Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
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es ist schwierig, sie zu unterscheiden; eine deutliche Differenz, eine<br />
Schwelle wird nirgendwo in der kontinuierlichen Vielheit der verschiedenen<br />
Formen profaner Kunst sichtbar. Selbst wenn man sich leicht<br />
darüber täuschen mag: das Genie ist völlig verschieden vom Talent;<br />
aber wie keine Schwelle die Prosa von der Poesie trennt, so is t auch<br />
die Kunst der Lust nicht deutlich unterschieden von der Kunst, in der<br />
sich Angst manifestiert. Die Einteilungen eines Lehrbuchs, das nacheinander<br />
die dramatische und die lyrische Poesie, den Roman, das<br />
Tagebuch oder den Essay abhandelt, sind ganz willkürlich. Die profane<br />
und sich selbst als solche begreifende Kunst mag sogar, sooft<br />
es ihr gefällt und so gut sie kann, die Subjektivität der souveränen<br />
Formen ausdrücken, die lange Zeit die Gesellschaft beherrschten.<br />
Und doch unterscheidet sie sich von der sakralen Kunst darin, daß<br />
sie dem Ausdruck dieser bestimmten Subjektivität den Ausdruck einer<br />
menschlichen Subjektivität hin zufügt, einer Subjektivität, die von<br />
diesen herrschenden Formen unabhängig ist.<br />
4. Das Band zwischen profaner Kunst und Erotik<br />
Die profane Kunst drückt insbesondere die Subjektivität der Erotik<br />
aus (die, wenn sie im Rahmen der sakralen Kunst auftritt, anstößig<br />
wirkt und fassungslose Kommentare hervorruft). Grundsätzlich ist die<br />
Erotik an die profane Welt gebunden, weil sie nicht Gegenstand der<br />
öffentlichen Kommunikation sein kann, die in der Gesellschaft Ausdruck<br />
des Sakralen ist. Noch als literarische wendet die Kommunikation<br />
erotischer Subjektivität sich vertraulich an den Leser als intime<br />
Möglichkeit, fern der Menge. Sie<br />
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erheischt nicht die Bewunderung, nicht den Respekt aller, sondern<br />
sucht jene geheime Ansteckung, die niemals überheblich, niemals<br />
öffentlich ist und nur ans Schweigen appelliert.<br />
5. Das Elend des Künstlers und die für ihn unerreichbare Souveränität<br />
Was wir in der Zerstreutheit der profanen Welt jedoch verlieren, ist<br />
die Fähigkeit, den heiligen Schrecken mitzuteilen, der in den Bereich<br />
des Religiösen gehört. Das ist ein Verlust, selbst wenn zum Ausgleich<br />
etwas anderes, Gleichwertiges zutage träte. Die Stärke der<br />
sakralen Kunst lag in der Wiederholung: die heftigsten Erschütterungen<br />
als Folge heftiger Schocks wiederholten sich auf die<br />
immer gleiche Weise: erst ganz allmählich trat Ermüdung ein. Die<br />
souveräner Kunst, von der ich später sprechen werde.<br />
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