner vielleicht sagen würde, sie sei das Zu-sichsprechen-Wollen<br />

der Sprache, und von der ich sagen würde, in<br />

ihr wahre sich die Gemeinschaft, indem sie sich nur darstellen<br />

kann, weil sie sich zurückgezogen hat, ist nichts fragwürdiger<br />

als die Idee des Grundes und der Grundlegung. Aber all dies ist<br />

ohne Nostalgie und ohne Wehmut zu denken; ohne den<br />

Wunsch, die Ordnung einer Benutzeroberfläche zu restaurieren,<br />

die sich in den 20er Jahren - etwa in der Bauhaus-<br />

Konzeption von Gropius 59 - aus der Opposition von mechanisch-serieller<br />

Maschine und der Handarbeit herstellte, um die<br />

59 "das hauptproblem wird darin bestehen, die wirkungsvollste verteilung<br />

der schöpferischen energien innerhalb der gesamtproduktion zu finden.<br />

der typ des intelligenten handwerkers der vergangenheit wird in der zukunft<br />

für spekulative vorarbeiten bei der herstellung industrieller waren<br />

verantwortlich sein. statt seine fähigkeiten in einem rein mechanischen<br />

vervielfältigungsprozeß zu vergeuden, wird er in experimenteller laboratoriumsarbeit<br />

und in der werkzeugentwicklung verwendung finden. sein<br />

arbeitsfeld wird ein organischer teil der produktionseinheit der industrie<br />

werden." (Walter Gropius, meine konzeption des bauhaus-gedankens, in:<br />

50 jahre bauhaus, ausstellung unter der schirmherrschaft des herrn bundespräsidenten<br />

dr.h.c. heinrich lübke, stuttgart 1968, S.15)<br />

185


Intelligenz auf seiten der Handarbeit zu situieren. Vielmehr ratifiziert<br />

das Intelligent-Werden der Maschine, das sich im Computer<br />

anzeigt, der nach Turings bekanntem Ausdruck die "universelle<br />

Maschine" ist, weil er alle Maschinen "darstellen" kann,<br />

ein Rückzug solcher Oppositionen: ein Rückzug, der auch die<br />

Frage nach der "Grenze" in unabsehbarer Weise verschiebt.<br />

Vielleicht besteht die tiefe Unsicherheit, die uns erfaßt hat, ja in<br />

der Erfahrung dieser Verschiebung. Denn sie läßt nichts unangetastet;<br />

sie verwirrt nicht nur die einzelnen Disziplinen, sondern<br />

auch, was sich zwischen ihnen abspielt und was in einem<br />

nur unzureichenden Ausdruck das "Inter-Disziplinäre" genannt<br />

wird. Und es wäre allzu verführerisch, dieser Verwirrung durch<br />

eine Metaphorik des Grundes entgehen zu wollen. Verführerisch<br />

deshalb, weil eine solche Metaphorik alle vertrauten Oppositionen<br />

errichten würde: die von Haus und Weg, von Privatem<br />

und Öffentlichem, von Vertrautem und Fremdem, von Eigenem<br />

und Anderem. Oppositionen also, die sich auch im Begriffspaar<br />

von Kommunikation und Grundlegung nur wiederholen.<br />

Aber vielleicht ist die Verwirrung, die uns erfaßt hat, ja nicht<br />

nur destruktiv. Vielleicht sollte man sie zum Zuge kommen lassen.<br />

Vielleicht könnte sie ja auch Gelegenheit bieten, andere<br />

Perspektiven ins Auge zu fassen. Nicht also, ihr durch einen<br />

Rekurs auf das vermeintlich Lernbare zu entgehen, sondern sie<br />

in einem Sinn zu forcieren, in dem sich anderes abzeichnen<br />

könnte. Ein Begriff des Inter-Disziplinären vielleicht, der sich<br />

nicht so sehr in den Disziplinen als vielmehr in ihrem "Dazwischen"<br />

situieren ließe, in dem nämlich die Grenzen etwa zwischen<br />

künstlerischer, ästhetischer, wissenschaftlicher oder philosophischer<br />

Erfahrung Brüche aufweisen. In einem Dazwischen<br />

also, in dem sich die Instabilitäten erst zutragen. Oder,<br />

wie Lyotard sagt, der künstlerische Kampf um die Möglichkeit<br />

neuer Sätze ausgetragen wird.<br />

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