Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
merken, daß sie damit, wahrscheinlich sehr wider Willen, im Dienste<br />
des Voltaireschen écrasez steht. Vermute niemand dahinter neue<br />
kräftige Bau-Instinkte; man müßte denn den sogenannten Protestanten-Verein<br />
als Mutterschoß einer neuen Religion und etwa den Juristen<br />
Holtzendorf (den Herausgeber und Vorredner der noch viel sogenannteren<br />
Protestanten-Bibel) als Johannes am Flusse Jordan<br />
gelten lassen. Einige Zeit hilft vielleicht die in älteren Köpfen noch<br />
qualmende Hegelsche Philosophie zur Propagation jener Harmlosigkeit,<br />
etwa dadurch, daß man die »Idee des Christentums« von ihren<br />
mannigfach unvollkommenen »Erscheinungsformen« unterscheidet<br />
und sich vorredet, es sei wohl gar die »Liebhaberei der Idee«, sich in<br />
immer reineren Formen zu offenbaren, zuletzt nämlich als die gewiß<br />
allerreinste, durchsichtigste, ja kaum sichtbare Form im Hirne des<br />
jetzigen theologus liberalis vulgaris. Hört man aber diese allerreinlichsten<br />
Christentümer sich über die früheren unreinlichen Christentümer<br />
aussprechen, so hat der nichtbeteiligte Zuhörer oft den Eindruck,<br />
es sei gar nicht vom Christentume die Rede, sondern von –<br />
nun woran sollen wir denken? wenn wir das Christentum von dem<br />
»größten Theologen des Jahrhunderts« als die Religion bezeichnet<br />
finden, die es verstattet, »sich in alle wirklichen und noch einige andere<br />
bloß mögliche Religionen hineinzuempfinden«, und wenn die<br />
»wahre Kirche« die sein soll, welche »zur fließenden Masse wird, wo<br />
es keine Umrisse gibt, wo jeder Teil sich bald hier, bald dort befindet<br />
und alles sich friedlich untereinander mengt«. – Nochmals, woran<br />
sollen wir denken?<br />
Was man am Christentume lernen kann, daß es unter der Wirkung<br />
einer historisierenden Behandlung blasiert und unnatürlich geworden<br />
ist, bis endlich eine vollkommen historische, das heißt gerechte Behandlung<br />
es in reines Wissen um das Christentum auflöst und dadurch<br />
vernichtet, das kann man an allem, was Leben hat, studieren:<br />
daß es aufhört zu leben, wenn es zu Ende seziert ist und schmerzlich<br />
und krankhaft lebt, wenn man anfängt, an ihm die historischen Sezierübungen<br />
zu machen. Es gibt Menschen, die an eine umwälzende<br />
und reformierende Heilkraft der deutschen Musik unter Deutschen<br />
glauben: sie<br />
/254/<br />
empfinden es mit Zorn und halten es für ein Unrecht, begangen am<br />
Lebendigsten unsrer Kultur, wenn solche Männer wie Mozart und<br />
Beethoven bereits jetzt mit dem ganzen gelehrten Wust des Biographischen<br />
überschüttet und mit dem Foltersystem historischer Kritik<br />
zu Antworten auf tausend zudringliche Fragen gezwungen werden.<br />
Wird nicht dadurch das in seinen lebendigen Wirkungen noch gar<br />
nicht Erschöpfte zur Unzeit abgetan oder mindestens gelähmt, daß<br />
man die Neubegierde auf zahllose Mikrologien des Lebens und der<br />
Werke richtet und Erkenntnis-Probleme dort sucht, wo man lernen<br />
sollte zu leben und alle Probleme zu vergessen? Versetzt nur ein<br />
paar solcher modernen Biographen in Gedanken an die Geburtsstätte<br />
des Christentums oder der Lutherschen Reformation; ihre nüchterne<br />
pragmatisierende Neubegier hätte gerade ausgereicht, um jede<br />
geisterhafte actio in distans unmöglich zu machen: wie das elendeste<br />
104