Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
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Vernichtung der einen Welt durch die andere – bei dem bessern<br />
Menschen als wechselndes Verfinstern, wie zwischen Mond und Erde<br />
herrscht; bald ist am Janus-Kopfe des Menschen, welcher nach<br />
entgegengesetzten Welten schauet, das eine Augenpaar, bald das<br />
andere zugeschlossen oder zugedeckt.<br />
Wenn es aber Menschen gibt, in welchen der Instinkt des Göttlichen<br />
deutlicher und lauter spricht als in andern; – wenn er in ihnen das<br />
Irdische anschauen lehrt (anstatt in andern das Irdische ihn); – wenn<br />
er die Ansicht des Ganzen gibt und beherrscht: so wird Harmonie und<br />
Schönheit von beiden Welten widerstrahlen und die zu einem Ganzen<br />
machen, da es vor dem Göttlichen nur eines und keinen Widerspruch<br />
der Teile gibt. Und das ist der Genius; und die Aussöhnung<br />
beider Welten ist das sogenannte Ideal. Nur durch Himmelskarten<br />
können Erdkarten gemacht werden; nur durch den Standpunkt von<br />
oben herab (denn der von unten hinauf schneidet ewig den Himmel<br />
mit einer breiten Erde entzwei) entsteht uns eine ganze Himmelskugel,<br />
und die Erdkugel selber wird zwar klein, aber rund und glänzend<br />
darin schwimmen. Daher kann das bloße Talent, das ewig die Götterwelt<br />
zum Nebenplaneten oder höchstens zum Saturn-Ring einer<br />
erdigen Welt erniedrigt, niemals ideal runden und mit dem Teil kein<br />
All ersetzen und erschaffen. Wenn die Greise der Prose, gleich leiblichen<br />
versteinert und voll Erde 14 , uns die Armut, den Kampf mit dem<br />
bürgerlichen Leben oder dessen Siege sehen lassen: so wird uns so<br />
eng und bang beim Gesicht, als müßten wir die Not wirklich erleben;<br />
und in der Tat erlebt man ja doch das Gemälde und dessen Wirkung;<br />
und so fehlt immer ihrem Schmerze ein Himmel und sogar ihrer<br />
Freude ein Himmel. Sogar das Erhabne der Wirklichkeit treten sie<br />
platt, z.B. (wie Leichenpredigten zeigen) das Grab, nämlich das Sterben,<br />
dieses Verleben zwischen zwei Welten, und so die Liebe, die<br />
Freundschaft. Man begegne wenigstens in dem Wundfieber der Wirklichkeit<br />
ihnen nicht, die mit dem Wundpinsel ihrer Dicht-Prose ein<br />
neues ins<br />
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alte impfen, und durch deren Poesien echte nötig werden, um die<br />
falsche nur zu verschmerzen.<br />
Wenn hingegen der Genius uns über die Schlachtfelder des Lebens<br />
führt: so sehen wir so frei hinüber, als wenn der Ruhm oder die Vaterlandsliebe<br />
vorausginge mit den zurückflatternden Fahnen; und neben<br />
ihm gewinnt die Dürftigkeit wie vor einem Paar Liebenden eine arkadische<br />
Gestalt. Überall macht er das Leben frei und den Tod schön;<br />
auf seiner Kugel sehen wir, wie auf dem Meer, die tragenden Segel<br />
früher als das schwere Schiff. Auf diese Weise versöhnet, ja vermählt<br />
er – wie die Liebe und die Jugend – das unbehülfliche Leben mit dem<br />
ätherischen Sinn, so wie am Ufer eines stillen Wassers der äußere<br />
14 Bekanntlich werden im Alter die Gefäße Knorpel und die Knorpel Knochen,<br />
und es kommt so lange Erde in den Körper, bis der Körper in die<br />
Erde kommt.<br />
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