Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
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che in einer Erschütterung seiner ganzen Masse bei jedem Pulsschlage<br />
der vier Cerebral-Arterien besteht und<br />
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deren Energie seiner hier vermehrten Quantität entsprechen muß,<br />
wie denn diese Bewegung überhaupt eine unerläßliche Bedingung<br />
seiner Thätigkeit ist. Dieser ist eben daher auch eine kleine Statur<br />
und besonders ein kurzer Hals günstig, weil, auf dem kürzern Wege,<br />
das Blut mit mehr Energie zum Gehirn gelangt: deshalb sind die großen<br />
Geister selten von großem Körper. Jedoch ist jene Kürze des<br />
Weges nicht unerläßlich: z.B. Goethe war von mehr als mitt lerer Höhe.<br />
Wenn nun aber die ganze den Blutumlauf betreffende und daher<br />
vom Vater kommende Bedingung fehlt; so wird die von der Mutter<br />
stammende günstige Beschaffenheit des Gehirns höchstens ein Talent,<br />
einen feinen Verstand, den das alsdann eintretende Phlegma<br />
unterstützt, hervorbringen; aber ein phlegmatisches Genie ist unmöglich.<br />
Aus dieser vom Vater kommenden Bedingung des Genies erklären<br />
sich viele der oben geschilderten Temperamentsfehler desselben.<br />
Ist hingegen diese Bedingung ohne die erstere, also bei gewöhnlich<br />
oder gar schlecht konstituirtem Gehirn vorhanden; so giebt<br />
sie Lebhaftigkeit ohne Geist, Hitze ohne Licht, liefert Tollköpfe, Menschen<br />
von unerträglicher Unruhe und Petulanz. Daß von zwei Brüdern<br />
nur der eine Genie hat, und dann meistens der ältere, wie es<br />
z.B. Kants Fall war, ist zunächst daraus erklärlich, daß nur bei seiner<br />
Zeugung der Vater im Alter der Kraft und Leidenschaftlichkeit war;<br />
wiewohl auch die andere, von der Mutter stammende Bedingung<br />
durch ungünstige Umstände verkümmert werden kann.<br />
Noch habe ich hier eine besondere Bemerkung hinzuzufügen über<br />
den kindlichen Charakter des Genies, d.h. über eine gewisse Aehnlichkeit,<br />
welche zwischen dem Genie und dem Kindesalter Statt findet.<br />
– In der Kindheit nämlich ist, wie beim Genie, das Cerebralund<br />
Nervensystem entschieden überwiegend: denn seine Entwickelung<br />
eilt der des übrigen Organismus weit voraus; so daß bereits mit dem<br />
siebenten Jahre das Gehirn seine volle Ausdehnung und Masse erlangt<br />
hat. Schon Bichat sagt daher: Dans l'enfance les système nerveux,<br />
comparé au musculaire, est proportionnellement plus considérable<br />
que dans tous les âges suivans, tandis que, par la suite, la<br />
pluspart des autres systèmes prédominent sur celuici. On sait que,<br />
pour bien voir les nerfs, on choisit toujours les enfans<br />
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(De la vie et de la mort, Art. 8, § 6). Am spätesten hingegen fängt die<br />
Entwickelung des Genitalsystems an, und erst beim Eintritt des Mannesalters<br />
sind Irritabilität, Reproduktion und Genitalfunktion in voller<br />
Kraft, wo sie dann, in der Regel, das Uebergewicht über die Gehirnfunktion<br />
haben. Hieraus ist es erklärlich, daß die Kinder, im Allgemeinen,<br />
so klug, vernünftig, wißbegierig und gelehrig, ja, im Ganzen, zu<br />
aller theoretischen Beschäftigung aufgelegter und tauglicher, als die<br />
Erwachsenen, sind: sie haben nämlich in Folge jenes Entwickelungs-<br />
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