Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
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Ist es nicht fast geboten, mißtrauisch gegen alle zu sein, welche von<br />
Empfindungen dieser Art bei sich reden?<br />
158<br />
Verhängnis der Größe. – Jeder großen Erscheinung folgt die Entartung<br />
nach, namentlich im Bereiche der Kunst. Das Vorbild des Großen<br />
reizt die eitleren Naturen zum äußerlichen Nachmachen oder<br />
zum Überbieten; dazu haben alle großen Begabungen das Verhängnisvolle<br />
an sich, viele schwächere Kräfte und Keime zu erdrücken<br />
und um sich herum gleichsam die Natur zu veröden. Der glücklichste<br />
Fall in der Entwicklung einer Kunst ist der, daß mehrere Genies sich<br />
gegenseitig in Schranken halten; bei diesem Kampfe wird gewöhnlich<br />
den schwächeren und zarteren Naturen auch Luft und Licht gegönnt.<br />
159<br />
Die Kunst dem Künstler gefährlich. – Wenn die Kunst ein Individuum<br />
gewaltig ergreift, dann zieht es dasselbe zu Anschauungen solcher<br />
Zeiten zurück, wo die Kunst am kräftigsten blühte, sie wirkt dann zurückbildend.<br />
Der Künstler kommt immer mehr in eine Verehrung der<br />
plötzlichen Erregungen, glaubt an Götter und Dämonen, durchseelt<br />
die Natur, haßt die Wissenschaft, wird wechselnd in seinen Stimmungen<br />
wie die Menschen des Altertums und begehrt einen Umsturz<br />
aller Verhältnisse, welche der Kunst nicht günstig sind, und zwar dies<br />
mit der Heftigkeit und Unbilligkeit eines Kindes. An sich ist nun der<br />
Künstler schon ein zurückbleibendes Wesen, weil er beim Spiel stehen<br />
bleibt, welches zur Jugend und Kindheit gehört: dazu kommt<br />
noch, daß er allmählich in andere Zeiten zurückgebildet wird. So entsteht<br />
zuletzt ein heftiger Antagonismus zwischen ihm und den gleichaltrigen<br />
Menschen seiner Periode und ein trübes Ende; so wie,<br />
/552/<br />
nach den Erzählungen der Alten, Homer und Äschylus in Melancholie<br />
zuletzt lebten und star ben.<br />
160<br />
Geschaffene Menschen. – Wenn man sagt, der Dramatiker (und der<br />
Künstler überhaupt) schaffe wirklich Charaktere, so ist dies eine<br />
schöne Täuschung und Übertreibung, in deren Dasein und Verbreitung<br />
die Kunst einen ihrer ungewollten, gleichsam überschüssigen<br />
Triumphe feiert. In der Tat verstehen wir von einen wirklichen lebendigen<br />
Menschen nicht viel und generalisieren sehr oberflächlich,<br />
wenn wir ihm diesen und jenen Charakter zuschreiben: dieser unserer<br />
sehr unvollkommenen Stellung zum Menschen entspricht nun der<br />
Dichter, indem er ebenso oberflächliche Entwürfe zu Menschen<br />
macht (in diesem Sinne »schafft«), als unsere Erkenntnis der Menschen<br />
oberflächlich ist. Es ist viel Blendwerk bei diesen geschaffenen<br />
Charakteren der Künstler; es sind durchaus keine leibhaftigen Natur-<br />
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