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Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

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tenden Stellung verharrt, die sie in der Gesellschaft hat. Das »L'art<br />

pour Part« entsprach der Sehnsucht nach der Feudalge-<br />

/81/<br />

sellschaft, als diejenigen, in deren Dienst die Künstler standen und<br />

von denen sie total abhingen, ihrerseits der institutionellen Souveränität<br />

dienten. Es ging immer noch um ornamentale Kunst, diesmal<br />

für Dilettanten, die sich von der Gesamtgesellschaft gelöst hatten.<br />

Die Protagonisten des »L'art pour Part« wollten sich lediglich den<br />

Interessen einer Gesellschaft entziehen, die sich andere Ziele als das<br />

der Souveränität gesetzt hatte, Interessen, die im ganzen genommen<br />

von den Grundzielen der sowjetischen Gesellschaft nicht zu unterscheiden<br />

waren. Die Formel hätte nur dann wirklich sinnvoll sein<br />

können, wenn die Kunst unmittelbar das Erbe der Souveränität angetreten<br />

hätte, also das Erbe alles dessen, was einstmals an der universellen<br />

Gestalt Gottes wie an den Gestalten der Götter und Könige<br />

authentisch souverän gewesen ist. Sie hätte ihren Anspruch auf dieses<br />

Erbe geltend machen müssen mit einem Elan, der ihrem Charakter<br />

des Grenzenlosen entspricht, aber ohne jemals diskursiv zu werden,<br />

sondern schweigend, in der souveränen Bewegung totaler Indifferenz.<br />

Wenn die Kunst Erbin der Souveränität der Könige und Gottes ist, so<br />

weil die Souveränität niemals etwas anderes enthielt als die allgemeine<br />

Subjektivität (es sei denn jene Macht über die Dinge, sowohl<br />

im sozialen Spiel wie in den magischen Praktiken, die ihr ebenfalls,<br />

zu Unrecht, zugeschrieben wurde). Aber die Menschen haben das an<br />

ihrer eigenen Subjektivität Beunruhigende und Erschütternde zunächst<br />

an Anderen wahrgenommen (seien diese Anderen nun das<br />

höchste Wesen oder ihresgleichen). Und bis heute kann niemand der<br />

überwältigenden Wahrheit des Ich ins Auge sehen ohne das geliebte<br />

Wesen. Wir können die Abwesenheit des Ich nicht ertragen, aber<br />

ebensowenig seine konkrete Gegenwart, denn es ist in unseren Augen<br />

zwar die Subjektivität, vorausgesetzt jedoch, daß seine mögliche<br />

Existenzform als Ding — beschränktes Objekt — vernichtet ist. Aber<br />

was uns heute die Liebe offenbart Ist gefährlicher, als was Gott uns<br />

einst hätte offenbaren können und hat gegen sich seine Unerträglichkeit:<br />

wir können das geliebte Wesen von den Banden nicht lösen, die<br />

es an den Zufall ketten, so daß wir unaufhörlich von der Täuschung<br />

in Atem gehalten werden bis hin zum Leiden: wir leben jenseits der<br />

Liebe, zurückgeworfen auf den verzweifelten Ausdruck einer Subjektivität,<br />

die uns mit dem unbestimmten Nebenmenschen, dem Leier,<br />

gemein ist, und, was noch befremdlicher ist: wir können ein Gefühl<br />

dieser Subjektivität nicht haben, ohne es demjenigen,<br />

/82/<br />

an den Literatur sich wendet, mitzuteilen. Auf diese Art souverän zu<br />

sein, ist zweifellos eine Weise, im Unerträglichen zu ersticken: Es<br />

erinnert an die Leere nach einer Ejakulation, an die Ekstase und ihren<br />

Schrei: »ich sterbe, weil ich nicht sterben kann!« Hier geht es<br />

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