05.09.2013 Aufrufe

Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Friedrich Nietzsche: Aus dem Nachlaß der 80er Jahre<br />

In: Werke in drei Bänden, Bd.III, München: <strong>Hans</strong>er 1954, S.715-717<br />

/715/<br />

Es sind die Ausnahme-Zustände, die den Künstler bedingen: alle, die<br />

mit krankhaften Erscheinungen tief verwandt und verwachsen sind:<br />

so daß es nicht möglich scheint, Künstler zu sein und nicht krank zu<br />

sein.<br />

Die physiologischen Zustände, welche im Künstler gleichsam zur<br />

»Person« gezüchtet sind und die an sich in irgendwelchem Grade<br />

dem Menschen überhaupt anhaften:<br />

/716/<br />

1. der Rausch: das erhöhte Machtgefühl; die innere Nötigung, aus<br />

den Dingen einen Reflex der eignen Fülle und Vollkommenheit zu<br />

machen;<br />

2. die extreme Schärfe gewisser Sinne: so daß sie eine ganz andre<br />

Zeichensprache verstehn – und schaffen, – dieselbe, die mit manchen<br />

Nervenkrankheiten verbunden erscheint –; die extreme Beweglichkeit,<br />

aus der eine extreme Mitteilsamkeit wird; das Redenwollen<br />

alles dessen, was Zeichen zu geben weiß –; ein Bedürfnis, sich<br />

gleichsam loszuwerden durch Zeichen und Gebärden; Fähigkeit, von<br />

sich durch hundert Sprachmittel zu reden – ein explosiver Zustand.<br />

Man muß sich diesen Zustand zunächst als Zwang und Drang denken,<br />

durch alle Art Muskelarbeit und Beweglichkeit die Exuberanz der<br />

inneren Spannung loszuwerden: sodann als unfreiwillige Koordination<br />

dieser Bewegung zu den inneren Vorgängen (Bildern, Gedanken,<br />

Begierden), – als eine Art Automatismus des ganzen Muskelsystems<br />

unter dem Impuls von innen wirkender starker Reize –; Unfähigkeit,<br />

die Reaktion zu verhindern; der Hemmungsapparat gleichsam ausgehängt.<br />

Jede innere Bewegung (Gefühl, Gedanke, Affekt) ist begleitet<br />

von Vaskular-Veränderungen und folglich von Veränderungen der<br />

Farbe, der Temperatur, der Sekretion. Die suggestive Kraft der Musik,<br />

ihre »suggestion mentale«; –<br />

3. das Nachmachen-müssen: eine extreme Irritabilität, bei der sich<br />

ein gegebenes Vorbild kontagiös mitteilt – ein Zustand wird nach Zeichen<br />

schon erraten und dargestellt... Ein Bild, innerlich auftauchend,<br />

wirkt schon als Bewegung der Glieder –, eine gewisse Willens-<br />

Aushängung ... (Schopenhauer!!!!) Eine Art Taubsein, Blindsein nach<br />

außen hin – das Reich der zugelassenen Reize ist scharf umgrenzt.<br />

Dies unterscheidet den Künstler vom Laien (dem künstlerisch Empfänglichen):<br />

letzterer hat im Aufnehmen seinen Höhepunkt von Reizbarkeit;<br />

ersterer im Geben, – dergestalt, daß ein Antagonismus die-<br />

122

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!