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Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

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und zweifelt an allen Sitten und Begriffen. Jetzt weiß er es: in allen<br />

Zeiten war es anders, es kommt nicht darauf an, wie du bist. In<br />

schwermütiger Gefühllosigkeit läßt er Meinung auf Meinung an sich<br />

vorübergehn und begreift das Wort und die Stimmung Höl derlins<br />

beim Lesen des Laertius Diogenes über Leben und Lehren griechischer<br />

Philosophen: »ich habe auch hier wieder erfahren, was mir<br />

schon manchmal begegnet ist, daß mir nämlich das Vorübergehende<br />

und Abwechselnde der menschlichen Gedanken und Systeme fast<br />

tragischer aufgefallen ist als die Schicksale, die man gewöhnlich allein<br />

die wirklichen nennt.« Nein, ein solches überschwemmendes,<br />

betäubendes und gewaltsames Historisieren ist<br />

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gewiß nicht für die Jugend nötig, wie die Alten zeigen, ja im höchsten<br />

Grade gefährlich, wie die Neueren zeigen. Nun betrachte man aber<br />

gar den historischen Studenten, den Erben einer allzufrühen, fast im<br />

Knabenalter schon sichtbar gewordenen Blasiertheit. Jetzt ist ihm die<br />

»Methode« zu eigner Arbeit, der rechte Griff und der vornehme Ton<br />

nach des Meisters Manier zu eigen geworden; ein ganz isoliertes<br />

Kapitelchen der Vergangenheit ist seinem Scharfsinn und der erlernten<br />

Methode zum Opfer gefallen; er hat bereits produziert, ja mit stolzerem<br />

Worte, er hat »geschaffen«, er ist nun Diener der Wahrheit<br />

durch die Tat und Herr im historischen Weltbereiche geworden. War<br />

er schon als Knabe »fertig«, so ist er nun bereits überfertig: man<br />

braucht an ihm nur zu schütteln, so fällt einem die Weisheit mit Geprassel<br />

in den Schoß; doch die Weisheit ist faul und jeder Apfel hat<br />

seinen Wurm. Glaubt es mir: wenn die Menschen in der wissenschaftlichen<br />

Fabrik arbeiten und nutzbar werden sollen, bevor sie reif<br />

sind, so ist in kurzem die Wissenschaft ebenso ruiniert wie die allzuzeitig<br />

in dieser Fabrik verwendeten Sklaven. Ich bedaure, daß man<br />

schon nötig hat, sich des sprachlichen Jargons der Sklavenhalter und<br />

Arbeitgeber zur Bezeichnung solcher Verhältnisse zu bedienen, die<br />

an sich frei von Utilitäten, enthoben der Lebensnot gedacht werden<br />

sollten; aber unwillkürlich drängen sich die Worte »Fabrik«, »Arbeitsmarkt«,<br />

»Angebot«, »Nutzbarmachung« – und wie all die Hilfszeitwörter<br />

des Egoismus lauten – auf die Lippen, wenn man die jüngste<br />

Generation der Gelehrten schildern will. Die gediegene Mittelmäßigkeit<br />

wird immer mittelmäßiger, die Wissenschaft im ökonomischen<br />

Sinne immer nutzbarer. Eigentlich sind die allerneuesten Gelehrten<br />

nur in einem Punkte weise, darin freilich weiser als alle Menschen der<br />

Vergangenheit, in allen übrigen Punkten nur unendlich anders – vorsichtig<br />

gesprochen – als alle Gelehrten alten Schlags. Trotzdem fordern<br />

sie Ehren und Vorteile für sich ein, als ob der Staat und die öffentliche<br />

Meinung verpflichtet wären, die neuen Münzen für ebenso<br />

voll zu nehmen wie die alten. Die Kärrner haben unter sich einen Arbeitsvertrag<br />

gemacht und das Genie als überflüssig dekretiert – dadurch,<br />

daß jeder Kärrner zum Genie umgestempelt wird; wahrscheinlich<br />

wird es eine spätere Zeit ihren Bauten ansehen, daß sie zu<br />

sammengekarrt, nicht zusammengebaut sind. Denen, die unermüdlich<br />

den modernen Schlacht- und<br />

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