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Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

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von Raphael, von Albrecht Dürer, Cervantes, Shakespeare, von Fielding,<br />

Sterne u.a. aufbewahrt worden ist, bestätigt diese Behauptung.<br />

Ja, was noch weit mehr Schwierigkeit zu haben scheint, selbst der<br />

große Staatsmann und Feldherr werden, sobald sie durch ihr Genie<br />

groß sind, einen naiven Charakter zeigen. Ich will hier unter den Alten<br />

nur an Epaminondas und Julius Cäsar, unter den Neuern nur an<br />

Heinrich IV. von Frankreich, Gustav Adolf von Schweden und den Zar<br />

Peter den Großen erinnern. Der Herzog von Marlborough, Turenne,<br />

Vendôme zeigen uns alle diesen Charakter. Dem andern Geschlecht<br />

hat die Natur in dem naiven Charakter seine höchste Vollkommenheit<br />

angewiesen. Nach nichts ringt die weibliche Gefallsucht so sehr als<br />

nach dem Schein des Naiven; Beweis genug, wenn man auch sonst<br />

keinen hätte, daß die größte Macht des Geschlechts auf dieser Eigenschaft<br />

beruhet. Weil aber die herrschenden Grundsätze bei der<br />

weiblichen Erziehung mit diesem Charakter in ewigem Streit liegen,<br />

so ist es dem Weibe im Moralischen ebenso schwer als dem Mann<br />

im Intellektuellen, mit den Vorteilen der guten Erziehung jenes herrliche<br />

Geschenk der Natur unverloren zu behalten; und die Frau, die<br />

mit einem geschickten Betragen für die große Welt dieses Naive der<br />

Sitten verknüpft, ist ebenso hochachtungswürdig<br />

/706/<br />

als der Gelehrte, der mit der ganzen Strenge der Schule genialische<br />

Freiheit des Denkens verbindet.<br />

Aus der naiven Denkart fließt notwendigerweise auch ein naiver Ausdruck<br />

sowohl in Worten als Bewegungen, und es ist das wichtigste<br />

Bestandstück der Grazie. Mit dieser naiven Anmut drückt das Genie<br />

seine erhabensten und tiefsten Gedanken aus; es sind Göttersprüche<br />

aus dem Mund eines Kindes. Wenn der Schulverstand, immer vor<br />

Irrtum bange, seine Worte wie seine Begriffe an das Kreuz der<br />

Grammatik und Logik schlägt, hart und steif ist, um ja nicht unbestimmt<br />

zu sein, viele Worte macht, um ja nicht zu viel zu sagen, und<br />

dem Gedanken, damit er ja den Unvorsichtigen nicht schneide, lieber<br />

die Kraft und die Schärfe nimmt, so gibt das Genie dem seinigen mit<br />

einem einzigen glücklichen Pinselstrich einen ewig bestimmten, festen<br />

und dennoch ganz freien Umriß. Wenn dort das Zeichen dem<br />

Bezeichneten ewig heterogen und fremd bleibt, so springt hier wie<br />

durch innere Notwendigkeit die Sprache aus dem Gedanken hervor<br />

und ist so sehr eins mit demselben, daß selbst unter der körperlichen<br />

Hülle der Geist wie entblößet erscheint. Eine solche Art des Ausdrucks,<br />

wo das Zeichen ganz in dem Bezeichneten verschwindet,<br />

und wo die Sprache den Gedanken, den sie ausdrückt, noch gleichsam<br />

nackend läßt, da ihn die andre nie darstellen kann, ohne ihn<br />

zugleich zu verhüllen, ist es, was man in der Schreibart vorzugsweise<br />

genialisch und geistreich nennt.<br />

Frei und natürlich, wie das Genie in seinen Geisteswerken, drückt<br />

sich die Unschuld des Herzens im lebendigen Umgang aus. Bekanntlich<br />

ist man im gesellschaftlichen Leben von der Simplizität und<br />

strengen Wahrheit des Ausdrucks in demselben Verhältnis wie von<br />

der Einfalt der Gesinnungen abgekommen, und die leicht zu verwun-<br />

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