Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Denn sein Intellekt wird überhaupt die Fehler zeigen, die bei jedem<br />
Werkzeug, welches zu Dem, wozu es nicht gemacht ist, gebraucht<br />
wird, nicht auszubleiben pflegen. Zunächst wird er gleichsam der<br />
Diener zweier Herren seyn, indem er, bei jeder Gelegenheit, sich von<br />
dem seiner Bestimmung entsprechenden Dienste losmacht, um seinen<br />
eigenen Zwecken nachzugehn, wodurch er den Willen oft sehr<br />
zur Unzeit im Stich läßt und hienach das so begabte Individuum für<br />
das Leben mehr oder weniger unbrauchbar wird, ja, in seinem Betragen<br />
bisweilen an den Wahnsinn erinnert. Sodann wird es, vermöge<br />
seiner gesteigerten Erkenntnißkraft, in den Dingen mehr das Allgemeine,<br />
als das Einzelne sehn; während der Dienst des Willens<br />
hauptsächlich die Erkenntniß des Einzelnen erfordert. Aber wann nun<br />
/461/<br />
wieder gelegentlich jene ganze, abnorm erhöhte Erkenntnißkraft sich<br />
plötzlich, mit aller ihrer Energie, auf die Angelegenheiten und Miseren<br />
des Willens richtet; so wird sie diese leicht zu lebhaft auffassen, Alles<br />
in zu grellen Farben, zu hellem Lichte, und ins Ungeheure vergrößert<br />
erblicken, wodurch das Individuum auf lauter Extreme verfällt. Dies<br />
noch näher zu erklären, diene Folgendes. Alle große theoretische<br />
Leistungen, worin es auch sei, werden dadurch zu Stande gebracht,<br />
daß ihr Urheber alle Kräfte seines Geistes auf Einen Punkt richtet, in<br />
welchen er sie zusammen schießen läßt und koncentrirt, so stark,<br />
fest und ausschließlich, daß die ganze übrige Welt ihm jetzt verschwindet<br />
und sein Gegenstand ihm alle Realität ausfüllt. Eben diese<br />
große und gewaltsame Koncentration, die zu den Privilegien des Genies<br />
gehört, tritt nun für dasselbe bisweilen auch bei den Gegenständen<br />
der Wirklichkeit und den Angelegenheiten des täglichen Lebens<br />
ein, welche alsdann, unter einen solchen Fokus gebracht, eine so<br />
monströse Vergrößerung erhalten, daß sie sich darstellen wie der im<br />
Sonnenmikroskop die Statur des Elephanten annehmende Floh.<br />
Hieraus entsteht es, daß hochbegabte Individuen bisweilen über<br />
Kleinigkeiten in heftige Affekte der verschiedensten Art gerathen, die<br />
den Andern unbegreiflich sind, als welche sie in Trauer, Freude, Sorge,<br />
Furcht, Zorn u.s.w. versetzt sehn, durch Dinge, bei welchen ein<br />
Alltagsmensch ganz gelassen bliebe. Darum also fehlt dem Genie die<br />
Nüchternheit, als welche gerade darin besteht, daß man in den Dingen<br />
nichts weiter sieht, als was ihnen, besonders in Hinsicht auf unsere<br />
möglichen Zwecke, wirklich zukommt: daher kann kein nüchterner<br />
Mensch ein Genie seyn. Zu den angegebenen Nachthellen gesellt<br />
sich nun noch die übergroße Sensibilität, welche ein abnorm<br />
erhöhtes Nervenund Cerebral-Leben mit sich bringt, und zwar im<br />
Verein mit der das Genie ebenfalls bedingenden Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit<br />
des Wollens, die sich physisch als Energie des<br />
Herzschlages darstellt. Aus allem Diesen entspringt sehr leicht jene<br />
Ueberspanntheit der Stimmung, jene Heftigkeit der Affekte, jener<br />
schnelle Wechsel der Laune, unter vorherrschender Melancholie, die<br />
Goethe uns im Tasso vor Augen gebracht hat. Welche Vernünftigkeit,<br />
ruhige Fassung, abgeschlossene Uebersicht, völlige Sicherheit und<br />
Gleichmäßigkeit des Betragens zeigt doch der wohlausgestattete<br />
96