Carl Schmitt - Hans-Joachim Lenger
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<strong>Carl</strong> <strong>Schmitt</strong>: Politische Theologie.................................................. 2<br />
<strong>Carl</strong> <strong>Schmitt</strong>: Die Diktatur. ............................................................... 9<br />
<strong>Carl</strong> <strong>Schmitt</strong>: Der Leviathan........................................................... 15<br />
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<strong>Carl</strong> <strong>Schmitt</strong>: Politische Theologie<br />
Duncker & Humblot / Berlin 1885, S.11-22<br />
/11/<br />
Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Diese<br />
Definition kann dem Begriff der Souveränität als einem Grenzbegriff<br />
allein gerecht werden. Denn Grenzbegriff bedeutet nicht einen konfusen<br />
Begriff, wie in der unsaubern Terminologie populärer Literatur,<br />
sondern einen Begriff der äußersten Sphäre. Dem entspricht es, daß<br />
seine Definition nicht anknüpfen kann an den Normalfall, sondern an<br />
einen Grenzfall. Daß hier unter Ausnahmezustand ein allgemeiner<br />
Begriff der Staatslehre zu verstehen ist, nicht irgendeine Notverordnung<br />
oder jeder Belagerungszustand, wird sich aus dem Folgenden<br />
ergeben. Daß der Ausnahmezustand im eminenten Sinne für die juristische<br />
Definition der Souveränität geeignet ist, hat einen systematischen,<br />
rechtslogischen Grund. Die Entscheidung über die Ausnahme<br />
ist nämlich im eminenten Sinne Entscheidung. Denn eine generelle<br />
Norm, wie sie der normal geltende Rechtssatz darstellt, kann eine<br />
absolute Ausnahme niemals erfassen und daher auch die Entscheidung,<br />
daß ein echter Ausnahmefall gegeben ist, nicht restlos begründen.<br />
Wenn Mohl (Monographien, S. 626) sagt, die Prüfung, ob ein<br />
Notstand vorliege, könne keine juristische sein, so geht er von der<br />
Voraussetzung aus, daß eine Entscheidung im Rechtssinne aus dem<br />
Inhalt einer Norm restlos abgeleitet werden muß. Das aber ist die<br />
Frage. In der Allgemeinheit, wie Mohl den Satz ausspricht, ist er nur<br />
ein Ausdruck von rechtsstaatlichem Liberalismus und verkennt er die<br />
selbständige Bedeutung der Dezision.<br />
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Das abstrakte Schema, das als Definition der Souveränität aufgestellt<br />
wird (Souveränität ist höchste, nicht abgeleitete Herrschermacht),<br />
kann man gelten lassen oder nicht, ohne daß darin ein großer<br />
praktischer oder theoretischer Unterschied läge. Um einen Begriff<br />
an sich wird im allgemeinen nicht gestritten werden, am wenigsten in<br />
der Geschichte der Souveränität. Man streitet um die konkrete Anwendung,<br />
und das bedeutet darüber, wer im Konfliktsfall entscheidet,<br />
worin das öffentliche oder staatliche Interesse, die öffentliche Sicherheit<br />
und Ordnung, le salut public usw. besteht Der Ausnahmefall, der<br />
in der geltenden Rechtsordnung nicht umschriebene Fall, kann<br />
höchstens als Fall äußerster Not, Gefährdung der Existenz des Staates<br />
oder dergleichen bezeichnet, nicht aber tatbestandsmäßig umschrieben<br />
werden. Erst dieser Fall macht die Frage nach dem Subjekt<br />
der Souveränität, das heißt die Frage nach der Souveränität überhaupt,<br />
aktuell. Es kann weder mit subsumierbarer Klarheit angegeben<br />
werden, wann ein Notfall vorliegt, noch kann inhaltlich aufgezählt<br />
werden, was in einem solchen Fall geschehen darf, wenn es<br />
sich wirklich um den extremen Notfall und um seine Beseitigung handelt.<br />
Voraussetzung wie Inhalt der Kompetenz sind hier notwendig<br />
2
unbegrenzt. Im rechtsstaatlichen Sinne liegt daher überhaupt keine<br />
Kompetenz vor. Die Verfassung kann höchstens angeben, wer in<br />
einem solchen Falle handeln darf. Ist dieses Handeln keiner Kontrolle<br />
unterworfen, wird es nicht, wie in der Praxis der rechtsstaatlichen<br />
Verfassung, in irgendeiner Weise auf verschiedene, sich gegenseitig<br />
hemmende und balancierende Instanzen verteilt, so ist ohne weiteres<br />
klar, wer der Souverän ist. Er entscheidet sowohl darüber, ob der<br />
extreme Not-<br />
/13/<br />
fall vorliegt, als auch darüber, was geschehen soll, um ihn zu beseitigen.<br />
Er steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und<br />
gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die<br />
Verfassung in toto suspendiert werden kann. Alle Tendenzen der<br />
modernen rechtsstaatlichen Entwicklung gehen dahin, den Souverän<br />
in diesem Sinne zu beseitigen. Darin liegt die Konsequenz der im<br />
folgenden Kapitel behandelten Ideen von Krabbe und Kelsen. Aber<br />
ob der extreme Ausnahmefall wirklich aus der Welt geschafft werden<br />
kann oder nicht, das ist keine juristische Frage. Ob man das Vertrauen<br />
und die Hoffnung hat, er lasse sich tatsächlich beseitigen, hängt<br />
von philosophischen, insbesondere geschichtsphilosophischen oder<br />
metaphysischen Überzeugungen ab.<br />
Es gibt einige geschichtliche Darstellungen der Entwicklung des Souveränitätsbegriffes.<br />
Doch begnügen sie sich mit der Zusammenstellung<br />
der letzten abstrakten Formeln, in denen lehrbuchartig, abfragbar,<br />
die Definitionen der Souveränität enthalten sind. Keiner<br />
scheint sich die Mühe gegeben zu haben, die endlos wiederholte,<br />
völlig leere Redensart von der höchsten Macht bei den berühmten<br />
Autoren des Souveränitätsbegriffes genauer zu untersuchen. Daß<br />
dieser Begriff sich an dem kritischen, das heißt dem Ausnahmefall<br />
orientiert, tritt schon bei Bodin hervor. Mehr als mit seiner oft zitierten<br />
Definition (la souveraineté est la puissance absolute et perpétuelle<br />
d'une République) ist er mit seiner Lehre von den »Vraies remarques<br />
de souveraineté« (Cap. X des z. Buches der Republik) der Anfang<br />
der modernen Staatslehre. Er erörtert seinen Begriff an vielen praktischen<br />
Beispielen und kommt dabei immer auf die Frage zurück:<br />
Wieweit ist<br />
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der Souverän an die Gesetze gebunden und den Ständen gegenüber<br />
verpflichtet? Diese letzte besonders wichtige Frage beantwortet<br />
Bodin dahin, daß Versprechen bindend sind, weil die verpflichtende<br />
Kraft eines Versprechens auf dem Naturrecht beruht; im Notfall aber<br />
hört die Bindung nach allgemeinen natürlichen Grundsätzen auf. Allgemein<br />
sagt er, daß gegenüber den Ständen oder dem Volk der Fürst<br />
nur so lange verpflichtet ist, als die Erfüllung seines Versprechens im<br />
Interesse des Volkes liegt, daß er aber nicht gebunden ist, si la<br />
nécessité est urgente. Das sind an sich keine neuen Thesen. Das<br />
Entscheidende in den Ausführungen Bodins liegt darin, daß er die<br />
3
Erörterung der Beziehungen zwischen Fürst und Ständen auf ein<br />
einfaches Entweder-Oder bringt, und zwar dadurch, daß er auf den<br />
Notfall verweist. Das war das eigentlich Imponierende seiner Definition,<br />
die die Souveränität als unteilbare Einheit auffaßte und die Frage<br />
nach der Macht im Staat endgültig entschied. Seine wissenschaftliche<br />
Leistung und der Grund seines Erfolges liegen also darin, daß er die<br />
Dezision in den Souveränitätsbegriff hineingetragen hat. Es gibt heute<br />
kaum eine Erörterung des Souveränitätsbegriffes, in der nicht die<br />
übliche Zitierung Bodins vorkäme. Aber nirgends findet man die<br />
Kernstelle jenes Kapitels der Republik zitiert. Bodin fragt, ob die Versprechungen,<br />
die der Fürst den Ständen oder dem Volke gibt, seine<br />
Souveränität aufheben. Er antwortet mit dem Hinweis auf den Fall,<br />
daß es nötig wird, solchen Versprechungen zuwider zu handeln, die<br />
Gesetze abzuändern oder ganz aufzuheben, selon l'exigence des<br />
cas, des temps et des personnes. Wenn in einem solchen Fall der<br />
Fürst vorher einen Senat oder das Volk fragen muß, so muß er sich<br />
von seinen<br />
/15/<br />
Untertanen dispensieren lassen. Das aber erscheint Bodin als eine<br />
Absurdität; denn er meint, weil die Stände doch auch nicht die Herren<br />
über die Gesetze sind, so müßten sie wiederum ihrerseits sich von<br />
ihren Fürsten dispensieren lassen, und so wäre die Souveränität jouée<br />
à deux parties; bald das Volk und bald der Fürst wäre Herr, und<br />
das ist gegen alle Vernunft und alles Recht. Darum ist die Befugnis,<br />
das geltende Gesetz aufzuheben — sei es generell, sei es im einzelnen<br />
Fall —, so sehr das eigentliche Kennzeichen der Souveränität,<br />
daß Bodin alle anderen Merkmale (Kriegserklärung und Friedensschluß,<br />
Ernennung der Beamten, letzte Instanz, Begnadigungsrecht<br />
usw.) daraus ableiten will.<br />
In meinem Buche über die Diktatur (München und Leipzig 1921) habe<br />
ich, entgegen dem überlieferten Schema der geschichtlichen Darstellung,<br />
gezeigt, daß auch bei den Autoren des Naturrechts im i 7. Jahrhundert<br />
die Frage der Souveränität als die Frage nach der Entscheidung<br />
über den Ausnahmefall verstanden wurde. Insbesondere gilt<br />
das für Pufendorff. Alle sind darüber einig, daß, wenn innerhalb eines<br />
Staates Gegensätze auftreten, jede Partei natürlich nur das allgemeine<br />
Beste will -- darin besteht ja das bellum omnium contra omnes --,<br />
daß aber die Souveränität, und damit der Staat selbst, darin besteht,<br />
diesen Streit zu entscheiden, also definitiv zu bestimmen, was öffentliche<br />
Ordnung und Sicherheit ist, wann sie gestört wird usw. In der<br />
konkreten Wirklichkeit stellt sich die öffentliche Ordnung und Sicherheit<br />
sehr verschieden dar, je nachdem etwa eine militaristische Bureaukratie,<br />
eine von kaufmännischem Geist beherrschte Selbstverwaltung<br />
oder eine radikale Parteiorganisation darüber entscheidet,<br />
wann diese Ordnung und Sicherheit besteht<br />
/16/<br />
und wann sie gefährdet oder gestört wird. Denn jede Ordnung beruht<br />
4
auf einer Entscheidung, und auch der Begriff der Rechtsordnung, der<br />
gedankenlos als etwas Selbstverständliches angewandt wird, enthält<br />
den Gegensatz der zwei verschiedenen Elemente des Juristischen in<br />
sich. Auch die Rechtsordnung, wie jede Ordnung, beruht auf einer<br />
Entscheidung und nicht auf einer Norm.<br />
Ob nur Gott souverän ist, das heißt derjenige, der in der irdischen<br />
Wirklichkeit widerspruchslos als sein Vertreter handelt, oder der Kaiser<br />
oder der Landesherr oder das Volk, das heißt diejenigen, die sich<br />
widerspruchslos mit dem Volk identifizieren dürfen, immer ist die Frage<br />
auf das Subjekt der Souveränität gerichtet, das heißt die Anwendung<br />
des Begriffes auf einen konkreten Tatbestand. Die Juristen, die<br />
über Fragen der Souveränität diskutieren, gehen seit dem 16. Jahrhundert<br />
von einem Katalog der Souveränitätsbefugnisse aus, der<br />
eine Reihe von notwendigen Merkmalen der Souveränität zusammenstellt<br />
und im wesentlichen auf die eben zitierten Erörterungen von<br />
Bodin zurückzuführen ist. Souverän sein bedeutete, diese Befugnisse<br />
zu haben. Die staatsrechtliche Argumentation operierte in den unklaren<br />
Rechtsverhältnissen des alten Deutschen Reiches gern so, daß<br />
sie von einem der zahlreichen Merkmale, das zweifellos gegeben<br />
war, den Schluß zog, daß die andern zweifelhaften Merkmale ebenfalls<br />
gegeben sein müßten. Die Kontroverse bewegte sich immer darum,<br />
wem diejenigen Befugnisse zukamen, über die nicht bereits<br />
durch eine positive Bestimmung, etwa eine Kapitulation, verfügt war,<br />
mit andern Worten, wer für den Fall zuständig sein sollte, für den keine<br />
Zuständigkeit vorgesehen war. In einer ge<br />
/17/<br />
läufigeren Wendung fragte man, wer die Vermutung der nicht begrenzten<br />
Macht für sich habe. Daher die Diskussion über den Ausnahmefall,<br />
den extremus necessitatis casus. In den Erörterungen<br />
über das sogenannte monarchische Prinzip wiederholt sich das mit<br />
derselben rechtslogischen Struktur. Auch hier wird infolgedessen<br />
immer danach gefragt, wer über die verfassungsmäßig nicht geregelten<br />
Befugnisse entscheidet, das heißt wer zu-ständig ist, wenn die<br />
Rechtsordnung auf die Frage nach der Zuständigkeit keine Antwort<br />
gibt. Bei der Kontroverse, ob die deutschen Einzelstaaten nach der<br />
Verfassung von 1871 souverän waren, handelte es sich um eine Angelegenheit<br />
von weit geringerer politischer Bedeutung. Immerhin läßt<br />
sich dasselbe Schema der Argumentation auch hier wieder erkennen.<br />
Der Nachweis, daß die Einzelstaaten souverän seien, den Seydel<br />
versuchte, hatte zum Angelpunkt weniger den Begriff der Ableitbarkeit<br />
oder Nicht-Ableitbarkeit der den Einzelstaaten verbliebenen<br />
Rechte, als die Behauptung, daß die Zuständigkeit des Reichs durch<br />
die Verfassung umschrieben, das heißt prinzipiell begrenzt sei, während<br />
die der Einzelstaaten prinzipiell unbegrenzt sei. In der geltenden<br />
deutschen Verfassung von 1919 wird nach Artikel 48 der Ausnahmezustand<br />
vom Reichspräsidenten erklärt, aber unter der Kontrolle des<br />
Reichstags, der jederzeit die Aufhebung verlangen kann. Diese Regelung<br />
entspricht der rechtsstaatlichen Entwicklung und Praxis, welche<br />
durch eine Teilung der Zuständigkeiten und gegenseitige Kontrolle<br />
die Frage nach der Souveränität möglichst weit hinauszuschieben<br />
5
sucht. Der rechtsstaatlichen Tendenz entspricht aber nur die Regelung<br />
der Voraussetzung der Ausnahmebefugnisse, nicht die inhaltliche<br />
Regelung des<br />
/18/<br />
Artikels 48, der vielmehr eine grenzenlose Machtvollkommenheit verleiht<br />
und daher, wenn ohne Kontrolle darüber entschieden würde, in<br />
derselben Weise eine Souveränität verleihen würde, wie die Ausnahmebefugnisse<br />
des Artikels i 4 der Charte von 1815 den Monarchen<br />
zum Souverän machte. Wenn die Einzelstaaten nach der herrschenden<br />
Auslegung des Artikels 48 keine selbständige Befugnis<br />
mehr haben, den Ausnahmezustand zu erklären, sind sie keine Staaten.<br />
In Artikel 48 liegt der eigentliche Schwerpunkt der Frage, ob die<br />
deutschen Länder Staaten sind oder nicht.<br />
Gelingt es, die Befugnisse, die für den Ausnahmefall verliehen werden,<br />
zu umschreiben --- sei es durch eine gegenseitige Kontrolle, sei<br />
es durch zeitliche Beschränkung, sei es endlich, wie in der rechtsstaatlichen<br />
Regelung des Belagerungszustandes, durch Aufzählung<br />
der außerordentlichen Befugnisse —, so ist die Frage nach der Souveränität<br />
um einen wichtigen Schritt zurückgedrängt, aber natürlich<br />
nicht beseitigt. Praktisch hat eine Jurisprudenz, die sich an den Fragen<br />
des täglichen Lebens und der laufenden Geschäfte orientiert,<br />
kein Interesse an dem Begriff der Souveränität. Auch für sie ist nur<br />
das Normale das Erkennbare und alles andere eine „Störung”. Dem<br />
extremen Fall steht sie fassungslos gegenüber. Denn nicht jede außergewöhnliche<br />
Befugnis, nicht jede polizeiliche Notstandsmaßnahme<br />
oder Notverordnung ist bereits Ausnahmezustand. Dazu gehört<br />
vielmehr eine prinzipiell unbegrenzte Befugnis, das heißt die Suspendierung<br />
der gesamten bestehenden Ordnung. Ist dieser Zustand eingetreten,<br />
so ist klar, daß der Staat bestehen bleibt, während das<br />
Recht zurücktritt. Weil der Ausnahmezustand immer noch etwas anderes<br />
ist als eine<br />
/19/<br />
Anarchie und ein Chaos, besteht im juristischen Sinne immer noch<br />
eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung. Die Existenz des<br />
Staates bewährt hier eine zweifellose Überlegenheit über die Geltung<br />
der Rechtsnorm. Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen<br />
Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut. Im Ausnahmefall<br />
suspendiert der Staat das Recht, kraft eines Selbsterhaltungsrechtes,<br />
wie man sagt. Die zwei Elemente des Begriffes<br />
„Rechts-Ordnung” treten hier einander gegenüber und beweisen ihre<br />
begriffliche Selbständigkeit. So wie im Normalfall das selbständige<br />
Moment der Entscheidung auf ein Minimum zurückgedrängt werden<br />
kann, wird im Ausnahmefall die Norm vernichtet. Trotzdem bleibt<br />
auch der Ausnahmefall der juristischen Erkenntnis zugänglich, weil<br />
beide Elemente, die Norm wie die Entscheidung, im Rahmen des<br />
Juristischen verbleiben.<br />
Es wäre eine rohe Übertragung der schematischen Disjunktion von<br />
6
Soziologie und Rechtslehre, wenn man sagen wollte, die Ausnahme<br />
habe keine juristische Bedeutung und sei infolgedessen „Soziologie”.<br />
Die Ausnahme ist das nicht Subsumierbare; sie entzieht sich der generellen<br />
Fassung, aber gleichzeitig offenbart sie ein spezifischjuristisches<br />
Formelement, die Dezision, in absoluter Reinheit. In seiner<br />
absoluten Gestalt ist der Ausnahmefall dann eingetreten, wenn<br />
erst die Situation geschaffen werden muß, in der Rechtssätze gelten<br />
können. Jede generelle Norm verlangt eine normale Gestaltung der<br />
Lebensverhältnisse, auf welche sie tatbestandsmäßig Anwendung<br />
finden soll und die sie ihrer normativen Regelung unterwirft. Die Norm<br />
braucht ein homogenes Medium. Diese faktische Normalität ist nicht<br />
bloß eine<br />
/20/<br />
„äußere Voraussetzung ” , die der Jurist ignorieren kann; sie gehört<br />
vielmehr zu ihrer immanenten Geltung. Es gibt keine Norm, die auf<br />
ein Chaos anwendbar wäre. Die Ordnung muß hergestellt sein, damit<br />
die Rechtsordnung einen Sinn hat. Es muß eine normale Situation<br />
geschaffen werden, und souverän ist derjenige, der definitiv darüber<br />
entscheidet, ob dieser normale Zustand wirklich herrscht. Alles Recht<br />
ist „Situationsrecht”. Der Souverän schafft und garantiert die Situation<br />
als Ganzes in ihrer Totalität. Er hat das Monopol dieser letzten Entscheidung.<br />
Darin liegt das Wesen der staatlichen Souveränität, die<br />
also richtigerweise nicht als Zwangs- oder Herrschaftsmonopol, sondern<br />
als Entscheidungsmonopol juristisch zu definieren ist, wobei das<br />
Wort Entscheidung in dem noch weiter zu entwickelnden allgemeinen<br />
Sinne gebraucht wird. Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der<br />
staatlichen Autorität am klarsten. Hier sondert sich die Entscheidung<br />
von der Rechtsnorm, und (um es paradox zu formulieren) die Autorität<br />
beweist, daß sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben<br />
braucht.<br />
Der rechtsstaatlichen Doktrin Lackes und dem rationalistischen 18.<br />
Jahrhundert war der Ausnahmezustand etwas Inkommensurables.<br />
Das lebhafte Bewußtsein von der Bedeutung des Ausnahmefalles,<br />
das im Naturrecht des 17. Jahrhunderts herrscht, geht im 18. Jahrhundert,<br />
als eine relativ dauernde Ordnung hergestellt war, bald wieder<br />
verloren. Für Kant ist das Notrecht überhaupt kein Recht mehr.<br />
Die heutige Staatslehre zeigt das interessante Schauspiel, daß beide<br />
Tendenzen, die rationalistische Ignorierung und das von wesentlich<br />
entgegengesetzten Ideen ausgehende Interesse für den Notfall, einander<br />
gleichzeitig gegen-<br />
/21/<br />
überstehen. Daß ein Neukantianer wie Kelsen mit dem Ausnahmezustand<br />
systematisch nichts anzufangen weiß, versteht sich<br />
von selbst. Aber auch den Rationalisten müßte es doch interessieren,<br />
daß die Rechtsordnung selbst den Ausnahmefall vorsehen und „sich<br />
selber suspendieren” kann. Daß eine Norm oder eine Ordnung oder<br />
ein Zurechnungspunkt „sich selber setzt”, scheint dieser Art juristi-<br />
7
schen Rationalismus eine besonders leicht vollziehbare Vorstellung<br />
zu sein. Wie aber die systematische Einheit und Ordnung in einem<br />
ganz konkreten Fall sich selber suspendieren kann, ist schwierig zu<br />
konstruieren und doch ein juristisches Problem, solange der Ausnahmezustand<br />
sich vom juristischen Chaos, von irgendeiner beliebigen<br />
Anarchie, unterscheidet. Die rechtsstaatliche Tendenz, den Ausnahmezustand<br />
möglichst eingehend zu regeln, bedeutet ja nur den<br />
Versuch, den Fall genau zu umschreiben, in welchem das Recht sich<br />
selber suspendiert. Woher schöpft das Recht diese Kraft, und wie ist<br />
es logisch möglich, daß eine Norm gilt mit Ausnahme eines konkreten<br />
Falles, den sie nicht restlos tatbestandsmäßig erfassen kann?<br />
Es wäre konsequenter Rationalismus, zu sagen, daß die Ausnahme<br />
nichts beweist und nur das Normale Gegenstand wissenschaftlichen<br />
Interesses sein kann. Die Ausnahme verwirrt die Einheit und Ordnung<br />
des rationalistischen Schemas. In der positiven Staatslehre begegnet<br />
man öfters einem ähnlichen Argument. So antwortet Anschütz auf die<br />
Frage, wie bei nicht vorhandenen Etatsgesetz zu verfahren ist, das<br />
sei überhaupt keine Rechts-frage. „Es liegt hier nicht sowohl eine<br />
Lücke im Gesetz, das heißt im Verfassungstext als vielmehr eine Lücke<br />
im Recht<br />
/22/<br />
vor, welche durch keinerlei rechtswissenschaftliche Begriffsoperationen<br />
ausgefüllt werden kann. Das Staatsrecht hört hier auf"<br />
(Staatsrecht, S. 906). Gerade eine Philosophie des konkreten Lebens<br />
darf sich vor der Ausnahme und vor dem extremen Falle nicht zurückziehen,<br />
sondern muß sich im höchsten Maße für ihn interessieren.<br />
Ihr kann die Ausnahme wichtiger sein als die Regel, nicht aus<br />
einer romantischen Ironie für das Paradoxe, sondern mit dem ganzen<br />
Ernst einer Einsicht, die tiefer geht als die klaren Generalisationen<br />
des durchschnittlich sich Wiederholenden. Die Ausnahme ist interessanter<br />
als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme<br />
beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt<br />
nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft<br />
des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten<br />
Mechanik. Ein protestantischer Theologe, der bewiesen hat, welcher<br />
vitalen Intensität die theologische Reflexion auch im 19. Jahrhundert<br />
fähig sein kann, hat es gesagt: „Die Ausnahme erklärt das Allgemeine<br />
und sich selbst. Und wenn man das Allgemeine richtig studieren will,<br />
braucht man sich nur nach einer wirklichen Ausnahme umzusehen.<br />
Sie legt alles viel deutlicher an den Tag als das Allgemeine selbst.<br />
Auf die Länge wird man des ewigen Geredes vom All-gemeinen ü-<br />
berdrüssig; es gibt Ausnahmen. Kann man sie nicht erklären, so kann<br />
man auch das Allgemeine nicht erklären. Gewöhnlich merkt man die<br />
Schwierigkeit nicht, weil man das All-gemeine nicht einmal mit Leidenschaft,<br />
sondern mit einer bequemen Oberflächlichkeit denkt. Die<br />
Ausnahme dagegen denkt das Allgemeine mit energischer Leidenschaft.”<br />
8
<strong>Carl</strong> <strong>Schmitt</strong>: Die Diktatur.<br />
Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis<br />
zum proletarischen Klassenkampf (Aus der Vorbemerkung 1921)<br />
Duncker & Humblot: Berlin 1978, S.XII-XVIII<br />
/XII/<br />
In der bürgerlichen politischen Literatur, die den Begriff einer Diktatur<br />
des Proletariats bis zum Jahre 1917 zu ignorieren scheint, dürfte der<br />
politische Sinn des Wortes am besten dadurch gekennzeichnet werden,<br />
daß es zunächst die persönliche Herrschaft eines Einzelnen<br />
bedeutet, aber notwendig verbunden mit zwei andern Vorstellungen,<br />
einmal, daß diese Herrschaft auf einer, gleichgültig wie, herbeigeführten<br />
oder unterstellten Zustimmung des Volkes, also auf demokratischer<br />
Grundlage beruht, und zweitens der Diktator sich eines stark<br />
zentralisierten Regierungsapparates bedient, der zur Beherrschung<br />
und Verwaltung eines modernen Staates gehört. Napoleon I. ist für<br />
diese Auffassung der Prototyp des modernen Diktators. Um aus der<br />
unübersehbaren Menge politischer Schriften nicht eine beliebige Gelegenheitsäußerung<br />
herauszugreifen, sei die Ausdrucksweise von<br />
Bodleys Werk über Frankreich (London 1898) als Beispiel benutzt.<br />
Hier kommt das Wort (dictatorship) häufig vor, e s hat sogar einen<br />
eigenen Platz im Sachregister, aber schon die Verweisungen des<br />
Registers sind merkwürdig: Diktatur = autoritatives Regiment = Caesarismus<br />
Bonapartismus und sogar = Boulangismus. Gambetta strebte nach<br />
der »Diktatur«, seine politische Tätigkeit war »potentieller Caesarismus«<br />
(1I 409); Napoleon I. war militärischer Diktator (1 259). Aber<br />
auch jede starke Exekutive mit einem zentralisierten Regierungssystem<br />
und autokratischer Spitze heißt Diktatur (I 80), und schließlich<br />
genügt jedes persönliche Hervortreten eines Präsidenten, »persönliche<br />
Regierung« (personal rule) im allerweitesten Sinne, um als Diktatur<br />
zu gelten (I 297 f.). Es wäre dümmste Pedanterie, ein politisches<br />
Werk, das überdies reich an verständigen und treffenden Beobachtungen<br />
ist, auf eine Wendung festzulegen und noch gar mit einem<br />
Wort wie Diktatur, dem die allgemeine Etymologie, «laß jeder, der<br />
irgendwie »diktiert«, Diktator heißen kann, eine grenzenlose Ausdehnung<br />
gibt. In der Sache aber dringt die Verbindung vom persönlicher<br />
Herrschaft, Demokratie und Zentralismus trotz der opportunistischen<br />
Terminologie überall durch , nur daß wegen der Betonung des zentralistischen<br />
Regierungsapparates das Moment persönlicher Herrschaft<br />
oft zurücktritt, weil es nur die aus technischen Gründen notwendig<br />
von selbst sich ergebende autokratische Spitze des zentralisierten<br />
Systems bedeutet. So erklärt sich die seltsame Reihe der »Diktatoren«<br />
des 19. Jahrhunderts: der erste und der dritte Napoleon, Bismarck,<br />
Thiers, Gam-<br />
9
XIII/<br />
betta, Disraeli, sogar Pius IX. Für die deutsche politische Literatur ist<br />
die Schrift von Bruno Bauer, Disraelis romantischer und Bismarcks<br />
sozialistischer Imperialismus (1882) ein lehrreiches Dokument dieser<br />
politischen Vorstellung. Ihr entspricht es auch, wenn zum Beispiel bei<br />
Ostrogorski der Parteiführer in einer modernen Demokratie, der den<br />
Caucus, die zentralisierte Parteimaschine, in der Hand hat, mit einer<br />
gewissen Prägnanz Diktator heißt oder in der politischen Literatur der<br />
Vereinigten Staaten von Nordamerika jede die Selbstständigkeit der<br />
Einzelstaaten beeinträchtigende Maßnahme der Bundesregierung<br />
von den Gegnern der Zentralisierung »diktatorisch« genannt wird.<br />
Stets aber ist nach dem neueren Sprachgebrauch eine Aufhebung<br />
der Demokratie auf demokratischer Grundlage für die Diktatur charakteristisch,<br />
so daß zwischen Diktatur und Caesarismus meistens<br />
kein Unterschied mehr besteht und eine wesentliche Bestimmung,<br />
nämlich das, was im Folgenden als der kommissarische Charakter<br />
der Diktatur entwickelt ist, entfällt.<br />
In der sozialistischen Literatur der »Diktatur des Proletariats« wird es<br />
dafür um so deutlicher, wenn auch nur in den weiten Dimensionen<br />
einer mit ganzen Staaten und Klassen operierenden Geschichtsphilosophie.<br />
Nach der Diskussion, die zurzeit — im Sommer 1920 —<br />
unter Marxisten geführt wird, könnte es den Anschein haben, als wäre<br />
für sie Diktatur wesentlich Verneinung der parlamentarischen Demokratie,<br />
unter Verzicht auf die formale demokratische Grundlage.<br />
Wenn Kautsky, dessen Schrift Terrorismus und Kommunismus<br />
(1919) der Anknüpfungspunkt dieser Diskussion ist, eine Diktatur des<br />
Proletariats dadurch widerlegen will, daß er Diktatur als die notwendig<br />
persönliche Herrschaft eines Einzelnen definiert und eine Kollektivdiktatur<br />
als Selbstwiderspruch ansieht, so ist das nur ein terminologisches<br />
Argument. Gerade für den Marxismus, für den kein Einzelner,<br />
sondern eine Klasse der Träger alles wirklichen politischen Geschehens<br />
ist, war es nicht schwierig, das Proletariat als kollektive Gesamtheit<br />
zum eigentlich Handelnden zu machen und daher auch als<br />
Subjekt einer Diktatur zu betrachten. Der Inhalt seines diktatorischen<br />
Handelns kann freilich verschiedenartig aufgefaßt werden. Nach den<br />
Erörterungen über die Schrift Kautskys hat es den Anschein, als käme<br />
es auf die Beseitigung der Demokratie an, wie sie sich am stärksten<br />
in der Ablehnung oder Auflösung einer nach demokratischen<br />
/XIV/<br />
Grundsätzen gewählten konstituierenden Nationalversammlung äußert.<br />
Aber daraus braucht noch nicht zu folgen, daß für marxistische<br />
Anhänger der Diktatur des Proletariats notwendig die Herrschaft einer<br />
Minderheit über die Mehrheit gemeint ist. In den Antworten, die Lenin,.<br />
Trotzki und Radek bisher auf die Schrift von Kautsky gegeben<br />
haben, wird vielmehr kein Zweifel darüber gelassen, daß nicht etwa<br />
prinzipielle Gründe gegen die Benutzung demokratischer Formen<br />
bestehen, sondern daß diese Frage, wie jede andere, namentlich<br />
auch die von Legalität und Illegalität, nach den Verhältnissen des<br />
einzelnen Landes verschieden beantwortet werden muß und nur ein<br />
10
Moment in den strategischen und taktischen Maßnahmen des kommunistischen<br />
Planes ist. Je nach Lage der Sache kann es zweckmäßig<br />
sein, mit der einen oder andern Methode zu arbeiten, auf jeden<br />
Fall ist das Wesentliche der Übergang zu dem kommunistischen<br />
Endziel, für dessen Herbeiführung die Diktatur des Proletariats ein<br />
technisches Mittel ist. Auch der Staat, in dem das Proletariat, sei es<br />
als Mehrheit oder als Minderheit, die herrschende Klasse ist, heißt als<br />
Ganzes, als »zentralisierte Maschine«, als »Herrschaftsapparat«,<br />
Diktatur. Nun will dieser proletarische Staat nichts Definitives, sondern<br />
ein Übergang sein. Dadurch erhält der wesentliche Umstand,<br />
der in der bürgerlichen Literatur zurückgetreten war, wiederum seine<br />
Bedeutung. Die Diktatur ist ein Mittel, um einen bestimmten Zweck zu<br />
erreichen; weil ihr Inhalt nur von dem Interesse an dem zu bewirkenden<br />
Erfolg, also immer nur nach Lage der Sache bestimmt ist, kann<br />
man sie nicht allgemein als die Aufhebung der Demokratie definieren.<br />
Andererseits läßt auch die kommunistische Argumentation erkennen,<br />
daß sie, weil sie der Idee nach ein Übergang ist, nur ausnahmsweise<br />
und unter dem Zwang der Verhältnisse eintreten soll. Auch das gehört<br />
zu ihrem Begriff, und es kommt darauf an, wovon eine Ausnahme<br />
gemacht wird.<br />
Wenn die Diktatur notwendig »Ausnahmezustand« ist, kann man<br />
durch eine Aufzählung dessen, was als das Normale vorgestellt wird,<br />
die verschiedenen Möglichkeiten ihres Begriffes aufzeigen : staatsrechtlich<br />
kann sie die Aufhebung des Rechtsstaates bedeuten, wobei<br />
Rechtsstaat wiederum Verschiedenes bezeichnen kann : eine Art der<br />
Ausübung staatlicher Macht, die Eingriffe in die Rechtssphäre der<br />
Bürger, persönliche Freiheit und Eigentum, nur auf Grund eines Ge-<br />
/XV/<br />
setzes zuläßt; oder eine verfassungsmäßige, auch über gesetzliche<br />
Eingriffe erhabene Garantie gewisser Freiheitsrechte, die durch die<br />
Diktatur verneint werden. Ist die Verfassung eines Staates demokratisch,<br />
so kann jede ausnahmsweise eintretende Aufhebung demokratischer<br />
Prinzipien, jede von der Zustimmung der Mehrheit der Regierten<br />
unabhängige Ausübung staatlicher Herrschaft Diktatur heißen.<br />
Wird eine solche demokratische Herrschaftsausübung als allgemein<br />
gültiges politisches Ideal aufgestellt, so ist jeder Staat Diktatur, der<br />
diese demokratischen Grundsätze nicht beachtet. Wird das liberale<br />
Prinzip unveräußerlicher Menschen- und Freiheitsrechte als Norm<br />
genommen, so muß eine Verletzung dieser Rechte auch dann als<br />
Diktatur erscheinen, wenn sie auf dem Willen der Mehrheit beruht. So<br />
kann Diktatur eine Ausnahme von demokratischen wie liberalen Prinzipien<br />
bedeuten, ohne daß beides zusammentreffen müßte. Was als<br />
Norm zu gelten hat, kann positiv durch eine bestehende Verfassung<br />
oder aber durch ein politisches Ideal bestimmt sein. Daher heißt der<br />
Belagerungszustand Diktatur wegen der Aufhebung positiver Verfassungsbestimmungen,<br />
während von einem revolutionären Standpunkt<br />
aus die gesamte bestehende Ordnung als Diktatur bezeichnet und<br />
dadurch der Begriff aus dem Staatsrechtlichen ins Politische überführt<br />
werden kann. Wo nun, wie in der kommunistischen Literatur,<br />
nicht nur die bekämpfte politische Ordnung, sondern auch die er-<br />
11
strebte eigene politische Herrschaft Diktatur heißt, tritt eine weitere<br />
Veränderung im Wesen des Begriffes ein. Der eigene Staat heißt in<br />
seiner Gesamtheit Diktatur, weil er das Werkzeug eines durch ihn zu<br />
bewirkenden Überganges zu einem richtigen Zustand bedeutet, seine<br />
Rechtfertigung aber in einer Norm liegt, die nicht mehr bloß politisch<br />
oder gar positiv-verfassungsrechtlich ist, sondern geschichtsphilosophisch.<br />
Dadurch ist die Diktatur – weil sie als Ausnahme in funktioneller<br />
Abhängigkeit von dem bleibt, was sie negiert – ebenfalls eine geschichtsphilosophische<br />
Kategorie geworden. Die Entwicklung zum<br />
kommunistischen Endzustand muß nach der ökonomischen Geschichtsauffassung<br />
des Marxismus »organisch« (im Hegelschen Sinne)<br />
vor sich gehen, die wirtschaftlichen Verhältnisse müssen reif sein<br />
für die Umwälzung, die Entwicklung ist (ebenfalls im Hegelschen Sinne)<br />
„immanent“, die Zustände können nicht gewaltsam „reif“ gemacht<br />
werden, ein künstliches, mechanisches Eingreifen in diese organische<br />
Entwicklung wäre für<br />
/XVI/<br />
jeden Marxisten sinnlos. Aber die bolschewistische Argumentation<br />
sieht in der Tätigkeit der Bourgeoisie, die sich mit allen Mitteln dagegen<br />
wehrt, ihren entwicklungsgeschichtlich längst erledigten Platz zu<br />
räumen, ein äußerliches Eingreifen in die immanente Entwicklung, ein<br />
mechanisches Hindernis, durch das der organischen Entwicklung der<br />
Weg verbaut wird und das mit ebenso mechanischen und äußerlichen<br />
Mitteln beseitigt werden muß. Das ist der Sinn der Diktatur des<br />
Proletariats, die eine Ausnahme von den Normen der organischen<br />
Entwicklung und deren Kernfrage ebenso rein geschichtsphilosophisch<br />
ist wie die Argumentation, mit der sie sich rechtfertigt. In den<br />
letzten Schriften, Lenins über den Radikalismus (1920) und Trotzkis<br />
Anti-Kautsky (1920), wird das noch deutlicher als sonst : die Bourgeoisie<br />
ist eine »durch die Geschichte dem Untergang geweihte<br />
Klasse«, das Proletariat hat, weil es die »historisch aufsteigende<br />
Klasse« ist, ein Recht zu jeder Gewaltanwendung, die ihm gegenüber<br />
der historisch absteigenden Klasse im Interesse der geschichtlichen<br />
Entwicklung zweckmäßig erscheint. Wer auf der Seite der kommenden<br />
Dinge steht, darf das, was fällt, auch noch stoßen.<br />
Daß jede Diktatur die Ausnahme von einer Norm enthält, besagt nicht<br />
zufällige Negation einer beliebigen Norm. Die innere Dialektik des<br />
Begriffes liegt darin, daß gerade die Norm negiert wird, deren Herrschaft<br />
durch die Diktatur in der geschichtlich-politischen Wirklichkeit<br />
gesichert werden soll. Zwischen der Herrschaft der zu verwirklichenden<br />
Norm und der Methode ihrer Verwirklichung kann also ein Gegensatz<br />
bestehen. Rechtsphilosophisch liegt hier das Wesen der Diktatur,<br />
nämlich in der allgemeinen Möglichkeit einer Trennung von<br />
Normen des Rechts und Normen der Rechtsverwirklichung. Eine Diktatur,.<br />
die sich nicht abhängig macht von dem einer normativen Vorstellung<br />
entsprechenden, aber konkret herbeizuführenden Erfolg, die<br />
demnach nicht den Zweck hat, sich selbst überflüssig zu machen, ist<br />
ein beliebiger Despotismus. Einen konkreten Erfolg bewirken, bedeu-<br />
12
tet aber, in den kausalen Ablauf des Geschehens eingreifen mit Mitteln,<br />
deren Richtigkeit in ihrer Zweckmäßigkeit liegt und ausschließlich<br />
von den tatsächlichen Zusammenhängen dieses Kausalverlaufs<br />
abhängig ist. Gerade aus dein, was sie rechtfertigen soll,<br />
wird die Diktatur zu einer Aufhebung des Rechtszustandes überhaupt,<br />
denn sie bedeutet die Herrschaft eines ausschließlich an der<br />
Bewirkung<br />
/XVII/<br />
eines konkreten Erfolges interessierten Verfahrens, die Beseitigung<br />
der dem Recht wesentlichen Rücksicht auf den entgegenstehenden<br />
Willen eines Rechtssubjekts, wenn dieser Wille dem Erfolg hinderlich<br />
im Wege steht; demnach die Entfesselung des Zweckes vom Recht.<br />
Allerdings, wer im Kern alles Rechts selbst wieder nur einen solchen<br />
Zweck sieht, ist gar nicht imstande, einen Begriff der Diktatur zu finden,<br />
weil für ihn jede Rechtsordnung nur latente oder intermittierende<br />
Diktatur ist. Jhering äußert sich folgendermaßen (Zweck im Recht 11 8<br />
251) : das Recht ist Mittel zum Zweck , zum Bestehen der Gesellschaft;<br />
zeigt sich das Recht nicht imstande, die Gesellschaft zu retten,<br />
so greift die Gewalt ein und tut, was geboten ist, das ist dann die<br />
»rettende Tat der Staatsgewalt: und der Punkt, wo das Recht in die<br />
Politik und die Geschichte mündet. Genauer gesprochen wäre es<br />
aber der Punkt, an dem das Recht seine wahre Natur offenbart und<br />
die vielleicht selbst wieder aus Zweckmäßigkeitsgründen gebilligten<br />
Abschwächungen seines reinen Zweckcharakters aufhören. Krieg<br />
gegen den äußern Feind und Unterdrückung eines Aufruhrs im Innern<br />
wären nicht Ausnahmezustände, sondern der ideale Normal-fall, in<br />
dem Recht und Staat ihre innere Zweckhaftigkeit mit unmittelbarer<br />
Kraft entfalten.<br />
Die Rechtfertigung der Diktatur, die darin liegt, daß sie das Recht<br />
zwar ignoriert, aber nur, um es zu verwirklichen, hat also wohl inhaltliche<br />
Bedeutung, ist aber noch keine formale Ableitung und daher<br />
keine Rechtfertigung im Rechtssinne, denn der noch so gute wirkliche<br />
oder vorgebliche Zweck kann keinen Rechtsbruch begründen, und<br />
die Herbeiführung eines den Prinzipien normativer Richtigkeit entsprechenden<br />
Zustandes verleiht noch keine rechtliche Autorität. Das<br />
formale Merkmal liegt in der Ermächtigung einer höchsten Autorität,<br />
die rechtlich imstande ist, das Recht aufzuheben und eine Diktatur zu<br />
autorisieren, d. h. eine konkrete Ausnahme zu gestatten, deren Inhalt<br />
im Vergleich zu dem andern Fall einer konkreten Ausnahme, der Begnadigung,<br />
ungeheuerlich ist. Abstrakt gesprochen, wäre das Problem<br />
der Diktatur das in der allgemeinen Rechtslehre bisher noch wenig<br />
systematisch behandelte Problem der konkreten Ausnahme. Darauf<br />
ist in dieser Arbeit nicht eingegangen, aber für die Erkenntnis der<br />
Diktatur war es notwendig, zu untersuchen, von welcher höchsten<br />
Autorität, die allein solche Ausnahmen gewähren kann, die bisherigen<br />
/XVIII/<br />
Konstruktionen der Diktatur ausgehen. Denn eine weitere Eigenart<br />
13
der Diktatur liegt in Folgendem : weil alles berechtigt wird, was, unter<br />
dem Gesichtspunkt des konkret zu erreichenden Erfolges betrachtet,<br />
erforderlich ist, bestimmt sich bei der Diktatur der Inhalt der Ermächtigung<br />
unbedingt und ausschließlich nach Lage der Sache; daraus<br />
entsteht eine absolute Gleichheit von Aufgabe und Befugnis, Ermessen<br />
und Ermächtigung, Kommission und Autorität. Bei einer solchen<br />
Identität ist jeder Diktator notwendig in einem besondern Sinne<br />
Kommissar. Der Geschichte dieses wichtigen Begriffes nachzugehen,<br />
ließ sich bei einer nähern Untersuchung nicht vermeiden.<br />
Daraus einstand die Gliederung der vorliegenden Arbeit, bei der jedesmal<br />
der theoretischen, der allgemeinen Staats- und Verfassungslehre<br />
angehörenden Erörterung eine geschichtliche Betrachtung der<br />
unmittelbaren, kommissarischen Ausübung staatlicher Autorität folgt.<br />
Im Mittelpunkt steht dann die (im IV. Kapitel begründete) wesentliche<br />
Unterscheidung, die das Ergebnis der Arbeit enthält, indem sie eine<br />
erste Schwierigkeit zu lösen und den Begriff der Diktatur einer rechtswissenschaftlichen<br />
Erörterung überhaupt erst zugänglich zu machen<br />
sucht: die Unterscheidung von kommissarischer und souveräner Diktatur.<br />
Sie konstruiert den übergang von der früheren ' Reformations-«<br />
zur Revolutions-Diktatur theoretisch auf der Grundlage des pouvoir<br />
constituant des Volkes. Im 18. Jahrhundert erscheint zum ersten Male<br />
in der Geschichte des christlichen Abendlandes ein Begriff der Diktatur,<br />
nach welchem der Diktator zwar Kommissar bleibt, aber infolge<br />
der Eigenart der nicht konstituierten, aber konstituierenden Gewalt<br />
des Volkes ein unmittelbarer Volkskommissar, ein Diktator, der auch<br />
seinem Auftraggeber diktiert, ohne aufzuhören, sich an ihm zu legitimieren.<br />
14
<strong>Carl</strong> <strong>Schmitt</strong>: Der Leviathan<br />
Köln-Lövenich: Hohenheim Verlag 1982, S.79-97<br />
5 .<br />
Weder Textbefund und Wortgeschichte, noch begrifflichsystematische<br />
Richtigkeit, noch die in der Luftlinie verlaufende ideengeschichtliche<br />
Logik haben las letzte Wort, wo das politische Schicksal<br />
eines mythischen Bildes in Frage steht. Der Name des Leviathan<br />
gehört nun einmal zu den mythischen Namen, die sich nicht ungestraft<br />
zitieren lassen, und sein Bild ist so stark, daß es, auch nur an<br />
die Wand gemalt, seinen eigenen Wirkungslauf nimmt. Es kann sich<br />
in unerwarteten geschichtlichen Situationen nach andern Richtungen<br />
entfalten, als sein Beschwörer vermuten konnte. So hat der Leviathan<br />
während des 18. Jahrhunderts im Staat des absoluten Fürsten zwar<br />
seine äußerlich höchste Verwirklichung gefunden, zugleich aber hat<br />
sich sein Schicksal in diesem Zeitabschnitt dadurch vollendet, daß<br />
sich die Unterscheidung von Außen und Innen durchsetzte. Hier wurde<br />
ihm die Frage des Glaubens und des Wunders zum Verhängnis.<br />
Der aus Gott und Mensch, Tier und Maschine zusammengesetzte<br />
Leviathan des Hobbes ist der sterbliche Gott, der den Menschen<br />
Frieden und Sicherheit bringt<br />
/80/<br />
und aus diesem Grunde — nicht kraft eines „göttlichen Rechtes der<br />
Könige ” — unbedingten Gehorsam fordert. Gegen ihn gibt es kein<br />
Widerstandsrecht, weder unter Berufung auf ein höheres o-der anderes<br />
Recht, noch aus Gründen und Argumenten der Religion. Er allein<br />
straft und belohnt. Er allein bestimmt kraft seiner souveränen Gewalt<br />
durch Gesetz, was in Fragen der Gerechtigkeit Recht und Eigentum,<br />
und was in Dingen des religiösen Glaubens Wahrheit und Bekenntnis<br />
ist. Mensura Boni et Mali in omni Civitate est Lex (Lev. Kap. 46). Aber<br />
noch weit mehr: die souveräne staatliche Macht allein bestimmt kraft<br />
ihrer Souveränität auch darüber, woran die Staatsunterworfenen als<br />
an ein Wunder, an ein Mirakel zu glauben haben.<br />
Das Problem des Wunderglaubens hat den Staatsphilosophen Hobbes<br />
an verschiedenen Stellen des Leviathan (Kap. 26 gegen Ende,<br />
Kap. 37 und 42) aufs stärkste ergriffen. Es ist für ihn keineswegs nur<br />
eine grundsätzliche, theoretische oder wissenskritische Frage allgemeiner<br />
Natur. Man darf bei der Beurteilung der Wundertheorie des<br />
Hobbes nicht vergessen, daß die Frage damals eine konkrete, unmittelbar<br />
politische Bedeutung hatte. Wunderbare Krankenheilungen<br />
durch Handauflegung gehörten zum Amt des Königs. Sie waren eine<br />
Ausstrahlung und ein Zeichen des sakralen Charakters seiner Per-<br />
15
son, die, wie auch Hobbes sagt, „mehr ist als ein bloßer Laie ” . Im<br />
Kampf gegen den<br />
/81/<br />
römischen Papst mußte dieser institutionelle Bestandteil des Königtums<br />
verteidigt werden. Für das englische Volk sind Wunderheilungen<br />
noch lange eine für die Monarchie wesentliche Einrichtung<br />
geblieben. Sie wurden nach einem amtlichen Ritus vollzogen, der in<br />
das Common Prayer Book aufgenommen war. Besonders die Stuarts<br />
und vor allem wieder Karl II., der englische König, dem Hobbes persönlich<br />
verbunden gewesen war, übten die Praxis der königlichen<br />
Wunderheilungen in größtem Umfang. Karl II. hat im Exil wie in der<br />
Restaurationszeit viele solcher Heilungen vollzogen und so allein von<br />
Mai 166o bis September 1664 etwa 23 000 Personen mit seiner königlichen<br />
Hand berührt 1 ).<br />
In dieser, derartig heiklen Frage des Wunderglaubens ist die Haltung<br />
von Hobbes ganz agnostizistisch. Er geht davon aus, daß niemand<br />
mit Sicherheit wissen kann, ob ein Vorgang ein Wunder ist oder nicht.<br />
Mit dieser<br />
/82/<br />
Grundhaltung wird er zu einem der ersten und kühnsten Kritiker jedes<br />
Wunderglaubens, mag das nun biblisch-christlicher oder sonstiger<br />
Wunderglaube sein. Seine Kritik wirkt schon durchaus aufklärerisch.<br />
Hier tritt er als der eigentliche Inaugurator des 18. Jahrhunderts auf.<br />
Er schildert fast schon im Stile Voltaires die Möglichkeiten des Irrtums,<br />
der Täuschung und des offenen oder geheimen Betruges, die<br />
Kunstgriffe der Fälscher, Schauspieler, Bauchredner und anderer<br />
Schwindler, so anschaulich, daß auf diesem Gebiete jeder Anspruch<br />
auf Glauben unsinnig und eigentlich überhaupt nicht mehr diskutabel<br />
zu sein scheint. Der Leser des 37. Kapitels seines „Leviathan” muß<br />
zunächst annehmen, daß Wunderglaube immer nur Aberglaube sei<br />
und bestenfalls ein radikaler Agnostizismus übrigbleibe, der in dieser<br />
Hinsicht zwar manches für möglich, doch nichts für wahr hält. Aber<br />
Hobbes, der große Dezisionist, vollbringt auch hier seine typisch dezisionistische<br />
Wendung: Autoritas, non Veritas. Nichts ist hier wahr,<br />
alles ist hier Befehl. Wunder ist das, woran die souveräne staatliche<br />
Gewalt als an ein Wunder zu glauben befiehlt; aber auch — und hier<br />
1 Marc Bloch, Les rois thaumaturges, Etudes sur le caractere surnaturel<br />
attribué à la puissance royale particulièrement en France et en Angleterre,<br />
Paris 1924, S. 377; dort ist auch eine eindrucksvolle bildliche Darstellung<br />
aus J. Brownes Charisma Basilikon von 1684 wiedergegeben, die Karl II.<br />
zeigt, wie er durch Handauflegung die Skrofeln heilt. Ferner: Percy Ernst<br />
Schramm, Geschichte des englischen Königtums im Lichte der Krönung,<br />
Weimar 1937, S. 125, 132. P. E. Schramm hält den Glauben an solche Kräfte<br />
der Könige für eine im Grunde „sehr unchristliche Vorstellung”, die ein<br />
positives Gegenstück zum mittelalterlichen Hexenglauben und anscheinend<br />
aus germanischem Erbteil fortgebildet sei.<br />
16
liegt der Spott besonders nahe 2 ) - -umgekehrt: die Wunder hören auf;<br />
wenn der Staat sie<br />
/83/<br />
verbietet. Die radikal agnostizistische Kritik am Wunderglauben, die<br />
Warnungen vor Betrug und Schwindel enden damit, daß jeder Souverän<br />
für seinen Staat endgültig entscheidet, was ein Wunder ist. Hobbes<br />
benutzt als Beispiel ausdrücklich die große theologische Kontroverse,<br />
die seit der Reformation und eigentlich schon seit dem 11.<br />
Jahrhundert, seit dem großen Schisma von Ostkirche und abendländischer<br />
Kirche 3 ), die gesamte geistig-politische Auseinandersetzung<br />
der europäischen Völker beherrscht: das für das Leben der christlichen<br />
Gemeinschaft nächst der Taufe wichtigste Sakrament, das Sakrament<br />
des Altars und der Tischgemeinschaft von Brot und Wein, das<br />
Wunder der Verwandlung von<br />
(84/<br />
Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi. Wenn ein Mensch<br />
behauptet, durch bestimmte Worte, die er spricht, werde aus Brot<br />
etwas ganz anderes, nämlich ein menschlicher Körper, so hat, sag-t<br />
Hobbes, niemand einen vernünftigen Grund, das einem Privatmann<br />
zu glauben; befiehlt aber die staatliche Macht, es zu glauben, so ist<br />
es ein Wunder und jeder hat sich' auch von Rechts und Bekenntnis<br />
wegen an diesen Befehl zu halten. Ob etwas als ein Wunder anzusehen<br />
ist, entscheidet demnach der Staat, als die öffentliche Vernunft,<br />
die „public reason”, im Gegensatz zur „privat reason” des Staatsunterworfenen.<br />
Damit ist die souveräne Gewalt auf dem Höhepunkt ihrer<br />
Macht. Sie ist Gottes höchster Stellvertreter auf Erden. Das Wort<br />
vom Souverän als , dem „lieutenant of God ” fällt nicht etwa nur beiläufig<br />
gerade in diesem Zusammenhang am Schluß des die Wunder<br />
behandeln-den Kapitels 37. Der sterbliche Gott hat Macht auch über<br />
Wunder und Bekenntnis.<br />
2 So die Inschrift des klassischen Distichons von Saint-Médard:<br />
De par le Roi défense à Dieu<br />
De faire miracle en ce lieu<br />
3 Gerhard Ladner, Theologie und Politik vor dem Investiturstreit (Abendmahlstreit,<br />
Kirchenreform Cluny und Heinrich III), Veröffentlichungen des<br />
österreichischen Instituts für Geschichtsforschung, herausgegeben von<br />
<strong>Hans</strong> Hirsch, Bd. II, 1936, S. 25: „Schwere Probleme innerhalb der Sakramentenlehre<br />
erhoben sich zur selben Zeit (11. Jahrhundert), als die Kirche<br />
begann, die im Abendland erfolgte eigentümliche Verflechtung christlichen<br />
Geistes und weltlicher Wirklichkeit durch eine autonome Reform von<br />
einem neuen Rechtsstandpunkt aus in bisher unbekannter Intensität in Frage<br />
zu stellen; ein Schritt, der von der der griechischen Kirche nicht mitgemacht<br />
wurde, die darum ganz dem Cäcaropapismus verfiel . . .” Ladner<br />
weist mit Recht auch darauf hin, daß vom römischen Papsttum her seit dem<br />
11. Jahrhundert ein neues, das deutsche Imperium zerstörendes Rechtssystem<br />
aufgebaut und der Streit um das Verhältnis von Temporale und Spirituale<br />
sowohl als ein juristischer Streit wie als ein Sakramentsstreit ausgetragen<br />
wurde (S. 46/47)<br />
17
Aber an dieser Stelle, auf dem Höhepunkt der die Einheit von Religion<br />
und Politik bewirkenden souveränen Macht, zeigt sich die Bruchstelle<br />
in der sonst so geschlossenen, unwiderstehlichen Einheit. Hier,<br />
wo es um das Wunder und den Glauben geht, weicht Hobbes am entscheidenden<br />
Punkt aus. In der Frage des Wunderglaubens macht er<br />
seinen unausrottbaren individualistischen Vorbehalt in einer Weise,<br />
die jede sonstige Erörterung darüber, ob Hobbes wirklich das war,<br />
was man einen „In-<br />
/85/<br />
dividualisten” nennt, für unsere Betrachtung erübrigt. An dieser Stelle<br />
nämlich tritt die Unterscheidung von innerem Glauben und äußerem<br />
Bekenntnis in das politische System des Leviathan ein. Hobbes erklärt<br />
die Frage der Wunder und Mirakel für eine Angelegenheit der<br />
„öffentlichen”, im Gegensatz zur „privaten” Vernunft; er läßt es aber<br />
dem Einzelnen, kraft der allgemeinen Gedankenfreiheit — quia cogitatio<br />
omnis libera est — unbenommen, bei sich selbst, gemäß seiner<br />
privaten Vernunft, innerlich zu glauben oder nicht zu glauben und das<br />
eigene judicium in seinem Herzen, intra pectus suum, zu wahren.<br />
Sobald es freilich zum äußeren Bekenntnis des Glaubens kommt,<br />
hört das private Urteil auf und entscheidet der Souverän über Wahr<br />
und Unwahr.<br />
Die Unterscheidungen von privat und öffentlich, Glaube ,und Bekenntnis,<br />
fides und confessio, faith und confession, sind damit in einer<br />
Weise eingeführt, daß sich daraus im Laufe des folgenden Jahrhunderts<br />
bis zum liberalen Rechts- und Verfassungsstaat alles weitere<br />
folgerichtig ergeben hat. An diesem, vom Agnostizismus her gewonnenen<br />
Punkt — nicht in der Religiosität protestantischer Sektierer<br />
— setzt der moderne, „neutrale” Staat ein. Hier liegt, verfassungsgeschichtlich<br />
gesehen, ein doppelter Ansatz: der juristisch (nicht theologisch)<br />
konstruierte Beginn der modernen individualistischen Gedanken-<br />
und Gewissensfreiheit und damit der für die Struktur des liberalen<br />
Verfassungssystems kennzeich-<br />
/86/<br />
nenden Freiheitsrechte des Einzelnen; und zweitens der Ursprung<br />
des Staates als einer aus der Unerkennbarkeit substanzieller Wahrheit<br />
gerechtfertigten, äußerlichen Macht, der Ursprung des stato neutrale<br />
e agnostico des 19. und 2o. Jahrhunderts. Eine folgende Stelle<br />
(Kap. 42 des Leviathan) kommt verstärkend hinzu, indem sie der<br />
staatlichen Macht zwar das Recht gibt, ein „Zungenbekenntnis” gegen<br />
das Christentum zu verlangen, den „inneren Glauben” aber außerhalb<br />
jedes Zwanges beläßt. Hier-für beruft sich Hobbes auf eine<br />
Bibelstelle (2. Kön. 17-19), vor allem aber wieder auf die Unterscheidung<br />
von Innen und Außen). Auch_ die Antwort an den Bischof<br />
Bramhall (1682) bestätigt, daß hier der empfindliche Punkt berührt<br />
und der Vorbehalt der inneren, privaten Gedanken- und Glaubensfreiheit<br />
in das politische System aufgenommen ist. Er wurde zum Todeskeim,<br />
der den mächtigen Leviathan von innen her zerstört und<br />
18
den sterblichen Gott zur Strecke gebracht hat.<br />
Schon wenige Jahre nach dem Erscheinen des „Leviathan” fiel der<br />
Blick des ersten liberalen Juden auf die kaum sichtbare Bruchstelle.<br />
Er erkannte in ihr sofort die große Einbruchstelle des modernen Liberalismus,<br />
von der aus das ganze, von Hobbes aufgestellte und gemeinte<br />
Verhältnis von Äußerlich und Innerlich, öffentlich und Privat, in<br />
sein Gegenteil verkehrt werden konnte., Spinoza hat die Umkehrung<br />
in dem berühmten Kapitel 19 seines 1670 erschienenen Tractatus<br />
theologico-<br />
/87/<br />
politicus vollbracht. Er spricht gleich im Untertitel seines Buches von<br />
der libertas philosophandi. Allerdings geht er in seiner Darlegung zunächst<br />
davon aus, daß die souveräne Staatsgewalt im Interesse des<br />
äußeren Friedens und der äußeren Ordnung den äußeren Religionskult<br />
regeln kann und jeder Staatsbürger sich dieser Regelung anpassen<br />
muß. Alles, was sich auf die Religion bezieht, erhält seine<br />
Rechtskraft, vim juris, erst durch den Befehl der staatlichen Macht.<br />
Die Staatsgewalt bestimmt aber nur über den äußeren Kult. Die<br />
Trennung von Innerlich und Äußerlich ist auch bei Hobbes an den<br />
eben erwähnten Stellen über Wunderglauben und Bekenntnis im<br />
Keime vorhanden. Aber der jüdische Philosoph treibt diesen Keim zur<br />
äußersten Entfaltung, bis das Gegenteil erreicht und der Leviathan<br />
von Innen heraus entseelt ist. „Ich spreche ausdrücklich”, sagt Spinoza,<br />
„nur vom äußeren Kult, nicht von der Frömmigkeit selbst und nicht<br />
von der . inneren Verehrung Gottes. ” Innere Überzeugung und die<br />
„Frömmigkeit selbst ” gehören zur Rechtssphäre des Einzelnen. „Internus<br />
enim cultus et ipsa pietas uniuscujusque juris”.<br />
Dieser Gedanke wird im folgenden Kapitel 20 des Theologisch-<br />
Politischen Traktats zu dem allgemeinen Grundsatz der Freiheit des<br />
Denkens, des Fühlens und der Meinungsäußerung erweitert, wenn<br />
auch immer mit dem Vorbehalt des öffentlichen Friedens und der<br />
Rechte der souveränen Gewalt. Es ist bekannt, daß<br />
/88/<br />
Spinozas Traktat aufs stärkste von Hobbes abhängig ist 4 ) . Aber der<br />
4 Zwei Äußerungen von Hobbes zu dem Traktat Spinozas sind überliefert;<br />
die eine gegenüber Lord Devonshire: Ne judicate, ne judicemini; die andere<br />
gegenüber Aubrey: he hat cut through him a barre's length, denn er selber<br />
habe nicht gewagt, so kühn zu schreiben . Tönnies (Thomas Hobbes, Leben<br />
und Werk, 3. Aufl., 1925,. S. 286, Anm. 60) will daraus schließen, daß Hobbes<br />
in dem Buch Spinozas „wenn nicht seine ausgesprochene Lehre, so<br />
doch seine unzweifelhafte eigene Meinung” wiedergefunden habe. Gewiß<br />
hat Spinoza Wesentliches von Hobbes übernommen und hat Hobbes das<br />
selbstverständlich bemerkt. Aber seine etwas orakelhaften Worte enthalten<br />
doch wohl auch noch etwas anderes als das bloße Einverständnis. John<br />
Laird a. a. 0. S. 300/303 sieht den Unterschied von Spinoza und Hobbes vor<br />
allem in Spinozas „nacktem Machiavellismus” und in seinem Mangel an<br />
jeder „appreciation of duty.”<br />
19
Engländer suchte sich mit einem solchen Vorbehalt nicht aus dem<br />
Glauben seines Volkes her-auszustellen, sondern, im Gegenteil, in<br />
ihm zu bleiben. Der jüdische Philosoph dagegen kommt von außen<br />
an eine Staatsreligion heran und bringt daher auch den Vorbehalt von<br />
.außen mit. Bei Hobbes standen der öffentliche Friede und das Recht<br />
der souveränen Gewalt im Vordergrund; die individuelle Gedankenfreiheit<br />
blieb nur als letzter, hintergründiger Vorbehalt offen. Jetzt wird<br />
umgekehrt die individuelle Gedankenfreiheit der formgebende Grundsatz<br />
und die Notwendigkeiten des öffentlichen Friedens sowie das<br />
Recht der souveränen Staatsgewalt verwandeln sich in bloße Vorbehalte.<br />
Eine kleine, umschaltende Gadankenbewegung aus der<br />
/89/<br />
jüdischen Existenz heraus, und in einfachster Folgerichtigkeit hat sich<br />
im Laufe von wenigen Jahren die entscheidende Wendung im<br />
Schicksal des Leviathan vollzogen.<br />
Die staatliche Entwicklung des 18. Jahrhunderts vollendete den Gedanken<br />
der fürstlichen Souveränität, das cujus regio, ejus religio, und<br />
damit die klassische Form eines vollen, ungeteilten, staatlichen Absolutismus.<br />
Das geht aber nur in der Weise vor sich, daß die absolute<br />
staatliche Macht, die souverän-repräsentative Person, die den ständischen<br />
und den kirchlichen Gegner besiegt hat, zwar den augenfälligen<br />
Schauplatz des öffentlichen Geschehens und den Vordergrund<br />
der politisch-geschichtlichen Bühne beherrscht, daß gleichzeitig aber<br />
unsichtbare Unterscheidungen von Außen und Innen, Öffentlich und<br />
Privat nach allen Richtungen hin zu einer immer schärferen Trennung<br />
und Antithese weiter-getrieben werden. Durch Pufendorff und Thomasius<br />
ist Hobbes auf dem Kontinent Sieger geworden, freilich nur<br />
auf Kosten jener Umkehrung des Verhältnisses von Außen und Innen.<br />
Bei Thomasius wird um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert<br />
die Trennung schon mit der siegesgewissen Selbstverständlichkeit<br />
eines Gedankens ausgesprochen, der Gemeingut des kommenden<br />
Jahrhunderts zu werden bestimmt ist. Die „Thomasischen Gedanken”,<br />
die 1724 auf deutsch veröffentlicht werden, sind hier das<br />
schönste Beispiel, weil sie<br />
/90/<br />
sowohl den Stempel ihrer Herkunft -von Hobbes und Spinoza tragen,<br />
gleichzeitig aber auch, wie Bluntschli von ihnen richtig gesagt hat,<br />
„die wissenschaftliche Vorschule für den Staat Friedrichs des Großen”<br />
sind 5 ). Nach diesen in Thesenform aufgestellten „Gedanken” hat<br />
der Fürst in Religionssachen sowie in allem, was „Tun und Lassen<br />
des menschlichen Verstandes” angeht, keinerlei Zwangsrechte; A-<br />
theisten und solche, die den Schöpfer und die Vorsehung leugnen,<br />
braucht er zwar nicht zu dulden, aber nur deshalb, weil von ihnen zu<br />
5 Joh. Casp. Bluntschli, Geschichte des Allgemeinen Staats-rechts und der<br />
Politik, 1864, S. 192. Darüber daß das staatstheoretische Denken Friedrichs<br />
des Großen mehr von Hobbes als von Locke bestimmt ist: Gisbert Beyerhaus,<br />
Friedrich der Große und das 18. Jahrhundert, Bonn 193 S. 11.<br />
20
erwarten ist, daß sie „die Ruhe des gemeinen Wesens stören” werden.<br />
„Niemand soll von seiner Erkenntnis anders reden müssen, als<br />
er denkt. " Der Staat wird wesentlich Polizei; diese aber ist auf die<br />
„öffentliche” Ruhe, Sicherheit und Ordnung beschränkt. Seit Thomasius<br />
ist daher auch die Trennung von Recht und Sittlichkeit zur<br />
landläufigen Theorie und zur communis opinio der Juristen und der<br />
Politiker geworden. Die Rechts- und Staatslehre Kants hat mit ihrer<br />
Gegenüberstellung von juristischer Heteronomie und sittlicher Autonomie<br />
in abschließenden Prägungen nur eine sanktionierende Zusammenfassung<br />
solcher Ansichten des 18. Jahrhunderts vorgenommen.<br />
Hierbei bedeutet es<br />
/91/<br />
vielleicht eine Einschränkung, aber keine Außerkraftsetzung der fundamentalen<br />
Trennung von Innen und Außen, daß die staatliche Praxis<br />
zunächst ziemlich intolerant bleibt, oder daß Christian Wolff z. B.<br />
die Pietisten verbieten und eine strenge Zensur handhaben will, oder<br />
daß Kant das Widerstandsrecht entschieden ablehnt. Für die verfassungsrechtliche<br />
Gesamtentwicklung sind solche Variationen nicht<br />
entscheidend. Wesentlich ist nur, daß jener Keim, der bei Hobbes mit<br />
seinem privaten Glaubensvorbehalt und mit seiner Unterscheidung<br />
von innerem Glauben und äußerem Bekenntnis gelegt war, sich unwiderstehlich<br />
entfaltet und zur alles beherrschenden Überzeugung<br />
wird.<br />
Die Trennung von Innen und Außen, öffentlich und Privat, beherrschte<br />
nicht nur das juristische Denken, sondern entsprach der allgemeinen<br />
Überzeugung aller Gebildeten. Spinozas Verweisung des Staates<br />
an einen nur äußerlichen Kult ist auch die Grundthese von Goethes<br />
Straßburger, das Verhältnis von Kirche und Staat betreffender<br />
Dissertation geworden. Ihr Inhalt ist in „Dichtung und Wahrheit” bei<br />
der Schilderung der Straßburger Zeit mitgeteilt. Die Kirche, sagt der<br />
junge Goethe, steht immer nach zwei Seiten im Streit, gegenüber<br />
dem Staat und gegenüber dem Freiheitsbedürfnis des Individuums;<br />
das schwierige Problem läßt sich nur dadurch lösen, daß der Gesetzgeber<br />
den Kultus, den alle äußerlich zu befolgen haben. nach seinem<br />
Be-<br />
/92/<br />
lieben bestimmt. Im übrigen, wird ausdrücklich hinzugefügt, „sollte die<br />
Frage nicht sein, was jeder bei sich denke, fühle oder sinne”. Der<br />
absolute Staat kann alles verlangen, aber eben nur äußerlich. Das<br />
cujus regio ejus religio ist verwirklicht, aber die religio ist inzwischen<br />
unter der Hand in einen ganz anderen, unerwartet neuen Bereich<br />
abgewandert, nämlich in die private Freiheitssphäre des frei denkenden,<br />
frei fühlenden und in seiner Gesinnung absolut freien Individuums.<br />
Die Träger der Entfaltung dieses innerlichen Vorbehalts waren untereinander<br />
sehr -verschieden und sogar entgegengesetzt: Geheimbünde<br />
und Geheimorden, Rosenkreuzer, Freimaurer, Illuminaten, Mysti-<br />
21
ker und Pietisten, Sektierer aller Art, die vielen „Stillen im Lande” und<br />
vor allem auch hier wieder der rastlose Geist des Juden, der die Situation<br />
am bestimmtesten auszuwerten wußte, bis das Verhältnis von<br />
Öffentlich und Privat, Haltung und Gesinnung, auf den Kopf gestellt<br />
war. Im 18. Jahrhundert ist es Moses Mendelssohn, der in seiner<br />
Schrift „Jerusalem, oder über religiöse Macht und Judentum” (i 783)<br />
die Trennung von Innerlich und Äußerlich, Sittlichkeit und Recht, innerer<br />
Gesinnung und äußerer Handlung, zielsicher geltend macht<br />
und vom Staat Gewissensfreiheit verlangt; ohne großen Geist, als<br />
Intellekt mit Spinoza nicht zu vergleichen, aber mit dem unbeirrbaren<br />
Instinkt dafür, daß eine solche Unterminierung und Aushöhlung der<br />
/93/<br />
staatlichen Macht zur Lähmung des fremden und zur Emanzipation<br />
des eigenen jüdischen Volkes am besten dient. Moses Mendelssohns<br />
Schrift gab auch den An-laß zu der ersten großen und wahrhaft tiefen<br />
Auseinandersetzung deutscher Weisheit mit jüdischer Distinktionstaktik,<br />
nämlich zu Johann Georg Hamanns „Golgatha und Scheblimini”<br />
(1784). Hamann, der große Wissende, ist über die Bedeutung von<br />
Leviathan und Behemoth im Bilde. Er kennt den Leviathan als gewaltigen<br />
Fisch und als Symbol englischen Wesens. In dieser Deutung<br />
bezeichnet er die moralistische bürgerliche Heuchelei, den Cant, als<br />
den „Kaviar des Leviathan”, zum Unterschied von der „gallikanischen<br />
Schminke” der Schöngeisterei. In Anspielung auf den Staat Friedrichs<br />
des Großen zitiert er die Stelle aus dem Buch Hiob 40,18, also das<br />
Landtier Behemoth. Mit wunderbarer Überlegenheit über die Begriffskünste<br />
des aufgeklärten Juden erwidert er diesem, daß Staat, Religion<br />
und Gewissensfreiheit drei Wörter sind, die alles und nichts<br />
besagen können und sich daher zu andern Wörtern verhalten „wie die<br />
Unbestimmtheit des Menschen zur Bestimmtheit der Tiere ” . Der Behemoth<br />
ist ein solches Tier, dem die Armen und Unmündigen dafür<br />
dankbar sind, daß die Jagdhunde des großen Nimrod ihnen einige<br />
Brosamen übriglassen. Vor allem aber ist hier zuerst in aller Klarheit<br />
gesehen, was aus dem Leviathan des Hobbes geworden ist: eine<br />
äußerlich all-<br />
/94/<br />
mächtige, innerlich ohnmächtige Machtkonzentration, die nur<br />
„Zwangspflichten aus der Verbindlichkeit der Furcht ” begründen kann<br />
und von der der Jude Moses Mendelssohn mit großer Aussicht auf<br />
Erfolg verlangt, daß sie sich, da bekanntlich jeder nach seiner Fasson<br />
selig werden kann, um die Gesinnung des einzelnen so wenig zu<br />
kümmern habe, wie umgekehrt Gott um die äußeren Handlungen des<br />
Menschen.<br />
Wenn aber wirklich die öffentliche Macht nur noch öffentlich sein will,<br />
wenn Staat und Bekenntnis den innerlichen Glauben ins Private abdrängen,<br />
dann begibt sich die Seele eines Volkes auf den „geheimnisvollen<br />
Weg”, der nach innen führt. Dann wächst die Gegenkraft<br />
des Schweigens und der Stille. In dem Augen-blick, in dem die Unter-<br />
22
scheidung von Innen und Außen anerkannt wird, ist die Überlegenheit<br />
des Innerlichen über das Äußerliche und damit die des Privaten über<br />
das öffentliche im Kern bereits entschiedene Sache. Eine öffentliche<br />
Macht und Gewalt mag noch so restlos und nachdrücklich anerkannt<br />
und noch so loyal respektiert werden, als eine nur öffentliche und nur<br />
äußerliche Macht ist sie hohl und von innen her bereits entseelt. Ein<br />
solcher irdischer Gott hat nur noch den Schein und die simulacra der<br />
Göttlichkeit auf seiner Seite. Nichts Göttliches Iäßt sich äußerlich erzwingen.<br />
Non externa cogunt Deos, sagte gegenüber einem Nero der<br />
stoische Philosoph in der politischen Situation eines Seneca. Wer<br />
/95/<br />
sich auf den Gegensatz von Innerlich und Äußerlich überhaupt einläßt,<br />
hat damit die letztliche Überlegenheit des Innerlichen gegenüber<br />
dem Äußerlichen, des Unsichtbaren gegenüber dem Sichtbaren, des<br />
Stillen gegenüber dem Lauten, des Jenseits gegenüber dem Diesseits<br />
bereits anerkannt. Diese Überlegenheit des Nichtöffentlichen<br />
kann sich in unendlich mannigfacher Weise verwirklichen, an dem<br />
Endergebnis ist — die Unterscheidung einmal anerkannt — nicht<br />
mehr zu zweifeln. Die humanistisch-rationale Überlegenheit, die z. B.<br />
in Shakespeares „Sturm” der unsichtbare Prospero nach der Art eines<br />
aufgeklärten Herrschers über die Tobsuchtsanfälle Calibans beweist,<br />
ist gewiß etwas anderes als die Zurückhaltung eines Rosenkreuzers,<br />
der sich in sein Inneres zurückzieht und foris ut moris, intus<br />
ut libet existiert; etwas anderes wiederum die gläubige Sicherheit<br />
eines frommen Lutheraners, wie Paul Gerhardt, der weiß, daß Gott<br />
dem Leviathan eine Frist gibt, und der mit Luther „den Narren toben<br />
läßt ” ; wieder gänzlich anders der esoterische Hochmut des eingeweihten<br />
Hochgradfreimaurers, und nochmals anders die ironische<br />
Überlegenheit des hinter seiner Subjektivität Deckung nehmenden<br />
Romantikers. Jede dieser Haltungen hat ihre eigene Geschichte, ihren<br />
eigenen Stil, ihre eigene Taktik. Aber so verschieden sie sind, so<br />
anders geartet Maurerlogen, Konventikel, Synagogen und literarische<br />
Zirkel untereinander sein<br />
/96/<br />
mögen, im politischen Ergebnis treffen sie sich schon im 18. Jahrhundert<br />
sämtlich in der Feindschaft gegen den zum Symbol des Staates<br />
erhobenen Leviathan.<br />
Alle jene mannigfachen, unzähligen und unausrottbaren Vorbehalte<br />
des Innern gegenüber dem Äußern, des Unsichtbaren gegenüber<br />
dem Sichtbaren, der Gesinnung gegenüber der Haltung, des Geheimen<br />
gegenüber dem Öffentlichen, der Stille gegenüber dem Geräusch,<br />
der Esoterik gegenüber dem Gemeinplatz, verbünden sich<br />
jetzt von selbst, ohne Plan und Organisation, zu einer Front, der es<br />
keine große Mühe macht, den positiv gemeinten Mythos vom Leviathan<br />
zu besiegen und in ihren eigenen Triumph zu verwandeln. Alle<br />
mythischen Kräfte des Bildes vom Leviathan schlagen jetzt auf den<br />
so symbolisierten Staat des Hobbes zurück. Für den frommen Bibel-<br />
23
leser blieb er ein Schrecken; für den Puritaner ein Zeichen frechster<br />
Kreaturvergötzung. Für jeden guten Christen mußte e s eine grauenerregende<br />
Vorstellung sein, dem Corpus mysticum des Gottmenschen,<br />
dem großen Christus, ein großes Tier entgegengesetzt zu<br />
sehen. Den Juden bestärkte das von Rabbinern und Kabbalisten seit<br />
Jahrhunderten ausgedeutete Bild des Leviathan in seinem Überlegenheitsgefühl<br />
gegenüber den Heidenvölkern und den viehischen<br />
Götzen ihres Willens zur Macht. Der humanitäre Aufklärer aber konnte<br />
den Staat wohl als ein Kunstwerk begreifen und bewundern, aber<br />
seinem klassizistischen Geschmack und<br />
/97/<br />
seiner sentimentalen Empfindung erschien der zum Symbol des<br />
Staates erhobene Leviathan entweder als eine Bestialität oder als<br />
eine zum Moloch gewordene Maschine, die alle Kräfte eines , Vernunft-Mythos<br />
verloren hatte und nur noch einen toten, von außen<br />
getriebenen „Mechanismus” darstellte, den man jetzt zu dem beseelten,<br />
von innen heraus bewegten „Organismus” in einen polemisch<br />
e n Gegensatz brachte. Als dann ein weitverbreitetes romantisches<br />
Gefühl in dem Gebilde „Staat” eine Pflanze, einen wachsenden Baum<br />
oder gar eine Blume erblickte, wurde das Bild des Hobbes geradezu<br />
grotesk. Jetzt erinnert nichts mehr an einen „großen Menschen” und<br />
einen aus menschlicher Vernunft geborenen Gott. Der Leviathan wird<br />
zu einer unmenschlichen und untermenschlichen Angelegenheit; wobei<br />
es, als eine durchaus sekundäre Frage, dahingestellt bleiben<br />
kann, ob die Un- und Untermenschlichkeit als Organismus oder als<br />
Mechanismus, als ein Tier oder ein Apparat aufgefaßt wird.<br />
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