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Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

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So wie die ästhetische Produktion ausgeht vom Gefühl eines scheinbar<br />

unauflöslichen Widerspruchs, ebenso endet sie nach dem Bekenntnis<br />

aller Künstler, und aller, die ihre Begeisterung teilen, im Gefühl<br />

einer unendlichen Harmonie, und daß dieses Gefühl, was die<br />

Vollendung begleitet, zugleich eine Rührung ist, beweist schon, daß<br />

der Künstler die vollständige Auflösung des Widerspruchs, die er in<br />

seinem Kunstwerk erblickt, nicht [allein] sich selbst, sondern einer<br />

freiwilligen Gunst seiner Natur zuschreibt, die, so unerbittlich sie ihn<br />

in Widerspruch mit sich selbst setzte, ebenso gnädig den Schmerz<br />

dieses Widerspruchs von ihm hinwegnimmt; 28 denn so wie der Künstler<br />

unwillkürlich, und selbst mit innerem Widerstreben zur Produktion<br />

getrieben wird (daher bei den Alten die Aussprüche: pati Deum usw.,<br />

daher überhaupt die Vorstellung von Begeisterung durch fremden<br />

Anhauch), ebenso kommt auch das Objektive zu seiner Produktion<br />

gleichsam ohne sein Zutun, d.h. selbst bloß objektiv, hinzu. Ebenso<br />

wie der verhängnisvolle Mensch nicht vollführt, was er will, oder beabsichtigt,<br />

sondern was er durch ein unbegreifliches Schicksal, unter<br />

dessen Einwirkung er steht, vollführen muß, so scheint der Künstler,<br />

so absichtsvoll er ist, doch in Ansehung dessen, was das eigentlich<br />

Objektive in seiner Hervorbringung ist, unter der Einwirkung einer<br />

Macht zu stehen, die ihn von allen andern Menschen absondert, und<br />

ihn Dinge auszusprechen oder darzustellen zwingt, die er selbst nicht<br />

vollständig durchsieht, und deren Sinn unendlich ist. Da nun jenes<br />

absolute Zusammentreffen der beiden sich fliehenden Tätigkeiten<br />

schlechthin nicht weiter erklärbar, sondern bloß eine Erscheinung ist,<br />

die, obschon unbegreiflich, 29 doch nicht geleugnet werden<br />

/292/<br />

kann, so ist die Kunst die einzige und ewige Offenbarung, die es gibt,<br />

und das Wunder, das, wenn es auch nur Einmal existiert hätte, uns<br />

von der absoluten Realität jenes Höchsten überzeugen müßte.<br />

Wenn nun ferner die Kunst durch zwei voneinander völlig verschiedene<br />

Tätigkeiten vollendet wird, so ist das Genie weder die eine noch<br />

die andere, sondern das, was über beiden ist. Wenn wir in der einen<br />

jener beiden Tätigkeiten, der bewußten nämlich, das suchen müssen,<br />

was insgemein Kunst genannt wird, was aber nur der eine Teil derselben<br />

ist, nämlich dasjenige an ihr, was mit Bewußtsein, Überlegung<br />

und Reflexion ausgeübt wird, was auch gelehrt und gelernt, durch<br />

Oberlieferung und durch eigne Übung erreicht werden kann, so werden<br />

wir dagegen in dem Bewußtlosen, was in die Kunst mit eingeht,<br />

dasjenige suchen müssen, was an ihr nicht gelernt, nicht durch<br />

Übung, noch auf andere Art erlangt werden, sondern allein durch<br />

freie Gunst der Natur angeboren sein kann, und welches dasjenige<br />

ist, was wir mit Einem Wort die Poesie in der Kunst nennen können.<br />

28 Im Handexemplar: sondern einer freiwilligen Gunst seiner Natur, also<br />

einem Zusammentreffen der bewußtlosen Tätigkeit mit der bewußten zuschreibt.<br />

29 vom Standpunkt der bloßen Reflexion.<br />

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