Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
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nicht mehr um Dilettantismus: die souveräne Kunst ist die äußerste<br />
Möglichkeit.<br />
8. Das Beispiel »Zarathustra«<br />
Die Situation des Künstlers, der die ihm zukommende Würde entdeckt,<br />
ist dennoch lächerlich. Das Kunstwerk kann das, was die Sensibilität<br />
ihm eingibt, nicht ausdrücken, ohne es zu entstellen, so daß<br />
der Künstler die Offenbarung in Ohnmacht empfängt. Das traditionelle<br />
Kunstwerk lädt dazu ein, der Subjektivität, die sich anbietet und die<br />
doch nur eine Verweigerung der wirklichen Ordnung ist, irgendeine<br />
wirkliche Form zu geben.<br />
Ich will versuchen am Beispiel Zarathustra diesen Gedanken zu präzisieren.<br />
Ohne die vorangegangenen Betrachtungen wäre es mir<br />
nicht möglich gewesen, die Schwäche Zarathustras aufzuzeigen. Ist<br />
Zarathustra nicht der auf einen Anderen projizierte Ausdruck von<br />
Nietzsches eigener Subjektivität? Nietzsche plagiiert die sakrale Literatur;<br />
er läßt eine Person auftreten, die in der sakralen Welt anerkannt<br />
ist oder zumindest anerkannt werden möchte. Aber Zarathustra<br />
bleibt in der Tradition der profanen Literatur, ist ein Stück objektiver<br />
Literatur, Ausdruck einer fiktiven Subjektivität. Wir müssen uns fragen,<br />
ob es möglich war, die Existenz einer sakralen Person zu fingieren,<br />
ohne die Gesetze einer der Willkür des Fiktiven fremden Welt zu<br />
verletzen: die Mythologie hat sich immer als Wirklichkeit gesetzt.<br />
Aber da dieses Buch weder sakral noch profan ist, so erfüllt es auch<br />
nicht die Anforderungen der souveränen Kunst. Es genügt ihnen<br />
nicht, weil es die tiefe Subjektivität des Autors unter abgelebten Formen<br />
verbirgt. Dies Buch ist Fiktion der sakralen Wirklichkeit, obwohl<br />
es der unmittelbare Ausdruck der souveränen Subjektivität ist: diese<br />
widersprüchliche Vielheit setzt einen merkwürdigen Prozeß der Verschiebung<br />
in Gang. Begünstigt durch die profane Freiheit hat Nietzsche,<br />
da er sich das Kostüm einer anerkannten (oder nach Anerkennung<br />
strebenden) sakralen Wesenheit lieh, virtuell die Funktion einer<br />
solchen, an die Wirklichkeit der Macht geknüpf-<br />
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ten Wesenheit angenommen. Aber die souveräne Subjektivität, die<br />
ich meine, kann sich, da sie ihr Bewußtsein und ihre Existenz dem<br />
literarischen Ausdruck verdankt, nicht Funktionen anmaßen, die allein<br />
wirklichen und anerkannten Wesenheiten zukommen. Die wirkliche<br />
Souveränität Zarathustras, der in der Welt zu handeln sich bemüht,<br />
ist nur leere Fiktion der profanen Kunst, während die Bewegung des<br />
Denkens zutiefst Ausdruck der souveränen Kunst ist. Aber die souveräne<br />
Kunst verdient ihren Namen nur, wenn sie sich fern hält von den<br />
Funktionen und der Macht der wirklichen Souveränität, oder sie sogar<br />
negiert. Die souveräne Kunst ist Verweigerung der Macht: sie impliziert<br />
den Verzicht auf die politische Macht, indem sie den Dingen<br />
selbst die Verantwortung für die Leitung der Dinge überläßt. Im Zarathustra<br />
können wir heute nur noch das Leiden Nietzsches sehen, den<br />
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