Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
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Verhältnis zum ernst und mühevoll erlesenen Kunstgedanken. Alle<br />
Großen waren große Arbeiter, unermüdlich nicht nur im Erfinden,<br />
sondern auch im Verwerfen, Sichten, Umgestalten, Ordnen.<br />
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Nochmals die Inspiration. – Wenn sich die Produktionskraft eine Zeitlang<br />
angestaut hat und am Ausfließen durch ein Hemmnis gehindert<br />
worden ist, dann gibt es endlich einen so plötzlichen Erguß, als ob<br />
eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes innres Arbeiten,<br />
also ein Wunder sich vollziehe. Dies macht die bekannte Täuschung<br />
aus, an deren Fortbestehen, wie gesagt, das Interesse aller<br />
Künstler ein wenig zu sehr hängt. Das Kapital hat sich eben nur angehäuft,<br />
es ist nicht auf einmal vom Himmel gefallen. Es gibt übrigens<br />
auch anderwärts solche scheinbare Inspiration, zum Beispiel im Bereiche<br />
der Güte, der Tugend, des Lasters.<br />
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Die Leiden des Genius und ihr Wert. – Der künstlerische Genius will<br />
Freude machen, aber wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so<br />
fehlen ihm leicht die Genießenden; er bietet Speisen, aber man will<br />
sie nicht. Das gibt ihm ein unter Umständen lächerlichrührendes Pathos;<br />
denn im Grunde hat er kein Recht, die Menschen zum Vergnügen<br />
zu zwingen. Seine Pfeife tönt, aber niemand will tanzen: kann<br />
das tragisch sein? – Vielleicht doch. Zuletzt hat er als Kompensation<br />
für diese Entbehrung mehr Vergnügen beim Schaffen, als die übrigen<br />
Menschen bei allen andern Gattungen der Tätigkeit haben. Man empfindet<br />
seine Leiden übertrieben, weil der Ton seiner Klage lauter, sein<br />
Mund beberedter ist; und mitunter sind seine Leiden wirklich sehr<br />
groß, aber nur deshalb, weil sein Ehrgeiz, sein Neid so groß ist. Der<br />
wissende Genius, wie Kepler und Spinoza, ist für gewöhnlich nicht so<br />
begehrlich und macht von seinen wirklich größeren Leiden und Entbehrungen<br />
kein solches Aufheben. Er darf mit größerer Sicherheit auf<br />
die Nachwelt rechnen und sich der Gegenwart entschlagen; während<br />
ein Künstler, der dies tut, immer ein verzweifeltes Spiel spielt, bei<br />
dem ihm wehe ums Herz werden muß. In ganz seltenen Fällen –<br />
dann, wenn im selben Indivi duum der Genius des Könnens und des<br />
Erkennens und der moralische Genius sich verschmelzen – kommt<br />
zu den erwähnten Schmerzen noch die Gattung von Schmerzen hinzu,<br />
welche als die absonderlichsten Ausnahmen in der Welt zu nehmen<br />
sind: die außer- und<br />
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überpersönlichen, einem Volke, der Menschheit, der gesamten Kultur,<br />
allem leidenden Dasein zugewandten Empfindungen: welche<br />
ihren Wert durch die Verbindung mit besonders schwierigen und entlegenen<br />
Erkenntnissen erlangen (Mitleid an sich ist wenig wert). –<br />
Aber welchen Maßstab, welche Goldwage gibt es für deren Echtheit?<br />
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