Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
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seinen eigenen Vater nicht. Götz versichert, er kannte alle Pfade,<br />
Weg und Furten, eh er wußte, wie Fluß, Dorf und Burg hieß. Dies<br />
sind fremdartige Anhängsel, welche den Stoff selbst nichts angehen;<br />
während da, wo derselbe nun in seiner eigentümlichen Tiefe hätte<br />
gefaßt werden können, im Gespräche z.B. Götzen und Weislingens,<br />
nur kalte prosaische Reflexionen über die Zeit zum Vorschein kommen.<br />
Ein ähnliches Anfügen von einzelnen Zügen, die aus dem Inhalte<br />
nicht hervorgehen, finden wir selbst noch in den Wahlverwandtschaften<br />
wieder: die Parkanlagen, die lebenden Bilder und Pendelschwingungen,<br />
das Metallfühlen, die Kopfschmerzen, das ganze aus der<br />
Chemie entlehnte Bild der chemischen Verwandtschaften sind von<br />
dieser Art. Im Roman, der in einer bestimmten prosaischen Zeit<br />
spielt, ist<br />
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dergleichen freilich eher zu gestatten, besonders wenn es wie bei<br />
Goethe so geschickt und anmutig benutzt wird, und außerdem kann<br />
sich ein Kunstwerk nicht von der Bildung seiner Zeit durchweg frei<br />
machen; aber ein anderes ist es, diese Bildung selber abspiegeln, ein<br />
anderes, die Materialien unabhängig vom eigentlichen Inhalt der Darstellung<br />
äußerlich aufsuchen und zusammenbringen. Die echte Originalität<br />
des Künstlers wie des Kunstwerks liegt nur darin, von der<br />
Vernünftigkeit des in sich selber wahren Gehalts beseelt zu sein. Hat<br />
der Künstler diese objektive Vernunft ganz zur seinigen gemacht,<br />
ohne sie von innen oder außen her mit fremden Partikularitäten zu<br />
vermischen und zu verunreinigen, dann allein gibt er in dem gestalteten<br />
Gegenstande auch sich selbst in seiner wahrsten Subjektivität,<br />
die nur der lebendige Durchgangspunkt für das in sich selber abgeschlossene<br />
Kunstwerk sein will. Denn in allem wahrhaftigen Dichten,<br />
Denken und Tun läßt die echte Freiheit das Substantielle als eine<br />
Macht in sich walten, welche zugleich so sehr die eigenste Macht des<br />
subjektiven Denkens und Wollens selber ist, daß in der vollendeten<br />
Versöhnung beider kein Zwiespalt mehr übrigzubleiben vermag. So<br />
zehrt zwar die Originalität der Kunst jede zufällige Besonderheit auf,<br />
aber sie verschlingt sie nur, damit der Künstler ganz dem Zuge und<br />
Schwunge seiner von der Sache allein erfüllten Begeisterung des<br />
Genius folgen und statt der Beliebigkeit und leeren Willkür sein wahres<br />
Selbst in seiner der Wahrheit nach vollbrachten Sache darstellen<br />
könne. Keine Manier zu haben war von jeher die einzig große Manier,<br />
und in diesem Sinne allein sind Homer, Sophokles, Raffael, Shakespeare<br />
originell zu nennen.<br />
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