Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
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den zu werden, sind für jene Aufgabe wahrscheinlich mehr als Metaphern.<br />
Die Aufgaben tragen ihre objektive Lösung in sich, wenigstens<br />
innerhalb einiger Variationsbreite, obwohl sie nicht die Eindeutigkeit<br />
von Gleichungen besitzen. Die Tathandlung des Künstlers ist das<br />
Minimale, zwischen dem Problem zu vermitteln, dem er sich gegenüber<br />
sieht und das selber bereits vorgezeichnet ist, und der Lösung,<br />
die ebenso potentiell in dem Material steckt. Hat man das Werkzeug<br />
einen verlängerten Arm genannt, so könnte man den Künstler verlängertes<br />
Werkzeug nennen, eines des Übergangs vοn der Potentialität<br />
zur Aktualität.<br />
Der Sprachcharakter der Kunst führt auf die Reflexion, was aus der<br />
Kunst rede; das eigentlich, der Hervorbringende nicht und nicht der<br />
Empfangende, ist ihr Subjekt. Überdeckt wird das vom Ich der Lyrik,<br />
das für Jahrhunderte sich einbekannte und den Schein der Selbstverständlichkeit<br />
der poetischen Subjektivität zeitigte. Aber sie ist keineswegs<br />
mit dem Ich, das aus dem Gedicht redet, identisch. Nicht<br />
bloß des dichterischen Fiktionscharakters der Lyrik und der Musik<br />
wegen, wo der subjektive Ausdruck mit Zuständen des Komponisten<br />
kaum je unmittelbar zusammenfällt. Weit darüber hinaus ist prinzipiell<br />
das grammatische Ich des Gedichts von dem durchs Gebilde latent<br />
redenden erst gesetzt, das empirische Funktion des geistigen, nicht<br />
umgekehrt. Der Anteil des empirischen ist nicht, wie der Topos der<br />
Echtheit es möchte, der Ort von Authentizität. Offen, ob das latente<br />
Ich, das redende, in den Gattungen der Kunst das gleiche sei, und ob<br />
es sich verändert; es dürfte mit den Materialien der Künste qua-<br />
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litativ variieren; deren Subsumtion unter den fragwürdigen Oberbegriff<br />
der Kunst täuscht darüber. Jedenfalls ist es sachimmanent, konstituiert<br />
sich im Gebilde, durch den Akt von dessen Sprache ; der real<br />
Hervorbringende ist im Verhältnis zum Gebilde eiai Moment der Realität<br />
wie andere. Nicht einmal in der faktischen Produktion der Kunstwerke<br />
entscheidet die Privatperson. Implizit erfordert das Kunstwerk<br />
Arbeitsteilung, und das Individuum fungiert vorweg arbeitsteilig darin.<br />
Indem die Produktion ihrer Materie sich überantwortet, resultiert sie<br />
inmitten äußerster Individuation in einem Allgemeinen. Die Kraft solcher<br />
Entäußerung des privaten Ichs an die Sache ist das kollektive<br />
Wesen in jenem; es konstituiert den Sprachcharakter der Werke. Die<br />
Arbeit am Kunstwerk ist gesellschaftlich durchs Individuum hindurch,<br />
ohne daß es dabei der Gesellschaft sich bewußt sein müßte; vielleicht<br />
desto mehr, je weniger es das ist. Das je eingreifende einzelmenschliche<br />
Subjekt ist kaum mehr als ein Grenzwert, ein Minimales,<br />
dessen das Kunstwerk bedarf, um sich zu kristallisieren. Die Verselbständigung<br />
des Kunstwerks dem Künstler gegenüber ist keine Ausgeburt<br />
des Größenwahns von l'art pour l'art, sondern der einfachste<br />
Ausdruck seiner Beschaffenheit als eines gesellschaftlichen Verhältnisses,<br />
das in sich das Gesetz seiner eigenen Vergegenständlichung<br />
trägt: nur als Dinge werden die Kunstwerke zur Antithesis des dinghaften<br />
Unwesens. Dem ist gemäß der zentrale Sachverhalt, daß aus<br />
den Kunstwerken, auch den sogenannten individuellen, ein Wir<br />
spricht und kein Ich, und zwar desto reiner, je weniger es äußerlich<br />
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