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Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

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1. Phantasie, Genie und Begeisterung<br />

Bei der Frage nach dem Genie handelt es sich sogleich um eine nähere<br />

Bestimmung desselben; denn Genie ist ein ganz allgemeiner<br />

Ausdruck, welcher nicht nur in betreff auf Künstler, sondern ebensosehr<br />

von großen Feldherren und Königen als auch von den Heroen<br />

der Wissenschaft gebraucht wird. Wir können aυch hier wieder drei<br />

Seiten bestimmter unterscheiden.<br />

a. Die Phantasie<br />

Was erstens das allgemeine Vermögen zur künstlerischen Produktion<br />

angeht, so ist, wenn einmal von Vermögen soll geredet werden, die<br />

Phantasie als diese hervorstechend künstlerische Fähigkeit zu bezeichnen.<br />

Dann muß man sich jedoch sogleich hüten, die Phantasie<br />

mit der bloß passiven Einbuldungskraft zu verwechseln. Die Phantasie<br />

ist schaffend.<br />

α) Zu dieser schöpferischen Tätigkeit gehört nun zunächst die Gabe<br />

und der Sinn für das Auffassen der Wirklichkeit und ihrer Gestalten,<br />

welche durch das aufmerksame Hören und Sehen die mannigfaltigsten<br />

Bilder des Vorhandenen dem Geiste einprägen, sowie das aufbewahrende<br />

Gedächtnis für die bunte Welt dieser vielgestaltigen Bilder.<br />

Der Künstler<br />

/364/<br />

ist deshalb von dieser Seite her nicht an selbstgemachte Einbildungen<br />

verwiesen, sondern von dem flachen sogenannten Idealen<br />

ab hat er an die Wirklichkeit heranzutreten. Ein idealischer Anfang in<br />

der Kunst und Poesie ist immer sehr verdächtig, denn der Künstler<br />

hat aus der Überfülle des Lebens und nickt aus der Überfülle abstrakter<br />

Allgemeinheit zu schöpfen, indem in der Kunst nicht wie in der<br />

Philosophie der Gedanke, sondern die wirkliche äußere Gestaltung<br />

das Element der Produktion abgibt. In diesem Element muß sich daher<br />

der Künstler befinden und heimisch werden . Er muß viel gesehen,<br />

viel gehört und viel in sich aufbewahrt haben, wie überhaupt die<br />

großen Individuen sich fast immer durch ein großes Gedächtnis auszuzeichnen<br />

pflegen. Denn was den Menschen interessiert, das behält<br />

er, und ein tiefer Geist breitet das Feld seiner Interessen über unzählige<br />

Gegenstände aus. Goethe z. B. hat in solcher Weise angefangen<br />

und den Kreis seiner Anschauungen sein ganzes Leben hindurch<br />

mehr und mehr erweitert. Diese Gabe und dieses Interesse einer<br />

bestimmten Auffassung des Wirklichen in seiner realen Gestalt sowie<br />

das Festhalten des Erschauten also ist das nächste Erfordernis. Mit<br />

der genauen Bekanntschaft der Außengestalt ist nun umgekehrt<br />

ebensosehr die gleiche Vertrautheit mit dem Innern des Menschen,<br />

mit den Leidenschaften des Gemüts und allen Zwecken der menschli<br />

chen Brust, zu verbinden, und zu dieser doppelten Kenntnis muß sich<br />

die Bekanntschaft mit der Art und Weise fügen, wie das Innere des<br />

Geistes sich ín der Realität ausdrückt und durch deren Äußerlichkeit<br />

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