Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
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arkeit der Gemeinschaft nennt - was sich aber auch bei Kant<br />
schon erfahren läßt, bei dem es heißt, "daß der Geschmack mit<br />
mehrerem Recht sensus communis genannt werden könne, als<br />
der gesunde Verstand; und daß die ästhetische Urteilskraft<br />
eher als die intellektuelle den Namen eines gemeinschaftlichen<br />
Sinnes führen könne, wenn man ja das Wort Sinn von einer<br />
Wirkung der bloßen Reflexion auf das Gemüt brauchen will:<br />
denn da versteht man unter Sinn das Gefühl der Lust." 55 Bevor<br />
sich jedenfalls die Frage der Kunst in den Systemphilosophien<br />
Fichtes, Schellings oder Hegels zur Totalität abschließen oder<br />
sich bei Marx zum Projekt der Gemeinschaft verdichten kann,<br />
schreibt sich in Kants Kritik der Urteilskraft unter dem Problemtitel<br />
eines "sensus communis" oder eines Gemeinsinns die Spur<br />
einer Abwesenheit, eines irreduziblen Anderswo ein, von der<br />
diese Frage der Kunst ihre unkonstruierbare Gestalt erfahren<br />
wird. Anders gesagt, bewegt sich die Kritik der Urteilskraft im<br />
Spiel einer Grenze, das eine Unentscheidbarkeit einbrechen<br />
läßt, die sich in keinem Grund territorialisieren wird. Wo Kant<br />
die Deduktion reiner ästhetischer Urteile vorbereitet oder, wie<br />
sich auch sagen ließe, die Möglichkeit ihrer Grundlegung prüft,<br />
tut sich eine Abgründigkeit möglichen Urteilens auf, die aus der<br />
Unerreichbarkeit Anderer oder der Undarstellbarkeit von Gemeinschaft<br />
rührt. 56<br />
Aber der Ort des Genies ist nun Kant zufolge derjenige, an der<br />
diese Undarstellbarkeit sich doch darstellen soll. Auch in diesem<br />
Fall läßt es die Kürze der Zeit nicht zu, die komplizierte<br />
Bewegung zu rekonstruieren, in der Kant den Geniebegriff ins<br />
Unabsehbare verschieben muß, um in dieser Verschiebung die<br />
Möglichkeit einer Darstellung des Undarstellbaren sich ereignen<br />
zu lassen. Hier muß der Hinweis genügen, daß der Geniebegriff<br />
zunächst nicht etwa die ausgezeichnete Begabung einer Person<br />
meint. Vielmehr bezeichnet er, bevor er sich auf eine Person<br />
beziehen läßt, in Kants strenger und fast strukturaler Ter-<br />
55 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Band X, Frankfurt/M.<br />
1977, A 158<br />
56 Die berühmte Stelle bei Kant lautet: "Unter dem sensus communis aber<br />
muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermögens<br />
verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart<br />
jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam<br />
an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch<br />
der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen,<br />
welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil<br />
nachteiligen Einfluß haben würde. Dieses geschieht nun dadurch, daß<br />
man sein Urteil an anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß<br />
mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem<br />
man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälliger<br />
Weise anhängen, abstrahiert...“ (A 155).<br />
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