Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
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Bildungsgang der Zeit, sondern wirft seine Werke weit hinaus in die<br />
vorliegende Bahn (wie der sich dem Tode weihende Imperator seinen<br />
Speer unter die Feinde), auf welcher die Zeit solche erst einzuholen<br />
hat. Sein Verhältniß zu den während dessen kulminirenden Talentmännern<br />
könnte es in den Worten des Evangelisten ausdrücken: O<br />
kairos ho emos oupô parestin; ho de kairos ho hymeteros pantote<br />
estin hetoimos (Joh. 7, 6) 34 . – Das Talent vermag zu leisten was die<br />
Leistungsfähigkeit, jedoch nicht die Apprehensionsfähigkeit der Uebrigen<br />
überschreitet: daher findet es sogleich seine Schätzer. Hingegen<br />
geht die Leistung des Genies nicht nur über die Leistungs-, sondern<br />
auch über die Apprehensionsfähigkeit der Andern hinaus: daher<br />
werden Diese seiner nicht unmittelbar inne. Das Talent gleicht dem<br />
Schüt zen, der ein Ziel trifft, welches die Uebrigen nicht erreichen<br />
können; das Genie dem, der eines trifft, bis zu welchem sie nicht ein<br />
Mal zu sehn vermögen: daher sie nur mittelbar, also spät, Kunde davon<br />
erhalten, und sogar diese nur auf Treu und Glauben annehmen.<br />
Demgemäß sagt Goethe im Lehrbrief: »Die Nachahmung ist uns angeboren;<br />
das Nachzuahmende wird nicht leicht erkannt. Selten wird<br />
das Treffliche gefunden, seltner geschätzt«. Und Chamfort sagt: Il en<br />
est de la valeur des hommes comme de celle des diamans, qui, à<br />
une certaine mesure de grosseur, de pureté, de perfection, ont un<br />
prix fixe et marqué, mais qui, par-delà cette mesure, restent sans<br />
prix, et ne trouvent point d'acheteurs. Auch schon Bako von Verulam<br />
hat<br />
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es ausgesprochen: Infimarum virtutum, apud vulgus, laus est, mediarum<br />
admiratio, supremarum sensus nullus (De augm. sc., L. VI, c. 3).<br />
Ja, möchte vielleicht Einer entgegnen, apud vulgus! – Dem muß ich<br />
jedoch zu Hülfe kommen mit Machiavelli's Versicherung: Nel mondo<br />
non è se non volgo 35 ; wie denn auch Thilo (über den Ruhm) bemerkt,<br />
daß zum großen Haufen gewöhnlich Einer mehr gehört, als Jeder<br />
glaubt. – Eine Folge dieser späten Anerkennung der Werke des Genies<br />
ist, daß sie selten von ihren Zeitgenossen und demnach in der<br />
Frische des Kolorits, welche die Gleichzeitigkeit und Gegenwart verleiht,<br />
genossen werden, sondern, gleich den Feigen und Datteln, viel<br />
mehr im trockenen, als im frischen Zustande. –<br />
Wenn wir nun endlich noch das Genie von der somatischen Seite<br />
betrachten; so finden wir es durch mehrere anatomische und physiologische<br />
Eigenschaften bedingt, welche einzeln selten vollkommen<br />
vorhanden, noch seltener vollständig beisammen, dennoch alle unerläßlich<br />
erfordert sind; so daß daraus erklärlich wird, warum das Genie<br />
nur als eine völlig vereinzelte, fast portentose Ausnahme vorkommt.<br />
Die Grundbedingung ist ein abnormes Ueberwiegen der Sensibilität<br />
über die Irritabilität und Reproduktionskraft, und zwar, was die Sache<br />
34 „Meine Zeit ist noch nicht gekommen, für euch aber ist immer die rechte<br />
Zeit.“<br />
35 Es giebt nichts Anderes auf der Welt, als Vulgus.<br />
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