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Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

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Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches<br />

In: Werke in drei Bänden, Bd.I, München: <strong>Hans</strong>er 1954, S.545-562<br />

/545/<br />

Viertes Hauptstück: Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller<br />

145<br />

Das Vollkommene soll nicht geworden sein. – Wir sind gewöhnt, bei<br />

allem Vollkommenen die Frage nach dem Werden zu unterlassen:<br />

sondern uns des Gegenwärtigen zu freuen, wie als ob es auf einen<br />

Zauberschlag aus dem Boden aufgestiegen sei. Wahrscheinlich stehen<br />

wir hier noch unter der Nachwirkung einer uralten mythologischen<br />

Empfindung. Es ist uns beinahe noch so zumute (zum Beispiel<br />

in einem griechischen Tempel wie der von Pästum), als ob eines<br />

Morgens ein Gott spielend aus solchen ungeheuren Lasten sein<br />

Wohnhaus gebaut habe: andere Male, als ob eine Seele urplötzlich in<br />

einen Stein hineingezaubert sei und nun durch ihn reden wolle. Der<br />

Künstler weiß, daß sein Werk nur voll wirkt, wenn es den Glauben an<br />

eine Improvisation, an eine wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung<br />

erregt; und so hilft er wohl dieser Illusion nach und führt jene<br />

Elemente der begeisterten Unruhe, der blind greifenden Unordnung,<br />

des aufhorchenden Träumens beim Beginn der Schöpfung in die<br />

Kunst ein, als Trugmittel, um die Seele des Schauers oder Hörers so<br />

zu stimmen, daß sie an das plötzliche Hervorspringen des Vollkommenen<br />

glaubt. – Die Wissenschaft der Kunst hat dieser Illusion, wie<br />

es sich von selbst versteht, auf das bestimmteste zu widersprechen<br />

und die Fehlschlüsse und Verwöhnungen des Intellekts aufzuzeigen,<br />

vermöge welcher er dem Künstler in das Netz läuft.<br />

146<br />

Der Wahrheitssinn des Künstlers. – Der Künstler hat in Hinsicht auf<br />

das Erkennen der Wahrheiten eine schwächere Moralität als der<br />

Denker; er will sich die glänzenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens<br />

durchaus nicht nehmen lassen und wehrt sich gegen nüchterne,<br />

schlichte Methoden und Resultate. Scheinbar kämpft er für die höhere<br />

Würde und Bedeutung des Menschen; in Wahrheit will er die für<br />

seine Kunst<br />

/546/<br />

wirkungsvollsten Voraussetzungen nicht aufgeben, also das Phantastische,<br />

Mythische, Unsichere, Extreme, den Sinn für das Symbolische,<br />

die Überschätzung der Person, den Glauben an etwas Wunderartiges<br />

im Genius: er hält also die Fortdauer seiner Art des Schaf-<br />

108

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