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Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

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Ihnen nur Anregungen und Aufforderungen bringen, die von dem<br />

Studium der Phantasien her auf das Problem der dichterischen Stoffwahl<br />

übergreifen. Das andere Problem, mit welchen Mitteln der<br />

Dichter bei uns die Affektwirkungen erziele, die er durch seine Schöpfungen<br />

hervorruft, haben wir überhaupt noch nicht berührt. Ich möchte<br />

Ihnen wenigstens noch zeigen, welcher Weg von unseren Erörterungen<br />

über die Phantasien zu den Problemen der poetischen Effekte<br />

führt.<br />

Sie erinnern sich, wir sagten [S. 173], daß der Tagträumer seine<br />

Phantasien vor anderen sorgfältig verbirgt, weil er Gründe verspürt,<br />

sich<br />

/179/<br />

ihrer zu schämen. Ich füge nun hinzu, selbst wenn er sie uns mitteilen<br />

würde, könnte er uns durch solche Enthüllung keine Lust bereiten.<br />

Wir werden von solchen Phantasien, wenn wir sie erfahren, abgestoßen<br />

oder bleiben höchstens kühl gegen sie. Wenn aber der Dichter<br />

uns seine Spiele vorspielt oder uns das erzählt, was wir für seine persönlichen<br />

Tagträume zu erklären geneigt sind, so empfinden wir hohe,<br />

wahrscheinlich aus vielen Quellen zusammenfließende Lust. Wie<br />

der Dichter das zustande bringt, das ist sein eigenstes Geheimnis; in<br />

der Technik der Überwindung jener Abstoßung, die gewiß mit den<br />

Schranken zu tun hat, welche sich zwischen jedem einzelnen Ich und<br />

den anderen erheben, liegt die eigentliche Ars poetica. Zweierlei Mittel<br />

dieser Technik können wir er-raten: Der Dichter mildert den Charakter<br />

des egoistischen Tagtraumes durch Abänderungen und Verhüllungen<br />

und besticht uns durch rein formalen, d. h. ästhetischen Lustgewinn,<br />

den er uns in der Darstellung seiner Phantasien bietet. Man nennt<br />

einen solchen Lustgewinn, der uns geboten wird, um mit ihm die Entbindung<br />

größerer Lust aus tiefer reichenden psychischen Quellen zu<br />

ermöglichen, eine Verlockungsprämie oder eine Vorlust 43 . Ich bin der<br />

Meinung, daß alle ästhetische Lust, die uns der Dichter verschafft,<br />

den Charakter solcher Vorlust trägt und daß der eigentliche Genuß<br />

des Dichtwerkes aus der Befreiung von Spannungen in unserer Seele<br />

hervorgeht. Vielleicht trägt es sogar zu diesem Erfolge nicht wenig<br />

bei, daß uns der Dichter in den Stand setzt, unsere eigenen Phantasien<br />

nunmehr ohne jeden Vorwurf und ohne Schämen zu genießen.<br />

Hier stünden wir nun am Eingange neuer, interessanter und verwickelter<br />

Untersuchungen, aber, wenigstens für diesmal, am Ende unserer<br />

Erörterungen.<br />

43 [Diese Theorie der »Vorlust« und der »Verlockungsprämie« hatte Freud<br />

mit Bezug auf den Witz in den letzten Absätzen von Kapitel IV seines<br />

Buches Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905c; Studienausgabe,<br />

Bd. 4, S. 129f.) entwickelt. Eine Bemerkung darüber findet<br />

sich auch in dem Essay >Psychopathische Personen auf der Bühne< (im<br />

vorliegenden Band, S. 168).]<br />

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