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Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

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lebendige Tätigkeit der Sache selber zu sein, ist eine schlechte Begeisterung.<br />

— Dieser Punkt führt uns zu der sogenannten Objektivität<br />

künstlerischer Hervorbringungen hinüber.<br />

2. Die Objektivität der Darstellung<br />

a) Im gewöhnlichen Sinne des Wortes wird die Objektivität so verstanden,<br />

daß im Kunstwerk jeder Inhalt die Form der sonst schon<br />

vorhandenen Wirklichkeit annehmen und uns in dieser bekannten<br />

Außengestalt entgegentreten müsse. Wollten wir uns mit solch einer<br />

Objektivität begnügen, so könnten wir auch Kotzebue einen objektiven<br />

Dichter nennen. Bei ihm finden wir die gemeine Wirklichkeit<br />

durchweg wieder. Der Zweck der Kunst aber ist es gerade, sowohl<br />

den Inhalt als die Erscheinungsweise des Alltäglichen abzustreifen<br />

und nur das an und für sich Vernünftige zu dessen wahrhafter Außengestalt<br />

durch geistige Tätigkeit aus dem Innern herauszuarbeiten.<br />

— Auf die bloß äußerliche Objektivität daher, der die<br />

volle Substanz des Inhalts abgeht, hat der Künstler nicht loszugehen.<br />

Denn die Auffassung des sonst schon Vorhandenen kann weiter hinauf<br />

zwar in sich selbst von höchster Lebendigkeit sein und, wie wir<br />

schon früher an einigen Beispielen aus Goethes Jugendwerken sahen,<br />

durch ihre innere Beseelung eine große Anziehung ausüben;<br />

wenn<br />

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ihr aber ein echter Gehalt abgeht, so bringt sie es dennoch nicht zur<br />

wahren Schönheit der Kunst.<br />

b) Eine zweite Art macht sich deshalb das Äußerliche als solches<br />

nicht zum Zweck, sondern der Künstler hat seinen Gegenstand mit<br />

tiefer Innerlichkeit des Gemüts ergriffen. Dies Innere aber bleibt so<br />

sehr verschlossen und konzentriert, daß es sich nicht zur bewußten<br />

Klarheit hervorringen und zur wahren Entfaltung kommen kann. Die<br />

Beredsamkeit des Pathos beschränkt sich darauf, sich durch äußerliche<br />

Erscheinungen, an welche es anklingt, ahnungsreich anzudeuten,<br />

ohne die Kraft und Bildung zu haben, die volle Natur des Inhalts<br />

explizieren zu können. Volkslieder besonders gehören dieser<br />

Weise der Darstellung an. Äußerlich einfach, deuten sie auf ein weiteres,<br />

tiefes Gefühl hin, das ihnen zugrunde liegt, doch sich nicht<br />

deutlich auszusprechen vermag, indem die Kunst hier selbst noch<br />

nicht zu der Bildung gekommen ist, ihren Gehalt in offener Durchsichtigkeit<br />

zutage zu bringen, und sich damit begnügen muß, denselben<br />

durch Äußerlichkeiten für die Ahnung des Gemüts erratbar zu machen.<br />

Das Herz bleibt in sich gedrungen und gepreßt und spiegelt<br />

sich, um dem Herzen verständlich zu sein, nur an ganz endlichen<br />

äußeren Umständen und Erscheinungen ab, die allerdings sprechend<br />

sind, wenn ihnen auch nur eine ganz leise Wendung auf das Gemüt<br />

und die Empfindung hin gegeben wird. Auch Goethe hat in solcher<br />

Weise höchst vortreffliche Lieder geliefert. »Schäfers Klagelied« z. B.<br />

ist eins der schönsten dieser Art. Das von Schmerz und Sehnsucht<br />

gebrochene Gemüt gibt sich in lauter äußerlichen Zügen stumm und<br />

verschlossen kund, und dennoch klingt die konzentrierteste Tiefe der<br />

Empfindung unausgesprochen hiηdurch. Im »Erlkönig« und so vielen<br />

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