05.09.2013 Aufrufe

Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

den zu werden, sind für jene Aufgabe wahrscheinlich mehr als Metaphern.<br />

Die Aufgaben tragen ihre objektive Lösung in sich, wenigstens<br />

innerhalb einiger Variationsbreite, obwohl sie nicht die Eindeutigkeit<br />

von Gleichungen besitzen. Die Tathandlung des Künstlers ist das<br />

Minimale, zwischen dem Problem zu vermitteln, dem er sich gegenüber<br />

sieht und das selber bereits vorgezeichnet ist, und der Lösung,<br />

die ebenso potentiell in dem Material steckt. Hat man das Werkzeug<br />

einen verlängerten Arm genannt, so könnte man den Künstler verlängertes<br />

Werkzeug nennen, eines des Übergangs vοn der Potentialität<br />

zur Aktualität.<br />

Der Sprachcharakter der Kunst führt auf die Reflexion, was aus der<br />

Kunst rede; das eigentlich, der Hervorbringende nicht und nicht der<br />

Empfangende, ist ihr Subjekt. Überdeckt wird das vom Ich der Lyrik,<br />

das für Jahrhunderte sich einbekannte und den Schein der Selbstverständlichkeit<br />

der poetischen Subjektivität zeitigte. Aber sie ist keineswegs<br />

mit dem Ich, das aus dem Gedicht redet, identisch. Nicht<br />

bloß des dichterischen Fiktionscharakters der Lyrik und der Musik<br />

wegen, wo der subjektive Ausdruck mit Zuständen des Komponisten<br />

kaum je unmittelbar zusammenfällt. Weit darüber hinaus ist prinzipiell<br />

das grammatische Ich des Gedichts von dem durchs Gebilde latent<br />

redenden erst gesetzt, das empirische Funktion des geistigen, nicht<br />

umgekehrt. Der Anteil des empirischen ist nicht, wie der Topos der<br />

Echtheit es möchte, der Ort von Authentizität. Offen, ob das latente<br />

Ich, das redende, in den Gattungen der Kunst das gleiche sei, und ob<br />

es sich verändert; es dürfte mit den Materialien der Künste qua-<br />

/250/<br />

litativ variieren; deren Subsumtion unter den fragwürdigen Oberbegriff<br />

der Kunst täuscht darüber. Jedenfalls ist es sachimmanent, konstituiert<br />

sich im Gebilde, durch den Akt von dessen Sprache ; der real<br />

Hervorbringende ist im Verhältnis zum Gebilde eiai Moment der Realität<br />

wie andere. Nicht einmal in der faktischen Produktion der Kunstwerke<br />

entscheidet die Privatperson. Implizit erfordert das Kunstwerk<br />

Arbeitsteilung, und das Individuum fungiert vorweg arbeitsteilig darin.<br />

Indem die Produktion ihrer Materie sich überantwortet, resultiert sie<br />

inmitten äußerster Individuation in einem Allgemeinen. Die Kraft solcher<br />

Entäußerung des privaten Ichs an die Sache ist das kollektive<br />

Wesen in jenem; es konstituiert den Sprachcharakter der Werke. Die<br />

Arbeit am Kunstwerk ist gesellschaftlich durchs Individuum hindurch,<br />

ohne daß es dabei der Gesellschaft sich bewußt sein müßte; vielleicht<br />

desto mehr, je weniger es das ist. Das je eingreifende einzelmenschliche<br />

Subjekt ist kaum mehr als ein Grenzwert, ein Minimales,<br />

dessen das Kunstwerk bedarf, um sich zu kristallisieren. Die Verselbständigung<br />

des Kunstwerks dem Künstler gegenüber ist keine Ausgeburt<br />

des Größenwahns von l'art pour l'art, sondern der einfachste<br />

Ausdruck seiner Beschaffenheit als eines gesellschaftlichen Verhältnisses,<br />

das in sich das Gesetz seiner eigenen Vergegenständlichung<br />

trägt: nur als Dinge werden die Kunstwerke zur Antithesis des dinghaften<br />

Unwesens. Dem ist gemäß der zentrale Sachverhalt, daß aus<br />

den Kunstwerken, auch den sogenannten individuellen, ein Wir<br />

spricht und kein Ich, und zwar desto reiner, je weniger es äußerlich<br />

148

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!