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Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

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Denn sein Intellekt wird überhaupt die Fehler zeigen, die bei jedem<br />

Werkzeug, welches zu Dem, wozu es nicht gemacht ist, gebraucht<br />

wird, nicht auszubleiben pflegen. Zunächst wird er gleichsam der<br />

Diener zweier Herren seyn, indem er, bei jeder Gelegenheit, sich von<br />

dem seiner Bestimmung entsprechenden Dienste losmacht, um seinen<br />

eigenen Zwecken nachzugehn, wodurch er den Willen oft sehr<br />

zur Unzeit im Stich läßt und hienach das so begabte Individuum für<br />

das Leben mehr oder weniger unbrauchbar wird, ja, in seinem Betragen<br />

bisweilen an den Wahnsinn erinnert. Sodann wird es, vermöge<br />

seiner gesteigerten Erkenntnißkraft, in den Dingen mehr das Allgemeine,<br />

als das Einzelne sehn; während der Dienst des Willens<br />

hauptsächlich die Erkenntniß des Einzelnen erfordert. Aber wann nun<br />

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wieder gelegentlich jene ganze, abnorm erhöhte Erkenntnißkraft sich<br />

plötzlich, mit aller ihrer Energie, auf die Angelegenheiten und Miseren<br />

des Willens richtet; so wird sie diese leicht zu lebhaft auffassen, Alles<br />

in zu grellen Farben, zu hellem Lichte, und ins Ungeheure vergrößert<br />

erblicken, wodurch das Individuum auf lauter Extreme verfällt. Dies<br />

noch näher zu erklären, diene Folgendes. Alle große theoretische<br />

Leistungen, worin es auch sei, werden dadurch zu Stande gebracht,<br />

daß ihr Urheber alle Kräfte seines Geistes auf Einen Punkt richtet, in<br />

welchen er sie zusammen schießen läßt und koncentrirt, so stark,<br />

fest und ausschließlich, daß die ganze übrige Welt ihm jetzt verschwindet<br />

und sein Gegenstand ihm alle Realität ausfüllt. Eben diese<br />

große und gewaltsame Koncentration, die zu den Privilegien des Genies<br />

gehört, tritt nun für dasselbe bisweilen auch bei den Gegenständen<br />

der Wirklichkeit und den Angelegenheiten des täglichen Lebens<br />

ein, welche alsdann, unter einen solchen Fokus gebracht, eine so<br />

monströse Vergrößerung erhalten, daß sie sich darstellen wie der im<br />

Sonnenmikroskop die Statur des Elephanten annehmende Floh.<br />

Hieraus entsteht es, daß hochbegabte Individuen bisweilen über<br />

Kleinigkeiten in heftige Affekte der verschiedensten Art gerathen, die<br />

den Andern unbegreiflich sind, als welche sie in Trauer, Freude, Sorge,<br />

Furcht, Zorn u.s.w. versetzt sehn, durch Dinge, bei welchen ein<br />

Alltagsmensch ganz gelassen bliebe. Darum also fehlt dem Genie die<br />

Nüchternheit, als welche gerade darin besteht, daß man in den Dingen<br />

nichts weiter sieht, als was ihnen, besonders in Hinsicht auf unsere<br />

möglichen Zwecke, wirklich zukommt: daher kann kein nüchterner<br />

Mensch ein Genie seyn. Zu den angegebenen Nachthellen gesellt<br />

sich nun noch die übergroße Sensibilität, welche ein abnorm<br />

erhöhtes Nervenund Cerebral-Leben mit sich bringt, und zwar im<br />

Verein mit der das Genie ebenfalls bedingenden Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit<br />

des Wollens, die sich physisch als Energie des<br />

Herzschlages darstellt. Aus allem Diesen entspringt sehr leicht jene<br />

Ueberspanntheit der Stimmung, jene Heftigkeit der Affekte, jener<br />

schnelle Wechsel der Laune, unter vorherrschender Melancholie, die<br />

Goethe uns im Tasso vor Augen gebracht hat. Welche Vernünftigkeit,<br />

ruhige Fassung, abgeschlossene Uebersicht, völlige Sicherheit und<br />

Gleichmäßigkeit des Betragens zeigt doch der wohlausgestattete<br />

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