Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
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das Gefühl seiner souveränen Subjektivität zu verwirren, zu ersticken<br />
drohte, der verzweifelt versuchte, einen Ausweg zu finden und mit<br />
Hilfe der Fiktion in die Ödnis floh. * »Ecce Homo« hingegen, so sehr<br />
der Text nach Gide Nietzsches Eifersucht zum Ausdruck bringt, seinen<br />
Anspruch, Jesus an Souveränität gleich zu sein, ist nichtsdestoweniger<br />
eine Absage an die unbestimmte Anmaßung des Zarathustra.<br />
Nietzsche konnte sich dem Leiden der Souveränität nicht entziehen,<br />
und unter dem Schock einer großen Leidenschaft erhob er<br />
sich über eine hoffnungslose Sehnsucht nach archaischen Formen;<br />
er wurde reif zu jenem Verzicht auf die souveräne Kunst, der ihn sagen<br />
ließ, er wolle lieber ein Narr als ein Heiliger sein.<br />
9. Wo die Souveränität auf die Subordination verzichtet<br />
»Ich bin nichts«, oder »Ich bin lächerlich«: diese Parodie der Selbstbehauptung<br />
ist das letzte Wort der souveränen Subjektivität, die frei<br />
geworden ist von der Herrschaft, die sie über die Dinge «Oben wollte<br />
oder sollte.<br />
In dieser Welt ist die Lage des souveränen Künstlers die aller-<br />
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alltäglichste; sie bedeutet Entbehrungen, zumindest aber Verzicht auf<br />
alle Privilegien. Ob er nun über geringfügige Mittel irgend-welcher Art<br />
verfügt oder nicht, Entbehrung ist sein Los. Das Allerweltsschicksal<br />
ist das allein ihm angemessene. Das bedeutet nun nicht, daß der<br />
»Mann mit dem Allerweltsschicksal« und der souveräne Künstler<br />
identisch wären, sondern zeigt nur die herunter-gekommene Existenz<br />
des souveränen Künstlers. Oft wurde auch der profane Künstler dahin<br />
gebracht, sozial abzusteigen, aber es geschah nicht aus innerer<br />
Notwendigkeit; die Souveränität der Kunst hingegen fordert die unauffällige<br />
Deklassierung aller, die sie leben. Sie setzt die Verweigerung<br />
des allgemeinen Strebens nach dem Rang voraus, die Verweigerung<br />
oder besser: eine Bewegung, die sich durch Schweigen entzieht.<br />
Die souveräne Kunst nämlich bezeichnet genau den Zugang zu<br />
einer souveränen Subjektivität, die vom Rang unabhängig ist, die<br />
einen anderen Weg als das Streben nach dem Rang geht. Das besagt<br />
keineswegs, daß ihr grundsätzlich der Sinn für Verhaltensweisen<br />
abgeht, die den Menschen über sich selbst und die Tiere erheben,<br />
aber es besagt, daß diese Verhaltensweisen gänzlich aufgelöst und<br />
* Unter diesem Vorbehalt bleibt Zarathustra eines der bedeutendsten Bücher.<br />
Was ich darüber sage, dient dazu, es kennenzulernen, und nicht,<br />
es abzulehnen. Daß ein solches Buch zugleich diese Ungeheuerlichkeit,<br />
dieser ohnmächtige Irrtum sein kann, würde vielleicht den Gipfel markieren,<br />
wenn nur der Gipfel bezeichnet werden könnte, wenn er nicht wankte.<br />
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