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Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

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einem Wir und dessen Idiom sich adaptiert. Auch darin prägt die Musik<br />

gewisse Charaktere des Künstlerischen extrem aus, ohne daß ihr<br />

übrigens deshalb ein Vorrang gebührte. Sie sagt unmittelbar, gleichgültig<br />

was ihre Intention sei, Wir. Noch die protokollähnlichen Gebilde<br />

ihrer expressionistischen Phase verzeichnen Erfahrungen von Verbindlichkeīt,<br />

und ihre eigene, ihre Gestaltungskraft haftet daran, ob<br />

sie wirklich aus ihnen sprechen. An der abendländischen Musik ließe<br />

siele dartun, wie sehr ihr wichtigster Fund, die harmonische Tiefendimension<br />

samt aller Kontrapunktik und Polyphonie, das aus dem<br />

chorischen Ritual in die Sache eingedrungene Wir ist. Es läßt seine<br />

Buchstäblichkeit ein, verwandelt sich zum immanenten Agens, und<br />

bewahrt doch<br />

/251/<br />

den redenden Charakter. Dichtungen sind durch ihre unmittelbare<br />

Teilhabe an der kommunikativen Sprache, von der keine ganz loskommt,<br />

auf ein Wir bezogen; ihrer eigenen Sprachlichkeit zuliebe<br />

müssen sie sich abmühen, jener ihnen auswendigen, mitteilenden<br />

ledig zu werden. Aber dieser Prozeß ist nicht, wie er erscheint und<br />

sich selber dünkt, einer der puren Subjektivierung. Durch ihn<br />

schmiegt das Subjekt der kollektiven Erfahrung um so inniger sich an,<br />

je spröder es sich gegen ihren sprachlich vergegenständlichten Ausdruck<br />

macht. Bildende Kunst dürfte durch das Wie der Apperzeption<br />

reden. Ihr Wir ist geradeswegs das Sensorium seinem geschichtlichen<br />

Stande nach, bis es die Relation zur Gegenständlichkeit, die<br />

sich veränderte, vermöge der Ausbildung seiner Formensprache zerbricht.<br />

Was Bilder sagen ist ein Seht einmal; sie haben ihr kollektives<br />

Subjekt an dem, worauf sie deuten, es geht nach außen, nicht wie bei<br />

der Musik nach innen. In der Steigerung ihres Sprachcharakters ist<br />

die Geschichte der Kunst, die ihrer fortschreitenden Individualisierung<br />

gleichgesetzt wird, ebenso deren Gegenteil. Daß dies Wir jedoch<br />

nicht gesellschaftlich eindeutig, kaum eines bestimmter Klassen oder<br />

sozialer Positionen ist, das mag daher rühren, daß es Kunst emphatischen<br />

Anspruchs bis heute nur als bürgerliche gegeben hat; nach<br />

Trotzkis These kann nach dieser keine proletarische vorgestellt werden,<br />

einzig eine sozialistische. Das ästhetische Wir ist gesamtgesellschaftlich<br />

im Horizont einiger Unbestimmtheit, freilich auch so bestimmt<br />

wie die herrschenden Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse<br />

einer Epoche. Während Kunst dazu versucht ist,<br />

eine nichtexistente Gesamtgesellschaft, deren nichtexistentes Subjekt<br />

zu antezipieren, und darin nicht bloß Ideologie, haftet ihr zugleich<br />

der Makel von dessen Nichtexistenz an. Dennoch bleiben die Antagonismen<br />

der Gesellschaft in ihr erhalten. Wahr Ist Kunst, soweit<br />

das aus ihr Redende und sie selber zwiespältig, unversöhnt ist, aber<br />

diese Wahrheit wird ihr zuteil, wenn sie das Gespaltene synthesiert<br />

und dadurch erst in seiner Unversöhnlichkeit bestimmt. Paradox hat<br />

sie das Unversöhnte zu bezeugen und gleichwohl tendenziell zu versöhnen;<br />

möglich ist das nur ihrer nicht-diskursiven Sprache. In jenem<br />

Prozeß allein konkretisiert sich ihr Wir. Was aber aus ihr redet, ist<br />

wahrhaft ihr Subjekt insofern, als es aus ihr redet und nicht von ihr<br />

darge-<br />

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