Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
für die wahre Auslegung der Chiffreschrift zu halten, wodurch die Natur<br />
in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht. Allein erstlich ist<br />
dieses unmittelbare Interesse am Schönen der Natur wirklich nicht<br />
gemein, sondern nur denen eigen, deren Denkungsart entweder zum<br />
Guten schon ausgebildet, oder dieser Ausbildung vorzüglich empfänglich<br />
ist, und dann führt die Analogie zwischen dem reinen Geschmacksurteile,<br />
welches, ohne von irgend einem Interesse abzuhängen,<br />
ein Wohlgefallen fühlen läßt, und es zugleich a priori als der<br />
Menschheit überhaupt anständig vorstellt, mit dem moralischen Urteile,<br />
welches eben dasselbe aus Begriffen tut, auch ohne deutliches,<br />
subtiles und vorsätzliches Nachdenken, auf ein gleichmäßiges unmittelbares<br />
Interesse an dem Gegenstande des ersteren, so wie an dem<br />
des letzteren: nur daß jenes ein freies, dieses ein auf objektive Gesetze<br />
gegründetes Interesse ist. Dazu kommt noch die Bewunderung<br />
der Natur, die sich an ihren<br />
/235/<br />
schönen Produkten als Kunst, nicht bloß durch Zufall, sondern<br />
gleichsam absichtlich, nach gesetzmäßiger Anordnung und als<br />
Zweckmäßigkeit ohne Zweck, zeigt: welchen letzteren, da wir ihn<br />
äußerlich nirgend antreffen, wir natürlicher Weise in uns selbst, und<br />
zwar in demjenigen, was den letzten Zweck unseres Daseins ausmacht,<br />
nämlich der moralischen Be stimmung, suchen (von welcher<br />
Nachfrage nach dem Grunde der Möglichkeit einer solchen Naturzweckmäßigkeit<br />
aber allererst in der Teleologie die Rede sein wird).<br />
Daß das Wohlgefallen an der schönen Kunst im reinen Geschmacksurteile<br />
nicht eben so mit einem unmittelbaren Interesse verbunden ist,<br />
als das an der schönen Natur, ist auch leicht zu erklären. Denn jene<br />
ist entweder eine solche Nachahmung von dieser, die bis zur Täuschung<br />
geht: und alsdann tut sie die Wirkung als (dafür gehaltene)<br />
Naturschönheit; oder sie ist eine absichtlich auf unser Wohlgefallen<br />
sichtbarlich gerichtete Kunst: alsdann aber würde das Wohlgefallen<br />
an diesem Produkte zwar unmittelbar durch Geschmack Statt finden,<br />
aber kein anderes als mittelbares Interesse an der zum Grunde liegenden<br />
Ursache, nämlich einer Kunst, welche nur durch ihren Zweck,<br />
niemals an sich selbst, interessieren kann. Man wird vielleicht sagen,<br />
daß dieses auch der Fall sei, wenn ein Objekt der Natur durch seine<br />
Schönheit nur in sofern interessiert, als ihr eine moralische Idee beigesellet<br />
wird; aber nicht dieses, sondern die Beschaffenheit derselben<br />
an sich selbst, daß sie sich zu einer solchen Beigesellung qualifiziert,<br />
die ihr also innerlich zukommt, interessiert unmittelbar.<br />
Die Reize in der schönen Natur, welche so häufig mit der schönen<br />
Form gleichsam zusammenschmel zend angetroffen werden, sind<br />
entweder zu den Modifikationen des Lichts (in der Farbengebung)<br />
oder des Schalles (in Tönen) gehörig. Denn diese sind die einzigen<br />
Empfindungen, welche nicht bloß Sinnengefühl, sondern auch Reflexion<br />
über die Form dieser Modifikationen der Sinne verstatten, und so<br />
gleichsam eine Sprache, die die Natur zu uns führt, und die einen<br />
höhern Sinn zu haben scheint, in sich enthalten. So<br />
9