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Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

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Es erhellt aber eben daraus von selbst, daß es eine höchst unnütze<br />

Frage wäre, welchem von den beiden Bestandteilen der Vorzug vor<br />

dem andern zukomme, da in der Tat jeder derselben ohne den andern<br />

keinen Wert hat, und nur beide zusammen das Höchste hervorbringen.<br />

Denn obgleich das, was nicht durch Übung erreicht wird,<br />

sondern mit uns geboren ist, allgemein als das Herrlichere betrachtet<br />

wird, so haben doch die Götter auch die Ausübung jener ursprünglichen<br />

Kraft an das ernstliche Bemühen der Menschen, an den Fleiß<br />

und die Überlegung so fest geknüpft, daß die Poesie, selbst wo sie<br />

angeboren ist, ohne die Kunst nur gleichsam tote Produkte hervorbringt,<br />

an welchen kein menschlicher Verstand sich ergötzen kann,<br />

und welche durch die völlig blinde Kraft, die darin wirksam ist, alles<br />

Urteil und selbst die Anschauung von sich zurückstoßen. Es läßt sich<br />

vielmehr umgekehrt noch eher erwarten, daß Kunst ohne Poesie, als<br />

daß Poesie ohne Kunst etwas zu leisten vermöge, teils weil nicht<br />

leicht ein Mensch von Natur ohne alle Poesie, obgleich viele ohne<br />

alle Kunst sind, teils weil das anhaltende Studium der Ideen großer<br />

Meister den ursprünglichen Mangel an objektiver<br />

/293/<br />

Kraft einigermaßen zu ersetzen imstande ist, obgleich dadurch immer<br />

nur ein Schein von Poesie entstehen kann, der an seiner Oberflächlichkeit<br />

im Gegensatz gegen die unergründliche Tiefe, welche<br />

der wahre Künstler, obwohl er mit der größten Besonnenheit arbeitet,<br />

unwillkürlich in sein Werk legt, und welche weder er noch irgend ein<br />

anderer ganz zu durchdringen vermag, so wie an vielen anderen<br />

Merkmalen, z.B. dem großen Wert, den er auf das bloß Mechanische<br />

der Kunst legt, an der Armut der Form, in welcher er sich bewegt,<br />

usw. leicht unterscheidbar ist.<br />

Es erhellt nun aber auch von selbst, daß ebensowenig als Poesie<br />

und Kunst einzeln und für sich, ebensowenig auch eine abgesonderte<br />

Existenz beider das Vollendete hervorbringen könne 30 daß also, weil<br />

die Identität beider nur ursprünglich sein kann, und durch Freiheit<br />

schlechthin unmöglich und unerreichbar ist, das Vollendete nur durch<br />

das Genie möglich sei, welches eben deswegen für die Ästhetik dasselbe<br />

ist, was das Ich für die Philosophie, nämlich das Höchste absolut<br />

Reelle, was selbst nie objektiv wird, aber Ursache alles Objektiven<br />

ist.<br />

§ 2. Charakter des Kunstprodukts<br />

a) Das Kunstwerk reflektiert uns die Identität der bewußten und der<br />

bewußtlosen Tätigkeit. Aber der Gegensatz dieser beiden ist ein unendlicher,<br />

und er wird aufgehoben ohne alles Zutun der Freiheit. Der<br />

Grundcharakter des Kunstwerks ist also eine bewußtlose Unendlichkeit<br />

[Synthesis von Natur und Freiheit]. Der Künstler scheint in sei-<br />

30 Keines vor dem andern hat eine Priorität. Eben nur die Indifferenz beider<br />

(der Kunst und der Poesie) ist es, die in dem Kunstwerk reflektiert wird.<br />

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