05.09.2013 Aufrufe

Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

schen Überrest abschaffen, so ist er auf seine geschichtsphilosophische<br />

Objektivität zu bringen. Die Divergenz von Subjekt und Individuum,<br />

präformiert im Kantischen Antipsychologismus, aktenkundig<br />

bei Fichte, affiziert auch die Kunst. Der Charakter des Authentischen,<br />

Verpflichtenden und die Freiheit des emanzipierten Einzelnen entfernen<br />

sich von einander. Der Geniebegriff ist ein Versuch, beides<br />

durch einen Zauberschlag zusammenzubringen, dem Einzelnen im<br />

Sondergebiet Kunst unmittelbar das Vermögen zum übergreifend<br />

Authentischen zu attestieren. Der Erfahrungsgehalt solcher Mystifikation<br />

ist, daß tatsächlich in der Kunst Authentizität, das universale<br />

Moment, anders als durchs principium individuatk nis nicht mehr<br />

möglich ist, so wie umgekehrt die allgemeine bürgerliche Freiheit die<br />

zum Besonderen, zur Individuation sein sollte. Nur wird von der Genie-Ästhetik<br />

dies Verhältnis blindlings, undialektisch in jenes Individuum<br />

verlegt, das da zugleich<br />

/255/<br />

Subjekt sein soll; der intellectus archetypus, ιn der Erkenntnistheorie<br />

ausdrücklich Idee, wird im Geniebegriff wie eine Tatsache der Kunst<br />

behandelt. Genie soll das Individuum sein, dessen Spontaneität mit<br />

der Tathandlung des absoluten Subjekts koinzidiert. Soviel ist richtig<br />

daran, wie die Individuation der Kunstwerke, vermittelt durch Spontaneität,<br />

das an ihnen ist, wodurch sie sich objektivieren. Falsch aber<br />

ist der Geniebegriff, weil Gebilde keine Geschöpfe sind und Menschen<br />

keine Schöpfer. Das bedingt die Unwahrheit der Genie-<br />

Ästhetik, welche das Moment des endlichen Machens, der téchne an<br />

den Kunstwerken zugunsten ihrer absoluten Ursprünglichkeit, quasi<br />

ihrer natura naturans unterschlägt und damit die Ideologie vom<br />

Kunstwerk als einem Organischen und Unbewußten in die Welt setzt,<br />

die dann zum trüben Strom des Irrationalismus sich verbreitert. Von<br />

Anbeginn lenkt die Akzentverschiebung der Genie-Ästhetik auf den<br />

Einzelnen, wie sehr sie auch der schlechten Allgemeinheit opponiert,<br />

auch von der Gesellschaft ab, indem sie den Einzelnen verabsolutiert.<br />

Trotz allen Mißbrauchs aber erinnert der Geniebegriff daran,<br />

daß das Subjekt im Kunstwerk nicht durchaus auf die Objektivation<br />

zu reduzieren ist. In der Kritik der Urteilskraft war der Geniebegriff die<br />

Zufluchtsstätte alles dessen, was der Hedonismus der Kantischen<br />

Ästhetik sonst entzog. Nur hat er Genialität, mit unübersehbarer Folge,<br />

einzig dem Subjekt reserviert, gleichgültig gegen die Ichfremdheit<br />

gerade dieses Moments, die später im Kontrast des Genies zur wissenschaftlichen<br />

und philosophischen Rationalität ideologisch ausgebeutet<br />

wurde. Die bei Kant beginnende Fetischisierung des Geniebegriffs<br />

als der abgetrennten, nach Hegels Sprache abstrakten Subjektivität,<br />

hat schon in Schillers Votivtafeln kraß elitäre Züge angenommen.<br />

Er wird potentiell zum Feind der Kunstwerke; mit einem Seitenblick<br />

auf Goethe soll der Mensch hinter jenen wesentlicher sein als<br />

sie selbst. Im Geniebegriff wird mit idealistischer Hybris die Idee des<br />

Schöpfertums vom transzendentalen Subjekt an das empirische, den<br />

produktiven Künstler zediert. Das behagt dem bürgerlichen Vulgärbewußtsein,<br />

ebenso wegen des Arbeitsethos ιn der Glorifizierung<br />

reinen Schöpfertums des Menschen ohne Rücksicht auf den Zweck,<br />

152

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!